ALEXANDRU ÜZEK INGENIUM ET MORES CICERONIS: ZUM BILD CICEROS !M MITTELLATEJNJSCHEN SCHRIFTTUM Es gehört wohl zu den Merkwürdigkeiten der vielfaltigen Rezeptionsgeschichte der Persönlichkeit Ciceros, daß seine ingenium et moresmanch wichtige, meinungsbildende Gelehrten der Neuzeit zu Invektiven veranlaßten(l), die wenn nicht immer im Geist, jedoch im Wortlaut mit Produkten antiker Schulrethorik wie Ps, Sallust wetteifertcn(2), Das antike Bild Ciceros als arnphidoxo,}' Gestalt, wie es dem Mittelalter durch die Catilinamonographie Sallusts, eines viel imitierten Schulautors, durch die Cicerosuasorien des Seneca Vater(3), sporadisch durch Suetons Vita Caesaris und durch Anekdotengut aus Valerius Maximus und (l} So die Meinungen der 'ckeromastig:es' Theodor Mommsen und J0-r6me C:arcopino -;,vie folgt: ''· kurzsichtiger Egoist, Staatsmann ohne Einsieh!-, Ansicht und Absicht Gegen Scheinangriffe war er gewaltig . eine ernstliche Sache ist nie, weder im Guten nuch im Bösen durch ihn entschieden worden. Anf seiner Stilistik ruht seine Bedeutung allein als Stilist zeigt er ein sicheres SelbstgefühL Ab Schriftsteller dagegen steht er vollkommen ebenso tief wie ah; Staatsrmmn I:~ine Journalistennawr im schlechtesten Sinne des Wortes an Worten überreich. an Gedanken über aHe Begriffe arm, er war nichts als Advokat und kein guter i\dvokat .. >> (Th. Mommsen, Röm. Geschichu, IH, Berlin 1899. 619 f.). {'Un avocat qui coute eher. un avncat qui s'enrit:hit un doctrinaire sans doctrinc dans ses traiies il harmonisllit ]IC',s souvenirs de ses !ccwres. dans Jes Letrrcs il s"est mis lui mCme avec sa mnure ondoyante et fuyantc . un avcuglement chronique un v6ll6itaire imp~nitent . une vanitC maladivc f;mfaronnades d couardise malice et fourberie». (J. Carcopino, Les secrcrs de la correspondance de Cictron, Paris 1938, 374 fL, 385, 393 ff., 405, 420). Unter den kritischen Stellungnahmen Jaz.u vgL K. Kumaniecki, Cicero: Mensch. Politiker Schrijlsreller, in Da.l" neue Cicerohild. hg. v. K. Büchner, Darmstadt 1971, 348-370: P. .L Enk. der die sinnvolle Meinung des PCre Laurand wie folgt zitiert: «ni un h6ros, ni un saint. rmis l'un des plus estimables Romains>) (Le caractCre de Cichon. Atti de! I Congresso di Siudi Ciceroniani, H, Roma 1961, 55-65, hier 65). (2) ... uhiubi ki. 1/tlliu,;-!eges, iudicill, rempublinzm defendil? ... scilicet istam immoderatam doqul!ntiam apud M. Pisonem non pudidtiae iaclum perdididsri . im.mo vero homo levissimus, supplex inirnicis, amicis contum.elio.;·us. modo hanun modo itlamm partium, .fidus (Ps. Sallustius, nemini, lingua vana, manus rapacissimae . gula immensa, pedes fugaces ln M. T. Ciceronem ln~·ecliva, 1, 1; 3. 5). Die gleiche Einsrellung begegnet auch in der fingierten Rede des Caienos bei Cassius Dio, 47. l ff. Vgl. Th. Zielinskj. Cicero im Himdel der Jahrhundt'rte, Leipzig-Berlin 19!2, 280-235. (3) Vgl. Suas. 6: Deliberat Cicero an Antonium depreatur; Suas. 7: Deliberat Cicero an scripta sua conhurat, promittente Anwnio incolumiratem, si fecisset. Nichtdestoweniger erscheint Seneca Vater als unkonditionneler Bewunderer Cü.::cros. insbesondere im Kontext der geistigen aemu.!atio mit den Griechen. so z. B. . quidquid Romana facundia h.abet quos insolenti Graeciae auf opponat auf praeferat, circa Ciceronem efjloruil (Seneca Vater, Contr. 142 ALEXANDR U CIZEK aus den Saturnalien des Macrobius zugänglich war, blieb lange Zeit, bis ins Hochmittclaiter hinein unberücksichtigt. Anstelle dessen zählte der znm festen Bestandteil des Schulautorenkanons gewordene auctor maior Tullius, der gelegentlich sogar von der Person Ciccros dissoziiert wurde(4), Dies dürfte den Anfang gehabt haben in seiner Darstellung im Rahmen des De Nuptiis Philologiae et Mercurii (V, 429-39). Dort tritt Cicero in der Gefolge der virgo Philologia, und zwar immer noch im synkrisischen Zusarnmenhang nlit Dernosthenes auf, wobei sein konsularischer Ruhm im Anschluss an Zitate aus De consulatu(5) hervorgehoben wird. Dies konnte aber dem mittelalterlichen Durchschnittsleser kaum verständlich sein, zumal seine historische Gestalt bereit-; im Laufe des ffühnlittelalters an Konsistenz inuner mehr verloren hatte, so daß die Vorstellung von ihm für viele Jahrhunderte zu einem blossen Begriff, einer Formel geworden war(6). Seine Auszeichnung hingegen, mitten in der Schar der Jungfrau Philologia als columen sectatorum, der nicht nur in foro sondern auch durch praecepta artis hervorragtel entsprach der auctorialen Bedeutung, die ihm zuteil geword.en war. Die in den literaturhistorischen accessus ad auctores gelegentlich vorkommenden biographjschen Angaben sind ledig'!ich Spekulationen aufgrund der Inhalte jeweils kommentierter Werke(?). Bekanntlich galt Cicero auch als Verfasser der Herennius-Rhetorik gemäß einer Überlieferung, die auf eine Konfusion Hieronyms zurückzuführen ist Daraufuin wurde aus De in ventione nämlich Rhetorica vetus, und Rhetorica novaaus der Herennius-Rhetorik(8). Beide Werke wirkten als Handbücher 'par excellence' der mittelalterlichen Rhetorik. Gleichermaßen wurde Cicero rezipiert als Philosoph und Moralist und dies in 2, prol. 6). Diese Hervorhebung Ciccros im synkrisiseben Kulturkontext wurde zu einem Topos im mittellateinischen Schrifttum, wie unten noch zu sehen ist. (4) VgL A. Hortis, Marco Tullio Cicerone nelle operedel Petrarca edel Boccaccio, Trieste 1878, 18 Anm. 2, über die Ignoranz des Alars von Carnbrai, mit Bezug auf Angaben aus Hh;·toire littäaire de la France, 16. 21R und 23, 243 f. (5) VgL De ojfidis L 77, und in M. T. Ciceronem Jnvectiva 3, S; 4, 6. (6) Vgl. Zielinski, op. cit., 110. (7) So im Fall der anonymen aus dem l2. Jh..'>tammenden Sammlung, wo sich J.ic biographischen Angaben im accessus Tu/li lediglich auf die daran anschließend kommentierten Paradoxa stoicorum beziehen: vgl. Accessus ad auctores, Cd. critique par R. R C. Huyghens, Leiden 1970, 44 ff. Ähnliches erfolgt bei Konrad von Hirsau, lm Abschnitt 5iuper Tullium, der der Erörterung von De amicitia vorangeht: vgl. Conrad de Hirsau, Dialogw· super ara:tores, ed. critique p.ar R. B. C Huyghens, Bruxelles 1955, 38 ff. Demzufolge konnte verstiindlichenveise entstehen die auf der sogenannten etruskischen Volkssage beruhende Angabe in I fatti di Cesare über Cicero als gewaltigen Kriegsbenn, der den frevelhaften Catilinn in Fiesole besiegt haben soll: vgL Hmiis, op. cit., ll f.; Zielinski, op. cit., 250; M. D. Reeve, Cicero'.\' Life and Death in Manuscripts preserved in Spain, {'Ciceroniana~> 12, 2006, 95. (8) Vgl. Hortis, op. cft., 74 f. INGENIUM ET MORES C!CERONIS 143 Konkurrenz mit Boethius in dessen Eigenschaft als Verfasser von De consolatione philosophiae. Es wurden am meisten benutzt De amicitia, Paradoxa stoicorum, De senectute, Tusculanae disputationes, De natura deorum und De officiis, wobei das letztere irrfolge seiner Adaptation durch Ambrosius (in De officiis ministrorum) und Lactanz, den 'christlichen Cicero' (in De opijicia Dei), eine noch größere Resonanz fand. Bekanntlich dokumentieren Bibliothekskataloge und Autoren aut1istungen in allen wichtigen Kulturstätten Europas(9), wie auch die bei verschiedensten Autoren aller Epochen des Mittel.alters begegnenden Zitate und intertextuellen Verwendungen die ununterbrochene Rezeption der oben angegebenen Werke Ciceros, wozu auch die Briefe eine spezielle Erwähnung verdienen, zu mal ihre Überlieferung, obwohl viel geringer und auch schwankender, jedoch sehr fruchtbar für jede Autoren war, die sich mit der Person Ciceros befassten. Erwähnenswert ist auch die falsche Zuschreibung des lexikographischen Werks Synonyma Ciceronis, wodurch Cicero auch als rnagister artis gramatice konsekriert wurde. Sonst sind uns keine weitere Pseudepigraphica Ciceros bekannt(lO). Cicero galt ausserdem als inkontestables, allgemein bewundertes Modell wissenschaftlicher Prosa, so daß man gewissemlassen von einem formellen Ciceronianismus bereits im Mittelalter sprechen kann, wozu auch der stilus Tullianus der Dictamina gehört. Anders stand es allerdings mit der gedanklichen Imitation desselben. Hierbei wurden seiner Verehrung Grenzen gesetzt, die mit der Emotionalisierung der Gewissensfrage zusamnenhing, die sich der christliche Intellektuelle im Banne Hieronyms zu stellen pflegte. Vom starken Fieber nach intensiv und asketisch getriebenem Studium Ciceros ergriffen, sah sich dieser im Traum hingerallt und vor dem Tribunal des höchsten Richters zur Rechenschaft gezogen, von dem er sich zu seinem grössten Schrecken die Anklage gefallen liess: Ciceronianus es, non Christianus(U}. Es wird häufig angenommen, daß die auf biographischen Daten bemhende ambivalente Darstellung Ciceros zum ersten Mal unter der (9) Vgl. G. Glauche, Schullektüre im Afirtelalrer, München "!970, 73 f., 91 J'., 101 f., 123 f.; B. Munk Olsen, L'itude des auteurs classiques tatins aux X!e et Xf!e sii!cle, I, Paris 1982, !12-350. (lO) Vgl. G. Brugnoli, I 5):nonyma Ciceronis, in Atti dell Congresso Jntcrnazionale di Studi Ciceroniani, l. Roma 1961, 283 J'. (ll) Hier. Epist. 22, 30; Johannes v. Salisbury, Policraticus, 2, 17, 100 in der Ausgabe loannfs Saresherien.sis episcopi Carnoten.sis Polierarid sive De nugis curialium d vestigiis philosophorum. rec. C. l. Webb, London-Oxford, 1909 (Nachdmck Frankfurt a. Main 1965). Dazu einiges bei Zielinski, op. cit., 92 f. und 308 f. Mit dieser Gewissensfrage war auch Petrarca, und zwar im Bann Augustins, Cm~f. 3, 4, 7, konfrontiert: vgl. Sen. 8, 6, 16; De vita soiit. 16, 1, dazu U. Dotti, Vita di Petrarca, ßari 1992, 36 f. ALEXANDRU ClZEK !44 Feder Petrarcas zum Ausdruck kam. Hierbei wird m. E. der einschlägige Beitrag des Johannes von Salisbury, eines in vieler Hinsicht 'Prodromos' Petrarcas, wenn nicht übersehen, jedoch viel unterschätzt. Seine frühhumanistische Dimension, seine von Berührungsängsten nüt der Ideologie Ciceros treie Denkweise, den er ·· von der Bibel abgesehen - in seinen Traktaten am häufigsten zitierte bzw. verwendete. wurden erschöpfend erläutert(l2). Viel weniger blieb bisher hingegen der komplexe Kontext berücksichtigt, in dem die bei ihm vorhegende Vorstellung von Cicero als Menschen uud als politischem Denker in Relation zu seiner Lehre vom Staatswesen steht. Noch weniger beachtet blieb diesbezüglich auch der Einfluss Johanns auf Petrarca. lm folgenden durch die bisherige Forschung oft zitierten, jedoch nur t1ücht.ig beiiicksichtigten Passus, kommt auf prägnant-smnmative Welse dle Quintessenz des Ciceronianismus Johanns auf dreierlei \A/eisc zum Ausdmck: die im Bann der von Seneca Vater bereits skizzierten kulturellen Synkrisis stehende Akzentuierung der Überlegenheit der römischen durch Cicero venretenen Beredsamkeit, dann - als Zentralgedanke ... die Ambivalenz os als ingenium. d. h. Werk, vs. pectu,o.,· als mores d. h. Charakter des sonst als hervorragender Gestalt gepriesenen Cicero, schließlich die durch seine Persönlichkeit verkörperte geistig-kulturelle Perennltät der lateinischen Kultur, was vor dem Hintergrund der trans'latio studii vs. translatio imperü zu verstehen ist und sich auf das Spezifikum des Johannes selbst als politischen Denkers beziehen dürfte: Orhis nil habuit maius Ciceroni,\' Latinus cuius ad eloquium Graecia muta fui1 Omnih~L'i hunc Graecis opponit Roma vel 4fert Et si vita foret Ciceronis consona verbis in summis poterat rruuimus e3se viris Os hominis cuncti mimntw; non ira pectus; Imperium linguae par fuit, inmw minus: 1/lius eloquio minor est Romana potestas, Nam lingunm pariter civis et hostis amat(13). (12) Es. ~cien selektiv erwähnt: H. Liebeschütz, lvledieval Humanism in the Life and Writings (d .lohn rd' Salisbury, LonJon 1950 (Nachdruck Nendeln 1961'\); B. Munk ~Olsen. L"humanisme de Jean de Salishwy. in Entreliens sur !a Ren(Ji.'l·.wmce du Xlfe siCc!e. Cd. M. de GanctiHac, Paris- La Haye 196R, 55~68: G. C. Gmi'agninl, Legittima potestas e tirannide nel Po!icraticus, <'J~ritica storica» 14, 1977. 575-609; P. von Moos. Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im 'Policraticus' Johanns von .)'alisbury, Bildesheim ·· New York 198g, vor allem 153-.. 285. (13) Johannes v. Salisbury, Entheticus, ed. J. van Laarhaven. Leiden- New Ymk 1987, V, 1215 ff., 124! fl. lNGHNIUM ET MORES C!CERONlS 145 Um die Tragweite dieses substanzreichen Passus, der sich teilweise auf dem Urteil Augustins stützt(l4), verständlicher zu machen, ist zuerst das Vorausschicken ein.iger wichtigen PersonaUen Johanns erforderlich. Das.floruit des Johannes erfüllt genau zwei Jahrhunderte vor Petrarca ungefähr den mittleren Zeitraum des 12, Jahrhunderts, Sein geistiger Werdegang weist ihn als 'wandering scholar' und Zwischenweltler, und zwar im ähnlichen Ausmass wie Petrarca auf. Er wirkte an mehreren Schulen und Höfen, zunächst als Diszipel der Pariser Lehrer Abälard, Gilbertus Porretanus und Robert von Melun, dann in Bologna und in Chartres bei Thien]. Später war er selbst für eine Weile tätig in Paris als magister, lnfolge der priesterlichen Weihung begann seine kirchliche Lautbahn zunächst als Ratgeber, Sekretär und Abgesandter der Canterbury Erzbischöfe Theobald und dann Thomas Becket, an dessen guten wie auch unglücklichen Erlebnissen, einschliesslich Verbannung er einen regen Anteil nahm. Das Lebensende erreichte ihn aber 1180 als Bischof von Chartres. Auf diese Weise war er an wichtigen und auch dramatischen Geschehnissen seiner Zeit unmittelbar beteiligt(l5), Gut vertraut mit allen Disziplinen des Triviums, mit Moralphilosophie aber auch mit juristischer und politischer Theorie und Praxis zeichnete sich Johannes in seiner Zeit a]s bester Kenner antiker Autoren aus, die er parallel zu den Bibel- und Patristikstellen und diese auf die Alten abstirnmend benutzte. Als Niederschlag seiner vielfältigen Studien entstand zuerst das Lehrgedicht Entheticus mit der Darstellung von Grundgedank zuerst antiker und christlicher Philosophie. Dieses ist als Entwurf vom Prosawerk Policraticus anzusehen, ein bis in die Renaissancezeit hinein stark rezipiertes Werk, Darin behandelt Johannes verschiedene Aspekte der Staats-und Gesellschaftslehre, der Moral und auch der Weit- und Kirchengeschichte samt politischen Projizierungen und tut dieses anhand einer reichen Auswahl einschlägiger loci aus antiken Autoren und aus der BibeL Hier ist die Behandlungsweise Joharms bald didaktisch und hierbei logisch stringent. oder aber rhetorisch-persuasiv, bald moralisierend kritisch oder aber ironisch-skeptisch bis unterhaltsam, was man auch an dem Werksuntertitel, nämlich De nugis curialium ablesen kann, ln politisch-philosophischen Pragen bewegt sich Johannes durchaus im Bann des ciceronischen (14) So Conf 3, 4. 7 ... librum cuiusdam Ciceronis (d. h.Hortensius) cuius linguamfere ormws mirantur, pectus non ita. Dazu Munk O!sen, op. cit., 55 Anm. 9. der dies mit Recht auch auf die Beurteilung Ciceros durch Petra.rca aus dessen Cicero-Brief bezieht; s. auch unten, 156 f. (15) V gl. die Ausführungen C. Schaarschmidts, .Johannes Saresberiensis nach Leben und Studien, Schr{ften und Philosophie, Leipzig H\62, 34 ff.; Garfagnini, op. cit., 10. 146 ALEXANDRU ClZEK Probabilismus, bekennt sich zur Mässigung und Skepsis gegenüber Extremen(l6). Das ebenfaHs essayistisch strukturierte Metalogicon ist eigentlich eine Gelegenheilsschrift mit polemischen Zügen, die gegen Hyperdialektiker, die er Cornificiani nennt und als Gegner der Bildung betrachtet, gerichtet sind. Es ermöglicht ausserdem einen Einblick in die Studien- und Wissenschaftspraxis seiner Zeit, vornehmlich in die Trivialdisziplinen, wobei im Banne Abälards die Benutzung aristotelischer Schriften häufig im Vordergrund steht(I7), Im Policraticus ist Cicero der am meisten benutzte, sti!itisch imitierte und stark bewunderte Antor(l8). Johannes erweist sich diesbezüglich als der am besten mit Ciceros Werk vertraute Intellektuelle des Mitteialters vor Petrarca. Sämtliche oben erwähnte rhetorische und philosophische Schriften Ciceros wurden von ihm benutzt, aber auch die im Mittelalter sehr selten rezipierten Reden, wie Pro Ligario, Pro Milone, Pro Cluentio, weiterhin die Ven·inen und Catilinaren (19). Die Kenntnis des uns verloren gegangenen De repub!ica durch Johannes, der angeblich Auszüge daraus zitiert, ist zwelfelhafl, genauso die Kenntnis von Adfami!iares, die später~ und zwar erst nach Petrarcas Tod wieder auftauchten (20). Ausserdem basiert das bei Johannes vorliegende Bild von Ciceros ingenium und mores auf breitem Spektrum von Testimonien, zumal ihm die oben erwähnten Stellen über Cicero aus Seneca Vater uud Capella aber auch weitere Stellen aus Macrobius oder Valerius Maximus bekannt waren. Die Besonderheit aber der Cicero-Darstellung durch Johannes besteht darin, daß im Policraticus philosophische Lehre, politische Gesinnung und Tatigkeit der antiken Gestalt in eine vielfältige Re!lexion über Staatsrecht und-wesenwie auch uber Moral und Regierungsformen integriert werden. Dies antizipiert die Wiederbenutzung Ciceros in der politischen Tratatistik der Neuzeit, wie sie erst in der englischen Aufklärung, so bei Hobbes und Hume, zum Ausdruck kmmnen wird. Wir wollen nun den Augenmerk auf einen Hauptaspekt der politischen Ret1exion Johanns, nämlich auf die von ihm in aller Ausführlichkeit (l6) Dazu R H. und M. A. Rouse, lohn rf Salishur_v and the Doctrine q( Tyronnicide, «Speculum» 42, !967, 697 f.; von Moos, op. cit., 170, 250. 286 ff (17) Vgl. die Ausführungen Schaarschmldts, op. cit., l42~21L (lR) Dazu G. Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums, Berlin 1893, 37; Munk OJsen. op. cii., 54 ff. (l9) Vg!. die Aufiistung all dieser !oci in der oben erwäJmten Edition des Policraticus, 2, 481 f., und auch bej von Moos, op. cit., 624. (20) VgL die angeblich aus De Repubiica stammenden Zitate über den Wert der literarischen Ausblldung: Polier. 7, 9, 126 f. Zur Wiederentdeckung von Ad fwniliares vgL C. H. Clough, The Cult of Antiquity. Letters and Lerter Collections, in Cultural Aspects of the ltalian Rerwissance, ed. by C. H. Clough, Liverpool 1976, 37. INGENIUM ET MORES ClCERONJS 147 behandelte staatsrechtliche Problematik einer Legitimität des Tyrannenmordes lenken. Wie schon gezeigt wurde, stammt seine Problemstellung <<gedanklich>> aus Cicero(21), vornehmlich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Tyrannenmord im dritten Buch von De officiis. Anders aber als im Fall der ethisch-politischer Argumentation anband der Schlüsselbegriffe utilitas und honestas und speziell anband der auf Cäsar bezogener Legitimierung des Tyrannicidiums durch Cicero (22), betrachtet dies Johannes als ein komplexes Problem, das er auf kasuistische, m. E. nur scheinbar ambivalente Weise behandelt. ln Bezug auf die zahlreichen Musterfälle, die ebenso viel aus dem Alten Testament wie auch aus den römischen Quellen der Kaiserzeit ausgesucht sind, wird der Tyrannenmord 'grosso modo' manchmal befürwortet, so im Fall der Tötung Holofems und auch im allgemeinen Fall der Usurpatoren, manchmal aber als Grenzfall mit Vorbebalt bejaht, so im Fall der kaiserlichen Tyrannen Caligula, Nero, Domitian, Commodus oder Julian. Als drittes wird aber der Tyrannenmord angefochten: so im virtuellen Fall Sauls mit alttestamentlicher Untermauerung und im wirklichen Fall der Ermordung Cäsars anhand Widerlegung der These Ciceros durch eine Argumentation, die teilweise auf Cisars Lobpreisung durch Cicero selbst zurückgeht. Hierbei wird die Versatilität des letzteren impliziert. Daß es sich hierbei nicht unbedingt, wie es sonst behauptet wurde, u.m Meinungschwankungen bz\v. um rhetorisch, und zwar kontroversiell interpretierte Musterfälle handelt, die den methodischen Umgang Johanns mit historischen Fakten und Personen kennzeichnen würden (23), dürfte die Untersuchung dieser Problematik im umfassenderen Rahmen der (21) Johannes gilt a1s erster beachtensweJter Theoretiker des Tyrannenmordes in der europäischen Kultur; dazu allgemein J. SpörL Gedanken um Widerstandsrecht und Tyrannenmord im Mittelalter. in B. Pfister und G. Hildmann (Hg.), Widerstandsrecht und Grenzen der Staalsgewalt. Berlin 1956, 12 ff.: von Moos, op. cit., 478 Anm. 726 mit ~·,-eiterer Literatur. (22) So r~ff. 3. 19, wo die Ermordung des Tyrannen durch einen engen Freund (familiaris_) thematist:h gesehen. zwar einen deklamatorischen Hintergrund aufweist im polirischen Kontext der Zeit aber auf die Beteiligung des Brutus an der Ermordung Ciisars andeutet Hierbei bietet Cicero eine Argumentation, die sich sowohl auf dem Begriff der allgemeinen Würde (dem honestum), als auch auf dem Rechtsgeflibl (dem iusturn. rectwn) und weiterhin auf der pragmatischen Motivation (utilitas) stützt. An einer weiteren einschlägigen Stelle (S2 L) steigert die ciceronische Argumentation ins Pathetische: der 'coup d'Ctat' Cäsars komme einem Kapitalverbrechen gegen die Freiheit der dvitas, einem parrü:idium gleich: der vermeinte parens parriae sei nichts anderes als ein Pari?id. lm 3, 90 wird das Pragrnatische in verstärkten Ausmaß wortspielerisch-deklamatorisch ausgedruckt: auch der Sohn des Tyrannen sei verpflichtet, das Wohl seines Vaters zugumten desjenigen des_ Staa~s aufzuopfern: si ad perniciem patriae res spectabit, patriae salutem anteponet salutl patns. (23) So von Moos, op. cit.. 321 f., 247 Anm. 68L 365 f. 148 ALEXANDRU CTZEK johannschen porestas-Sraatslehre zeigen, die, wie üblich im Mittelalter, monarchistisch gedacht wird. Diese Lehre liegt im konzentrierten Ausdruck in einem von Johannes allem Anschein nach erdichteten Hirstenspiegel, den er Institutio ad 1/·aianum nennt und Plutarch, als angeblichem Lehrmeister des Kaisers zuschreibt. Diese Institutio präsentiert er bald auszugsweise bald paraphrasierend(24). Es handelt sich um eine organologisch-hierarchisch konstruierte Theorie derzufolge der princeps als allein dem Gott untergebener Staatsoberhaupt aufgefaßt wird, die Priesterschaft die Seele, der Senat das Herz, die Richter und Provinzverwalter die Augen. Ohren und Zunge, die Beamten und Soldaten die Hände des Staatsorganismus usw. darstellen sollten(25). Das Gegenstück dazu lautet die Regierung der Gottlosen, wobei der Tyrann die imago diaboli sei; dementsprechend sollen dje Ketzer die Seele, die gottlosen Ratgeber das Herz die Augen und Ohren, die ungerechten Richter die unbewaffneten Hände, die gewalttätigen Soldaten d. h. die latrones die bewaffneten Hände usw. dieses Staates bilden (26). in den an dieser Stelle wie auch in weiteren Kapiteln der Bücher 5. und 8. vorliegenden Ausführungen der princeps-Lehre sind zu erkennen panegyristische Züge neben anderen möglicherweise aus der Parabel von Menenius Agrippa, aus Sallusts Catilina-Monographie, aus Ciceros De r<f!iciis, auch aus Deuteronomium und aus dem Buch der Könige, weiterhin aus August-in und Orosius stammenden Floskeln. Benutzt wurden auch juristische Hauptquellen so das Corpus Juris Civilis und das Decretum Gratiani (27). Vor diesem Hintergrund entfaltet Johannes die Kontraststellung princeps vs. tyrannus (28), die im Buch 4. und vornehmlich im 5. und 8. des Werks wiederholt ergänzt, nuanciert und belegt anhaud Musterfälle wird, die abwechselnd aus dem Alten Test;nnent, den römischen Geschichtsbüchern und den Exempelsamlungen entnommen (24) VgL Polier. 5, l ff., 280. (25) Vgl. Polier. 5, 2, 282 f.: Princeps vero capitis in re publica optinet locum uni subfectus Deo. Cordis locum senatus optinet . oculorum aurium ('{ linfjuae qfficia sihi vendicant iudices ef pmesides provinciarum. Ojjiciafes et milites manibus cooptanJUr etc. Zur gelegentlich immer noch umstrittenen Authentizitätsfrage dieses Traktats vgl. vor aliem Liebcschütz, John of Salisbur~v and Ps. Plutarch, <dournal of Warburg and Courtauld Insü~ tute>> 6, 1943, 33-39; Garfagnini. op cit.. 31 f.; M. Kerner, Randbemerkungen zur lnstitutio Traiani, in M. Wilks (ed. by), The World of lohn of Salisbury, Oxford 1984, 203~205. (26) Vgl. Polier. 8, 17, 348. (27) E<> fehlt m. W. immer noch an einer vollständigen !dentifizienmg all dieser möglichen Quellen, trotzden ausführlichen Fussnoten und dem Register der Edition Webb. Einiges dazu bieten noch Rouse, op. cit., 696 ff.; von Moos, op. cit., 621-637. (28) So lautet der Titel des Buchs, 4. l, 235 ff.: De differenlia principis et tyranni, et quid sit princeps, weiterhin derjenige des Buchs 8. !7, 354 ff.: In quo tirannus a principe differt. INGENIUM ET MOI?ES C!CERON!S 149 sind. Diese Antithese erfolgt sowohl rein hilclhaft(29) als auch anband Synkriscis, so des Augustus mit Nero(30), oder aber anband kontrastiver Tugend- bzw. Lasteraufzählungen: der princep.1· als Gm·ant des Gemeinwohls wird zur Verkörperung der lex, die als donum Dei und divine voluntatis imago aufgefasst wird. Der princeps soll weiterhin als ihrer Verfechter wie auch als derjeniger der libertas des Volks auftreten(3l), während der Tyrann, Zerstörer der Gesetze, soll die Versklavung des Volks veranlassen. Die Tugenden des princeps werden jeweils enunziert und anhand verschiedener historischer oder biblischer Personen, häufig durch Hinzufügung auch vom Anekdotengut veranschaulicht. So sollen castitas und patientia Augustus) moderatio Traianus, mansuetudo Cäsar usw. kennzeichnen (32). Hierbei wird auch eine hierarchisierende Bewertung dieser Gestalten getroffen, wobei unter den principes egregii Augustus und Traianus, wie sonst auch in der historischen Tradition, bestens abschneiden (33). In Kontexten, in denen die Polarisierung princeps vs tirannus vorliegt, führt die Ve1teufelung des letzteren zu einer Befürwortung des Tyrannicidiums, die bei gerrauer Betrachtung nicht immer vorbehaltlos fonnuliert demnach auch gedacht zu sein scheint, so z. B im Kontext des Buchs 8, 17 (mit dem Titel fn quo tirannus a principe di[f'ert), wo die antithetische Symmetrie: zum einen Imago deitatLv princeps, amandus est venerandus' et colendus· und zum anderen tirannus, pravitatis imago, p!erwnque etiarn occidendus lautet. Wie wir sehen, ist hier die Formulierung obwohl generell und rhetorisch zugespitzt, jedoch durch die Angaben etiam und plerumque offensichtbch ergänzungsbedürftig: das heißt, man dart' nicht ohne weiteres den Tyrannen ermorden. Hierbel wird ein casuistischer Standpunkt impliziert Die Bedingungen, die zu erfüllen sind für die Legittimierung bzw. Ablehnung dieses Aktes, werden in1 Laufe des Buchs 8. auf zweierlei Weise explizit erklärt. Grundsätzlich stimmt dagegen die paulinisch-augustinischc Lelu·c, derzufolge die Staatsgewalt, d]e po!estas, von Gott gewollt sei und daher könne sie nur ein lxmurn (29) So sei der princeps: imago qtwedam divinitatis ... und der Tyrann: imago adversorhw j~Htitudinis et Luc{ferianae pravitatis (8, 17, 345 und 348). (30) Vgl. L 7, 44 ff: De dL~s·imi!itudine Augusli et Neronis. (31) Vgl. 8, 17, 345. Zur ciceronischen Herkunn einiger hier wie sonst in den mittelalrerl.ichen r•Urstenspiegeln formulierten Präzepte der Herrschaftsausübung vg!. W. Berges, Die Fürstenspiegel des· f-lohen und Späten Mittelalrers, Leipzig 1938, 134 f.: Rouse, op. eil., 696, 699. (32) Vgl. 3, !4, 226; 4, 5. 247; 4, 8, 262 f (33) VgL 4, S, 263 und vor allem 8. 19, 369: sicut Augustusfelicissimus, ita et iste oprimus (d. h. Traian) Ei successit , Adrianus, pater patriae, qui rem publicam iustissimis legihus ordinavit. !50 ALEXANDRU CIZEK sein(34). Dies dürfte nun die Antithese princeps vs. tirannus in die Richtung der Mässigung abschwächen bzw. relativieren, vor allem wenn die Bestimmung des letzteren änigmatisch-paradoxal wie folgt formuliert wird: tiranni poleslas bona est, tirannide nihil peius (8, 18, 358). Dies wird nun an anderen Stellen insofern erläutert, als sich die Tyrannei als ministerium Dei zu würdigen sei, wobei auch ihre Träger als 'Gesalbte Gottes' anzusehen seien, auch wenn es sich hierbei um pagane Herrscher handelt(35). Das von solchen angerichtete Unheil komme also nicht von nngefahr, sondem hiermit wird es bezweckt, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu berichtigen und auf die Prüfung zu stellen(36). Dieses ursprünglich biblische Theodizee-Gedanke illustriert nun .lohannes mit dem Exempel des gesalbten Sauls aber auch anband einer Erzählung, in der sich Attila ausdrücklich als .flagellum Dei ausweist und infolgedessen die von dlesem durchgeführte persecutio von einem anonym bleibenden christlichen Bischof mit Resignation hingenommen wird(37). Unter welchen Umständen soll also die Ermordung der 1Yrannen legitimiert oder aber abgelehnt werden Unter den drei einschlägigen Situationen, die ich oben bereits skizziert habe, wird die erste davon - d. h. die eindeutige Befürwortung - anhand drei dem. Alttestmnent entnommenen Exempla von Gott gewollten Tyrannenmorden veranschauücht: die Tötung Eglons. des Königs von Moab, durch Aoth, diejenige des Sisara durch Jahcl. Frau von Abner, und schließlich die am meisten bekannte Ennordung Holoferns durch Judith. In den letzten zwei Fällen sind es Frauen, also 'schwache Wesen', die das Tyrannicidium vollbringen, indem sie als gottgelenkte Werkzeuge -- der Terminus minister Dei wird auch hierfür verwendet - handeln: sie alle erfüllen einen göttlichen Auftrag nur scheinbar durch dolus, cla dieser kein eigentlicher, sondern eine pia simulatio im Sinne des religiösen Mysteriums sein soll (38). Demzufolge besteht in diesen drei Fällen eine Berechtigung des Mordes an den Tyrannen nur insofen1 gnmdsätzhche mit dem sakralen Status des Königs verbundene Tabus nicht verletzt worden seien (39). Dies ° (34) Omnis pote5tas bona, quoniam ab eo est, a quo solo omnia er sola sunt bona (8, 18, 359). VgL Römer, 13. 1~7; L Petr. 2, U.-17; Aug. Conj: 7, 12: dazu Garlagnini, op. cit., 27 ff. (35) Vgl. den Titel des Kap. 18: Ministros dei tamen esse tiran.nos ... Weiterhin kommt die Spezjfil.ierung: ... etiam tinmni gentium reprobati ab eterno ad mortem ministri Dei s·unt et Christi Domini appellantur (8. 18, 358 f.). (36) ... isto suo iudicio esse voluit per quos (d. h. tirannos) punirentur mali et corrigerentur et exercerentur boni ... (8, 18, 358). (37) Vg!. 8. 18, 359 und 4, 2, 236. (38) S'i quis doli videtur habere, imaginem religione misteri dicunt Domino consecratum; dazu Rouse, op. cit., 703f.; von Moos, 469. (39) Ut autem et ab a!ia consret historia iustum esse publicos occidi tirwmos .. (8, 20, 376). Hiermit wird Holofern angedeutet. Die Tyrannen dülien beseitigt werden, sollten keine INGENIUM ET MORES CICERONIS !51 war eben nicht der Fall Sauls, dessen Leben von David geschont wurde (40). Allerdings sei die Tyrannei eine durch die peccata des Volks von Gott verhängte Strafmaßnahme, wobei die Tyrannen bedingterweise für eine geraume Zeit als Geisse! Gottes das Volk unterdrücken bzw. versklaven dürfen(41). Die Tötung der kaiserlichen Tyrannen Caligula, Nero, Domitian, Cmnmodus und schliesslich J ulian wird aber von Johannes getrennt von der hebräischen Geschichte und ebenso ausführlich in Anlehnung an historische oder pseudo-historische Quellen behandelt, die er gerne aufzählt, ohne jedoch die wichtigste von ihnen, nämlich Orosius in diesem Kontext zu erwähnen(42). Solche kaiserlichen Tyrannen sind als Grenzfälle anzusehen: sie werden zwar als Ungeheur und Verkörperung aller Laster in scharfen Kontrast zn Augustus dargestellt, ihre Tötung erscheint aber nicht inuner auf explizite Weise von Gott gelenkt zu werden. Dies allerdings mit der Ausnahme Neros, dessen Tod wegen der Christenverfolgung implizite als Strafe Gottes erscheint, und weiterhin mit der Ausnahme Julians, und zwar aus demseihen Grund. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die folgende Bewertung: ... semper tiranno licuit adulari, licuit enü-n decipere et honestum fuit occidere, si tmn<m aliter coherceri non porerat (8, 18, 364). Hier begegnet zuerst wieder das Motiv der Listanwendung wie in den biblischen Exempla, dann aber erscheint der der ciceronischen Lehre entnommene Begriff des honestum als Motivation der Tötung, worauf aber ein Vorbehalt geäußert wird, dessen Sinn einleuchtend ist: das aliter coherceri läßt der Fall der kaiserlichen Tyrannen in die Nähe desjenigen Sauls rücker1. Auch diese seien Chrisä Domini und als solche Gones Geissel, deren Todesstrafe nur in letzter Instanz zu befürworten wäre. An einer früheren Stelle hatte Jobarmes ei.nen solchen Vorbehalt genauer, und zwar anhand Exempla patristischer und alttestamentlicher Herkunft ausgeführt. So seien dem christlichem Kaiser Theodosius wegen verübten hmnicidium seine M.achtinsignlen von Ambrosius als Bestrafung zeitweise entwendet religiöse oder moral-politische Vorbebalte dagegen bestehen: sine religionis honestati.vque dispendio. Casuistis<:h wird demnach erklärt, es soll nicht die Vemichtung dessen vorgenommen werden, cui fidei aut sacramenti religione tuetur astrictus. (8, 20, 378); dazu einiges bei von Moos, op. eil., 468 ff (40) ... parcerc maluit (tiranno gral'issimo) confi.sus dc miseriwrdia Dei (ibid.). (41) Multis et variis pro dispensatione divina afllicli temporibus licebatque finito tempore dispensationis nece tirann.orum excutere iugtnn de cervicibus suis (8, 20, 374 ). Eine Besonderheit stellt die au.s Valerius Maximus entommene Anekdote über die Frau dar, die trotz viel Erlittenem für das Wohlergehen des Erztyrannen Diemysins betet und zv;,ar aus der Befürchtung, dieser könnte von einem noch abscheulicheren befolgt werden (7, 25, 222 f.); dazu von Moos, op. cit., 317. (42) VgL 8, 18, 358-364, 370; 21, 386, 392 f.; dazu Rouse, op. cit., 696 f. !52 ALEXANDRU CIZEK worden; weiterhin habe Samuel die Amtsemhebung Sauls wegen Ungehorsam und die Weihung Davids an seiner Stelle getroffen(43). Daraufhin folgene Jobannes sogar die Suprematie der geistlichen gegenüber der weltlichen potestas, wobei er sich auf eine paulinische Aussage bcrief(44). An weiterer Stelle l1ndet er jedoch durchaus vehemente Worte. um ohne Umschweife den Tyrannemord zu befürworten und tut dies anband der ciceronischen Begriffe iustum, rectum und zugleich honestum. Das ist der Fall der Usurpatoren. Diese werden ganz allgemein bestimmt als diejerügen, die ihren gladius, ihre potestas weltlicher oder geistlicher Natur nicht vom Gott bekommen, sondern sich diese widerrrechtlich bzw. ohne geweiht zu werden angeignet hätten(45): solche Tyrannej sei non modo publicurn crimen, sed si fieri pote5't, plus quarn publicum(46). Da Johannes keine Beispiele von solchen Usurpatoren bie!et(47), bleibt nur übrig zu spekulieren, ob es nicht hiermit, wie unten noch zu sehen wird, auf vorsichtige \Veise sogenannte Schismatiker, d. h. fürstliche Gegner des damaligen Papstes Alexander lll. angedeutet werden(48). Diese so kategorische Verteufelung hat ihre mögliche Vorlage in einem Passw; aus De officiis, wo Cicero ebenso vehement gegen Tyrannen wütet: sie seien aus der Gesellschaft auszurottende, des Tötens würdige Scheusale. Hierbei nennt er nicht von ungefähr Phalaris bei Namen(49), den er auch an anderen Stellen als Inbegriff der Grausamkeit darstellte und nicht zögerte, Cäsar mit ihm in Vergleich zu ziehen(SO). Diese Erzfigur der antiken Tyrannei wurde zum Steckenpferd der antiken Deklamationen mit einschlägiger Thematik während der Kaiserze.it. Namentlich vvm· dieser auch im Mittelalter, so dem Petrarca, bekannt, wobei die apokryphen Phalaris-Briefe erst in der Renaissance wieder entdeckt wmden. Vielleicht nicht von ungefähr widmet Johannes die Anfangsab- (43) Vgl. 4, 3. 240 f. (44) Profeclo. ur Doctoris gentium tesrimonio utar [Heh1: 7. 7], rrwior est qui henedicit quam qui benedicitur . (ibid): est enim princeps saccrdotii quidem minisrer (4-, 3, 239; s. auch. 4, 6. 255). Zu diesem politisch heiklen, mit der Investiturstreit im weiteren Sinne ZUl>ammenhängenden Problem vg.l. Garfagnini. op. cit" 32 f.; Row;e.. op. eil., 701 f. (45). qui nec electi sunf nec iurati etsi mililum nomine censeantur, non magfs in veritate rnilites su.nt quam sacerdotes et clerici, quos ad ordines Ecclesia non vocavir (6. 8. 21 f.). (46) Vgl. 3. 15. 232. (47) Ausser dem Fall von Nembrodh. der regnare vohdt et non a Domino 0~, 20, 373). (48) Ebenso kategorisch befürwortete später Thomas Aquina[uS die Liquidierung der Usurpatoren (Summa theol. 2, 2, 42, 2~3; De regimine principwn 1. 7). (49) Nam quod ad Phalarim attinet. perfäcile iudicium est. Nolla est societos nobis cum tyran.nis .. t1tque hoc omne genus pest{ferum arque impium ex hmninum communitate exterminandum est (14f 3. 32). (50) Vgl. o[f 2. 26; 3. 29; rep. l, 44; dazu noch unlen. S. 158 f. !NGI:!.N!UM Ef' MORES CJCERON!S 153 schnitte des Kapitels über die kaiserlichen Tyrannen der Antike (De morte lulii Caesaris et aiiorum gentilium tiramwrum: 8, 19, 364ff) dem Mord an Cäsar. Diesem Titel ist nur scheinbar zu entnehmen, daß auch Cäsar in eine solche Reihe einzuordnen wäre, zu der, wie oben gezeigt, Caligula, Nero, Domitian, Commodus und Julian gehören. ln Wirklichkeit werden es hier den letzteren ·· offensichtlich als Kontrastfolie - die Gestalten der principes Cäsar und Augustus vorausgeschickt Hierbei erscheint die Darsteilung des Wirkens und des Todes Cäsars eindeutig enkonüastisch und genau so eindeutig kommt dies einer Desavouierung des Tyrannenbilds Cäsars bei Cicero gleich. So soll jener. als erster überhaupt, die Welt durch die Kräfte seiner prudentia und Kriegskunst (res militaris) eroben haben(5l). Anschließend kommt Johannes darauf, Ciceros Anklage zu widerlegen, Cäsar hätte sich auf ungerechte Weise über lumestas und utilitus hinweggesteilt Hierbei paraphrasiert er die Anhimmclung Cäsars durch Cicero selbst aus einer früheren Zeit: es hiesse dort, seine Machtausübung sei wie ein Geschenk der Götter angesichts der von ihm großartig geübter Mässigung. Weiterhin hätte er den Gleichmut genauso gut in adversis \:Vie in pro:-,peris aufbewahrt, er sei magnfjlcu.s sine crudelitate, sine tenwritate maj.?nanirnus gewesen(52). Das sind alle typisch fürstenspiegelartige Tugende, die teilweise auf die 'cäsarianischen', Johannes bekannten Reden Cjceros, so Pro rege Deiotaro oder Pro Ligario, oder aber auf Sueton zurückzuführen sind. Dies ist ein stillschweigender, jedoch eindeutiger Vorwurf der Charakterlosigkeit, die er hiermit Cicero macht; i.m Sinne des oben zitierten SteHe aus Entheticus sollte man mit Augustin das os aber nicht das pectus, Ciceros bewundern. Dazu addicrl Johannes weitere Charakterzüge Cäsars, die dem Spektrum der prudenria angehören, so den \Villen, Grenzen seiner Machtausübung zu setzen, seine clementia gegenüber Besiegten usw. (53). Nach der (51) Die auf der Bestimmung durch Cicero, <df. 1, 14 L fundierte prudenria erscheint auch an anderen Stellen bei Johanncs als fürstliche Tugend auch in Zusammenhang mit dent huru:stum: so im Polier. 3, 14, bez.ogen auf Augustns. oder im Meralogicon 4, 12; dazu einiges bei M.unk Olsen, op. eil., 55. (52) VgL zum eim~n bei Cicero: I-fanc cuphiitarem, si honestam quis dicit, amens est; prohat enfrn fegum er libenatis iflteritum Potest cuiquam esse utile foedissimum et tal!terrimum parricidium patriae Honestale dirigenda utilitas est (r~/Y: 3, 83) und zum anderen bei .Johannes: Licet t:nim Cicero enim alicubi crimilu:tur quod citra omnem idem tamen tantis· laudihus eundetn utilitatis aut honestatis spedem de!ectabatur iniurfis ejfert ut deorum censeat munus ex virliitibus ternperatum Romono induitum imperio etc. (Polier. 8, 19, 365): s. auch unten S. 159. (53) Das Bild Cisars als honus princeps, als c!ementissimus vir ohne Vorbehalt konnte Johannes, wie sonst später Petrarca, bei Seneca Vater vorfinden (Srws. 7, 1; Contr., 4, präf. 5); laut diesem sei Cäsar ausseTdem Garant der libertas undpaxgewesen (Comr. 4, 5, 13, 10, präf 5): dazu einiges bei G. Mazz:oli, La guerra civile nelle dedama:;.ioni di Seneca il retore, ((Ckeronianax• 12, 2006, 51 ff. 154 ALEXANDRU CIZEK Evozierung einer für Cäsar lebensgefährlichen Episode aus dem Krieg in Ägypten (nach der Vorlage Lucans) erwähnt Johanncs mit eindeutiger Parteinahme pro jenem die Episode seiner Ermordung (nach Sueton, Cäsar, 82 und Valerius Maximus, 4, 5, 6), wobei er in der würdevollen Verhaltensweise des Sterbenden einen zusätzlichen Beweis seiner honestas sieht(54 ). Als einzigen Grund, Cäsar der Tyrannei zu beschuldigen, erwähnt er, wie oben gezeigt) seine Machtübername in Rom durch Waffengewalt: dies sei aber im Geist der prudentia und nicht etwa durch Willkür erfolgt(55). Diese von Cicero als parricidium bezeichnete Handlung lässt also den 'Cäsarianen' Johannes, wie sonst die meisten poEtischen Denker des Mittelalters offenbar unbeeindruckt. Anders aber als Petrarca, wie noch zu sehen wird. Vielmehr war Johannes als Verfechter der libertas ecc/esie besorgt um «tyrannische)> Überschreitungen der Monarchen seiner Zeit: so im Falle der früheren Herrschaft Stephans von Blois, im Falle des Regiments des jungen Königs Heinrich n., VOll dem die Kirchenleute Ähnliches befürchteten(56). Ein paar .Jahre später bezichtigte er den Kaiser Barbarossa der Tyrannei (teutonicus tyrannus) und des Schismas und bedauerte seine Verwandlung vom 'katholischen' princeps in Schismatiker und Ketzer(57). Darüber hinaus fasste aber Johannes die Tyrannei auch im weiteren Sinne als Missbrauch der von Gott oktroyerten potestas, und zwar zur Unterdrückung der Untertanen seitens sowohl der weltlichen wie auch vornehmlich der geistlichen Potentaten(58). (54). ibi honestaris memor extitit; ut enim animadverrit se strictis pugionibus peti, toga caput obvolvit . quo honestius caderet. Eine vergleichbare Würde im Sterben kennzeichnete aucb Cicero bei Seneca Vater, Suas. 6. 17, der Johannes bekannt war; s. auch unten, S. 161. (55) lulius Cae.';ar primus orbem prudentiae et rei militaris viribus adquisi>'it (Polier. 8, 19. 365). (56) Dazu Rous.e, op. cit .. 702 f. und 707, mit Hinweis aufBriefe Theobalds an Heinrich IL und auf den folgenden denselben König betreffenden Passus aus Polier. 6. 19, 54: adufe· scentie exitus aliqrtibus suspectus est et utinam ji·ustra a bonis timentw: (57) Vgl. Epist. 185, 21.8, 225, PL 199, col. 194, 242, 252; dazu Rouse, ibid. 706 ff. (58) Patet ergo non in solis principibus esse tirarmidem. sed onmes esse tirannos, qui conce:ssa eiesuper potestate in subditis abutuntur (8, 18, 359). An anderer Stelle heisst es: Num et in sacerdotis inveniuntur quamplures, id tota agentes ambitione er ut sub pretextu officii suam possint tirannidem exercere secularem ecclesi.asticus antecedit (8, 17, 348; 23. 401). Es wurde bereits bemerkt, so Garfagnini, op cit., 4! f., dass diese gegen die Kirt:henleute erhobene Beschuldigung im Jettten Werkteii, so in 8, 23, zu einem obsessiv Yerfolgten Thema geworden ist. ln diesem Kontext bemerkt er aber, die tyrannischen Prälaten seien nicht mit dem Schwen zu bestrafen, es sei denn, daß sie selber Blut vergiessen hätten und dies in der ecclesia Dei. lNGEl\1lUI\1 ET MORES CJCERON!S 155 Viel Komplexer aber als bei Johannes erscheint das Bild Ciceros in den lateinischen Schriften Petrarcas, in denen die philosophischen Werke der antiken Ge.stalt sowohl inhaltlich als auch stilistisch stark benutzt worden sind(59). Weniger Interesse fand hingegen Petnn·ca sowohl an den rhetorischen Schriften, die ihm gut bekannt waren, als auch an den Reden Ciceros (60). Für ihn wurde dieser zu einer lebendigen, andauemd und obsessiv präsenten Gestalt, die tief bis ins sein Unbewußte hineindrang(6l), den er etwa als seinen alter ego empfinden konnte. Dies ermöglichte ihm, eine schmerzhaft-kritische Auseinandersetzung mit jenem zu üben, wie er sonst auch mit sich selbst im augustinischem Geist und mit dichterischer Hochsensibilität zu tun pflegte. Eine solche Haltung wurde verursacht durch die zufällige, ihn stark bewegende Entdeckung (im Jahr 1345) des Verona Codex mit der Sammlung der 16 Bücher des Epistolarium an Atticus, mit den kleineren Briefsammlungen an Brutus und Bruder Quintus, schliesslich mit dem apokryphen Brief an Octavianus, auf den sich Petrarca mel:uma.ls berufen wird(62). Der hierbei erlebte Schock veranlaßte ihn zur Verfassung zwei.er an Cicero "ins Jenseits' gerichteter Briefe. Diese sind betitelt Ad Marcum Tullium und Ad eundem(63) und stellen eine beeindruckende Auseinandersetzung mit den mores, also den Charakter, und dem ingenium, der Kunst, des bis zu dem Zeitpunkt hoch verehrten antiken Menschen dar(64). (59) Dazu u. a. Hortis, op. eil., 29 ff.~ G. Billanovicb, Petrarca eil primo wnanesinw. Padova 1996, 97-116. (60) VgL P. Blanc, 1-Vtmrque lecteur de Cicüon. Les scholies phrarquien.nes du De Oratore el de l'Orator, ~<Studi petrarcheschi>;- 9, 1978, IJO lL P. L. Schmidt, Zur Rezeption von Cfcero.r politischer f?hetorik im frühen Hum(1nismus, in Traditio Larinitaris, Studien zur Rezeption und Ohali(ferung der lateinischen Literatur, hg. v. J. Fugmann u. a., Stuttgart 2(JUO, 166 ff (61) Vgl. die Erzählung der dramatischen, psychanalitist~h vielsagenden Peripetien, die er im Umgang mit dem ciceronischen volumen epi:;;rolarum erlebtc:fan-t 21, JO und var. 25; dazu einiges bei P. d.e Nolhac, Petrarque et l'humanisme, Paris 1965, 222 Anm. 5. (62) L{!ystolas tuas diu multumque perquisitas ... avidissime perlegt ... Audivi mu!ta le dicentem, multa deplomntem. m.ulta variantem, Marce Tulli et qui iampridem qualis preceptor aliis Juissc noveram, nunc tandem quis tu tibi esses, agnovi (fam.. 24, 3: Ad Marcum Tullium, l}. Zur Bedeutung dieser Entdeckung ·vgl. Voigt, op. cit. 43; Sabbadini, Storia del ciceronianesimo, Torino 1885, 38 ff., Nolhac, op. cit., 21.4; E. Wilkins, Viw del Petrarca e la j(Jrmaz;ione del Canzonfere, trad. di R Ceserani, Milano 1964, 76L; Dotti, op. cit., 132 ff; P. L Schmidt, Petrarcas Korrespondenz mit Cicero, in Traditio Latiniwtis eiL, 275 [, (63) Vgi. fam. 24, 3 und 4. (64) Hmum ls'Cil. epistularwn] dae ad Ciceronem sunt: alrera mores notat, altem lat.Jdat in&enium (f'am. 24, 2: Ad Pulicem Vicentinum, 7). Wolfram von den Steinen redet in diesem Fall von einer geistigen nekyia (Der Kosmos des Mittelalters, Basel 1967, 152); s. auch A. MicheL Pitrarque et Ia penste fatine, Avignon 1975, 79 f.; K.~H. Stierle, Petrarca. Ein Intellektueller in Buropa des .!4. Jhs., Darmstadt 2003, 197. Die wortreiche Erörterung von Schmidt (Petrarcas Korrespondenz, 274 ff.) hat inhaltlich gesehen wenig dazu zu bieten. !56 ALEXANDRU ClZEK Diese beiden Briefe und einige weitere, die an antike LitteralenGestaiten wie Asinius Pollio, Seneca, Quintilian, Titus Livius, Varro, Horaz und Vergil 'ins Jenseits' gerichtet sind, wurden als Übung und zum geistigen Vergnügen beabsichtigt, wobei die zuletzt erwänhten versifiziert sind(65). In den zwei Cicero-Briefen setzt sich Petrarca mit der antiken Gestalt auseinander. Hiennit verband sich aber der Anlass einer im Rabmen des Litteraten-Kreises aus Vicenza stattfindenden Debatte über Cicero selbst. Diese protokollierte Petnu·ca in einem Brief an den Freund Pulice di Vicenza, seinen Gastegeber und zugleich Teilnehmer an dieser Veranstaltung. Hier bewirkte die bloße Erwähnung Ciceros die Fokussierung der ganzen Diskussion auf diesen(66). Bei dieser Gelegenheit wagte sich Petrarca, die goldene Beredsamkeit, den himmlischen Geist Ciceros mit dessen Charakterschwächen in scharfen Kontrast zu stellen und bekräftigte zugleich seine Aussage mit der Lektüre seiner zwei an Cicero 'ins Je:nseits geschriebenen Briefe(67). Dies heizte aber eine regelrechte Kontroverse vornehmlich Init einem bedingungslosen, offenbar Autorität geniessenden Greisen, der die Unfehlbarkeit Ciceros leidenschaftlich vet1eidigte(68). Darauf erwiderte ihm Petrarca im dialektischen Geist folgendes: sollte _man annehmen, daß Cicero nicht etwa als Gott, sondem nach dem Zeugnis Quintilians, lediglich als ein Mensch mit göttlichen ingenium aufzufassen sei, dann sollen ihm. wie jedem anderen. errores angehaftet haben(69). Diese Debatte scheint zu keinem endgültigen Ergebnis ge!1ihrt zu haben, zumal Petnu·ca den Freund aufforderte, anhand der Lektüre seiner 1 (65) Lusi ego cum his rnagnis ingeniis. lemerarie ... sed amantet; sed dolenter ... Mufta mein i!lis de/ectabant, pauca turbabant; de his .fuit irnpetus ut scriberem . VCtm. 24, 1; Ad Pulicem Vicentinum, 16 f.). Das sind die Briefe fam. 24. 5-JJ. (66) Meministi ut forte Cicerunis mentio nobis oborta est. que crebra ... doctis homi~ nibus esse solet. f!le fandem l'Qrio co/loquio .finem fecit: in unum versi omnes; nichil inde aiiud quam de Cicerone fraetaturn est: simbo/um corifi?cimus ct palinodiwn sibi. seu pange~ ricum dici p/(lcet (ibid. 3 f.). (67) Conrigit ut dum in Ciceronetn, velm in lwmine michi super omnes amicissimo et co/endissimo_. prope omnia placerent, durnque auream illmn eloquemiam er celeste ingenium admirarer monun Ievitatem multisque michi deprehensam indiciis inconstantimn non laudarem .. res poscere visa esf. ut codex epystolarum meamm e:r archula promeretur. (ibid. 2 ff.): dazu einiges bei Stierle, op. cit., 196 f. (68) Prolatus [scil. Codex suus] in lttedium addidit a/imenta sermonibus . mox amica lis verbis inca!uit, quibusdam scripta nostra laudantihus el iure repreftensum _f{1tentibus Ciceronem, uno sene. ob_1·tinatius obluctanle, qui amore captus auctoris, erranti quoque plaudere et amici vilia cum virwtibu..1· amplecti mallet . . 'Pardus, oro, pardas de Cicerone meo . Heu mich.i, ergo Cicero meus arguitur' quasi fl(m de homine sed de deo quodam ageretur (ibid, 6 f.) (69) Quesivi igitur an deum.fuisse 11tllium opinaretur an hominem; incunctanter 'dewn eloquii' ille respondit. 'Recte', inquam, 'nam si detL\' esterrassenon potuit; illum tamen deum dici noru/um audieram' ... 'hominem sed divino ingenio .fuisse Tu.llium scio .. INGENIUM ET MORES CICERON!S l57 beiden Cicero-Briefe Stellung dazu als Schiedsrichter zu nehmen, sollte er nicht hiugegen als Verfechter der Ultraciceronianer auftreten, was ihm Kopfzerbrechen verursachen würde(70). lm letzten Briefteil werden Charakteristika Ciceros stichwortartig aufgeführt, die in beiden Briefen 'ins Jenseits' ausführlich behandelt sind(7l). So wird der Staatsmann Cicero angesichts seines ruhmreichen Konsulats zunächst stark gelobt, und zwar in Anlehnung an einen Brief Ciceros an Atticus bezüglich seiner Hochschätzung durch Pompeius(72); dann aber wird- sowohl in diesem Brief rJs auch im ersten Brief an Cicero - seine Urteilsunfähigkeit und sein zuletzt erfolgtes, vergebliches Engagement in der Politik als jugendhaftes und ruhmsüchtiges Ungestüm heftig gerügt, da dies in Widerspmch zu seiner philosophischen Gesimmg stünde (73 ). Dies kulminiert mit der Apostrophe: o, preceps et calamitose senext, die dem oben erwähnten Ps.-Cicero Brief an Oetavian entnommen wird(74). Noch härter und klimaktisch aufgebaut fällt die Beurteilung seines Verhaltens in Umgang mit Familienangehörigen, Freunden und Feinden(75). Sein Wankelmut und seine Überempfindlichkeit sollen ihm schädlichste Verstimmungen seitens vielen von diesen verursacht haben(76). Wodurch provozierte er jedoch wob! die meisten Feindseligkeiten'' Sowohl Johannes v. Salisbury als auch Petrarca führen dies auf die jhm eigentümliche Art sarkastisch und ad personam stark verletzend zu witzeln zurück, wobei sie ihre Beispiele aus der reichen Fundgrube der Saturnaha (2. 3 - 6, 6 ff.) jeweils schöpfen (77). Unter diesen fällt ein von (70) S'ed exegisti ultimum, ut . exemp!um tibi epyswle utriusque transmitterem. quo re acrius excussa vel seqw:sta pach: inter parles vef siquo modo posses, tu.lliane constanrie propugnator j7eres si hfc vincis, plus tihi negotii superesse quam putas (ibid. 16). (7!) Daz.u einiges bei Michel, op. cit., 48 ff.; Stierle, op. cir., 97 fL (72).. de Cicerone mmc agitur, quem vigilantissimum atque optimum et salutarem consulem ac semper amantissimum patrie civem novi. (Ad Puficem 18) [Pompeius] in senaru non semel sed saepe multisque verbis huius mihi salutem imperii atque orbisterrarum adiudicarit. Im letzten Passus wird der Wortlaut aus Ad Atticum 1, 19, übernommen. (73) . . in discernendo . suo ac puh!ico statu iudicium reliquo illi suo impar Uf..'umini, ad postrem.um sine fructu iuven.ile altercan.di Studium in sene philosoplw non laudo (Ad Pulicem, 19). (74) 0, inquiete semper atque anxie, vel ut verba tua recognoscas, o preceps et calamitose seneX l vg!. Ps. CicerQ, Ad Ocwvianum 5 J Quis te falsus gloriae splendor senem (Ad Marcwn Tu!lium, 2). adolescentirun hellis implicuit (75) Omitto D.vonisiwn, omitto fratrem ruum etiam Dolabellam Juliwn quoque Caesarem preten~·eho, cuius spectata clementia ipsa lacessentibus porrus erar Mugnum praeterea Pompeium sileo Sed quis te furor in Antonium impegit? (A.d Marcum Tu!lium, 3). (76) \hxrium in amicitiis animum et ex levibus causis alienationes gravissimas atque pestiferas sibi er nulli rei utiles (A.d Pulicem, 18). (77) In exercitio rhetorum oratorumve foro Ionge commmodiorem habent scomata locwn ... unde et hoc Ciceroni pe1jämiliare fuisse traditur (Polier. 8, 10, 290). Die Vorlage dieser Feststellung ist Macrobius, Saturnalia 7, 1, t6. Zur Eigenart dieser Wirze, die Petrarca !58 ALEXANDRU ClZEK beiden Autoren angeführter schwarzhumoriger Wilz bezüglich des Cäsars Mordes besonders auf, der eigentlich Marcus Antonius visierte(78). Darauf reagieren Johannes und Petrarca auf unterschiedliche Weise: der erstere schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, indem er ihn in die Reihe der Anti-Cäsar Witze ohne jeglichen Kommentar inserim1(79). Anders Petrarca, der darauf ganz heftig vor der schlimmsten Beschimpfung Ciceros nicht zurückschreckt (80). Gleichwohl war er, wie gleich zu sehen wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr dazu geneigt, die Ermordung Cäsars als Tyranniridium anzusehen. Seine Auffassung von der Tyrannei war aber viel enger als diejenige des .lohannes. Allem Anschein nach siedelte er diese ausschlicsslich in die griechisch-römische Welt an. Allerdings scheint die im Abschnitt De occupata tyrannide aus De remediiis utriusque fortune vorliegende GegenübersterJung tyrannus vs. rex aus Po!icraticu,v inspiriert zu sein, wobei Petrarca Tyrannennamen vornehmlich aus der griechischen Geschichte aufzählt) wie PhaJaris~ Hipparchus, Clearchus, Nabis, Alexander Phereus, die - mit Aussnahme von Phalaris -· Johannes unbekannt zu sein schcinen(81). In seinen Bestimmungen greift Petrarca offenbar auf ciceronisches Gedankengut aus De officiis zurück(82). Ausserdem dürfte er Einiges in diesem Abschnitt aus den von Cicero allerdings auf Griechisch formulierten politikai theseis facetiae oder sales nennt. äussert er sich wie folgt: Sed quis omniwn iocaror aut promptior aut mordacior Cicerone? (Rerum mem. 2, 6/i, 1), was auf Macrobius, .Sat- 2, 9 zurückgeht: Tn Caesarem quoque mordacitas Ciccronis dentes suos strindt. Die Antwot1 auf seine eigentlich rhetorische f<fage gibt sich selbst Petnu·ca in den Briefen 'Sine nomine'. (78) Vigebat in eo [d. h. Cicerone] excedens iocos et seria mordaciras ut hoc est in epistola ad C. Cassiwn dictatoris vio!atorem: veltem ldihus Martiis me ad cerwm invilasses; profecto reliquiarum nichilfuissef. Nunc me rcliquie vestre exercent (Sat. 2, 3, 13). lm Wortlaut des Briefes Ciccros an Cassius (Ad familiares, IL 4) fehlt profecto, das sowohl bei Joham1es als auch bei Petrarca vorliegt. Dies widerlegt die Meinung Cloughs, op. cit., 37, Johannes hätte eine direkte Kenntnis von Ad Jamifiares gehabt Die Frustration Cicero:: findet aber einen weiteren Ausdruck im Brief an Atticus 14, 12, dessen Inhalt Petran.:a wohl bekannt war: .,n rrpU~r,w; Knl\·~; gf:\\ Cn:c).oß; ö?:, wo dies auch begründet wird. Ihm wie auch Johannes blieben allerdings die anderen fmhlockenden Sympathiebckundungen Ciceros gegenüber dem pulcherrimwn factum der Tyranniciden aus den anderen Cassius~Briefen (:oo irn 1, 1; 2, l; 3, l-2) \Vobl unbekannt. (79) Vgl. 3, 14. 226. (80) Equidem quod sequitur excusare nescio . egreditur enim omnem ludi modum et aperrum continet odium Sie in epystola quam ad Gaium Cassium inU"'Jfectorem Caesaris mfsit: '1/eliem ldibus Marr.iis me ad cenam invitasses; profec!o reliquiarum nichil fuisset: Nunc me reliquie vestre exercent'. Augustum .. ac Maretun Antonium re!iquiarum nomine sign{fir:ans. 0, hostile et viru!entwn iocum et qui ... Antoniifactum prope iust{ficet! (Ret: Mem. 2, 68. 1!). (81) VgL De remediis 1, Dial., 95; s. auch fam. 3, 7, 3, wo auch Agatbokles hinzu kommt. (82) So im Rahmen des erwähnten Abschnitts De occupata tyrwmide: ah.vtulisti libertatem aliis. ,•wcuritatem tibi, requiem utrisque ... Statum certi laboris, eventus ambigui, sed ut plurimum infelicis ( De rem. L 95). Vgl. Cicero, (~[j: 3, 83 f INGENIUM ET MORES CICERONJS !59 über Tyrmmei, Freiheit und politisches Gewissen aus Ad Atticum 9, 4, geschöpft haben. Es wurde nun im einzelnen ausgeführt, wie stark sich das Bild Cäsars bei Petrarca im Laufe der Zeit geändert bat(83). ln den früheren Familiari, im Africa wie auch in der Vita Scipionis- während der dreissiger bis etwa Mitte der vierziger Jahre · nimmt er eine anti-Cäsar Stellung im Bann sowohl Ciceros als auch Lucans. Hierbei wird dem als unanfechtbaren Modell der republikanischen Romana virtus dargestellten Scipio das Negativbild Cäsars entgegengehalten. Dieser hätte die Waffen gegen die publica viscera gedreht, die ganze Staatsmacht zu sich gerafft und dabei die Staatskasse ausgeplündert. Nahtlos im gleichen Satz evoziert er seine Tötung durchaus lapidar und kommentm·los, also ohne die Frohlockung Ciceros (84 ). Die ciceronische VorJage dazu lautet unem1esslich härter, und zwar in der Gestalt einer doppelten Synkrisis. die als Exkurs zur Erörterung des metus im De offlciis vorliegt. Es wird hier zuerst die Tötung Cäsars mit derjenigen des Phalaris zugunsten des ersteren verglichen: noster, d. h. aposiopesisch tlir 'unser Tyrann', ist von wenigen (a paucis), der griechische aber von der Menge seiner sämtlichen Mitbürger getötet worden. Ansebliessend werden aber die Staatsstreiche Sullas und Cäsars verglichen, wobei der letztere ins viel schlechtere Licht gestellt wird: Sullas Sache war gerecht, sein Sieg aber ruchlos (honesta causa, inhonesta victoria_}; hingegen war Cäsars Sache ruchlos und sein Sieg noch abscheuliche-r (inhonesta causa, victoria jbedior). Der eine hätte nur einzelne Bürger ihrer Güter (bona .vingulonun) enteignet, während der andere sämtliche Provinzen und Länder einem und demselben unheilsamen Zwang unterworfen fremde Nationen drangsahen und vernichtet, Marsilia in seinen Triumphzug mit einbezogen (85). Später aber und infolge seines fortgeführten Studiums der Suetonischen Cisar-Biographie und der Commentarii de Bello Ga/lico (die er, wie sonst irn MirtelaHer einem Caius Celsus zuschrieb) und nicht zuletzt infolge der Lektüre der Briefe Ciceros an Atticus (vor allem der Stücke 8, 1; 8, 16: 9, 7: 10, 7 und 14, 2) erschien ihm Cäsar in einem anderen Licht. Dazu hat gewiss auch sein alhniihlicher Gesinnungswandel vom republi1 (83) Vgi. G. Martellotti, Scritti petrarcheschi, Padova 1983. 77-89; U. Dotti, La cit!ii de!l 'uomo. L 'wnanesirno da Petrarca a Montaigne, Roma, 1992, 152 ff. (84) Vgl. .fam. 3, 3, 8: Rome spoliatwn erariwn oppresse Ieges {ltque ihidem Siux_·inctusferro abdito senatus et victor in Capitolio. interfectus; s. auch die dazu ergänzenden Angaben in A.tf·ica 2, 228 ff.: 0, fl::lix si forte modum sciat addere fero I Victrices Qua.m rurpiter manus in puhlica verter I Viscaa civili fedans e.rterna cruore I Prelia omnia calcat I Ambitus, ut totwn imperium sibi vindicet wws. (85) Vgl. ofT 2, 8. 26-29; 3, 32. !60 ALEXANDRU CfZEK kanischen zum monarchistischen Ideal infolge der Annäherung an Potentaten wie Robert von Neapel, den 'philosophischen König', später an Giovanni Visconti, Fnmcesco von Carrara aber auch an Kar! IV. beigetragen (86), Dies schlug sich am deutlichsten im umfangreichen Alterswerk De gesfis Caesari/; nieder, wo er das Material der C'ornmentarii nach Suetonischem Schema ausarbeitete, In diesem Rahmen unterzog er (im Kap, 20, in dem der Bürgerkrieg geschildert wird), die Haltung Cäsars einer ausführlichen und tiefgehenden Untersuchung. Sein Fazit ist diesmal die klare, psychologisch fundierte Widerlegung der These Ciceros, Cäsar habe lediglich aus Machtsucht seinen Staaststreich verübt und hiermit den Bürgerkrieg angezetteh(87). Cicero macht er ln diesem Zusammenhang den gleichen Vorwurf einer charakterlosen Gratw~mderung wie früher Johannes(88), Auch des weiteren nähert sich Pctrarca der Position Johanns stark an: Cäsar habe ungewöhnlich viel palientia gegenüber ihm feindseligen durch invidia veranlassten Massnahmen des Senats gezeigt er habe ja nur nach langem Zögern und nur gezwungenennassen dle \Vaffen ergriffen (89). Im letzten Kapitel (26) werden anband mehrerer Beispiele seine mansuetudo und 'unerhörte' clementia gegenüber den Besiegten, seine masslose munificentia nicht nur gegenüber seinen Soldaten und Anhängern, sonde111 auch gegenüber den besiegten Feinden dokumentiert, Seine Ermordung wird, wie von Johannes, im Anschluss an dieselben Quellen und ohne Emotionalisierung erzählt(90), HierbeJ begegnen wir Zügen, die in einen mittelalterlichen Fürstenspiegel bestens hineinpassen. Einen solchen lässt Petrarca zuerst in einem Brief an den Freund Paganino von Mailand ahnen, ln Bezug auf die Geschichte Roms stellt er fest, dass dieses, obwohl ihre politische Grösse als Republik gewonnen hatte, seinfelicissimus statuserst unter einem und demselben iustus princeps erreichte, wom.it wohl Augustus gemeint wird. (86) Vgl.fam. 4. 3. 8; dazu Dotti, Viw cit., 49 ff.; ld., La cittil dt., 153 ff. 156 f. (87) YgL De gestis Caesaris. in Francesco Petrarca, Prose latine, Milano, 1955, 250-268, hier 266: opinio Ciceroni.\· sola cupidine dominandi in bella civilia consensisse; s. ojf. J, 82, aber auch Sueton, Caesar 30; dazu MarteHottl, op. cir., 81 ff.; Doiti, La cittil, 155. (88) Sibi interdum amicü\~ilni sed in fine hostis. Daran anschliest;end glbt Petrarca auch die Cäsar in den Mund gelegten Euripidischen Verse an: Nam si viofandum est ius etc. (S, 266), (89) Nondtun tarnen ad arma pro rupft, donec in re potius quam be!lo agendi spes super- fuit, quiescendum statuens patienter (S. 258). (90) Zur in Italien unmittelbar nach Petrarcas Tod erfolgten Auseinandersetzung mit dem Tyrannenmord in Zusarrunenhang mit dem 'Verhältnis Cicero-Cäsar', so im De t.vranno Saintatis und im Brunis Cicero novus vgl. einiges bei Schmidt. Zur Rez.eption von (.-:icems pol. Rhet., 172 f., der allerdings die einschlägige Positionienmg Petrarcas unberiicksichtigt lässt INGENiUM ET MORES C1CERONTS 161 Umso mehr erschien, realpolitisch gesehen, dem durch Rienzis Scheitern wohl traumatisierten Petrarca das monarchische Regiment als beste Option für ltalien(91). Petrarca verfasste aber zwei regelrechte Fürstenspiegel, die sich mit demjenigen Johanns von Salisbury vergleichen lassen. Auch wenn dieser ihm nicht unbedingt die Vorlage bot, war ihm jedoch die !nstitlllio ad 11·aianum, die er an anderer Stelle auch erwähnt, vertraut(92). Gegen 1350 richtete er eine institutio regia in der Gestalt eines an Nicco10 Acciaiuoli, den Kanzler des Königsreichs Neapel, gerichteten Briefs. Hier wird eine .Reihe von Präzepten formuiiert, die zur Erziehung des jungen Königs Luigi da Taranto~ des Nachfolgers des inzwischen verstorbenen M.äzens Petrarcas, gemeint waren. Dazu soll die Pflege der Kardinallugende mit Nachdruck auf iustitia und temperamia (9 ff.), dann diejenige der spezifisch königlichen clementia, magnanimitas gehören, wobei Cäsar als Beispiel herangezogen und u. a. De clementia Senecas benutzt wird. Weiterhin empllehlt er mit Nachdruck die Pflege der amicitia anband ciceronischen Gedankenguts, dann der misericordia und castita.s. Zwischendurch warnt er vor den Lastern ira, superbia, tristitia und auch vor invidia, die als piebeium malum zu verachten sei (93). Viel ausführlicher behandelte er aber dasselbe Thema in einem an Franeesco Carrara gerichteten Senile (!4, l). Hier werden, wie sonst im Policraticus, d]e 1Ugende des princeps angeführt, wobei das augusteische Prinzipal wiederum als antikes Modell angesehen wird. Anders aber ,Js in der früheren Schrift ist dieses Speculum zeit- und umständebezogen, zuma! hier konkrete auf die Situation des Stadtslebens abgestimmte Mussnahmen vorgeschlagen werden (94). Es seien schliesslich einige das positive Cicerobild Petrarcas bestimmende Angaben erörtert. Nicht irn Epistolarium, sondern in Rerum memorandarum werden mit rührenden Worten und im engen Anschluss an die Erzählung von Seneca Vater in der Suasoria 6, die Ermordung Ciceros und die Ausstellung seiner abgeschnittenen Gliedmaßen erzäh1t(95). (9!.) VgLfiHn. 3, 7. 1 ff. wo der Untertitel De optimo reipub!ice statu lauteL (92) Vgl.fam. 24, 5 (Brief an Seneca): Plutarchus. Traiani principis magister, suus claros l'iros conferens usw. Wie im Mittela.her üblich. p1"1egt nicht Petrarcaseine 'modernen' Quellen zu zitieren. Eine systemaUsehe Textuntersuchung würde diesbezüglich aufschlussreich sein. (93) V gl. f"am. 12, l: dazu Dotri, La cÜt(l cit., 156: Id., Vüa eiL 244 ff. (94) Vgl. Dotti, La cirtil cit., 156 ff (95) Marcii Antonii . iussu . occisus esi, trunca qua scripserat manu et capite, quo illa dictavemt amputato. Quod rum in rostm reportatum esser ad i!lum infuendum non minorem concursum popu!i lacrimanfis .fuisse legimus quam ad audiendum (Rer: Mem. 2. 17. 8 f.); dazu: Mazwli, op. cit., 54 ff., mit Hinweis auf die anderen Quellen über die Ermordung Ciceros, die den mittelalterlichen Autoren zugänglich wa.ren. 162 ALEXANDRU CI7.EK Im zweiten Brief an Cicero 'ins Jenseits' erfolgt ein vorbehaltloses Lob seines ingenium und eloquium, wobei ihm Vergillus im Rahmen einer wortreichen, spekulativ anmutenden Synkrisis an die Seite, als ein ihm ebenbürtiger 'Fürst der Beredsamkeit' gestellt wird(96). Dieselbe Wertschätzung wiederholt sich an anderen Stellen: beide seien principes eloquii, parentes romrme eloquentie(97). ln zwei an den befreundeten Ciceronianer Croto di Bergamo gerichteten Briefen schlägt sich die Heroisienmg Ciceros in die Gestalt einer allegorischen Synkrisis mit Hercules nieder. So werden die Tusculanae Disputationes als geistiges Pendant zu den Werken des Hercules bewertet: zunächst stichwortartig und antithetisch wie folgt: quantumvis Iabores herculei celebrentur, siquidem profundius venirn quera5': ille corpus exercuit, hic animum: ille /acertis valuit, hic lingua(98). Anschließend wird dies veranschaulicht anhand der Parallelisierung von fünf Iabores herculei mit den stichwortartig präsentierten Inhalten der fünf Bücher der 1lisculanae(99). Die Grundlage dazu ist in einem Passus aus De o[ficiis zu suchen, wo Hercules im Geiste der Stoiker als Kulturheros und zwar in seiner Eigenschaft von Wohltäter der Menschheit verherrlicht wird(lOO). Hierbei kehrt also die im Brief an Pulice vo11 Vicenza getroffene Bewertung Ckeros nicht als Gottheit, sondern als Menschen göttlichen Geistes wieder. Diese teilweise als rhythmische Prosa anmutende Lobpreisung weist eine starke, höchstwahrscheinlich zufällige Ähnlichkeit mit Epikurs Lob im Prolog von Lukrez' De rerum natura auf der Petrarca (96) Nosti hominem, si modo nominis meministis: Publius Vergilius Maro est ... verum~ tamen prec/arumque ac magnijicum illi testimoniurn reddidisti. lXristi enim 'magne spes altem Romae' ... Hec de altero dw.Y'ßznmdie ({am. 24,4: Ad eundem [d. h. Ciceronemj 7, 10). (97) So in Rer. mem. 2, 16 f. mit Verweis auf P!inius minor. Nicht zuletzt heißt es im Triot({O deflafama: «Marco Tullio in cui si mostra chiaro quanti eloquenzaha frutti e fiori I Qu.csti sono gli occh! della lingua nostra~> (3, 20 f.); dazu einiges bei Schmidt, Zur Rezeption von Cicero,\· pol. Rhet. cit., 169. (98) VgLfam. 18, !3: Ad Crotum grammaticum, comparatio laboris herculei cum Studio Tulliano. 2. (99) Etsi enim Hercu[es ... Nemeam silvam ... Eryrnanthi colfe.>· . Aventini montes . Lerneamque paludem ... purgaverit ... plus tamen est quod. Cicero rwster egit. Prima equidem pars [scil. 7ltsculanarum] rugitu terr{fico ... mortalibus mortis merum interficit; secunda asperum dolorem corporis domat~ tertia mentis egritudinem comprimit; quarra venenosas ... animi passiones ("Onvellit .. Ad postremum quinta rationum seinfitlas e:tp!icat, quibus ostenditur ad beatmn vitam virtus sola sufficere fjam. 18, 14: Ad eundem de Citeronis libro qui Tuscufanarum Questionum dicitur er de illills riri laudibus, 2-5). (100) Magis est . . pro omnibus gentibus ... conservandis aur iuvandis ma:;;imoslahores imitantem Hercutern illum, quem hominum fama heneficiorum mernor in concilio caelestium colloc,IFit (off,' 3, 25). JNGE/VJUM ET MORES CfCERON!S 163 wohl unbekannt bleiben dürfte. Unter der Feder von Coluccio Salutati veranlassten später sämtliche Werke des Hercules eine voluminöse, vielerlei Stoffe zusammenführende Allegorie: De laboribus Herculis. Die Inspiration dürfte Salutati der Vita Herculis, einer der zwölf mythologischen Biographien verdankt haben, die von Petrarca verfaßt wurden. Nach vielen Jahrhunderten, während deren Cicero eine Gestalt ohne historischer Konsistenz blieb, kommt zuerst durch Johannes von Salisbury, dann noch substantieller durch Petrarca eine facettenreiche Darstellung Ciceros erneut in die europäische Kultur zum Vorschein. Allerdings war Johannes weniger interessiert an den mores Ciceros, dessen Schwächen ihm durch die zugänglichen antiken Quellen bekannt waren. Viel mehr bedeutete Johannes das ingenium, d. h. die philosophische, staatsrechtliche und ethische Lehre Ciceros, den er am intensivsten unter seiner antiken Autoritäten benutzte. Von ciceronischen, allgemein formulierten Grundsätzen ausgehend bietet er anhand einer großen Fülle biblischer und antiker Exempla eine kasuistisch aufgebaute Doktrin des Tyrannemordes als Hauptbestandteil seiner umfangreicheren Lehre vom idealeu princeps. ln diesem Rahmen stimmt er nur zum Teil der ciceronischen Auffassung von Tyrannenmord, zumal er die Tötung von lulius Cäsar anders beurteilt. Cicero hat Petrarca in einer ersten Phase seiner geistigen Laufhahn bedingungslos verehrt, gedanklich befolgt und stilistisch nachgeahmt. Hiermit verband sich zu jener Zeit auch seine republikanische Gesinnung, derzufolge er Scipio Africanus als idealen Staatsmann und Cäsar als Tyrannen betrachtete. !nfolge aber ernüchternden politischer Erfahrungen, infolge vor allem seines vertieften Studiums der einschlägigen antiken Quellen, wozu auch die Entdeckung und die literarische Verwertung der Briefe Ciceros gehört, nahm Petrarca eine zwiespältige Stellung gegenüber seinem früheren ldol. Zum einen rügte er diemoresdes Privat- und Staatsmanns Cicero, für den er jedoch kongeniales Mitleid weiterhin empfinden konnte. Zum anderen eignete er sich wie früher das philosophische und ethische Gedankengut Ciceros an, wobei er sich vom politischen Ideal desselben zunehmend distanzierte, zumal er in Cäsar deu berechtigten Vorlaüfer des von ihm idealisierten augusteischen Prinzipats sah. Darin wie auch bezüglich seiner im Alter formulierten princeps-Lehre stimmte er mit der Staatslehre des Johannes von Salisbury überein, aus dem er sich gevvissermassen auch inspirierte.
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