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Praxis – Schweiz
Werden GEVER-Systeme Standardsoftware?
Was sind die Konsequenzen?
Verwaltungseinheiten müssen in der Lage sein, ihre Geschäftstätigkeit lückenlos nachzuweisen, um den
­Bürgern darüber Rechenschaft ablegen zu können. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft und die
steigenden Erwartungen an E-Government lassen den Verwaltungseinheiten keine andere Wahl, als hierfür
Geschäftsverwaltungssysteme (GEVER-Systeme) zu beschaffen und zu nutzen. Mit dem Einsatz einer Standardsoftware würde sich die Beschaffung und Realisierung von GEVER-Systemen vereinfachen, sodass sich
Verwaltungseinheiten auf deren Einführung und Nutzung fokussieren könnten.
Eignung von GEVER-Systemen als
Standardsoftware aus Anwendersicht
Dimitri Gebhard
Bereichsleiter
APP Unternehmens­
beratung AG
[email protected]
Generell ist eine Standardsoftware – vereinfacht ausgedrückt – ein Produkt, welches
für eine Vielzahl verschiedener Kunden
hergestellt wird, ohne dabei vorgegebene
Anforderungen derselben auf Code-Ebene
zu berücksichtigen. Eine Standardsoftware
enthält alle benötigten Funktionalitäten, um
bestimmte Branchen oder Funktionen optimal zu unterstützen. Eine Standardsoftware
kann dabei innerhalb der Branche oder der
Funktion unterschiedlich parametrisiert
und genutzt werden.
Für bestimmte Tätigkeiten einer Verwaltung haben sich bereits
wenige konkurrierende Unternehmen mit ihrer Standardsoftware
durchgesetzt. Ein Grossteil der digitalen Verwaltungstätigkeit findet
bereits auf Standardsoftware von Firmen wie Microsoft oder SAP
statt. Dies gilt aber nicht für Tätigkeiten rund um die Geschäftsverwaltung.
Im Bereich der Geschäftsverwaltung entstand über die Jahre
hinweg eine heterogene Systemlandschaft mit unterschiedlichsten
Produkten. Grundsätzlich basieren die verschiedenen GEVER-Systeme aber auf denselben oder zumindest sehr ähnlichen Use Cases.
Die generischen Use Cases eines GEVER-Systems zur Verwaltung
von Geschäftsdokumenten und für die Arbeit mit Prozessen lassen
sich auch relativ einfach definieren, konzipieren und entwickeln.
Werden jedoch organisationsspezifische Vorschriften und geschäftsindividuelle Abläufe der Verwaltungseinheiten berücksichtigt,
gewinnen diese Use Cases schnell an Komplexität.
Verwaltungsstellen führen Stammdaten von Anwendern, Bürgern, Kunden und Lieferanten oft in unterschiedlichen Systemen.
Weiter führen die Verwaltungsstellen aufgrund ihres gesetzlichen
Auftrages viele unterschiedliche und spezifische Fachdaten in strukturierten Datenablagen. Um die Geschäftstätigkeit lückenlos darstellen zu können, sind diese Stammdaten und strukturierten Datenablagen mit dem GEVER-System zu integrieren. Dies führt zu
komplexen und spezifischen Schnittstellen.
Über alle Verwaltungseinheiten gesehen, sind die Anforderungen
der organisationsspezifischen Use Cases und an Schnittstellen
meistens sehr unterschiedlich. Eine GEVER-Standardsoftware
müsste demnach über so umfassende Funktionalitäten verfügen,
dass sie allen unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Ver-
waltungseinheiten genügt und diese ohne zusätzliche Code-Entwicklung funktional hinreichend abdecken kann. Auf den ersten
Blick ist daher die Eignung von GEVER zu einer Standardsoftware
nicht ­gegeben.
Standardisierung von GEVER-Systemen durch öffentliche
Beschaffung
Alle IT-Systeme der öffentlichen Verwaltung müssen nach ihrem
Lebenszyklus von sechs bis zehn Jahren jeweils ausgeschrieben
werden. Dabei wird jedes GEVER-System entsprechend den zum
Beschaffungszeitpunkt relevanten Anforderungen der jeweiligen
Bedarfsstelle (eine oder mehrere Verwaltungsstellen oder -einheiten) beschafft und implementiert. Aus jeder Beschaffung und Implementation resultiert ein Entwicklungsvorsprung, den der berücksichtigte Anbieter gegenüber neuen Konkurrenten nutzen kann.
Es ist feststellbar, dass die Anforderungen an GEVER-Systeme
erstens aufeinander aufbauen und zweitens im Zeitverlauf wachsen.
Die Anforderungskataloge der aktuellen GEVER-System-Beschaffungen enthalten GEVER-Standardanforderungen zur Aktenführung, zum Dokumentenmanagement und zur Ablaufsteuerung
sowie zusätzliche Anforderungen wie elektronische Signaturen,
rollenbasierte Verschlüsselungen oder den direkten Einbezug von
Externen in die Geschäftsverwaltung. Ist das GEVER-System implementiert, werden über den ganzen Lebenszyklus weitere Zusatzfunktionalitäten entwickelt.
Im Jahr 2015 haben neben der Bundesverwaltung auch verschiedene Kantone ihre GEVER-Systeme neu beschafft. Der Bundes­
verwaltung kam dabei die Rolle der Vorreiterin zu, während die
nachfolgenden Beschaffungen sich weitgehend an dem Anfor­
derungskatalog der Bundesverwaltung orientierten. Die Bundesverwaltung definierte faktisch das neue Set an GEVER-Standard­anforderungen. Spätestens mit der Folgebeschaffung der Bundesverwaltung wird dann ein neues Set an GEVER-Standardanforderungen definiert. Dieses neue Set umfasst minimal die heutigen
GEVER-Standardanforderungen plus die während des Lebenszyklus
entwickelten Zusatzfunktionalitäten.
Die stetige Erhöhung der gestellten Anforderungen führt zwangsweise dazu, dass der Markt an geeigneten Produkten kleiner wird.
Die Erfüllung aller GEVER-Standardanforderungen wird im Zeit­
ablauf nur noch durch wenige Produkte möglich sein. Klar im Vorteil sind hier die bisher eingesetzten Produkte, welche die Entwicklungsschritte hinsichtlich Funktionserweiterung einerseits über
wiederholte Beschaffung und Implementation und andererseits
stetig während des Lebenszyklus mitgemacht haben.
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Zusätzliche
Funktionalitäten
Zusätzliche
Funktionalitäten
GEVER-Standard
Anforderungen
Beschaffung zum
Zeitpunkt T0
Beschaffung zum
Zeitpunkt T1
GEVER-Standard
Anforderungen
Beschaffung zum
Zeitpunkt T2
Anforderung an ein GEVER-System
Abbildung 1: Wachstum der Anforderungen im Zeitverlauf
Geht man davon aus, dass sich die Geschäftsverwaltung in den
kommenden 20 Jahren nicht mehr revolutionär wandelt, wird die
Umsetzung der Vorgaben des öffentlichen Beschaffungswesens zu
einer GEVER-Standardsoftware führen. Der Markt für GEVER-Systeme wird dann von einzelnen Anbietern dominiert, deren Produkte die geforderten GEVER-Standardanforderungen ohne Entwicklungsaufwand abdecken können.
Konsequenzen einer GEVER-Standardsoftware
Wird dies nun dazu führen, dass in einigen Jahren alle Verwaltungseinheiten ihre Geschäftsverwaltung mit einer Standard­
software gleich gestalten? Wird die Geschäftsverwaltung selbst
standardisiert? Nein, Geschäftsverwaltung wird über alle Verwaltungseinheiten gesehen immer unterschiedlich interpretiert werden. Die Verwaltungseinheiten werden kaum einmal den vollen
Umfang an Funktionalitäten einer Standardsoftware nutzen.
Entscheidend für die konkrete Nutzung von Funktionalitäten
einer GEVER-Standardsoftware ist deren saubere Integration in die
Aufgaben und die Systemlandschaft der jeweiligen Verwaltungseinheiten. Durch die Verwendung einer Standardsoftware kann
sich eine Verwaltungseinheit auf diese Integration fokussieren.
Durch das Vertrauen, dass die Standardsoftware die benötigten
Funktionalitäten zur Verfügung stellt, kann eine Verwaltungseinheit das GEVER-Projekt als – oft kolportiertes, aber kaum je wirklich
umgesetztes – Organisationsprojekt führen und nicht als IT-Projekt.
Die GEVER-Standardanforderungen können aus den vergangenen,
publizierten Beschaffungsunterlagen entnommen werden. Die
Hauptaufgabe einer Verwaltungseinheit in einem GEVER-Projekt
wird die Integration der Kernprozesse mit den Prozessen der Geschäftsverwaltung.
Für eine Verwaltungseinheit steht ihre jeweilige Aufgabe, ihre
«Raison d’être» im Vordergrund. Dass die Tätigkeiten in der Aufgabenerfüllung lückenlos dokumentiert werden müssen, widerstrebt
oftmals der Vorstellung von effizientem Arbeiten. Hier muss jede
Verwaltungseinheit ihren Weg definieren, um effiziente Kernprozesse mit detaillierter, lückenloser Dokumentation der Geschäftstätigkeit optimal zu kombinieren. Dabei sollen die bestehenden
Fachapplikationen und Stammdatensysteme einer Verwaltungseinheit so mit der GEVER-Standardsoftware integriert werden, dass
sie die Dokumentation der Geschäftstätigkeit möglichst automatisch
unterstützen. Nur nach einer sorgfältigen Analyse der geführten
Fach- und Stammdaten und ihrer Zusammenhänge mit den zu verwaltenden Geschäften lässt sich eine solche Integration realisieren.
Es werden organisationsspezifische Regelungen zur Verwendung
der GEVER-Standardsoftware in der Verwaltungseinheit benötigt.
Diese Regelungen bestimmen die Nutzung von Funktionalitäten der
GEVER-Standardsoftware. Einerseits muss den Mitarbeitenden in
diesen Regelungen genügend Freiheit gelassen werden, um ihre Verwaltungstätigkeit korrekt und gemäss ihren Vorstellungen in der
GEVER-Standardsoftware zu dokumentieren. Andererseits haben
sich diese Regelungen immer an den Weisungen sowie den rechtlichen und strategischen Vorgaben der Verwaltungseinheit zu orientieren. In diesen Regelungen müssen beispielsweise auch der Umgang mit Dokumenten im Kontext von mehreren Geschäften, die
Berücksichtigung von unterschiedlichen Sichtweisen auf die Inhalte
eines einzelnen Geschäftes und die Ablage von E-Mails adressiert
und geregelt werden.
Die Ablage von Dokumenten muss für einen Benutzer der GEVERStandardsoftware klar und einfach sein. Dabei steht nicht die genutzte Funktionalität der GEVER-Standardsoftware im Vordergrund,
sondern die Ablagestruktur, in der ein Dokument zu einem Geschäft
abgelegt wird. Wo die zuständigen Archive gerne hochstrukturierte
Ablagen favorisieren, ist der gewöhnliche Anwender mit der Verschachtelung und der Vielschichtigkeit einer solchen schnell überfordert. Hier gilt es, die berechtigten Anforderungen der Archive an
die Ablagestruktur so zu erfüllen, dass die Gestaltungsfreiheit einer
Verwaltungseinheit möglichst hoch ist.
Fazit
Nutzen die Anbieter von implementierten GEVER-Systemen ihren
Entwicklungsvorsprung konsequent, so können diese in Folge­
beschaffungen gegenüber Konkurrenten wirtschaftlich günstigere
Angebote einreichen. Das wird dazu führen, dass der Markt für
­GEVER-Systeme in 20 Jahren von wenigen spezialisierten Anbietern
von GEVER-Standardsoftware dominiert wird. Trotzdem wird die
Nutzung einer GEVER-Standardsoftware immer abhängig von den
spezifischen Aufgaben und der bestehenden Systemlandschaft der
jeweiligen Verwaltungseinheit sein. Die Beschaffung von GEVER-Systemen wird mit Standardsoftware einfacher, deren Integration in
eine Verwaltungseinheit aber nicht. Hingegen können die Verwaltungseinheiten durch die Verwendung von GEVER-Standardsoftware
mehr Zeit und Ressourcen für diese Integration aufwenden.