63 Praxis – Schweiz Werden GEVER-Systeme Standardsoftware? Was sind die Konsequenzen? Verwaltungseinheiten müssen in der Lage sein, ihre Geschäftstätigkeit lückenlos nachzuweisen, um den Bürgern darüber Rechenschaft ablegen zu können. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft und die steigenden Erwartungen an E-Government lassen den Verwaltungseinheiten keine andere Wahl, als hierfür Geschäftsverwaltungssysteme (GEVER-Systeme) zu beschaffen und zu nutzen. Mit dem Einsatz einer Standardsoftware würde sich die Beschaffung und Realisierung von GEVER-Systemen vereinfachen, sodass sich Verwaltungseinheiten auf deren Einführung und Nutzung fokussieren könnten. Eignung von GEVER-Systemen als Standardsoftware aus Anwendersicht Dimitri Gebhard Bereichsleiter APP Unternehmens beratung AG [email protected] Generell ist eine Standardsoftware – vereinfacht ausgedrückt – ein Produkt, welches für eine Vielzahl verschiedener Kunden hergestellt wird, ohne dabei vorgegebene Anforderungen derselben auf Code-Ebene zu berücksichtigen. Eine Standardsoftware enthält alle benötigten Funktionalitäten, um bestimmte Branchen oder Funktionen optimal zu unterstützen. Eine Standardsoftware kann dabei innerhalb der Branche oder der Funktion unterschiedlich parametrisiert und genutzt werden. Für bestimmte Tätigkeiten einer Verwaltung haben sich bereits wenige konkurrierende Unternehmen mit ihrer Standardsoftware durchgesetzt. Ein Grossteil der digitalen Verwaltungstätigkeit findet bereits auf Standardsoftware von Firmen wie Microsoft oder SAP statt. Dies gilt aber nicht für Tätigkeiten rund um die Geschäftsverwaltung. Im Bereich der Geschäftsverwaltung entstand über die Jahre hinweg eine heterogene Systemlandschaft mit unterschiedlichsten Produkten. Grundsätzlich basieren die verschiedenen GEVER-Systeme aber auf denselben oder zumindest sehr ähnlichen Use Cases. Die generischen Use Cases eines GEVER-Systems zur Verwaltung von Geschäftsdokumenten und für die Arbeit mit Prozessen lassen sich auch relativ einfach definieren, konzipieren und entwickeln. Werden jedoch organisationsspezifische Vorschriften und geschäftsindividuelle Abläufe der Verwaltungseinheiten berücksichtigt, gewinnen diese Use Cases schnell an Komplexität. Verwaltungsstellen führen Stammdaten von Anwendern, Bürgern, Kunden und Lieferanten oft in unterschiedlichen Systemen. Weiter führen die Verwaltungsstellen aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages viele unterschiedliche und spezifische Fachdaten in strukturierten Datenablagen. Um die Geschäftstätigkeit lückenlos darstellen zu können, sind diese Stammdaten und strukturierten Datenablagen mit dem GEVER-System zu integrieren. Dies führt zu komplexen und spezifischen Schnittstellen. Über alle Verwaltungseinheiten gesehen, sind die Anforderungen der organisationsspezifischen Use Cases und an Schnittstellen meistens sehr unterschiedlich. Eine GEVER-Standardsoftware müsste demnach über so umfassende Funktionalitäten verfügen, dass sie allen unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Ver- waltungseinheiten genügt und diese ohne zusätzliche Code-Entwicklung funktional hinreichend abdecken kann. Auf den ersten Blick ist daher die Eignung von GEVER zu einer Standardsoftware nicht gegeben. Standardisierung von GEVER-Systemen durch öffentliche Beschaffung Alle IT-Systeme der öffentlichen Verwaltung müssen nach ihrem Lebenszyklus von sechs bis zehn Jahren jeweils ausgeschrieben werden. Dabei wird jedes GEVER-System entsprechend den zum Beschaffungszeitpunkt relevanten Anforderungen der jeweiligen Bedarfsstelle (eine oder mehrere Verwaltungsstellen oder -einheiten) beschafft und implementiert. Aus jeder Beschaffung und Implementation resultiert ein Entwicklungsvorsprung, den der berücksichtigte Anbieter gegenüber neuen Konkurrenten nutzen kann. Es ist feststellbar, dass die Anforderungen an GEVER-Systeme erstens aufeinander aufbauen und zweitens im Zeitverlauf wachsen. Die Anforderungskataloge der aktuellen GEVER-System-Beschaffungen enthalten GEVER-Standardanforderungen zur Aktenführung, zum Dokumentenmanagement und zur Ablaufsteuerung sowie zusätzliche Anforderungen wie elektronische Signaturen, rollenbasierte Verschlüsselungen oder den direkten Einbezug von Externen in die Geschäftsverwaltung. Ist das GEVER-System implementiert, werden über den ganzen Lebenszyklus weitere Zusatzfunktionalitäten entwickelt. Im Jahr 2015 haben neben der Bundesverwaltung auch verschiedene Kantone ihre GEVER-Systeme neu beschafft. Der Bundes verwaltung kam dabei die Rolle der Vorreiterin zu, während die nachfolgenden Beschaffungen sich weitgehend an dem Anfor derungskatalog der Bundesverwaltung orientierten. Die Bundesverwaltung definierte faktisch das neue Set an GEVER-Standardanforderungen. Spätestens mit der Folgebeschaffung der Bundesverwaltung wird dann ein neues Set an GEVER-Standardanforderungen definiert. Dieses neue Set umfasst minimal die heutigen GEVER-Standardanforderungen plus die während des Lebenszyklus entwickelten Zusatzfunktionalitäten. Die stetige Erhöhung der gestellten Anforderungen führt zwangsweise dazu, dass der Markt an geeigneten Produkten kleiner wird. Die Erfüllung aller GEVER-Standardanforderungen wird im Zeit ablauf nur noch durch wenige Produkte möglich sein. Klar im Vorteil sind hier die bisher eingesetzten Produkte, welche die Entwicklungsschritte hinsichtlich Funktionserweiterung einerseits über wiederholte Beschaffung und Implementation und andererseits stetig während des Lebenszyklus mitgemacht haben. 64 Praxis – Schweiz Zusätzliche Funktionalitäten Zusätzliche Funktionalitäten GEVER-Standard Anforderungen Beschaffung zum Zeitpunkt T0 Beschaffung zum Zeitpunkt T1 GEVER-Standard Anforderungen Beschaffung zum Zeitpunkt T2 Anforderung an ein GEVER-System Abbildung 1: Wachstum der Anforderungen im Zeitverlauf Geht man davon aus, dass sich die Geschäftsverwaltung in den kommenden 20 Jahren nicht mehr revolutionär wandelt, wird die Umsetzung der Vorgaben des öffentlichen Beschaffungswesens zu einer GEVER-Standardsoftware führen. Der Markt für GEVER-Systeme wird dann von einzelnen Anbietern dominiert, deren Produkte die geforderten GEVER-Standardanforderungen ohne Entwicklungsaufwand abdecken können. Konsequenzen einer GEVER-Standardsoftware Wird dies nun dazu führen, dass in einigen Jahren alle Verwaltungseinheiten ihre Geschäftsverwaltung mit einer Standard software gleich gestalten? Wird die Geschäftsverwaltung selbst standardisiert? Nein, Geschäftsverwaltung wird über alle Verwaltungseinheiten gesehen immer unterschiedlich interpretiert werden. Die Verwaltungseinheiten werden kaum einmal den vollen Umfang an Funktionalitäten einer Standardsoftware nutzen. Entscheidend für die konkrete Nutzung von Funktionalitäten einer GEVER-Standardsoftware ist deren saubere Integration in die Aufgaben und die Systemlandschaft der jeweiligen Verwaltungseinheiten. Durch die Verwendung einer Standardsoftware kann sich eine Verwaltungseinheit auf diese Integration fokussieren. Durch das Vertrauen, dass die Standardsoftware die benötigten Funktionalitäten zur Verfügung stellt, kann eine Verwaltungseinheit das GEVER-Projekt als – oft kolportiertes, aber kaum je wirklich umgesetztes – Organisationsprojekt führen und nicht als IT-Projekt. Die GEVER-Standardanforderungen können aus den vergangenen, publizierten Beschaffungsunterlagen entnommen werden. Die Hauptaufgabe einer Verwaltungseinheit in einem GEVER-Projekt wird die Integration der Kernprozesse mit den Prozessen der Geschäftsverwaltung. Für eine Verwaltungseinheit steht ihre jeweilige Aufgabe, ihre «Raison d’être» im Vordergrund. Dass die Tätigkeiten in der Aufgabenerfüllung lückenlos dokumentiert werden müssen, widerstrebt oftmals der Vorstellung von effizientem Arbeiten. Hier muss jede Verwaltungseinheit ihren Weg definieren, um effiziente Kernprozesse mit detaillierter, lückenloser Dokumentation der Geschäftstätigkeit optimal zu kombinieren. Dabei sollen die bestehenden Fachapplikationen und Stammdatensysteme einer Verwaltungseinheit so mit der GEVER-Standardsoftware integriert werden, dass sie die Dokumentation der Geschäftstätigkeit möglichst automatisch unterstützen. Nur nach einer sorgfältigen Analyse der geführten Fach- und Stammdaten und ihrer Zusammenhänge mit den zu verwaltenden Geschäften lässt sich eine solche Integration realisieren. Es werden organisationsspezifische Regelungen zur Verwendung der GEVER-Standardsoftware in der Verwaltungseinheit benötigt. Diese Regelungen bestimmen die Nutzung von Funktionalitäten der GEVER-Standardsoftware. Einerseits muss den Mitarbeitenden in diesen Regelungen genügend Freiheit gelassen werden, um ihre Verwaltungstätigkeit korrekt und gemäss ihren Vorstellungen in der GEVER-Standardsoftware zu dokumentieren. Andererseits haben sich diese Regelungen immer an den Weisungen sowie den rechtlichen und strategischen Vorgaben der Verwaltungseinheit zu orientieren. In diesen Regelungen müssen beispielsweise auch der Umgang mit Dokumenten im Kontext von mehreren Geschäften, die Berücksichtigung von unterschiedlichen Sichtweisen auf die Inhalte eines einzelnen Geschäftes und die Ablage von E-Mails adressiert und geregelt werden. Die Ablage von Dokumenten muss für einen Benutzer der GEVERStandardsoftware klar und einfach sein. Dabei steht nicht die genutzte Funktionalität der GEVER-Standardsoftware im Vordergrund, sondern die Ablagestruktur, in der ein Dokument zu einem Geschäft abgelegt wird. Wo die zuständigen Archive gerne hochstrukturierte Ablagen favorisieren, ist der gewöhnliche Anwender mit der Verschachtelung und der Vielschichtigkeit einer solchen schnell überfordert. Hier gilt es, die berechtigten Anforderungen der Archive an die Ablagestruktur so zu erfüllen, dass die Gestaltungsfreiheit einer Verwaltungseinheit möglichst hoch ist. Fazit Nutzen die Anbieter von implementierten GEVER-Systemen ihren Entwicklungsvorsprung konsequent, so können diese in Folge beschaffungen gegenüber Konkurrenten wirtschaftlich günstigere Angebote einreichen. Das wird dazu führen, dass der Markt für GEVER-Systeme in 20 Jahren von wenigen spezialisierten Anbietern von GEVER-Standardsoftware dominiert wird. Trotzdem wird die Nutzung einer GEVER-Standardsoftware immer abhängig von den spezifischen Aufgaben und der bestehenden Systemlandschaft der jeweiligen Verwaltungseinheit sein. Die Beschaffung von GEVER-Systemen wird mit Standardsoftware einfacher, deren Integration in eine Verwaltungseinheit aber nicht. Hingegen können die Verwaltungseinheiten durch die Verwendung von GEVER-Standardsoftware mehr Zeit und Ressourcen für diese Integration aufwenden.
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