Kempten

Nach der Schlammlawine von Oberstdorf: Baut der Mensch zu nah an Berge, Flüsse und Wildbäche?
Die Natur zwingt
zum Umdenken
Hochwasser und Muren Wie Kommunen
auf Elementargewalten reagieren
VON STEFANIE HECKEL
UND FRANZ SUMMERER
Kempten/Oberallgäu Schlammlawinen, Murenabgänge, Hochwasser:
Immer öfter schlägt die Natur zu
und zeigt dem Menschen seine
Grenzen auf. Die Folgen sind verheerend: Menschen sind auf der
Flucht vor Wassermassen und Geröllbergen, Wohnhäuser werden
zerstört, Straßen sind unpassierbar.
Kritiker sagen, die Probleme sind
hausgemacht, der Mensch baut in
der Region zu nah an Wildbächen
oder in Berghänge. Landrat Anton
Klotz bestätigt diese Auffassung und
sagte bei einer Veranstaltung unserer Zeitung: „Mittlerweile findet ein
Umdenken statt. Die Gemeinden
sind beim Ausweisen von Baugebieten vorsichtiger geworden.“ Gleichzeitig nehmen sie kräftig Geld in
Hand, um Gefahrenstellen zu entschärfen. Kempten investiert gerade
drei Millionen Euro in die Verrohrung des Bachtelbachs am Illerufer
in der Innenstadt. Dort hatte es zuletzt 2013 starke Überschwemmungen gegeben.
Immenstadt hat Erfahrung mit
der zerstörerischen Kraft der Natur:
Der riesige Hangrutsch am Horn
und immer wieder überlaufende Bäche im Stadtgebiet. Die Stadt muss
damit zurechtkommen, sagt Bürgermeister Armin Schaupp: „Wer
im alpinen Raum siedelt, lebt mit einem Restrisiko. Technische Maßnahmen sind da immer relativ.“
Dennoch agiere die Stadt heute anders als vor 30 oder 40 Jahren, ein
Bebauungsplan etwa für den Stadtteil Rauhenzell wurde eingestapft
(siehe auch nebenstehender Bericht): „Das Bewusstsein ist heute
größer.“ Weiteres Beispiel: Der
Steigbach, zwischen Horn und Mittag gelegen, war lange eine latente
Gefahr für Immenstadt. Inzwischen
gibt es ein Rückhaltebecken bei
Monta. An einer grundlegenden
Entwicklung ändere das nichts: „Es
gibt Muren heute auch dort, wo es
eigentlich keine geben dürfte“, sagt
Schaupp. Ausgelöst durch starke
Gewitter, die unberechenbar niedergehen – ohne Vorwarnzeit.
Wie schnell es gehen kann, wenn
die Natur zuschlägt, zeigte sich in
Kempten zuletzt 2013. Der Bachtelbach trat über, die Anwohner an der
Füssener Straße und in der Bachtelmühlsiedlung standen vor zigtausenden Euro Schaden. Ein halbes
Jahr später beschloss die Stadt: Die
Verrohrung des Bachs soll 2015 erneuert werden, um künftig Wassermassen besser abzuführen. Bei jedem Starkregen sei die Stadt im
Austausch mit Wasserwirtschaft
und Feuerwehr, sagt Baureferent
Tim Oliver Koemstedt. Der Betriebshof kümmert sich darum, Verstopfungen (durch Baumstämme)
zu beseitigen. In Neuhausen und
Heiligkreuz werde gerade untersucht, wie das Abfließen des Wassers verbessert werden kann. Unverrückbar nahe ans Wasser gebaut
ist in Kempten der Friedhof. Seit einigen Jahren ist er durch mobile
Schotts geschützt.
Und wie ist die Situation in
Oberstdorf? Informationen und ein
neues Video unter
I www.all-in.de/schlammlawine
2. Juni 2013: Anwohner der Füssener Straße und der Bachtelmühlsiedlung in Kempten dürften das Hochwasser vor zwei Jahren
noch in lebhafter Erinnerung haben. Heuer nun wird der Bachtelbach neu verrohrt, der damals über die Ufer trat und zigtausende
Euro Schaden anrichtete.
„Wir haben aus den Schäden gelernt“
Folgen Landrat: Nach Katastrophen wurden die Baugesetze verschärft
Kempten/Oberallgäu Der Siedlungsdruck in den 60er bis zu den 80er
Jahren trieb Städte und Gemeinden
dazu, ein größeres Risiko einzugehen. „Da wurden Wohnhäuser im
Wildbachbereich gebaut, die man
heute nicht mehr genehmigen würde“, sagte Landrat Toni Klotz beim
Diskussionsabend unserer Zeitung
am Dienstagabend.
Häuser, die von einer Schlammund Gerölllawine überschwemmt
werden oder inmitten einer großen
Wasserfläche stehen: Schon nach
den Fluten von 1999 und 2005 habe
laut Klotz ein Umdenken bei Kommunen und den Genehmigungsbehörden eingesetzt. Die Folge: Geplante Baugebiete wurden wieder
aufgegeben, weil sie im Über-
schwemmungsgebiet liegen – wie
beispielsweise ein Wohngebiet bei
Immenstadt-Rauhenzell.
Zudem gelten schärfere Baugesetze. Das führt im Laufe der Verfahren häufig zu Änderungen. Aktuelles Beispiel: In Dietmannsried
wurden die Pläne für das Baugebiet
Seebach und für ein Gewerbegebiet
erheblich überarbeitet. (sf)
Neun Jahre danach noch immer gut
sichtbar: Die Stelle am Immenstädter
Horn, wo der Hang rutschte.
Chronik
● Pfingsthochwasser 1999 Weite
Teile des Allgäus versinken vor 16
Jahren in den Fluten, pro Sekunde
fließen allein in der Iller 900 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ab. Die
Schäden gehen in Millionenhöhe.
● Illerflut 2005 Katastrophenalarm
am Mittag des 23. August: Im
Oberallgäu sind wegen des Hochwassers Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Auch Kempten ist
stark betroffen, in den frühen Morgenstunden werden die Anwohner
am Illerdamm von Warndurchsagen geweckt.
● Hangrutsch 2006 Bäume, Felsen, Gesteinsbrocken: Ende März
2006 schlägt ein Hangrutsch eine
Schneise in die Flanke des Immenstadt Horns.
● Schlagwetter 2011 Ein heftiges
Schlagwetter verursacht im Juni
2011 erhebliche Schäden in Sonthofen: Straßen werden unterspült,
Keller laufen voll.
Ein Stadel, zwei Aufnahmen – von gestern Nachmittag und vom 2. Juni 2013: Auch das Oberallgäu litt vor zwei Jahren unter teils heftigen Überschwemmungen. Das Bild zeigt die Situation damals und heute auf dem Gemeindegebiet von Sulzberg.
Fotos: Ralf Lienert/Werner Kempf
● Überschwemmung 2013 Land
unter in der Kemptener Altstadt:
Der Bachtelbach tritt über die Ufer
und flutet Straßen und Häuser.
Auch bei Starkregen entspannt ins Bett
Umfrage So gehen Kemptener und Oberallgäuer in kritischen Wohnlagen mit Gefahren um
Kempten/Oberallgäu Der Garten
von Theresia Wechs in Hinterstein
ist eine Idylle. Neben dem blühenden Lavendel summen Bienen,
oberhalb des Hauses plätschert ein
Wasserfall. Doch nach der verheerenden Schlammlawine in Oberstdorf kommt auch die 37-Jährige ins
Grübeln. „Angesichts dieses Ereignisses schießen einem schon mal Gedanken durch den Kopf, dass es mit
der Idylle plötzlich vorbei sein
kann“, sagt die Hintersteinerin.
Trotzdem: „Ich habe keine Angst“,
versichert die 37-Jährige.
Kein gutes Gefühl hat dagegen
Georg Waller, der Chef der MittagSchwebebahn in Immenstadt. Im
Sommer 2005 regnete es an einem
Sommertag so stark, dass der
Georg Waller
Theresia Wechs
68-Jährige Angst hatte. „Hätte es 15
Minuten länger geregnet, wäre der
ganze Mittag ins Rutschen gekommen“, spekuliert Waller. „Wenn
hier fünf Kubikmeter Erde abrutschen, kommen 100 Kubikmeter
nach.“ Grund dafür sei die labile
Gesteinsschicht des Mittag. Nach
der Mure von Oberstdorf wird man
sensibler, sagt Edmund Haltmayr
aus Wagneritz,
dessen Haus unterhalb des Grünten steht. Beim
Pfingsthochwasser 1999 stand er
mit der Schaufel
im Garten, hob
Edmund Haltmayr einen Graben aus,
damit das Wasser
sein Anwesen verschonte. „Aber
Angst habe ich keine. Ich vertraue
auf den Schutzwald am Grünten“,
sagt Haltmayr.
Der Respekt vor der Natur sei in
den vergangenen Jahren gewachsen“, meint Berta Blanz (70), die seit
50 Jahren in Gailenberg bei Bad Hindelang unterhalb des „Tiefenbacher
Ecks“ wohnt. Kleinere Muren seien
Berta Blanz
Wolfgang Brutscher
etliche an ihrem Haus vorbei abgegangen.
„Ich bin kein Panik-Typ und gehe
auch bei Starkregen entspannt ins
Bett“, sagt Wolfgang Brutscher. Er
wohnt unterhalb des Hirschbergs in
Bad Hindelang. Wenn eine Mure
kommt, „laufen Geröll und Wasser
auf der Straße neben dem Haus vorbei.“ Unwetter mit Folgen wie in
Oberstdorf könnten jeden Tag passieren. „Von so was lasse ich mich
nicht verrückt machen.“
Gertrud Schwarz sieht die Sache
anders. Sie wohnt in Kempten und
beobachtet dort kritisch, dass in der
Altstadt Stufen ans Ufer gebaut wurden – wenngleich es von der Stadt
heißt: Diese sind zugleich der
Schutzdamm. Sie jedenfalls will sich
genau ansehen, ob das auch stimmt.
Dieter Heiler (75) hat vor der
„Urgewalt“ gewissermaßen kapituliert. Vor genau zehn Jahren hatte er
sich mit der Stadt über einen Hochwasserschutz für sein Haus am Weidacherweg gestritten – erfolglos.
Nach drei Hochwassern hat er sein
Haus dann verkauft: „Das tue ich
mir nicht mehr an.“ (mpf/sh)
Halten die Stufen notfalls das Wasser auf
– darüber grübelt Gertrud Schwarz, die
„Altstadttraudl“.