Einfache Sprache, komplexe Wirklichkeit

Einfache Sprache,
komplexe Wirklichkeit
Prof. Dr. Anatol Stefanowitsch
Einleitung
Sprache und Komplexität
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Gesellschaft konstituiert und reproduziert sich mittels Sprache
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Je komplexer die Gesellschaft wird, desto komplexer wird die
(Schrift-)Sprache
‣ Fachsprachen, Pressesprache, Bildungssprache, literarische Sprache…
‣ Nicht durch natürlichen Spracherwerb gelernt
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Paradox
‣ Es können mehr Menschen lesen/schreiben als je zuvor, aber
‣ die gesellschaftliche Beteiligung ist nicht in gleicher Weise gestiegen
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Fast die Hälfte typischer europäischer Sprachgemeinschaften hat
erkennbare Schwierigkeiten mit Texten
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Idee: Sprache vereinfachen
Einleitung
Sprache, Komplexität und Teilhabe
„Der Schwung, den [Rousseau] der französischen Sprache und Literatur
gegeben hat, … hat Rede und Schrift in Frankreich unendlich vereinfacht, und
sie dem Volke in Masse zugänglich gemacht. Es fällt uns oft auf, es kommt
uns oft wahrhaft cynisch vor, wenn Rousseau von den natürlichsten Dingen,
die sonst nur unter dem Feigenblatte verdeckt erscheinen dürfen, ganz
natürlich und ohne Umstände spricht. Diese Richtung bekämpfte die Sprache
der Salons, der hohen Kreise, die sonst keinem armen Teufel, keinem
schlichten Handwerker und Bauer zugänglich war.“
„Ohne eine demokratische, eine allgemein verständliche, einfache, klare
Sprache, ohne einen ächten Volksstyl ist keine Volksherrschaft möglich; aber
auch umgekehrt ist mit einer klaren, einfachen, aller Welt zugänglichen
Schriftsprache auf die Dauer kein Absolutismus, keine Aristokratie mehr
haltbar. .“
Jacob Venedey
Einleitung
Sprache, Komplexität und Teilhabe
„Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die
volle Teilhabe in allen Lebens-bereichen zu ermöglichen, treffen die
Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit
Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu
Transportmitteln, Information und Kommunikation, […], zu gewährleisten.“
[Artikel 9]
„Im Sinne dieses Übereinkommens schließt ‚Kommunikation‘ Sprachen,
Textdarstellung, Braille-schrift, taktile Kommunikation, Großdruck, leicht
zugängliches Multi-media sowie schriftliche, auditive, in einfache Sprache
übersetzte, durch Vorleser zugänglich gemachte sowie ergänzende und
alternative Formen, Mittel und Formate der Kommunikation […] ein.“
[Artikel 2]
Vereinte Nationen,
Behindertenrechtskonvention
Einleitung
Sprache, Komplexität und Teilhabe
Für Menschen mit Behinderung soll es keine Hindernisse geben.Alles soll so
sein, dass Menschen mit Behinderung alles gut benutzen können. Das nennt
man auch Barriere-Freiheit. Zum Beispiel Straßen, Häuser, Busse und
Bahnen müssen zugänglich sein. Aber auch Informationen müssen
zugänglich sein: Menschen mit Behinderung sollen die Informationen
verstehen können. Zum Beispiel muss es Informationen in Blinden-Schrift
oder in Leichter Sprache geben.
Vereinte Nationen,
Behindertenrechtskonvention in Leichter Sprache
Einleitung
Sprache, Komplexität und Teilhabe
Zielgruppe der Leichten Sprache
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Menschen mit geistigen Behinderungen
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alte Menschen (v.a. mit kognitiven Beeinträchtigungen, z.B. Demenz)
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funktionale Analphabet/innen
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Migrant/innen (nicht-deutsche Muttersprachler/innen)
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Fremdsprachenlerner/innen allgemein
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Gehörlose (mit Gebärdensprache als Muttersprache)
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Jugendliche
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bildungsferne Menschen
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alle Menschen, die Schwierigkeiten mit Anleitungen, Gesetzen und
Verträgen haben
Was ist
„leichte“ Sprache?
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Orthografie
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Schreibung von Zahlen
‣ Zahlenangaben immer als Ziffern
‣ ausschließlich arabische Ziffern
‣ lange Zahlen durch Leerzeichen in Blöcke aufgeteilt
‣ Datumsangaben vollständig ausgeschrieben, ohne führende Nullen
z. B.
3. März 2012 oder 3.3.2012 statt 03.03.12
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Worttrennung
‣ Bestandteile zusammengesetzter Wörter durch Bindestriche getrennt
z. B. Bundes-Gleichstellungs-Gesetz
‣ keine Trennung von Wörtern am Zeilenende
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Vermeidung von Sonderzeichen
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Orthografie
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Zeichensetzung an Satzgrenzen
‣ komplexe Sätze durch Punkte in kürzere Einheiten aufgeteilt
z.B.
Bitte rufen Sie mich an. Oder schreiben Sie mir
‣ in der Praxis finden sich auch Doppelpunkte
z.B.
Wenn Ihre Rechte verletzt werden:
Dann können Sie zu einem Richter oder Anwalt gehen.
‣ in der Praxis auch bei nicht-satzwertigen Phrasen
z.B.
Ich darf mit bestimmen. Bei allem, was für mich wichtig ist.
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Wortschatz
‣ „einfache“ Wörter
z.B.
erlauben statt genehmigen„
‣ kurze Wörter
z.B.
Bus statt Omnibus
‣ keine Fremdwörter
z.B.
Arbeits-Gruppe statt Workshop
‣ Wörter, „die etwas genau beschreiben“
z.B.
Bus und Bahn statt öffentlicher Nahverkehr
‣ ungefähre Mengenangaben
z.B.
viele Menschen statt 14.795 Menschen
vor langer Zeit statt 1867
‣ keine Synonyme
‣ keine Metaphern
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Grammatik
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Vermeidung von
‣ Fragesätzen
‣ Passiv
z.B. Morgen wählen wir den Heim-Beirat
statt Morgen wird der Heim-Beirat gewählt
‣ Negation
z.B. Peter ist gesund statt Peter ist nicht krank
‣ Konjuktiv
z.B. Morgen regnet es vielleicht statt Morgen könnte es regnen
‣ Nominalisierungen und Verbalsubstantiven
z.B. Morgen wählen wir den Heim-Beirat
statt Morgen ist die Wahl zum Heim-Beirat.
‣ Genitiven
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Grammatik
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Satzbau
‣ einfacher Satzbau
z. B. Wir fahren zusammen in den Urlaub
statt Zusammen fahren wir in den Urlaub
‣ kurz (komplexe Sätze entsprechend paraphrasieren)
z. B. Ich kann Ihnen helfen.
Bitte sagen Sie mir:
Was wünschen Sie?
statt
Wenn Sie mir sagen, was Sie wünschen,
kann ich Ihnen helfen.
Einfache und komplexe Sprache
Regeln
Grammatik
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Idealbild eines Satzes in „Leichter Sprache“
‣ einfach
‣ aktiv
‣ deklarativ
‣ indikativ
‣ mit posititiver Polarität
‣ ausschließlich aus Wörtern eines
kleinen Grundwortschatzes bestehend
Was verlieren wir durch
Komplexitätsreduktion?
Vereinfachung und Komplexitätsverlust
Lexis
Beispiel 1: Festhalten
Niemand darf willkürlich
festgenommen, in Haft gehalten
oder des Landes verwiesen werden.
[Art. 9, Menschenr.]
Keiner darf einen Menschen
einfach so fest-nehmen.
• Auch die Polizei darf Sie nicht einfach so
fest-nehmen.
Und auch nicht ohne Grund ins Gefängnis bringen:
Die Polizei darf Sie nur fest-halten,
wenn Sie etwas Schlimmes gemacht haben.
…
[Menschen-Rechte in Leichter Sprache]
(a)
Die Kommissarin hat das Kind fest gehalten, bis es keine Angst mehr hatte.
(b)
Die Kommissarin hat das Kind festgehalten, bis die Eltern Kaution
gestellt hatten.
Vereinfachung und Komplexitätsverlust
Lexis
Beispiel 2: Willkür
Niemand darf willkürlich
festgenommen, in Haft gehalten
oder des Landes verwiesen werden.
[Art. 9, Menschenrechte]
Willkür, die
die allgemein geltenden Maßstäbe,
Gesetze, die Rechte, Interessen
anderer missachtendes, an den
eigenen Interessen ausgerichtetes
und die eigene Macht nutzendes
Handeln, Verhalten
[Duden]
Keiner darf einen Menschen
einfach so fest-nehmen.
• Auch die Polizei darf Sie nicht einfach so
fest-nehmen.
Und auch nicht ohne Grund ins Gefängnis bringen:
Die Polizei darf Sie nur fest-halten,
wenn Sie etwas Schlimmes gemacht haben.
Erst wenn die Polizei beweisen kann,
dass Sie etwas Böses gemacht haben:
Dann darf die Polizei Sie ins Gefängnis bringen.
Zum Beispiel: Jemand klaut einen Pullover.
Ein anderer sieht es und sagt es der Polizei.
Dann darf die Polizei die Person fest-nehmen.
• Keiner darf einfach so entscheiden,
dass Sie in ein anderes Land ziehen müssen. …
[Menschen-Rechte in Leichter Sprache]
Vereinfachung und Komplexitätsverlust
Lexis
Beispiel 3: Sklaverei
Niemand darf in Sklaverei oder
Leibeigenschaft gehalten werden;
Sklaverei und Sklavenhandel sind in
allen ihren Formen verboten.
[Art. 4, Menschenrechte]
Sklave, der
jemand, der in völliger
wirtschaftlicher und rechtlicher
Abhängigkeit von einem anderen
Menschen als dessen Eigentum lebt
[Duden]
Sklaverei ist verboten.
Sklaverei bedeutet:
Jemand bestimmt über einen Menschen.
Er bestimmt zum Beispiel,
was der Andere in seiner Freizeit machen darf.
Das ist verboten.
Keiner darf über Sie, Ihren Körper und Ihre Seele
bestimmen.
Nur Sie alleine entscheiden über sich.
Das bedeutet zum Beispiel:
• Keiner darf Sie festhalten.
• Keiner darf Sie zwingen, etwas zu tun.
• Keiner darf etwas mit Ihnen machen,
was Sie nicht wollen.
• Sie dürfen Nein sagen.
• Keiner darf Sie zwingen
für jemanden ohne Lohn zu arbeiten.
[Menschen-Rechte in Leichter Sprache]
Einfache und komplexe Sprache
Metaphorik
Beispiel 4: Rabeneltern
Das Wort Raben-Eltern ist bildliche Sprache.
Raben-Eltern sind nicht die Eltern von Raben-Küken.
Mit Raben-Eltern meint man: schlechte Eltern.
[Leitfaden „Leichte Sprache]
(a)
Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen, sind Rabeneltern.
(Tages Anzeiger, 17.07.2013)
(b)
Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen, sind schlechte Eltern.
Zeit ist Geld
(c) Zeit sparen, investieren, verschwenden, …
Einfache und komplexe Sprache
Textstruktur und Grammatik
Von 1933 bis 1945 regierte die Partei der National-Sozialisten in Deutschland.
Der Anführer der Partei war Adolf Hitler.
Die Mitglieder nannte man Nazis.
In dieser Zeit war auch der 2. Weltkrieg.
Er dauerte von 1939 bis 1945.
Weltkrieg heißt:Viele Länder auf der ganzen Welt bekämpfen sich.
Die Nazis haben den 2. Weltkrieg angefangen.
Sie wollten die ganze Welt beherrschen.
Die Nazis wollten keine Ausländer in Deutschland.
Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten hatten es sehr schwer in dieser Zeit.
Die Nazis haben sehr viele schlimme Dinge gemacht.
Viele Länder wollten die schrecklichen Taten dieser Partei stoppen.
Trotzdem hat es sehr lang gedauert, bis der Krieg zu Ende war.
Ganze 6 Jahre.
Leider mussten in dieser Zeit zu viele Menschen sterben.
Die schrecklichen Taten der Nazis dürfen nicht vergessen werden.
Denn so etwas darf nie wieder passieren. [Gesch. DDR in Leichter Sprache]
Einfache und komplexe Sprache
Textstruktur und Grammatik
Die Nazis haben den 2. Weltkrieg angefangen.
DENN / DANACH / AUSSERDEM
Sie wollten die ganze Welt beherrschen.
DENN / AUSSERDEM / ÜBRIGENS
Die Nazis wollten keine Ausländer in Deutschland.
Einleitung
Sprache und Teilhabe
„Wenn Sie Ihr Englisch vereinfachen, befreit Sie das von den schlimmsten Torheiten
überkommener politischer Denkweise. Es verhindert, dass Sie die notwendigen
Varietäten verwenden, und wenn Sie etwas Dummes sagen, wird die Dummheit
offensichtlich sein, auch für Sie selbst. Politische Sprache – und das gilt mehr oder
weniger für alle politischen Parteien, von den Konservativen bis zu den Anarchisten
– ist geschaffen (“designed”) um Lügen wahr und Mord respektabel klingen zu
lassen und um heißer Luft einen Anschein von Substanz zu verleihen.“
George Orwell,
Politics and the English Language
Schlussbetrachtungen
Schlussbetrachtungen
Funktionen komplexer Sprache
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gesellschaftliche Ebene
‣ Aufbau und Weitergabe komplexer Wissensbestände
‣ z.B. Wissenschaft:
• Hypothese: Konjunktiv und Existenz/Kausalität
• kritisches Experiment: Negation
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interaktive Ebene
‣ geteiltes Vorwissen
• z.B. Rechtsstaatlichkeit und Willkür
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kognitive Ebene
‣ Sprache und Denken
• Zahlwörter (ohne Zahlwörter kein Zählen)
• Raumverstehen (Denken in relativen/absoluten Bezugsrahmen)
• Metaphern (z.B. Moral und Hygiene)
Einfache Sprache, komplexe Wirklichkeit
Schlussbetrachtungen
Komplexe Sprache als Barriere
TEILHABE
Einfache Sprache, komplexe Wirklichkeit
Schlussbetrachtungen
Komplexe Sprache als Barriere
TEILHABE
Einfache Sprache, komplexe Wirklichkeit
Schlussbetrachtungen
Komplexe Sprache als Treppe
TEILHABE
Einfache Sprache, komplexe Wirklichkeit
Schlussbetrachtungen
Komplexe Sprache als Treppe
TEILHABE
Schlussbetrachtungen
Konsequenzen für den Umgang mit Illettrismus
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Beseitigung von funktionalem Analphabetismus nur ein erster
Schritt
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gesellschaftliche Beteiligung erfordert den souveränen Umgang
mit Bildungssprache, Pressesprache, literarischer Sprache
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Wissen, wie fortgeschrittene Sprachkompetenz erreicht werden
kann, ist vorhanden
‣ Alphabetisierungsforschung
‣ Fremdsprachendidaktik
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gesellschaftliches Bekenntnis zu einem entsprechenden
Bildungsideal und Bereitstellung von Ressourcen