J6 k u lt u r b e u t e l ver.di publik 05 · 2015 ·········································· k u lt u r b e u t e l ver.di publik 05 · 2015 k i n o ······························································································································································· Jetzt wird’s persönlich ······································································································ Freundschaft – 626 Freundinnen und Freunde versammelt die amerikanische Fotografin Tanja Hollander auf ihrer Facebook-Seite. Über drei Jahre hat sie damit verbracht, alle Facebook-Freunde zu besuchen und zu fotografieren. Ihre Arbeit, die jetzt gleich einer Tapete in der Ausstellung Freundschaft im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zu sehen ist, hat sie „Are you really my friend?“, „Bist du wirklich mein Freund?“ genannt. Dies ist auch die große Frage dieser Ausstellung: Wann ist ein Freund ein Freund? Oder: Wann ist Freundschaft wirklich Freundschaft? In Die Yes Men – Jetzt wird’s persönlich wird die Arbeit der beiden Polit-AktionsKünstler Jacques Servin und Igor Vamos nun schon zum dritten Mal in einem Film dokumentiert. Wieder ist der Zuschauer hautnah dabei, wenn die yes Men und ihre Unterstützer skrupellose Umweltverschmutzer, neoliberale Krisen-Gewinnler und verantwortungslose Profiteure mit Humor und viel Schauspieltalent in Verlegenheit bringen. So stürzt der Aktienkurs des Chemie-Riesen Dow um drei Prozent ab, als ein angeblicher Firmensprecher im Fernsehen verkündet, das Unternehmen werde endlich die Verantwortung für das Bhopal-Unglück von 1984, immer noch die schlimmste Chemie-Katastrophe der Geschichte, übernehmen. Wie zu erwarten, gibt es auf diese Frage nicht nur eine Antwort. Und je nach eigener Haltung fallen die Antworten immer auch ein bisschen anders aus. Bevor man nämlich die fünf großen Ausstellungsräume betritt, aktiviert man erst mal einen Chip mit seinem persönlichen Besucher/innenprofil. Dafür muss man Fragen wie „Schließt Sex Freundschaft aus?“ beantworten. Es ist eine der Fragen, die sicherlich nicht alle mit „natürlich nicht“ beantworten werden. Und so mäandert man durch diese Ausstellung, vorbei an Staats-, Brief-, Tier-, Facebook- und einigen anderen Freundschaften, und ist immer wieder erstaunt darüber, wie sich die Begleittexte zu einzelnen Facetten des Themas ändern, wenn man sein Profil abruft. Der Abschluss der yes-Men-Trilogie entwickelt aber, verglichen zu den ersten beiden Filmen, eine ganz neue Qualität: Erstmals stehen nicht die politischen Aktionen der beiden Protagonisten allein im Zentrum, sondern auch ihr Privatleben wird beleuchtet. So wird Servin über dem zeitfressenden Aktivismus von seinem Lebensgefährten verlassen, während Vamos Vater wird und sich zwischenzeitlich ins Privatleben zurückzieht. Auch die darüber entstehenden Spannungen zwischen den beiden werden nicht ausgespart. Botschaft verkündet: Politisches und gesellschaftliches Engagement ist nicht nur nötig und anstrengend, nervtötend und frustrierend, sondern kann trotzdem eine Menge Spaß machen. Thomas Winkler Die Yes Men – Jetzt wird’s persönlich –UsA/d/f/nl/dÄ 2015, r: lAUrA nix, 91 Min, kinostArt: 20. AUgUst 2015 ··················································································································································································································· lienstadthaus gegen eine todschicke Eigentumswohnung über den Dächern von Manhattan zu tauschen. Zwischendrin genießen beide seine sturen Fahrstunden für sie, die verwöhnte Frau in der Krise. Wenn die zwei doch nicht zusammenkommen, bricht es uns Zuschauern aber nicht das Herz. Denn sie haben sich gegenseitig Lektionen darin erteilt, vom Mitmenschen zu lernen. Ein Spielfilm, der nicht auf einem Roman basiert, son- dern auf einem Artikel der Us-Politikkolumnistin Katha Pollitt. Jutta Vahrson UsA 2014, r: isAbel coixet. d: pAtriciA clArkson, ben kingsley, sAritA choUdhUry, JAke weber, 90 Min., kinostArt: 6. AUgUst Taxi Teheran – Ein Sammeltaxi unterwegs irgendwo in Teheran. Am Steuer sitzt der Filmemacher selbst, unter seinen Fahrgästen finden sich die unterschiedlichsten Typen: Ein Fundamentalist und eine Lehrerin streiten über die Todesstrafe, ein Cineast vertreibt verbotene Arthaus-Filme, eine Anwältin ver- tritt eine Hungerstreikende im Gefängnis. Dem oppositionellen Filmemacher gelingt es auf sehr kreative Weise, sich über sein Berufsverbot hinwegzusetzen. Mit einfachen Mittel und nahezu dokumentarisch erzählt er vom schwierigen Alltag in einer Diktatur. Es ist im Hinblick auf die aktuelle Debatte über den Islam der richtige Film zur richtigen Zeit, ein starkes Bekenntnis zur Freiheit der Kunst. Die wichtigste Rolle spielt Panahis kesse Nichte, auch sie ist sein Fahrgast. Das Mädchen soll mit einer Kleinkamera einen Kurzfilm für ein Schulprojekt drehen, natürlich nach islamischen Regeln, was bedeutet: keine politischen und wirtschaftlichen Themen, schon gar keine kritischen Töne. Taxi Teheran vermittelt mitnichten ein optimistisches Bild der iranischen Gesellschaft, aber dank subtilem Humor und leisem Zynismus verströmt die Studie eine wohltuende Leichtigkeit. Kirsten Liese irAn 2014. r: JAfAr pAnAhi. d: JAfAr pAnAhi U.A., 82 Min., Verleih: weltkino, kinostArt: 23. JUli F O T O S : P R O M O ; V E R L E I H ; N A T E “ I G O R ” S M I T H _ D E S I G N B y P U B L I C S O C I E T y ; M A R E K K R U S Z E W S K I © V G B I L D - K U N S T, B O N N 2 0 1 5 ; G U N T H E R L I T T W I N S K I T E L L E · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · m u lt i m e d i a · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · www.selbstversorger.de – Obst und Gemüse einlagern oder sogar selbst anbauen, Brennholz oder Saatgut selbst erzeugen – welche Vorteile es haben kann, sich selbst zu versorgen, wie man daran Freude hat und was es dafür braucht, darüber informiert die Webseite www.selbstversorger.de. Im Mittelpunkt steht der eigene – oder auch gemeinschaftlich organisierte – Nutzgarten: Man erfährt, wie man ihn plant und anlegt, wie man den Boden bearbeitet und wie man den Jahreszeiten entsprechend gärtnert. Sogar das Herstellen eigenen Saatguts findet Berück··········································· Der Streik der Postbediensteten eskalierte Ende Juni, weil das Unternehmen den Arbeitskampf zu unterlaufen versuchte. Dagegen protestierten sogar spd-Länderminister. Was war passiert? r Die Post ließ Sendungen durch „Freiwillige“ am Sonntag zustellen a Die Post drohte, die Streikenden auszusperren z Die Post ließ größere Sendungen durch Amazon ausliefern Arbeitsministerin Andrea Nahles hat viele Ideen, doch nicht immer sind sie zu Ende gedacht. Von welcher ihrer Ideen waren so wenige angetan, dass das Projekt offiziell zurückgezogen wurde? t von der Mütterrente c vom weitgehenden Verbot von Paternostern b von der Bekämpfung des Missbrauchs bei der Zeitarbeit sichtigung. Doch auch für jene, die selbst nichts anbauen und ernten können, bietet die übersichtliche Webseite viele Anregungen und Anleitungen, etwa zum Einmachen und Einfrieren, Einlegen, Trocknen und Räuchern oder auch zum Lagern. Da hinter all dem ein Buchverlag steht, wird man sehr häufig auf passende Sachbücher hingewiesen. Und viele Tipps für geeignete Werk- zeuge und Behältnisse sind direkt mit Kaufangeboten im integrierten OnlineShop verknüpft. Gleichwohl ermöglicht die sehr informative und eher unaufdringlich wirkende Website einen guten Einstieg in die Selbstversorgung. Henry Steinhau www.wasserwege.eu – Ob per Segeloder Motorboot, ob paddelnd, rudernd oder tretend, ob mit eigenen Wasserfahrzeugen oder als Passagier – bevor man auf’s Wasser geht, muss man wissen, wo welche Wasserwege überhaupt „schiffbar“ sind. Genau diese Frage stellt die Webseite Wasserwege.eu in den Mittelpunkt und beantwortet sie ebenso gründlich wie pragmatisch. Für knapp 30 Länder Europas erhält man zahlreiche Wasserwegbeschreibungen, die jeweils nach dem gleichen Schema aufbereitet sind. Im Kopf finden sich Steckbrief-ähnliche Angaben zum „Profil“ des Gewässers, wozu die Länge des Wasserwegs und dessen Schwierigkeitsgrad zählen, die landseiti- ge Infrastruktur oder auch die Frequentierung durch Boote oder Schiffe sowie etwaige Voraussetzungen wie beispielsweise ein Boots-Führerschein. Darunter erläutern und illustrieren weitere Texte und Fotos die Natur oder die geografischen Gegebenheiten, anliegende Orte und Weiteres. Die Rubrik „Aktuelles“ verzeichnet nützliche Meldungen, etwa zu Schleusenschließungen und -öffnungen oder zu aktuellen Baumaßnahmen. Nicht zuletzt finden sich Links zu einem Bootsvermieterverzeichnis und Last Minute-Wasserreiseangeboten. Henry Steinhau p r e i s r ät s e l ····················································································································································· Und in Frankreich stand Umweltministerin Ségolène Royal blamiert da, obwohl sie im Kern einer sinnvollen Idee folgte. Nach zwei Tagen entschuldigte sie sich bei ihren Landsleuten für ö den Vorschlag, einen Tag pro Woche vegetarisch zu essen f ihren Aufruf, kein Nutella mehr zu essen, da es viel Palmöl enthalte. Dessen Anbau zerstört die Regenwälder g die Forderung, die Hälfte der französischen Atomkraftwerke abzuschalten Da machen es die Roboter offenbar besser. Einer heißt Myon, und er beeindruckte mit seinen Leistungen d als Linienrichter bei der FrauenFußball-WM y als Hotel-Butler der Queen bei deren Deutschlandbesuch s als experimenteller Darsteller bei Auch für Kinder gibt es ein Profil, allerdings eines für alle. Kindgerecht wird versucht, den jungen Besucher/ innen zu verdeutlichen, dass die Freundschaft zu Tieren möglicherweise keine beiderseitige ist. Schließlich könnten sich Haustiere ihre Freunde ja nicht aussuchen. Sie werden gekauft, man bekommt sie geschenkt und sie müssen sich dann zwangsläufig befreunden. Das eigene Kind will davon nichts wissen. Selbstverständlich sei der Kater zuhause der beste Freund, der schnurre doch immer. Viel Zeit kann man vor allem vor dem großen „Atlas der Freundschaft“ verbringen, eine riesige, ausgeleuchtete Karte. Im Zentrum dehnt sich dort die Freundschaft auf weiter Flur aus. Zur Liebe muss man bereits einige Berge und Klippen nehmen, während der Sex einem Gipfelsturm gleichkommt, zu dessen Füßen zum einen der kleine „Baggersee“ und zum anderen der üppige „Fjord des Eros“ liegt. Der Atlas ist ganz sicher einer der Höhepunkte dieser Themenausstellung, die man – wenn auch noch mit offenen Fragen – ganz und gar befriedigt wieder verlässt. Petra Welzel deUtsches hygiene-MUseUM, lingnerplAtz 1, dresden, bis 1. noVeMber 2015, di-so 10-18 Uhr ··················································································································································································································· Das Ergebnis ist eine mitunter holprige, aber schlussendlich doch faszinierende Mixtur aus PropagandaFilm und Polit-Biografie. Die ebenso aufrüttelt wie nachdenklich stimmt, vor allem aber eine wichtige Learning to Drive: Fahrstunden fürs Leben – Konstruiert wie eine Liebeskomödie, eine Irreführung. Wir beobachten abwechselnd das Leben einer top bezahlten Literaturkritikerin mit Ehekummer (Patricia Clarkson) und das eines legal eingewanderten Sikh-Akademikers als Taxifahrer und Fahrlehrer (Ben Kingsley). Ähnliche Themen – Maloche, Kohle, Gefühle – betreffen beide ganz unterschiedlich. Er lebt als Single in einer Mietskellerwohnung in Queens, die ihm als privates Auffanglager für verzweifelte, weil weniger legale Landsleute dient. Sie ist durch Scheidungsungerechtigkeiten gezwungen, ihr Fami- a u s s t e l l u n g ······················································································· ein freUnd, ein gUter freUnd … Wie weit können ein Anzug aus zweiter Hand, ein paar gefälschte Visitenkarten und Pressemitteilungen einen bringen? Kurzfristig zumindest in die Vorstandsetagen großer Konzerne, von dort in die Abendnachrichten und die Schlagzeilen, aber, wenn es blöd läuft, auch ins Gefängnis. Das ist das Risiko, wenn man versucht, die Mächtigen bloßzustellen, wie es den yes Men, der weltweit bekanntesten Spaßguerilla-Truppe, seit gut 15 Jahren immer wieder gelingt. Während sie also nun zum Klimagipfel nach Kopenhagen reisen oder in Uganda die Folgen der Erderwärmung studieren, erzählen Servin und Vamos aus dem Off von gescheiterten Beziehungen und einsamen Nächten, Frustrationen und Ängsten, die ein Leben als Polit-Aktivist mit sich bringt. J7 My Square Lady an der Komischen Oper in Berlin Es war eine Premiere in der Us-Hauptstadt: Das Weiße Haus ganz bunt! Am 26. Juni ließ Us-Präsident Obama seinen Amtssitz in den Farben des Regenbogens erleuchten. Was war der Anlass? j das jährliche Sommerfest p das Urteil des Obersten Gerichts, das landesweit die Homo-Ehe erlaubte k das Coming-Out von Pentagon-Chef Ashton Carter Kurz zuvor hatte Obama im Kongress einen wichtigen Erfolg errungen. Die Abgeordneten gaben ihm mit dem sogenannten „Fast Track“-Gesetz h weitgehende Vollmacht, Freihandelsabkommen wie ttip auszuhandeln ä die Möglichkeit, schnelle Eisenbahnverbindungen zu bauen l das Recht, verdiente Immigranten beschleunigt einzubürgern Junge Gewerkschaftsmitglieder brauchen gute Ideen, um andere Beschäftigte zu überzeugen, sich für ihre Interessen stark zu machen. ver.di hat die gute Idee, sie dafür zu coachen – und zwar mit e einer Smartphone-App namens „Arsch hoch“ w Fortbildungen in den Sommermonaten i der Trainingsreihe „Empower!“ In Deutschland sind wir sooo umweltbewusst – und machen doch mehr Müll als andere Europäer – über 600 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Das liegt auch daran, dass pro Tag bei uns i 16 Millionen Pappbecher weggeworfen werden m 16 Millionen Matratzen entsorgt werden u 16 Millionen Kilo Katzenstreu in der Tonne landen Wir verlosen unter allen richtigen Einsendungen 3x Dominique Manottis Krimi Abpfiff aus dem Argument Verlag. Die Kennbuchstaben der richtigen Lösungen, ergeben, neu sortiert, eine gesunde sommerliche Erfrischung. Bitte schicken Sie eine Postkarte mit dem Lösungswort bis zum 15. September 2015 (Datum des Poststempels) an: ver.di publik Preisrätsel, 10112 Berlin. Letztes Lösungswort: selektor Gewonnen haben: J. Stelte (Oberursel), D. Zahn (Saalfeld/Saale) K. Steinberg (Löwenberger Land). Herzlichen Glückwunsch! Gehorsam – Ob Judentum, Christentum oder Islam, alle drei Religionen basieren auf der Geschichte von Abraham, dessen Glaube so groß und fest ist, dass er sogar bereit dazu ist, seinen einzigen, lange ersehnten Sohn für diesen Glauben zu opfern. Es ist mutig, in Zeiten, in denen selbsternannte Gotteskrieger tödliche Attentate auf unschuldige Menschen verüben, eine Ausstellung über dieses alttestamentarische Thema mit dem zunächst provokanten Titel Gehorsam zu zeigen. Aber diese sehr einfühlsame Installation des Filmemachers Peter Greenaway und der Multimediakünstlerin Saskia Bod- deke über 15 Räume führt ihre Betrachter/innen durch die Geschichte und teils auch Gegenwart, um zu zeigen, wo zu gehorchen von Nutzen ist und wo falsch verstandener Gehorsam beginnt. Im Epilog bindet ein kleiner Junge, unterstützt von einem älteren Mann, seine Schnürsenkel. Von hier an begleitet einen die immer gleiche Musik durch Räume, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Jeder Raum ist aber auf eine besondere Art sinnlich erlebbar. Und kein Raum lässt daran zweifeln, dass das menschliche Drama Abrahams für vermeintlich höhere Motive missbraucht wurde und wird. Petra Welzel Jüdisches MUseUM berlin, lindenstr. 9-14, bis 13. septeMber, Mo 10-22 Uhr, di-so 10-20 Uhr Erwin Wurm. Fichte – Der Currybus ist wie gemacht für die Stadt Wolfsburg. Ein alter Bulli, curryfarben, hoch glänzend zwar, aber irgendwie aus dem Leim gehend, steht er in der Vw Stadt vor dem Kunstmuseum, als wür- de er zu einer Verballhornung des Volkswagen einladen. Aber in der großen Ausstellungshalle bekommt dann auch ein Mercedes sein Fett weg. Ein übergroßes menschliches Bündel ist auf das Dach einer schwarzen SternLimousine gekracht mit den entsprechenden Folgen. Willkommen in Erwin Wurms deutschem Tannenwald! Die Ausstellung des österreichischen Bildhauers findet in der Reihe Künstlerprojekte statt, und Erwin Wurm konnte offenbar nicht anders, als in der Autostadt neben des Deutschen liebsten Stücks auch noch den deutschen Wald gegen den Strich zu bürsten. Deshalb hängen jetzt im Museum die Fichten verkehrt herum von der Decke und andere Waldgeister pflastern den Parcours. So wandert man durch ein modernes Kuriositätenkabinett, in dem das nicht Normale zum Individuellen wird. Und in diesem Wald lässt sich dann tatsächlich sagen: Die Gedanken sind frei. Petra Welzel kUnstMUseUM wolfsbUrg, hollerplAtz 1, bis 13. septeMber 2015, di-so 11-18 Uhr ··········································· b u c h ······························································································································································· Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz – Halbwüchsige, die stehlen und vergewaltigen. Militärpolizisten und Staatssicherheitsleute, die ihre Mitbürger schikanieren. Verzweifelte Flüchtlinge ohne Hoffnung auf eine anständige Unterkunft. Der 42-jährige irakische Autor Hassan Blasim erzählt in seinen neuen Kurzgeschichten von Menschen in einer erbarmungslosen Welt und von einem Land, das sich seit 35 Jahren im Krieg befindet. Seine Heimat Irak ist geprägt von einer langen, bitteren Vergangenheit aus Gewalt und Unterdrückung. Blasim beobachtet Gemüsehändler, Taschendiebe und Zigarettenverkäufer. Er schildert makabere Morde in heruntergekommenen Vierteln und Religionskriege. Sein Stil ist trocken, schonungslos und dokumentarisch. Blasim, der 2004 nach Finnland emigrierte, dreht seine Kurzgeschichten gelegentlich auch ins Surreale und überzeugt mit subtilem Charme. Er ist ein bitterböser, hellwacher Chronist des irakischen Chaos. Nachhaltige Hoffnung hat er nicht, denn „der brüchige Friede, der zurzeit herrscht, ist nichts als ein schlafender Vulkan“. Günter Keil kUnstMAnn VerlAg, 256 seiten, übersetzt Von hArtMUt fÄhndrich, 19.95 € Dominique Manotti: Abpfiff – Glauben wir wirklich, im Milliardengeschäft „globaler Fußball“ gehe es außerhalb der fifA seriös zu? Glauben wir wirklich, nur im Radsport werde gedopt und Turbo-Offensive im Fußball funktioniere mit Traubenzucker? Nach Dominique Manottis rasantem Krimi wären wir naiv, das weiterhin zu glauben. Im glänzend recherchierten Plot der preisgekrönten Königin des französischen Polizeikrimis muss ihr scharfsinniger Pariser Drogenfahnder Daquin tief in einen Sumpf aus korrupter Kommunalpolitik, brutalem Fußballgeschäft und lukrativem Drogenhandel steigen, um den Mord an einem Kollegen aufzuklären. Die Romane der Historikerin und Ex-Journalistin sind mit ihrem glasklaren, unsentimentalen und temporeichen Stil ein Spiegelbild unserer gewalthaltigen Wirklichkeit; kurze, harte Sätze treiben die Spannung voran, kein Wort ist zuviel. Nahezu schmerzhafte Unmittelbarkeit gelingt ihr durch konsequentes Präsens. Manotti seziert kühl die Machenschaften spätkapitalistischen Raubrittertums, ihr Commissaire ermittelt illusionslos, aber nicht depressiv, genießt die französische Küche, seinen Liebhaber und weiß, dass die Glieder der Krake nachwachsen, wenn man ihr einige abtrennt. Wer Manottis Meisterwerk schon auf dem Weg in die Ferien atemlos verschlingt, kann sich mit bislang fünf weiteren Übersetzungen ihrer Krimis trösten. Ulla Lessmann AriAdne kriMinAlroMAn iM ArgUMent VerlAg, 230 s., übersetzt Von AndreA stephAni, 17 € Blachut/Klages/Kuhn (Hg.): Reflexionen des beschädigten Lebens? – „Angesichts der großen Lücken, die sowohl in den Häuserreihen als auch in den Familien klafften, war es kaum möglich, das Vergangene vollständig zu verdrängen“, schreibt Sarah Kordecki in ihrem Beitrag für diesen Sammelband über das deutsche Nachkriegskino. Ihre kluge Untersuchung von weniger bekannten Heimatfilmen der 1950er Jahre unter dem Titel Heile Welt ohne Vergangenheit? bringt überraschende Ergebnisse. In einem Genre, das als Verdrängungsfilm gilt, spürt sie das Unheimliche auf. Sie zeigt, wie das Schweigen und Verschweigen durchbrochen wird, indem das Thema einer alten Schuld der Vätergeneration immer wieder neu behandelt wird. Auf indirekte, anspielungsreiche Weise werden so die Themen Kriegsschuld, Vertreibung und Massenvernichtung behandelt, die die Zuschauer mit ihren Erfahrungen ergänzten. Dagegen blieben Filme, die die Frage der Schuld direkt behandelten,wie Morituri (1947/48) von Eugen york, der erste deutsche Spielfilm zum Thema Holocaust, erfolglos. Bettina Klix nAchkriegskino in deUtschlAnd zwischen 1945 Und1962, edition text + kritik, München, 2015, 357 s., zAhlreiche AbbildUngen, 39 € ··········································· musik······························································································································································ Alune Wade & Harld López-Nussa: Havana – Paris – Dakar – Warum fasziniert die afrokubanische Musik die Westafrikaner so sehr? Sie hören darin Echos ihrer eigenen afrikanischen Kultur, die durch die Nachfahren afrikanischer Sklaven in der neuen Welt vielfältigste Verästelungen hervorgebracht hat. Der glänzend aufgelegte senegalesische Bassist und Sänger Alune Wade zeigt im transatlantischen Bündnis mit dem brillanten kubanischen Pianisten Harold López-Nussa, wie groß und bereichernd die musikalische Schnittmenge ist, aus der sich schöpfen lässt. In ihrem ersten gemeinsamen Projekt erkunden sie ein weiträumiges Terrain aus Rumba, Cha-Cha-Cha, kapverdischer Morna, arabischem Raï-Klassiker und SongPerlen aus der Feder von Afro-Stars wie Manu Dibango und Salif Keita. Zu ihrer vor Spielfreude überschäumenden Quintett-Formation stoßen illustre Gäste wie die kapverdische Sängerin Sara Tavares, der österreichische Gitarrist Wolfgang Muthspiel, der marokkanische Percussionist Aziz Sahmaoui und Mitglieder vom kubanischen Orquesta Aragón. Die perfekte Sommer-cd – leichtfüßig und unbeschwert, aber nicht ohne Tiefgang. Peter Rixen cd, world VillAge / hArMoniA MUndi Boy: We Were Here – Eigentlich ist es doch ganz einfach, einen Hit zu landen. Man braucht bloß gute Songs mit berückenden Melodien und dann noch jemanden, der singen kann wie ein Engel. Ja, so einfach ist das manchmal, genau so jedenfalls haben Boy vor vier Jahren mit ihrem Debütalbum Mutual Friends eine phantastische Erfolgsgeschichte geschrieben. Ohne Skandal, ohne Medienhype und ohne sich dem Zeitgeist an den Hals zu werfen, einfach nur mit Hilfe von guter Musik wurde das Hamburger Duo sogar im Ausland bekannt. Nun, mit ihrem zweiten Werk We Were Here werden Valeska Steiner und Sonja Glass, da muss man kein Prophet sein, diese Erfolgsgeschichte nahtlos fortsetzen: Denn schlauerweise haben die beiden nichts verändert. Der mit dezenter Elektronik ausgepolsterte, aber jederzeit watteweiche Sound zwischen Folk und Pop wirkt, als sei er in der Lage, Steine zum Schmelzen zu bringen. Noch besser: Die Songs und ihre Melodien scheinen in ihrer makellosen Schönheit tatsächlich direkt aus dem Himmel gefallen zu sein. Thomas Winkler cd, grönlAnd/ roUgh trAde Gabi Delgado: 2 – Als wäre die Zeit stehen geblieben. Oder besser: Als würde die Zeit immer noch genau in jenem abgehackten Takt vergehen, mit dem die Deutsch-AmerikanischeFreundschaft einst ein ganzes Land schockierte. 34 Jahre nach Tanz den Mussolini legt dAf-Sänger Gabi Delgado-López mit 2 nicht nur vom Umfang her ein Monster von Platte vor. Eine Doppel-cd mit insgesamt 32 Tracks mit exakt derselben elektronischen Marschmusik, die damals das Techno-Zeitalter vorherahnte. Über gnadenlos stumpf pumpenden Beats wechseln sich S/MFantasien ab mit einem Loblied auf den Erdbeerkuchen. Mal fordert er eine „neue deutsche Clubmusik“ ein, befiehlt dann martialisch „Zerstör die Disco“, analysiert mit wenigen schneidigen Sätzen „die Lage der Nation“ und stellt schließlich fest: „Sex und Drogen und Liebe machen glücklich.“ Erstaunlich ist, dass Delgados bisweilen indifferentes Spiel mit faschistischer Ästhetik, sexualisierten Metaphern und Party als Religionsersatz immer noch zu verunsichern und irritieren versteht. Und das ist immer noch das Größte, was Kunst leisten kann. Thomas Winkler cd, obliVion/spV
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