7. Einheit: «1814 – E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf»

7. Einheit:
«1814 – E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf»
Autor
Universaltalent
E.T.A. Hoffmann (1776­1822) schrieb „nur“ in seinen letzten 13 Jahren. Davor verschrieb er sich – aufgrund seiner Dreifachbegabung – der Musik und der bildenden Kunst, er war Essayist, Musikpädagoge, Maler, Komponist, etc. sein Brotberuf war aber Jurist. Als Künstler fertigte er Illustrationen seiner eigenen Werke an, auch Karikaturen. Diente im Heer und wurde nach Polen versetzt (Plock und Warschau). Musikalisch schätzter er sich selbst hoch ein, das Publikum zeigte nach seinem Tod wenig Interesse, man konzentrierte sich auf seine Literatur. Er komponierte Singspiele, Opern, Messen, Kammermusik,... Seine Texte waren erfolgreicher, aus finanziellen Gründen hat er deshalb mehr geschrieben als komponiert. Wirkung
In Deutschland zollte man ihm nach seinem Tod recht wenig Interesse, v.a. Goethe (und der verstorbene Schiller) waren zu der Zeit beliebter beim Volk. Mangelnde ästhetische Wertschätzung, man sah seine Werke als „trivial“ an, er wurde „Gespenster­Hoffmann“ genannt, zudem war sein mangelndes politisches Interesse den Vormärzdichtern ein Dorn im Auge. Sein unsolider Lebenswandel (enormer Alkoholkonsum) verbunden mit dem Schuldenberg, den er seinen Erben hinterließ, rückten ihn auch nicht in ein besseres Licht. Trotzdem setzten sich Künstler wie Schumann (Vertonungen) mit ihm auseinander, besonders Richard Wagner sah sich ihm verpflichtet („Kampf der Sänger“ → Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg). Im Ausland wurde Hoffmann viel euphorischer aufgenommen und mit Goethe und Schiller gleichgesetzt. Besonders die Franzosen verehrten ihn (Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ 1881), Sir Walter Scott hatte hingegen eine ambivalente Haltung, er warf Hoffmann den Gebrauch von Opium vor, schätzte aber z.B. „Die Majorat“. In den USA gilt Hoffmann als einer der bekanntesten Vertreter des „German Terror“.
„Fantasiestücke in Callot's Manier“
„Der Goldne Topf“ ein Teild er „Fantasiestücke in Callot's Manier“, die 1814/1815 erschienen sind. Diese waren Hoffmanns erste Buchveröffentlichung, vorher schrieb er nur einzelne Texte für Zeitungen u.ä. Es folgte ein Echo in der Literaturkritik. In den Fantasiestücken wird das Prinzip der romantischen Kunst vollwertig gewahrt, die Empfindung spielt eine wichtige Rolle, romantische Entgrenzung wird begeistert dargestellt; die Fantasie auch intermedial in musikalischer Form umgesetzt. Die 19 Werke dieser Sammlung sind von gewaltiger Heterogenität geprägt („wüste Materialsammlung“), verschiedenste Erzählungen mit jeweils anderen Kunstanschauungen. Jean Paul, der das Vorwort verfasst, spricht von „Kunstnovelle“. Im Titelblatt sieht man die Verschmelzung von Europa und Orient (Sphinx als Hybridwesen → Allegorisierung von Kunst und Geheimnis) Jacques Callot, französischer Zeichner: Vorliebe für das Groteske (Versuchung des hl. Antonius), drastischer Realismus in seinen Werken, kein Künstler der Klassik, er stellt heterogene Charaktere dar → für Hoffmann eine gute Vorbild­/Projektionsfigur, Vermischung der Realität mit Irrationalem, Hoffmann als Grafiker orientierte sich ebenfalls an Callots Stil
Textgestalt
Titel
„Goldene“ oder „Goldne“? Im Text kommen beide Schreibweisen vor, kommt auf den Satzrhythmus an. In der heutigen Schreibung wird „Der goldne Topf“ bevorzugt.
Gliederung
Genau zwölf „Vigilien“ (Nachtwachen), die Einteilung in „Kapitel“ war zu gewöhnlich, dies geschau schon bei Jean Paul, der ein großes Vorbild für Hoffmann war. Der Begriff „Nachtwache“ war zu jener Zeit schon literarischer Gesprächsstoff – 1804 Bonaventuras „Nachtwache“
Inhalt
Der tolpatschige und unglückselgie Student Anselmus befindet sich im Kräftefeld zwischen Zaubereu (Lindhorst, Serpentina, Äpfelweib) und dem Bürgertum (Fam. Paulmann, Veronika als irdische Rivalin Serpentinas). Das Wunderliche des Erzählens rückt das normale Leben „ins Blaue“ hinaus. Anselmus als Pechvogel wird aufgrund eines Ungeschicks von einem Äpfelweib verwunschen, am Ufer der Elbe begegnet er dann drei Schlangen, er ist von Serpentina beeindruckt. Er bekommt durch Paulmann eine Stelle als Kopist beim Archivar Lindhorst, der eigentlich ein Abkömmling einer königlichen Feuerlilie ist, er offenbart sich Anselmus als Salamander (Elementargeist des Feuers), der erst erlöst werden kann, wenn seine drei Töchter vermählt werden. Der Haushalt des Archivars wirkt befremdlich, der Türklopfer wird zum Kopf des Äpfelweibs, eine Schlange dient als Klingelschnur, Lindhorst schenkt dem Studenten eine Essenz zur Abwehr des Äpfelweibs. Im Bibliothekssaal, wo Anselmus als Kopist arbeitet, befindet sich mittig der goldene Topf, der als Mitgift dient. Indessen träumt Veronika Paulmann von einer bürgerlichen Zukunft mit Anselmus, sie fungiert als Gegenpol der romantischen Entgrenzung (biedermeierlich), Anselmus ist von der Welt der Elementargeister befangen, sie will mithilfe des Äpfelweibs Anselmus verhexen, das Äpfelweib hingegen möchte den Topf, zum Äquinoktium an einem Kreuzweg (früher ein magischer Ort) halten sie eine Beschöwrung ab, Veronika wird ohnmächtig und zweifelt nach Erwachung an dem Ritual (doppelte Interpretationsmöglichkeit), doch es schein erfolgreich zu sein, Anselmus verlobt sich daraufhin mit Veronika. Lindhorst bestraft seine Untreue, lässt ihn von magischen Getier drangsalieren und sperrt ihn in eine Kristallflasche. Im Ende folgt die Auf­ und Erlösung, Lindhorst mit Papagei besiegt im Duell die Hexe und ihren Kater, er führt Anselmus danach zu Serpentina, die dann heiraten; Veronika hingegen erfüllt sich ihren Traum mit einem anderen Mann, während Anselmus mit Serpentina glücklich in Atlantis lebt. Zum Schluss wird der Erzähler, der Züge Hoffmanns trägt, selbst Teil des Texts → Illusionsbruch, aber romantische Ironie in Reinkultur, der Dichter darf in seinem Werk alles!
Metamorphosen des Märchens
Märchentraditionen
Anregungen: „Kunstmärchen“ eine sehr junge Gattung aus dem 18. Jahrhundert, ein Produkt der Aufklärung, Wielands „Märchen des Prinzen Biribinker“, es lebt vond er Spannung zw. Realität und dem Phantasitischen, realitätsflüchtige Literatur, „Reise in eine andere Welt“. Anregung Hoffmanns durch Carlo Gozzi, auch nachgewiesene Bekanntschaft (durch Briefe), späteres Auftauchen in den „Serapions­Brüdern“; im Kunstmärchen sind die bürgerlichen Figuren den phantastischen Wesen skeptisch eingestellt, in Volksmärchen sind sie selbstverständlich. Hoffmann als Mozartfan, Ähnlichkeiten zwischen „Zauberflöte“ und „Der goldne Topf“ → beide Titel beschreiben magische Requisiten, die Struktur ist ähnlich, übernatürliche Kräfte ringen über das Überleben eines Sterblichen, ähnliche Figurenkonstellation, Goethe schrieb „Das Märchen“, welches zwar dichterisch sehr wertvoll war, jedoch keine schlüssige Erklärung bot, in diesem kam aber eine smaragdgrüne Schlange, die Hilfe und Opfer bringt, gleichzeitig ein Weisheitssymbol; bei Novalis' Heinrich von Ofterdingen wird dem Helden eine Geschichte über Atlantis, dem „Land der Poesie“ erzählt (selber Wortlaut im Goldnen Topf), in beiden Geschichten verschwinden die Hauptfiguren em Ende dorthin.
Erster Satz: Wie geht man mit Prinzipien der Märchen um? → hier ein anderer Zugriff auf die erzählte Welt: genaue irdische Erwähnung (Dresden, Elbe, Schwarzes Tor (welches existierte, zum Zeitpunkt des Erscheinens aber schon abgerissen wurde, beibehalten wegen Symbolhaftigkeit)), konkrete Angaben von Ort und Zeit sind im Volksmärchen unüblich, Jahr wird nicht genau angegeben, aber der Tag (Himmelfahrt, Äquinoktium, 4. Februar (Veronikas Namenstag)), Studenten sind bei Hoffmann instabile Figuren (z.B. auch im „Sandmann“), Anselmus als „Dummling auf dem Weg zum Glück“ dargestellt; Helden­Typus des romantischen Sonderlings, biographischer Interpretationsansatz, 18. März der Namenstag von Hoffmanns Frau → in Literatur wird Liebeskummer sublimiert, seine Beziehung zu Julia Mark ging zu Ende → Planung des Goldnen Topfs. Sind Kunstmärchen von der Realität abgehoben? Nein, sie sind Spiegel der zeitgenössischen Umbrüche, kein zeitloses Märchenland → es entsteht in Zeiten voll Krieg und Elend (Schlacht bei Dresden → Hoffmanns Briefe), Besetzung durch Franzosen, bis zur Kapitulation Hunger und Krankheit im Volk.
Untertitel: Märchen aus der Neuen Zeit. → Flucht scheint weder intendiert noch angedeutet zu sein. Wirtschaftliche Umbrüche: Frühkapitalismus, undisziplinierte maßlose Bewegungen passen nicht ins ökonomische Bild (Hoffmanns Figuren zappeln oft rum und sind hektisch) → Verwünschung des Äpfelweibs bezieht sich auf das Herumzappeln Märchenwelt und historischer Wandel
Unheimliche Wiederkehr des Alten in der Alltagserfahrung, 1812: Beginn der Restauration, in Hoffmanns Erzählung → Entthroung und erdrücktes Wesen; Zauberfigur intrigiert aus dem Verborgenen heraus (Restaurative Kräfte arbeiten ähnlich → ziehen auf gesichtslose Art ihre Fäden) Hoffmann als Jurist Einblick auf das manipulative Staatswesen.
Doppelte Lesart
Märchenwelt (und damit Teil der Realität) oder doch nur pure Einbildungskraft (durch Rausch)?
Subjektive Lesart (als Märchen): Aus Anselmus' Blickwinkel, hat Anteil am Wunderbarem, die Umwelt reagiert ignorant mit Verständnislosigkeit, Serpentina in dieser Lesart als Schutzengel, Veronika als Agentin des Spießbürgertums eine „Verführerin“, Anselmus findet seinen Weg ins Glück in Richtung Atlantis
Objektive Lesart: psychologische Novelle bzw. Krankheitsbeleg, Weltbefremdheit nur in Anselmus' Kopf, Serpentina agiert als Verführerin (bereits als grüne Schlange negativ konnotiert), Veronika nun als Retterfigur, gerät vom Wahnsinn ins Idyll; sie findet in beiden Lesarten nach Anselmus' Verschwinden ihr Glück bei einem anderen Mann. Serpentina und Veronika voneinander abhängig, Anselmus endet im Unglück/Wahnsinn → Irren nach psychologischer Verwirrung → Selbstmord
beide Lesarten markieren Grenzüberschreitung (Märchenwelt, Wahnsinn): Begegnung mit Unwirklichem ­ „Schlänglein im Wasser“ → Schein des Feuerwerks? → Fehlinterpretation, viele Täuschungen sind möglich
Wahnsinn und Selbstmord
Hoffmann ist seelenkundlich sehr interessiert, im Zuge der Wertung zwischen Gut & Böse war die Naturphilosophie wegweisend; Adalbert Friedrich Marcus, ein jüdischer Arzt, spricht vom Zusammenwirken von Reizen, die das Seelenleben beeinträchtigen und zum Abnormen führen → Anselmus als Schizophrener? (Schizophrenie erst hundert Jahre später klinisch beschrieben), „Lenz“ von Büchner behandelt ebenfalls bis dahin nicht klinisch nachgewiesene bzw. beschriebene Krankheitssymptome. Anselmus Eigenarten: schubweises Auftreten, Disassoziation, Paranoia, Angstvorstellung, Halluzinationen, Katakonie (Bewegungsstörung),...
Ende: Anselmus verschwindet aus dem Text → was ist geschehen? Ist er in Atlantis angekommen oder in die Elbe gesprungen? „Versunkenes“ ambivalent; in 2. Vigilie vorausdeutend, auch die Verwüschung des Äpfelweibs prophezeiend („Kristall“ und „Fall“), in psychologischer Lesart wird das Schema des Bildungsromans auf den Kopf gestellt → Endprodukt, das auf die Zerstörung des Menschen aus ist.