#190
Februar 2016
newsletter
Magazin der Kommission der
Bischofskonferenzen der EU
und des Jesuit European Office
D i e E U a u s c h r i s t l i c h e r Pe r s p e k t i ve
Leitartikel
Patrick H. Daly
Dabei sein oder nicht dabei sein, das ist hier die Frage
Das britische Referendum verspricht, eine
grundlegende Debatte über Europa zu entfachen – und das ist eine gute Nachricht.
Der britische Premierminister David Cameron
hat versprochen, im Frühsommer 2016 ein Referendum über die Frage abzuhalten, ob das Vereinigte Königreich in der EU verbleiben oder
austreten soll. Diese Volksabstimmung wird
nur wenige Monate nach dem 70. Jahrestag
der Züricher Rede von Sir Winston Churchill
stattfinden, in der zum ersten Mal nach dem
Zweiten Weltkrieg die Idee „Vereinigter Staaten
von Europa” vorgebracht wurde.
Bereits während der dunkelsten Tage des
Krieges im besetzten Frankreich hatte Robert
Schuman ähnliche Überlegungen angestellt,
doch Churchill kommt das Verdienst zu, den
Stein ins Rollen gebracht zu haben, indem er
die Idee eines europäischen Projekts in die
Öffentlichkeit einbrachte. Gleichwohl nahm Sir
Winston Churchill ein Geheimnis mit ins Grab:
Obwohl er sich selbst und Großbritannien
als „Freund und Förderer des neuen Europa”
bezeichnete, bleibt die Frage offen, ob er jemals
die Mitgliedschaft seines Landes in diesem neuen Europa wünschte.
Letztendlich unterschrieb das Vereinigte
Königreich den Vertrag von Rom und trat,
zusammen mit seinen Nachbarn Irland und
Dänemark, am 1. Januar 1973 der EWG bei.
Aber während sich Irland in der europäischen Staatengemeinschaft so wohl fühlte wie
der sprichwörtliche Fisch im Wasser, tut sich
Großbritannien bis heute schwer damit, sich
rückhaltlos für den europäischen Traum zu engagieren. Für Großbritannien bleibt die Frage
„Dabei sein oder nicht dabei sein?” von existentieller Bedeutung. David Cameron hofft nun,
mit Hilfe des im Sommer stattfindenden Referendums dem Dilemma seiner Landsleute ein
für allemal ein Ende zu setzen.
Es muss dem Vereinigten Königreich allerdeuropeinfos #190 | Februar, 2016
ings zugute gehalten werden, dass es den anderen Mitgliedstaaten gegenüber immer ein
großartiger und konstruktiver Partner gewesen
ist. Auch wenn die Briten in manchen wichtigen Fragen eigene Wege gegangen sind – man
denke an Schengen, die Sozialcharta oder das
metrische System –, so haben sie sich selbst in
der Ära Margaret Thatchers ins Zeug gelegt und
ihren europäischen Kollegen gezeigt, dass man
gut mit ihnen arbeiten kann.
Die britische EU-Skepsis ist ein Thema der
Boulevardpresse. Die Bewohner von „Little Britain“ in der gleichnamigen britischen
Fernseh-Comedysendung lesen Boulevardzeitungen und wählen dann die UKIP. Welche Argumente auch immer von den EU-Skeptikern
angeführt werden, sie sind ganz und gar fadenscheinig. Die City of London, der Verband der
britischen Industrie, der Economist, die Financial Times und die anderen seriösen Zeitungen
sprechen sich allesamt für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Doch in der britischen Mittelschicht wird das Thema der EU-Mitgliedschaft derart kontrovers diskutiert, dass
ein Referendum politisch erforderlich wurde.
Das Gute an der angekündigten Volksabstimmung ist, dass sie eine grundlegende Debatte
darüber entfachen wird, was es bedeutet, in
der EU zu sein, und was heute, 70 Jahre nach
Churchills Europa-Rede, Aufgabe, Zweck und
Werte des europäischen Projekts sind. Diese
britische EU-Debatte wird sich – auch angesichts des gewaltigen Einflusses der britischen
Print-, auditiven und visuellen Medien – europaweit in Gesprächen und Diskussionen
niederschlagen. Das ist gut für Großbritannien;
das ist aber auch gut für uns alle, denen das europäische Projekt am Herzen liegt.
Unabhängig vom Ausgang der öffentlichen Debatte und mit dem gebührenden Respekt für
eine von einem souveränen Staat getroffene
Entscheidung ist davon auszugehen, dass sich
selbst äußerst zurückhaltende Kommentatoren
für den Verbleib Großbritanniens in der EU
aussprechen werden, wenn sie das Thema im
Lichte der Soziallehre der katholischen Kirche
betrachten, – denn Großbritannien ist ein Mitglied unserer Familie! Daher lautet unser Appell
an unsere britischen Leser: Stimmen Sie für den
Verbleib in der EU, und überzeugen Sie auch all
Ihre Freunde!
Wenn Sie, liebe britische Leser, Ihre Entscheidung getroffen haben, dann verbleiben Sie nicht
widerwillig, nicht mürrisch in der EU. Seien Sie
mit ganzem Herzen und Begeisterung dabei;
seien Sie erfüllt von dem Wunsch, als Briten
einen einzigartigen Beitrag zur Schaffung eines
besseren und gerechteren Europa zu leisten –
eines Europa, auf das Sir Winston Churchill
stolz wäre.
P. Patrick H. Daly
Generalsekretär der COMECE
Originalfassung des Artikels: Englisch
Inhalt
Gerechter Krieg gegen den
Terrorismus?
2
Soziales Europa: letzte Chance für
einen Richtungswechsel?
3
Die Krise Europa: Umbruch oder
Aufbruch?
4
Zur Ideologie der Neuen Rechten in
Ungarn
5
Was ist los in Polen?
6
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2
Gerechter Krieg gegen den Terrorismus?
Aussenpolitik
Europäische Auswärtige Dienst
Ist die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS legitim? Gerhard Beestermöller,
Professor für theologische Ethik an der
Luxemburg School of Religion and Society,
sucht nach Antworten aus der Perspektive
katholischer Friedensethik.
„Frankreich ist im Krieg“ - so der französische Präsident François Hollande vor den
beiden Parlamentskammern im Schloss Versailles drei Tage nach den Terroranschlägen
vom 13. November 2015. Dieser Satz hat es in
sich. Wenn Krieg herrscht, dann gelten nicht
mehr die strikten Beschränkungen staatlicher
Gewaltausübung in Friedenszeiten, sondern
der Staat darf massiv in Freiheit und Eigentum eingreifen und militärische Gewalt gegen
Kriegsgegner richten.
Zwischen
Verbrechensbekämpfung und Krieg
Kann man hier aber wirklich von Krieg sprechen? Zumindest nicht so, wie man ihn im
20. Jahrhundert kannte: Massenheere, Einberufung der ganzen wehrfähigen männlichen Bevölkerung, Totalzerstörung ganzer
Landstriche, Millionen von Toten. Auf der
anderen Seite kann man aber auch nicht nur
von Verbrechensbekämpfung sprechen. Terroranschläge richten sich gegen den Fortbestand
eines Gemeinwesens. Es handelt sich um massive Gewaltaktionen, die fortgesetzt werden.
Das Schadensausmaß geht über das von Verbrechen weit hinaus.
Das ist das Problem: Terrorismus unterläuft
das Schema von Verbrechensbekämpfung
und Krieg. Die Errungenschaft neuzeitlicher
Staatlichkeit, die Friedenswahrung an die
Außengrenzen zu verlagern, und im Binnenraum das Recht durchzusetzen, gerät unter
Druck. Das traditionelle Schema trägt kaum
mehr.
Das wäre eigentlich die Stunde der prinzipiell
denkenden Ethik, um neue Kategorien zu
entwickeln. Als das gültige Paradigma legitimer Gewaltanwendung gilt allgemein der
„gerechte Krieg“. Ist dies nicht genauso obsolet geworden? Was wenig reflektiert wird, ist,
dass es aus einer Zeit stammt, in der es die
Unterscheidung zwischen „zwischenstaatlich“
und „innerstaatlich“ noch gar nicht gab, weil
Antike und Mittelalter noch gar keine Staaten
kannte. Deshalb konnte die Durchsetzung
eines richterlichen Urteils, die wir als polizeiliche Maßnahme bezeichnen würden, im Mittelalter als „gerechter Krieg“ gelten. Die Lehre
vom „gerechten Krieg“ ist also im Blick auf
den Staat weiterentwickelt worden. Kann sie
auch von ihm wieder gelöst werden? Diese
Aufgabe ist noch nicht umfassend bewältigt.
Kriterien des „gerechten Kriegs“
Gehen wir also einmal davon aus, dass Frankreich im Krieg sei, und bewerten wir dessen
Vorgehen im Licht der Kriterien des „gerechten Krieges“. Einmal vorausgesetzt, dass die
vom IS ausgehende Bedrohung nicht ohne
militärische Gewalt abgewendet werden kann,
stellen sich mindestens folgende Fragen:
Der „gerechte Krieg“ denkt ganz vom Ziel her:
einem auf der Herrschaft des Rechts gründendem Frieden. Welches Ziel will man erreichen?
Die Verhinderung zukünftiger Attentate in
Europa? Die Beendigung der Herrschaft des
IS über die eroberten Gebiete? Was kommt danach? Assad? Das schiitisch dominierte Bagdad? Die Kurden? Welches Ziel kann unter der
Perspektive der Herstellung der Herrschaft des
Rechts als legitim gelten?
wir dann eher Tod und Zerstörung über unsere Landsleute bringen als unsere Soldaten
zu gefährden? Wenn es um den Schutz von
unschuldigen Menschen geht, darf die Nation
nicht zählen.
Selbst wenn Hollande den Kampf gegen den
Terrorismus auf die Ebene des Kriegsrechts
heben kann, bleibt das Vorgehen des Westens
fraglich. Die eigentliche Aufgabe, die der Terrorismus aufwirft, besteht darin, unsere Ordnungs- und Legitimationskriterien weiterzuentwickeln. Vielleicht führt der Gedanke, dass
Terroristen nicht einzelne Staaten, sondern die
ganze Menschheit bedrohen, weiter.
Gerhard Beestermöller
Professor für theologische Ethik an der
Luxemburg School of Religion and Society
Was sind der „gerechte Grund“ und die „legitime Autorität“? Es gibt kein Mandat der UN
für militärische Sanktionen. Das Vorgehen
beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht
Frankreichs. Die Legitimität der Anwendung von militärischer Gewalt, die ohne UNMandat letztlich eigenmächtig ist, ist unter
der Perspektive der Herrschaft des Rechts sehr
fraglich.
Was ist die „Intention“? Rache? Der Beweis
der eigenen Stärke? Gerechter Zorn, der es
aber immer noch im Blick behält, den Unrechtstäter soweit möglich für ein Leben unter
der Herrschaft des Rechts zurückzugewinnen?
Sind die Mittel erfolgstauglich? Legt nicht die
Weigerung, Bodentruppen zu entsenden, die
weitgehend selbstreferentielle Bedeutung der
Verwendung des Kriegsbegriffs offen? Wenn
Frankreich wirklich im Krieg wäre, dann
würde es mit Sicherheit Bodentruppen schicken.
Schutz der Zivilisten? Würden die Terroristen
eine Stadt in Europa besetzt halten, würden
Just War © Jayel Aheram_flickr.com
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Soziales Europa: letzte Chance für einen Richtungswechsel?
Soziale Angelegenheiten
Europäische Kommission
Wird die EU-Kommission die sozialen
Versprechen aus ihrem Arbeitsprogramm
2016 einlösen? Analyse von Thomas
Miessen, zuständig für das europäische
Gewerkschaftswesen beim Christlichen
Gewerkschaftsbund (CSC).
„2016 wird EU-Präsident Juncker seine Versprechen mit Blick auf ein soziales TripleA-Europa einlösen müssen“, erklärte Luca
Visentini, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) nach der
Veröffentlichung des Arbeitsprogramms
2016 der Europäischen Kommission, mit
dem Titel: „Jetzt ist nicht die Zeit für Business as usual“. Kann aber das Programm
angesichts der sozialen Rückschläge, von
denen die Arbeitnehmer in ganz Europa
betroffen sind, diesem Anspruch gerecht
werden?
Gestärkte soziale Rechte
Das Arbeitsprogramm 2016 enthält zwei
Leuchtturmprojekte von nicht zu unterschätzender Tragweite: einen europäischen
Pfeiler der Sozialrechte sowie ein Arbeitskräftemobilitätspaket mit dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am
gleichen Arbeitsplatz“. „Gerade erst erholt
sich Europa von einer seiner schlimmsten
Wirtschafts- und Sozialkrisen. Nun ist es
an der Zeit, solide und klare Sozialrechte
durchzusetzen, die den Gegebenheiten des
21. Jahrhunderts gerecht werden“, heißt
es von Seiten der EU-Kommission. Die
großen Unterschiede im Sozialbereich innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes mit Mindestlöhnen, die 2015 zwischen
184 € in Bulgarien und 1923 € in Luxemburg lagen, erforderten gezieltere politische
Maßnahmen mit Blick auf eine gleichberechtigte Mobilität der Arbeitnehmer in Europa, beteuert die EU-Kommission.
Diese durchaus lobenswerten Ziele des
Arbeitsprogramms passen jedoch nicht
so recht zu den wenig klar gehaltenen
Vorschlägen für den Sozialbereich. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) stellt
fest, dass generell nur „wenige Vorschläge
für den Sozialbereich vorliegen, die mit
Blick auf konkrete Aktionen sehr vage
bleiben, während Maßnahmen getroffen
werden, um eine Reihe von Vorschlägen
zur Stärkung der wirtschaftspolitischen
Steuerung (economic governance) umzusetzen“.
Ein generelles Bewusstsein dafür, wie dringend soziale Maßnahmen sind, scheint
sowohl im Arbeitsprogramm als auch in
den allgemeinen politischen Weichenstellungen der EU-Kommission vorhanden zu
sein. Für die praktische Umsetzung scheint
dies jedoch weniger zu gelten. Dort geht
es vielmehr um die Fragen einer „besseren
Rechtsetzung“ in dem kurzsichtigen Ansinnen, den Verwaltungsaufwand bzw. die
Regulierungslast abzubauen. Die Frage
hingegen, was zu tun ist, um die soziale
bzw. die öko-soziale Dimension innerhalb
der EU durchgängig und effizient zu gestalten, rückt zunehmend in den Hintergrund. Schlimmer noch, die Verfahren zur
Verringerung des Verwaltungsaufwands,
die in den Programmen „REFIT“ und
„Bessere Rechtsetzung“ zusammengefasst
sind, werden laut Meinung einiger Analysten zum Spielball der Eigeninteressen der
Geschäftswelt.
Zahllose Arbeitnehmer in ganz Europa
müssen soziale Rückschläge hinnehmen,
sie gewinnen den Eindruck, dass die soziale
Ungleichheit zunimmt und dass dies, wenn
auch in unterschiedlichem Maße, für alle
Mitgliedstaaten gilt. Gerade im sozialen
Sektor aber müsste die Europäische Kommission das verloren gegangene Vertrauen
zurückgewinnen. Die Zeit verstreicht und
die Kommission von Jean-Claude Juncker
muss sich sputen, will sie echte soziale
Fortschritte noch vor den nächsten Europawahlen durchsetzen.
Thomas Miessen
Verantwortlicher für das europäische
Gewerkschaftswesen –
Internationaler Dienst (CSC)
Originalfassung des Artikels: Französisch
Die britischen Interessen
90 britische Geschäftsführer, Mitglieder
der Business-Taskforce, die den Bericht
zum EU-Bürokratieabbau „Cut EU Red
tape“ verfasst hat, kommen zum Schluss,
dass zwei Drittel ihrer in Brüssel gestellten
und allen voran von Premier David Cameron unterstützten Forderungen mit Blick
auf eine Verringerung des Verwaltungsaufwands zum großen Teil durchgesetzt
werden konnten, und das nach nur einem Jahr Lobbyarbeit. Maßnahmen zur
Förderung der Gesundheit und Sicherheit
am Arbeitsplatz, zur Harmonisierung der
gesetzlichen Bestimmungen zugunsten
längerer Mutterschutzzeiten oder zur Regulierung im Bereich Schiefergas werden
von ihnen ausschließlich als Kostenfaktor
für die britische Wirtschaft wahrgenommen. Im Rahmen dieses Ansatzes werden
die Interessen der Gesellschaft mit denen
der britischen Unternehmen gleichgesetzt,
von den gesellschaftlichen und ökologischen Kosten und Nutzen dagegen ist keine
Rede. Die Diskussion geht weiter… aktuell
nun vor dem Hintergrund eines möglichen
BREXIT.
President Juncker © Frédérick Florin / AFP
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Die Krise Europa: Umbruch oder Aufbruch?
Interkultureller Dialog
Europäische Union
In einer Reihe von Beiträgen möchte EuropeInfos in den kommenden Monaten die
neuen Brüche zwischen West und Osteuropa verstehen.
Auf Europa bezogen sind die Krisen des
letzten Jahres – Ukraine, Griechenland,
Flüchtlinge und Terror – wie eine Lupe, unter
der die Verwerfungen, Risse, Gräben und Abgründe auf dem Kontinent sichtbar werden.
Alte Sicherheiten scheinen plötzlich wertlos.
Ihr Verschwinden löst Angst und Unsicherheit aus. Neues zeichnet sich ab, aber dessen
Konturen sind noch vage.
In einer Reihe von Beiträgen möchte EuropeInfos in den kommenden Monaten diesen
Entwicklungen nachgehen. Verschiedene Autoren wurden gebeten, ihre Positionen konturiert und kantig darzustellen; Diskussion ist
erwünscht.
Brüche zwischen West und Ost verstehen
Schmerzhaft deutlich wird ein Riss zwischen
den alten und den neuen Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union wohl am deutlichsten
durch die Aufkündigung der Solidarität der
Visegradstaaten anlässlich der Verteilung der
Flüchtlinge über die Mitgliedsstaaten. Vor allem jene Ländern, die während des Kalten
Krieges Flüchtlinge aus Ungarn (1956), aus
der Tschechoslowakei (1968) und aus Polen
(1981) aufgenommen hatten, konnten die
grundsätzliche Ablehnung von Flüchtlingen
nicht verstehen. Hatte man die eigene Geschichte vergessen? Woher diese Undankbarkeit?
In einem kurzen, aber prägnanten Essay
nennt der bulgarische Politikwissenschaftler
Ivan Krastev einige Gründe für diese kategorische Ablehnung: Es ist das Gefühl, im
Vergleich zu den alten Mitgliedsstaaten selbst
unterprivilegiert und zu kurz gekommen zu
sein. Das vorrangige Ziel der EU-Mitgliedschaft ist es, nach Jahren der Entbehrung
denselben Lebensstandard wie Westeuropa
zu erreichen.
Es ist das « demographische Defizit » – die
Tatsache, dass viele junge Menschen die neuen Mitgliedsstaaten verlassen und woanders
Arbeit und Heimat gefunden haben – und die
damit verbundene Angst, über kurz oder lang
die eigene Identität zu verlieren bzw. aus der
Geschichte zu verschwinden.
ler, zuverlässiger und billiger arbeiteten als
entsprechende Handwerker aus dem eigenen
Land.
Die Ablehnung der Fremden ist auch das
Ergebnis von fehlender Neugier: im Gegensatz zu den Ländern Westeuropas hatte
man keine Kolonien, war nach innen und
nicht nach außen gerichtet, und danach war
man 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang
eingesperrt. Fremdlinge kamen als Studenten
oder als Arbeiter ins Land, aber als Zeichen
des «brüderlichen Internationalismus» des
kommunistischen Regimes und daher nicht
sonderlich beliebt. Die Integration in die Europäische Union unter den Bedingungen der
(fast ausschließlich marktwirtschaftlich-liberal orientierten) Globalisierung überfordert
die Menschen.
Diese Entwicklungen, im Lauf von 75 Jahren
gewachsen, werden mehrerer Generationen
bedürfen, um neu gesehen, bewertet und
verstanden zu werden. Mit dieser Artikelreihe und der Diskussion möchte EuropeInfos seinen Beitrag zu diesem notwendigen
Prozess leisten.
Michael Kuhn
COMECE
Eine ungeteilte Geschichte
Im Zug der Erweiterung ist es nicht gelungen, die gemeinsame und ungeteilte Geschichte zu thematisieren. Für viele neue Mitgliedsstaaten bleibt die Rückbesinnung auf
die eigene Geschichte, die wiedergewonnene
(nationale oder staatliche) Selbständigkeit
und die Rückversicherung durch die NATO
von größerer Bedeutung als die Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Gleichzeitig
weiss man in Westeuropa fast nichts über
die Geschichte Mittel- und Osteuropas. Die
politischen und historischen Ereignisse seit
Ende des 1. Weltkriegs werden in Ost und
West unterschiedlich bewertet. Der Untergang der « Alten Welt » für die einen bedeutete die nationale (Wieder-)Geburt für die anderen. Die Befreiung des Jahres 1945 für die
einen kennzeichnet den Beginn einer mehr
als 40 Jahre dauernden Unterdrückung für
die anderen. Dieses (Selbst-) Verständnis ist
noch immer in den Köpfen und beherrscht
das (gegenseitige) Bild und Denken.
Es wäre unfair, diesen Riss nur den neuen
Mitgliedsstaaten anzulasten. Das Interesse in
den alten Mitgliedsstaaten an den neuen Mitgliedern war oft ausschließlich wirtschaftlich
und galt nicht den Menschen, sondern möglichen Absatzmärkten. Ihre Bürger waren
willkommen als unterbezahlte Erntehelfer,
als billige Pflegekräfte, als Ersatz in Berufen,
in denen man keine geeigneten Fachkräfte
mehr finden konnte. Gleichzeitig entstanden
aber Ressentiments gegen den « polnischen
Klempner » und all diejenigen, die oft schnel-
Serbian-Hungarian border © Attila Kisbenedek / AFP
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Zur Ideologie der Neuen Rechten in Ungarn
Grundrechte
Europäische Kommission
Viktor Orban ist zur Leitfigur der Neuen
Rechten in Europa aufgerückt. Hans Schelkshorn, Professor für Philosophie an der
katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, setzt sich pointiert-kritisch
mit der zugrundeliegenden Ideologie auseinander.
Im Gegensatz zu den faschistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts verfolgen neorechte Parteien in Europa heute nicht
mehr das Ziel einer gewaltsamen Abschaffung,
sondern einer inneren „Transformation“ liberaler Demokratie durch eine ethnische Fundierung des Politischen. Darüber hinaus wird
die faschistische Unterscheidung von Herrenund Unterrasse durch das Prinzip der friedlichen Koexistenz zwischen unterschiedlichen
Ethnien ersetzt. Die Ideologie des sogenannten
„Ethnopluralismus“ affirmiert zwar die Idee
der Menschenrechte, höhlt jedoch deren universalistische Substanz durch einen völkisch
verstandenen Begriff der „Nation“ aus.
In diesem Sinn forderte die FPÖ unter Jörg
Haider zwischenzeitlich in ihrem Parteiprogramm, die Menschenrechte um ein „Recht
auf Heimat“ zu erweitern. Der Schutz der
„Heimat“ ist jedoch kein Menschenrecht, das
vom Staat eingeklagt werden kann. Denn der
Sinn von „Heimat“ oder „kultureller Identität“ wird in einer liberalen Demokratie in
öffentlichen Debatten auf der Grundlage der
Meinungs- und Versammlungsfreiheit je neu
ausgehandelt.
Verteidigung des „christlichen Abendlandes“?
Was für Haider eine Vision bleiben musste,
wird heute von Viktor Orban in die Realität
umgesetzt. Das erste große Projekt der 2010
wiedergewählten Fidesz-Regierung war eine
neue Verfassung, in der die Menschenrechte
in die Idee einer christlichen Nation „eingebettet“ werden. Orban versteht sich daher als
Verteidiger des „christlichen Abendlandes“.
Das Verfassungsgericht ist verpflichtet, seine
Entscheidungen im Licht der Präambel, d.h.
im Licht des Mythos einer christlichen Nation
Ungarns, zu begründen. Da die Bewahrung
des Volkskörpers zur Aufgabe des Staates erhoben wird, geht die ungarische Regierung
gegen oppositionelle Gruppen, die für eine andere Idee der Nation eintreten, mit den Mitteln
der Staatsgewalt vor.
Der gängige Begriff des „Populismus“ verharmlost die ideologische Ausrichtung der
Neuen Rechten, die sich keineswegs von Stimmungsschwankungen des „Volkes“ leiten lässt.
Vielmehr wissen neorechte Parteien immer
schon, was „der“ Wille „des“ Volkes zu sein
hat und vor allem wer zum Volk gehört. Roma,
Juden, Atheisten, Sozialisten und avantgardistische Künstler sind in der Regel nicht integraler Teil des Volkskörpers. Da die neorechte
Ideologie die rechtsstaatliche, den universalen
Menschenrechten verpflichtete Demokratie
von innen her bedroht, handelt es sich genau
genommen um einen „Postfaschismus“, oder,
wie Orban selbst offen ausspricht, um eine „illiberale Demokratie“. Um möglichen Missverständnissen vorweg entgegenzutreten: Orban
ist trotz der neuen Horthy-Verehrung kein
Faschist; dies wäre eine falsche Darstellung
seiner Position.
Im Einklang mit ihrem von der Leitung der
katholischen Kirche betonten christlichen
Charakter, werden die humanitären Ideale
Europas und das „christliche Abendland“ jedoch nicht durch eine Rückkehr der Politik zu
ethnischen Prinzipien verteidigt, sondern von
einer großzügigen staatlichen Asylpolitik und
dem Engagement freiwilliger Helfer/innen,
die auf Bahnhöfen, in Sammelstellen und an
Grenzorten Flüchtlinge warmherzig willkommen heißen, mit dem Notwendigsten versorgen und ihnen ein Quartier geben.
Hans Schelkshorn
Professor für Philosophie an der katholischtheologischen Fakultät der Universität Wien
Abgrenzung gegenüber Muslimen
Die aktuelle Flüchtlingsbewegung rückt die
Widersprüche eines christlichen Postfaschismus in ein denkbar grelles Licht. „Wir wollen“,
wie die Orban-Regierung ohne menschenrechtliche oder christliche Skrupel verkündet,
„nicht mit Muslimen zusammenleben“. Die
völkisch motivierte Abgrenzung verbindet
sich nahtlos mit Gesten der Verachtung und
Demütigung. Bürgerkriegsflüchtlinge werden
pauschal zu Wirtschaftsflüchtlingen erklärt,
ihre Versorgung privaten Helfern überlassen
und ihre Unerwünschtheit öffentlich plakatiert. Wegen seines Umgang mit Flüchtlingen
und Roma wurde Ungarn vom Europarat
und dessen Ausschuß gegen Rassismus und
Intoleranz scharf kritisiert. „Jede Form von
Verachtung, in die Politik eingedrungen“ bereitet jedoch, wie Albert Camus bereits vor Jahrzehnten hellsichtig betonte, „den Faschismus
vor oder führt ihn ein.“
Es gibt Anzeichen dafür, dass die christlichen
Kirchen in Ungarn die Politik von Viktor Orban, selber Mitglied der reformierten Kirche,
von Anfang an unterstützt haben. Ungarische
katholische Bischöfe rufen öffentlich dazu auf,
in den Gottesdiensten für Orban zu beten.
Teile der reformierten Kirche sympathisieren
selbst mit der rechtsextremen Jobbik-Partei.
Allein die lutherische Kirche hält eine gewisse
Distanz zur Macht.
Prime Minister Orbán at crossroads © MTI
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Was ist los in Polen?
Grundrechte
Europäische Union
Auf ausdrücklichen Wunsch der polnischen Bischofskonferenz hat EuropeInfos
den Artikel “Was ist los in Polen ?” von
Henryk Woźniakowski von der Webseite
zurückgezogen.
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