Europa, wir kommen!

Michael Schewe
Artem Tschuwin
Europa, wir kommen!
Und wir werden immer mehr
Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH
Frankfurter Ring 150
80807 München
[email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei
Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche
Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
Lektorat: Cornelius Traub
Umschlaggestaltung: Sina Georgi
Satz: Sina Georgi
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-945794-XXX
Inhalt
Vorwort
1
Das Boot ist voll
2
Die unsichtbare Bedrohung
3
Afghanistan
4
Iran und Irak
5
Syrien
6
Restlicher Naher Osten und Afrika
7
Nigeria (Boko Haram)
8
Alltag in den verwüsteten Ländern - Interviews
9
Ohnmächtige Entwicklungshelfer vor Ort und
korrupte Mitleidsindustrie
10 Sehnsuchtsort Deutschland - Warum zu uns?
11 Schlepper und Fluchtbedingungen
12 Refugees Welcome - die mediale Inszenierung
13 Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland als
sozialer Brennpunkt
14 Traurig aber wahr - Armut in Deutschland
15 Die Deutschen zwischen Tugendterror und
Wutbürgertum
16 Geht das überhaupt? Islam und deutsche Demokratie
17 Deutschland als Land der unbegrenzten
Möglichkeiten- Traum oder Alptraum?
18 Der „amerikanisierte“ homo oeconomicus
im entfesselten Kampf der Kulturen
19 Interviews und Hintergrundinformationen
Quellenangaben
Literaturverzeichnis
Interview als Leseprobe
Das Boot ist voll
Am Abend des 25.Oktober 2015 meldet die Bundespolizei
Land unter. „Wir saufen heute ab“, sagt Behördensprecher
Frank Koller der Presse.1 Die Situation im Bayern ist kritisch,
man weiß nicht mehr, wo man die Flüchtlinge unterbringen
soll, die aus Österreich kommend die Grenze passieren. Niemand verbreitet mehr Optimismus, auch von applaudierenden Deutschen, die gekommen sind, um den Migranten einen
herzlichen Empfang zu bereiten, ist weit und breit nichts zu
sehen. Was viele seit Wochen prophezeit haben, ist eingetreten.
Eine Bekannte (die als ehrenamtliche Helferin für Flüchtlinge tätig ist) hat bereits Anfang September, also zu einem
Zeitpunkt, als die Medien noch eifrig bemüht waren, negative
Schlagzeilen zur Flüchtlingskrise zu vermeiden, das Bild vom
vollen Rettungsboot benutzt, als sie mir erklären wollte, dass
es besser wäre, den Zuzug von Migranten möglichst rasch zu
begrenzen. Sie meinte, es sei eine Dummheit, immer mehr
Flüchtlinge aufzunehmen. „Irgendwann kentert der Kahn und
wir saufen alle ab“, stellte sie verärgert fest.
Kollers Worte haben mich an das Gespräch erinnert, und
daran, dass wir damals einer Meinung gewesen waren über die
Folgen einer solchen Situation. Sollten wir tatsächlich „absaufen“, wären wir nicht einmal mehr in der Lage, denen zu helfen,
die bereits bei uns sind. Schon jetzt sind Kommunen und Städte überfordert mit der Versorgung der registrierten Flüchtlinge. Es nützt keinem, wenn man sich die Arbeit schwerer macht
als sie ohnehin schon ist. Abgesehen von den Rechtspopulisten natürlich. Die warten seit langer Zeit voller Sehnsucht auf
den Moment, an dem sich die Konflikte in den Flüchtlingsun-
8
terkünften in ein einziges, kaum noch beherrschbares Chaos
verwandeln. Schon jetzt nutzen sie jede Auseinandersetzung
unter den Flüchtlingen um die Furcht vor den vermeintlichen
Invasoren zu schüren.
Politik, Asylverbände und Prominente rufen zu mehr Zivilcourage und Engagement auf, und hoffen fest darauf, dass sich
die Menschen in Deutschland für die Grundwerte unserer Gesellschaft einsetzen. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Volksverhetzung, für Toleranz und Weltoffenheit. Leider reicht das
im Kampf gegen die Flüchtlingskrise nicht mehr aus. In dieser
Situation ist eine andere Art von Zivilcourage gefordert.
Thilo Sarrazin definiert sozialen Mut als „die Fähigkeit und
den Willen, sich seiner eigenen Urteilskraft zu bedienen, ohne
dabei im Übermaß der sozialen Ansteckung zu erliegen.“ Seiner Meinung zufolge, bedarf es dieses sozialen Mutes „einer
geistig unabhängigen Minderheit“ um die Verengung des Zeitgeistes zu sprengen.
Leider ist nach Meinung des Publizisten die Mehrheit der
Menschen dazu nicht in der Lage. „Die Fähigkeit, sich sozialem
Druck mental zu entziehen, die eigene Urteilskraft ungetrübt
zu erhalten und nach dem eigenen Urteil zu handeln, ist aber
generell ein knappes Gut“, stellt Sarazzin fest, denn „das nicht
angepasste Denken muss die Isolationsfurcht überwinden, die
jeder geistige Sonderweg mit sich bringt. Dies gelingt meist dadurch, dass eine verschworene Gemeinschaft Andersdenkender entsteht, die sich zwar in ihrer Denkweise abgrenzt, dafür
aber umso stärker aufeinander bezogen ist. (...) Das ist gleichzeitig auch ein Nährboden für Fundamentalismus innerhalb
der Gruppe bis hin zur Radikalisierung. (...) Die Abhängigkeit
des Einzelnen von seiner Gruppe kann dann unendlich groß
werden. Das macht ihn so besonders wehrlos und fördert den
Konformismus im Bezugssystem der Gruppe, aber auch die
Gefahr, missbraucht zu werden. Dem Konformismuszwang in
9
der Gruppe können wiederum nur ganz besonders starke Charaktere entgehen. Das sind aber meist auch jene, die den konformistischen Gruppendruck für eigene Machtzwecke nutzen und
so dem ganz schlimmen Tugendterror Vorschub leisten.“ 1
Man kann über Sarrazin denken, was man möchte, aber an
dieser Stelle bringt der umstrittene Autor das Problem der sogenannten Wutbürger-Bewegung mit wenigen Worten ebenso
prägnant auf den Punkt wie die Ursachen der sozialen Spannungen, die Deutschland innenpolitisch nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
Sarrazin hat sicher nicht die Kritiker der „Lügenpresse“ im
Sinn gehabt, als er an anderer Stelle ausführt, dass „die meisten
normalen Menschen“ jene Meinungen teilen, „die sie als Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft oder in der eigenen Bezugsgruppe wahrnehmen. So entstehen Moden des Denkens genauso wie Moden der Kleidung.“ 2
Die islamfeindliche Wutbürger-Bewegung als eine neue Mode
des Denkens, geführt von starken Charakteren, die den konformistischen Gruppendruck für eigene Machtzwecke nutzen, weil
sie sehr wohl wissen, dass die meisten Anhänger dieser Bewegung widerstandslos bereit sind, die
Mehrheitsmeinungen innerhalb dieser für sie maßgeblichen
Bezugsgruppe zu teilen?
Es sieht ganz so aus, oder, besser gesagt, es ist so. Die Kritiker
von Politik, Wirtschaft und Medien sind längst in Parteien und
großen Interessengruppen organisiert, welche von mehr oder
weniger charismatischen und wortgewaltigen Persönlichkeiten
dominiert werden. Diese haben sich zu Sprachrohren der Bewegung aufgeschwungen und versorgen ihre treue Anhängerschaft
nun täglich mit neuen „Wahrheiten“ und „Enthüllungen“.
Sie nennen sich „Truther“, und betonen voller Zorn, dass sie
nicht länger bereit sind, die Eliten mit all ihren Lügen und Vertuschungen ungeschoren davonkommen zu lassen. Sie warnen
10
die Bürger in Deutschland davor, den Meldungen Glauben zu
schenken, die von den Medien verbreitet werden. „Lügenpresse
halt die Fresse!“ ist ihre Losung. Auf eigenen Internetseiten und
Blogs informieren sie die wütenden Bürger im Land über all das,
was in den Medien nicht zur Sprache kommt, und prangern mit
deutlichen Worten skandalöse Missstände und schier unglaubliche Vorkommnisse an.
Die politisch korrekten „Gutmenschen“ halten ebenso vehement dagegen und versuchen die Anhänger dieser neuen Mode
des Denkens zu diskreditieren und zu diffamieren so gut sie nur
können. Die Furcht vor einer schleichenden Islamisierung unserer Gesellschaft, welche von allen
Kritikern der herrschenden Eliten geteilt wird, dient der „Lügenpresse“ dazu, den Wutbürgern Ausländerfeindlichkeit und
Intoleranz zu unterstellen.
Wegen der hartnäckigen Proteste gegen die
Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und der damit verbundenen
Forderung, den Zuzug von Flüchtlingen sofort zu stoppen und
so viele Migranten wie möglich wieder abzuschieben, beschimpft
man die Wutbürger als „Intelligenzflüchtlinge“ und „Wir-sindkeine-Nazis-aber-Idioten“.3 Man spricht von „Schlechtmenschentum“ und „Arschlöchern“4 und berichtet von gewalttätigen
Ausschreitungen gegen Journalisten und niveaulosen Verbalattacken auf Politiker (die bei Kundgebungen als „Volksverräter“
beschimpft werden).5
Man spricht den Kritikern der Regierung die Seriosität ab
und verweist dabei auf das Vokabular ihrer Wortführer, welche die Flüchtlinge bevorzugt als „Asylforderer“ oder „Invasoren“ bezeichnen6 und von einer gegen Deutschland gerichteten
„Migrationswaffe“7 sprechen. Dem begegnen die Befürworter
der Flüchtlingspolitik mit demonstrativer Zurschaustellung der
„Willkommenskultur“ und einem täglich erneuerten Bekenntnis zum „Einwanderungsland Deutschland“, das die Flüchtlinge
11
unbedingt braucht.8
Und mittendrin, gewissermaßen zwischen den erstarrten
Fronten dieses ideologischen Stellungskrieges, stehen die sozialen Mutbürger, die laut Sarrazin die Einzigen sind, welche die
Verengungen dieses Zeitgeistes zu sprengen vermögen. Bislang
hat man nichts von diesem scheinbar verlorenen Häuflein gesehen oder gehört, doch nun hat eine unerschrockene Polizistin
ihre Furcht vor Ausgrenzung und Häme überwunden und ist an
die Öffentlichkeit getreten.
Ihr Name ist Tania Kambouri. Der Titel ihres kürzlich erschienen Buches lautet „Deutschland im Blaulicht - Notruf einer Polizistin.“ Was sie zu sagen hat, polarisiert nicht, es öffnet die Augen, jedem Einzelnen, ob man nun will oder nicht. Dieses Buch
prangert nicht nur jene Missstände an, welche die Verantwortlichen im Land beharrlich zu verschweigen oder zu relativieren
versuchen, es zeigt auch, dass man mit Mut weit mehr erreichen
kann als mit Wut. Denn es gehört eine Menge Mut dazu, in einer
derart aufgeheizten Atmosphäre zwischen die Fronten zu treten
und in dieser Deutlichkeit die Stimme zu erheben, auch auf die
Gefahr hin, dass man jetzt von beiden Seiten mit einem riesigen
Schwall ideologischer Jauche übergossen wird.
Aber nichts dergleichen geschieht. Vielmehr kann man etwas
beobachten, was man bis dahin nicht für möglich gehalten hätte.
Die Verantwortlichen in Politik und Medien bekommen endlich
den Mund auf und reden Tacheles, und die anscheinend völlig
verdutzten Anführer der Wutbürger-Bewegung tun das, was sie
sonst voller Empörung der verhassten „Lügenpresse“ zum Vorwurf machen, sie schweigen betreten und tun so, als wäre das
Buch von Frau Kambouri nichts, was mehr wert wäre als ein
paar flüchtige Worte am Rande.
Dabei repräsentieren dieses Buch und seine Autorin nicht
mehr und nicht weniger als die richtige Botschaft zur rechten Zeit.
12
Auch wenn es inzwischen etwas später geworden ist als fünf
vor zwölf. Schon im Herbst 2013 hat Kambouri auf die unerträglichen Zustände in Deutschland aufmerksam gemacht. Damals hat sie einen Leserbrief an die Gewerkschafts-Zeitschrift
„Deutsche Polizei“ geschickt, der dort auch veröffentlicht wurde
und auf ein sehr großes und vor allem positives Echo bei Kambouris Kollegen gestoßen ist. Sie lobten die griechischstämmige
Streifenpolizistin für ihren Mut und dankten ihr dafür, dass sie
offen aussprach, was viele seit langem dachten, aber nie zu sagen
wagten. „Meine deutschen Kollegen scheuen sich, ihre Meinung
über straffällige Ausländer zu äußern, da sofort die alte Leier mit
den Nazis anfängt“, schreibt sie.
Dabei hat das, was ihr auf dem Herzen liegt, nicht das Geringste mit Ausländerfeindlichkeit oder menschenverachtender
Nazi-Rhetorik zu tun. „Ich möchte etwas Positives für dieses
Land erreichen, möchte, dass Politiker und Justiz sich Gedanken
machen, damit nicht alles schlimmer wird“, erklärt Kambouri,
und meint, es sei höchste Zeit, die Situation im Land grundlegend zu verändern. „Falls wir das unterlassen, uns stattdessen
noch länger von Sozialromantikern und Kulturrelativisten blenden lassen oder die Probleme nur halbherzig angehen, steht unsere Gesellschaft vor einer inneren Zerreißprobe.“9
Das kann ich nur bestätigen. Ich habe mit vielen „kleinen
Leuten“ gesprochen, welche die Geschehnisse im Land voller
Sorge mitverfolgen und sich das, was die Wutbürger zu sagen haben, aufmerksam anhören. Immer wieder bin ich dabei Reaktionen begegnet, die zwischen Anerkennung und Ablehnung hin
und her gependelt sind. Einerseits hat man anerkannt, dass die
Regierungskritiker gerade jene Probleme deutlich und offen ansprechen, die von der Politik und den Medien nicht ausreichend
gewürdigt oder gänzlich verschwiegen werden. Andererseits hat
13
man die Polemik gegen Ausländer zum Teil scharf abgelehnt.
Die Leute stehen im politisch-ideologischen Niemandsland
und fühlen sich von den Eliten in Deutschland nicht nur im
Stich gelassen, sondern regelrecht „verarscht“. Sie sind empört
über das Verhalten jener Ausländer, die ganz offen bekennen,
dass sie nicht daran denken, sich den Werten und Normen in
diesem Land unterzuordnen. Die Selbstverständlichkeit mit der
manche Muslime im Alltag ihre Ansichten in puncto Frauen
und Rechtsprechung zur Schau tragen, macht viele Deutsche zuerst fassungslos und dann wütend.
Ich spreche an dieser Stelle von den Männern und Frauen, die
ich persönlich kenne, und die wie ich in bürgerlichen Verhältnissen leben. Wir alle haben seit unserer Kindheit mit Ausländern
Tür an Tür gewohnt, sind mit ihnen zur Schule gegangen, haben
mit ihnen im Sportverein Fußball gespielt und empfinden es nun
als völlig normal, dass unsere Kinder Freunde und Freundinnen
ohne deutschen Pass haben.
Wenn man wie ich seit 47 Jahren Ausländern begegnet, für
die es kein Problem ist, sich im Rahmen der in Deutschland gültigen Wertvorstellungen frei zu entfalten, bekommt man Magenkrämpfe, sobald man hört oder sieht, wie andere Migranten sich
hierzulande weitestgehend kritiklos aufführen können. Schließlich wird asoziales Verhalten bei Deutschen auch auf breiter gesellschaftlicher Basis geächtet und verurteilt. Bezeichnet man
aber einen Ausländer als asozial, ist sofort von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit die Rede. Es kann nicht sein, dass man in
diesem Punkt je nach Staatsangehörigkeit Unterschiede macht,
die anschließend auch noch oftmals damit begründet werden,
dass der Islam und unsere Demokratie nur teilweise zueinander
passen. Für mich ist dieses „Argument“ schwer nachvollziehbar,
da ich Tag für Tag Muslime sehe, die ihre Religion, Tradition und
Kultur praktizieren können ohne negativ aufzufallen.
Kulturelle oder religiöse Unterschiede sind ebenso wenig eine
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Rechtfertigung für asoziales Verhalten wie politische Überzeugungen, es ist einzig und allein eine Folge individueller Entscheidungen, mit denen sich der Betreffende gegen die Gemeinschaft
stellt. Und mit
Gemeinschaft meine ich all die in Deutschland lebenden
Bürger, die sich unabhängig von Staatsangehörigkeit und
Religion ganz selbstverständlich an die Regeln halten, die ein
friedliches Zusammenleben von Millionen Menschen erst möglich machen.
Keiner von uns sympathisiert mit der Wutbürger-Bewegung
oder rechtspopulistischen Parteien, aber wir alle fragen uns, an
wen wir uns denn wenden sollen und können, wenn wir uns
über etwas beschweren möchten, das mit der Flüchtlingskrise
oder Ausländern zu tun hat. Es ist wie mit den deutschen Kollegen von Frau Kambouri. Die meisten unzufriedenen Bürger
trauen sich nicht den Mund aufzumachen gegenüber Leuten,
die sie nicht seit Langem persönlich kennen, weil sie befürchten, dass man sie mit den Wutbürgern auf eine Stufe stellt oder
womöglich sogar als rechtsextrem bezeichnet. Von überall her
hört man Kritik an unfähigen Politikern und Medienvertretern,
die ihr Fähnchen brav in den Wind drehen und jedem, der sich
beklagt, mit der Nazi-Keule drohen, statt ihm zuzuhören.
Es hat sprachlos gemacht, wenn man mitansehen musste, wie
die Eliten in diesem Land die Menschen den Wutbürgern in die
Arme getrieben haben. Jeder, der sich zu Wort melden wollte,
hatte nur die Wahl zwischen der Wutbürger-Bewegung und den
etablierten Weiter-So-Eliten. Entweder man kritisierte von rechts
außen oder man hat angesichts der menschenverachtenden Hetze dieser Rechtspopulisten seinen Ärger hinuntergeschluckt und
weiter brav das Credo der Politik-Apostel heruntergeleiert. Es
war die berühmt-berüchtigte Wahl zwischen zwei Übeln, wobei es jedem selbst überlassen blieb, zu entscheiden, welches das
Kleinere ist.
15
Kambouri hat uns allen bewiesen, dass es noch eine dritte
Möglichkeit gibt - sofern man mutig genug ist. Man kann auch
entschlossen vortreten und die Eliten in diesem Land dazu zwingen, über ihre zerstörerische Zwei-Affen-Mentalität (alles sehen,
aber nichts hören und nichts sagen wollen) nachzudenken, indem man dem zaudernden deutschen Michel mit aller Kraft in
die Familienjuwelen tritt und ihn so aus seiner Angststarre reißt.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich keiner von uns
länger den Luxus leisten kann, die Augen vor der Realität zu
verschließen, nur weil sie uns Angst macht. Und genauso wenig können wir es den Eliten in diesem Land weiterhin erlauben,
die Probleme totzuschweigen und die Sorgen der Menschen zu
ignorieren. Diese Haltung der Verantwortlichen ist der Grund,
warum die besorgten und frustrierten Menschen in Deutschland zu Wutbürgern werden und sich Stimmungsmachern zuwenden, welche Behauptungen in die Welt setzen, über die man
zu anderen Zeiten bestenfalls herzlich lachen würde. Aber den
Menschen ist eben nicht mehr nach Späßen zumute.
Statt zu handeln und die Öffentlichkeit über das ganze
Ausmaß der Probleme zu informieren, haben Politiker und
Medien nicht nur geschwiegen, sondern oftmals sogar gelogen
und manipuliert. Kambouris Buch hat das eindrucksvoll unter
Beweis gestellt. Doch die Probleme, auf die Frau Kambouri uns
alle aufmerksam gemacht hat, sind nicht die Ursachen der Misere in diesem Land, sondern eine Folge davon. Wenn man wissen
will, was in diesem Land wirklich schief läuft, sollte man nicht
nach unten, sondern nach oben schauen, hinauf zur Spitze der
Gesellschaftspyramide, dorthin, wo seit Jahrzehnten fatale Fehlentscheidungen getroffen werden.
Nicht mit den Augen eines ideologisch eingeengten
Wutbürgers, sondern mit denen des undogmatischen sozialen
Mutbürgers.
16
Die unsichtbare Bedrohung
Die Folgen dieser Fehlentscheidungen bekommen wir nun
am eigenen Leib zu spüren. Keiner von uns kann jetzt noch
die Fernbedienung in die Hand nehmen und bequem vom Sessel aus die Probleme wegzappen, die jene Leute mitverschuldet
haben, die in Deutschland die politischen und ökonomischen
Weichen stellen. Da nützt es auch nichts, wenn die meisten
Medienvertreter eifrig bemüht sind, uns (un-)mündigen
Bürgern nicht allzu sehr den Schlaf zu rauben durch die schonungslose, wiederholte Berichterstattung über das, was sich in
der Welt abspielt.
Natürlich wird von Kriegen, Terror und Gewalt berichtet,
aber man hat es lange Zeit als etwas dargestellt, dass uns nicht
direkt betrifft. Erst mit dem Balkankrieg Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Fernsehbilder für die Bürger in
Deutschland mehr als eine bloße Meldung in den Abendnachrichten. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien bekam
schon bald ein menschliches Gesicht, oder, besser gesagt, viele
Gesichter.
Deutschland wurde zum Fluchtziel Tausender, und daran
hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Ganz im Gegenteil, im Jahr 2015 hat der Flüchtlingsstrom eine Intensität
erreicht, die viele Deutsche glauben lässt, dass unser Land in
den „Fluten“ unterzugehen droht.
Anders als bei der Überschwemmungskatastrophe 2002 hilft
der kollektive Schulterschluss wenig, die vereinten Anstrengungen von staatlichen Einrichtungen und ehrenamtlichen Helfern
sind erschreckend rasch an ihre Grenzen gelangt, Nervosität hat
sich breit gemacht, die schließlich bei fast allen Beteiligten in
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Angst und Wut umschlagen ist.
Wieder einmal haben die Politiker bewiesen, dass sie die
Lage zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle hatten und nur mit
Hilfe der Medien wochen- und monatelang versucht haben,
den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Ob sie damit nur Zeit
schinden oder ihre eigene Ratlosigkeit vertuschen wollten, spielt
im Grunde keine Rolle. Inzwischen können sie Ihre Orientierungslosigkeit nicht mehr vor der Öffentlichkeit verbergen. Die
Nachrichten sind voll von Meldungen über parteiinterne und
parteiübergreifende Meinungsverschiedenheiten, die auf allen
Ebenen verbalen
Schlagabtauschs stattfinden, bis hin zu spektakulären Parteiaustritten mit der Begründung, man lasse sich nicht von den
Kollegen den Mund verbieten.1
Nun ist die Selbstzensur der Regierenden öffentlich, die Wutbürger heulen auf vor Genugtuung und Schadenfreude, können sie doch jetzt voller Stolz darauf hinweisen, dass sie einmal
mehr von Anfang an die „Wahrheit“ gesagt haben, als sie den
„Volksverrätern im Reichstag“ unterstellt haben, den Bürgern
absichtlich und systematisch wichtige Fakten über die Situation
im Land vorzuenthalten.
Die derart Gescholtenen versuchen die Häme der Kritiker zu
überhören und sich mit blindem Aktionismus als Männer und
Frauen der Tat darzustellen. Man verfasst „Brandbriefe“ an die
Kanzlerin und droht ihr mit Verfassungsklagen2, gerade so, als
wäre man selbst unschuldig an der ganzen Misere. Man will den
Bürgern einen Sündenbock liefern, und die Medien mischen
kräftig mit, schließlich geht es für sie auch darum, die eigene unrühmliche Rolle bei der filmreif inszenierten Darstellung deutscher „Willkommenskultur“ vergessen zu machen.
Plötzlich sind die Blätter voll von Interviews mit kritischen
Geistern, kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo im Land ein
Prominenter lautstark und mediengerecht nach einer neuen Ein-
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wanderungspolitik verlangt.3
Der Ton wird schärfer, das Klima rauer, zumal die
Rechtspopulisten immer unverhohlener an der Eskalationsschraube drehen. Bei einer Pegida-Demonstration taucht ein
selbstgebastelter Galgen für die Kanzlerin und Sigmar Gabriel auf.
Als am 17.Oktober 2015 in Köln die parteilose
Politikerin Henriette Reker auf offener Straße von dem Langzeitarbeitslosen Frank S. niedergestochen und schwer verletzt
wird, hält das Land für einen Moment den Atem an. Schon nach
wenigen Tagen ist klar, dass der Täter ein Sympathisant der rechten Szene ist, welcher verhindern wollte, dass die liberal denkende Reker Oberbürgermeisterin von Köln wird. Einen direkten
Kontakt zu rechtsextremen Gruppen oder Parteien kann man
ihm nicht nachweisen, aber es steht fest, dass ihn die Parolen
mancher Populisten sehr „inspiriert“ zu haben scheinen.
„Ich tue es für eure Kinder!“, soll Frank S. den
Anwesenden zugerufen haben, als er zugestochen hat.4
Offenbar war der Mann der Ansicht, aus edlen, selbstlosen Motiven und zum Wohle des deutschen Volkes zu handeln.
Vielleicht haben ihm die Worte des Pegida-Frontmanns Lutz
Bachmann in den Ohren geklungen, der die Bundesregierung
als „unsere Berliner Diktatoren“ bezeichnet hat.
Und Widerstand gegen Diktatoren ist schließlich
Bürgerpflicht. Oder etwa nicht? Vor allem dann, wenn sie im
Verdacht stehen, mit der „Asylmafia“ und anderen „Deutschhassern“ unter einer Decke zu stecken und auf Befehl von „Mutter Terroresia“ Angela Merkel zu handeln, die genauso „weg
muss“, wie das restliche „Politikerpack“5, das drauf und dran ist,
aus uns Deutschen „Menschen zweiter Klasse zu machen“. In
Wutbürger-Kreisen geht bereits das Gerücht um, dass gewisse Leute den Text unserer Nationalhymne umschreiben wollen. „Flüchtling, Flüchtling über alles“6 soll an die Stelle von
„Deutschland, Deutschland über alles“ treten.
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Moment! Sollte das nicht „Einigkeit und Recht und
Freiheit“ heißen? Hat da jemand „zufällig“ die falsche Strophe
des Deutschlandliedes als Vorlage benutzt? Ich denke schon.
Bei den Wutbürgern scheint es einige „Patrioten“ zu geben,
die in diesem Punkt anderer Meinung sind, für sie ist immer
noch die erste und nicht die dritte Strophe das Maß aller Dinge. Frank S. war wohl einer von ihnen, auch wenn er nicht an
Kundgebungen teilgenommen und dort wie die anderen Demonstranten lautstark den Sturz der Berliner „Volksverräter“
gefordert hat. Er hat sein braunes Süppchen lieber im stillen
Kämmerchen gekocht und am 17.Oktober 2015 Henriette Reker mit blanker Klinge serviert.
Diese Tat sollte jedem Politiker und jedem Journalisten im
Land klar gemacht haben, dass wir an einem Punkt angelangt
sind, an dem es für die Eliten Zeit wird zu handeln. Die verhängnisvolle Vogel-Strauß-Politik der letzten Jahrzehnte muss
ein Ende haben. Und damit meine ich nicht, dass die Verantwortlichen in Deutschland sich nun entschlossen und mit aller
Kraft gegen die Flüchtlinge stemmen und sie in ihre Heimatländer zurückschicken sollen. Ich will damit sagen, dass der
Moment gekommen ist, an dem die Politiker die Verantwortung für das übernehmen sollten, was sie uns und den Migranten angetan haben.
Denn die Menschen fliehen nicht zu uns, weil sie
Schmarotzer oder Invasoren sind, sondern weil in ihren Heimatländern Zustände herrschen, die man sich hierzulande nach
70 Jahren Frieden nicht einmal vorstellen kann. Wir reagieren
bereits entsetzt, wenn wir von einem Attentat wie hören oder
sehen, was in Paris geschehen ist, als Fanatiker die Redaktion
des Satiremagazins Charlie Hebdo angegriffen haben. Für die
Menschen in Syrien hört sich das fast schon wie Frieden an,
in ihrer Heimat tobt seit Jahren ein unvorstellbar grausamer
20
Krieg, dort gehören Messerstechereien, Sprengstoffanschläge
und wilde Schießereien zur Tagesordnung, keiner kann sich
der Gewalt entziehen, es sei denn, er flieht.
Syrien ist nur eines von zahllosen Ländern rund um den
Globus, das von solcher Gewalt heimgesucht hat wird. Der
Krieg in Syrien kam nicht überraschend, so wenig wie der in
Afghanistan, dem Irak oder in Nigeria. Diese Konflikte haben
alle eine lange Vorgeschichte in der die westlichen Regierungen
und Ökonomien fast ausnahmslos eine unrühmliche
Rolle spielen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, diese
Länder politisch und wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds (oder einen Schritt darüber hinaus) zu drängen, und
nun, da die völlig verzweifelten, hilflosen Menschen aus diesen
Ländern zu uns kommen und Schutz in Deutschland suchen,
wenden sich die Verantwortlichen aus Sorge um den inneren
Frieden gegen die Flüchtlinge.
Sie blicken ratlos auf die Spur der Verwüstung, die sie quer
über den Erdball gezogen haben im Namen von Freiheit und
Fortschritt, sie wissen, dass die Flüchtlinge nicht das Problem,
sondern eine Folge des
Problems sind, und sie tun nichts, um das Problem aus der
Welt zu schaffen und die Flüchtlingskrise zu beenden. Deswegen wird es in den kommenden Jahren eher noch schlimmer
als besser werden.
Wie ich schon sagte, Syrien und der Irak sind nur die Spitze
des Eisbergs. Der Heidelberger Konfliktbarometer zählt für das
Jahr 2014 weltweit 424 Konflikte unterschiedlicher Intensität
auf!!! Die Wissenschaftler haben 21 dieser Konflikte als Kriege
eingestuft. Bei aufmerksamer Lektüre des Textes wird schnell
klar, dass sich einige der restlichen 403 Konflikte jederzeit zu einem Krieg entwickeln können.7
Die Deutschen bekommen davon so gut wie nichts mit. In
den Medien ist keine Rede davon. Die Mehrzahl der Männer
21
und Frauen, die ich gefragt habe, wussten noch nicht einmal,
was das Heidelberger Konfliktbarometer ist. Sie hatten nicht die
geringste Ahnung davon, dass es Hunderte von gewaltsamen
Konflikten weltweit gibt. Die Deutschen blicken in den Nahen
Osten und nach Afrika, weil von dort die Flüchtlinge kommen,
über die im Moment so heftig gestritten wird.
Man hört von Nigeria und ab und zu von Ägypten oder Eritrea, aber man hat keine Ahnung davon, was dort eigentlich vor
sich geht, geschweige denn davon, dass allein in Afrika weit über
100 Konflikte ausgetragen werden. In Asien sind es noch mehr.
Diese Tatsache spiegelt sich in keiner Weise in der Berichterstattung der Deutschen Medien wieder. Wann haben sie zuletzt
etwas von islamistischen Fanatikern in Thailand oder Indonesien gehört? Wussten sie, dass auch auf den Philippinen ein
Krieg gegen den Terror geführt wird oder dass Pakistan weit
davon entfernt ist, ein stabiles, friedliches Land zu sein? Nein?
Dann geht es ihnen wie allen meinen Freunden und Bekannten. Wahrscheinlich werden auch sie ungläubig staunen, wenn
sie hören, dass sogar im Urlaubsparadies Malediven der radikale Islam bereits Fuß gefasst hat.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass der ehemalige Präsident der Malediven, Mohamed Nasheed, erklärt hat, dass etwa
200 seiner Landsleute im Irak und in Syrien für den IS kämpfen. Bei einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal 330000
Menschen im Inselstaat ist das ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz. Die Menschen auf den Malediven sind sunnitische
Muslime, viele von ihnen hören regelmäßig die Predigten radikaler Islamisten. Niemand unternimmt etwas dagegen, weil
viele Spitzenpositionen in Militär und Polizei von Islamisten
besetzt sind. Wegen der Abhängigkeit vom Tourismus wird das
weitestgehend verschwiegen, man will seinen guten Ruf nicht
aufs Spiel setzen. Den Bombenanschlag in Male im Jahre 2007,
bei dem acht chinesische Touristen getötet wurden, hat man
22
deswegen auch ganz schnell zu den Akten gelegt.8 Die Medien
in Deutschland werden natürlich erst dann darüber berichten,
wenn deutsche Touristen einem Attentäter zum Opfer fallen.
Dasselbe gilt für die Urlaubsländer Thailand und Indonesien, auch dort ist der radikale Islamismus ein ernstes Problem,
und das nicht erst seit gestern.
Die Jemaah Islamiyah (JI), das größte islamische TerrorNetzwerk in Südostasien verfügt über Zellen in Indonesien,
Malaysia, Singapur, Thailand und auf den Philippinen. Ende
2002 wurde dieses Netzwerk vom UN-Sicherheitsrat als
Terrororganisation eingestuft. Man nahm an, dass Kontakte
zu Al-Qaida bestehen.9 Im Juli 2014 hat Abu Bakar Bashir,
der Mitbegründer und Anführer der Terrorgruppe Jemaah
Anshorut Tauhid (JAT), dem IS seine Unterstützung zugesagt. Daraufhin haben der indonesische und australische Geheimdienst eine noch intensivere und engere Kooperation im
Kampf gegen islamistische Terroristen vereinbart. Die indonesische Regierung geht davon aus, dass sich schon jetzt bis zu
110 gut bewaffnete und bestens ausgebildete IS-Kämpfer im
Land aufhalten.10
Noch wesentlich komplizierter und gefährlicher sind die
Verhältnisse auf den Philippinen, wo man im März 2014 mit
der „Moro Islamic Liberation Front“ (MILF) ein Friedensabkommen unterzeichnet hat, das der jahrzehntelangen Gewalt
ein Ende hätte setzen sollen. Seit den 1970er Jahren hatte die
MILF für mehr Autonomie der muslimischen Minderheit im
Süden der mehrheitlich katholischen Philippinen gekämpft.
Seit Beginn des Aufstands sollen 150000 Menschen getötet
worden sein.
Nun wackelt das Abkommen, nicht zuletzt,
weil Politiker wie Ferdinand Marcos, der Sohn des früheren
Diktators, auf der einen und die Kämpfer der „Bangsamoro
Islamic Freedom Fighters“ (BIFF) auf der anderen Seite das
Abkommen strikt ablehnen.
23
Die wieder aufgeflammten Auseinandersetzungen erreichten am 25. Januar 2015 in dem Ort Mamasapano ihren vorläufigen Höhepunkt, als eine Anti-Terror-Einheit, bestehend
aus philippinischen Elitepolizisten und US-Terrorjägern, in
einen Hinterhalt der BIFF geriet und 45 Mann verlor. Ziel der
Mission war es gewesen, mehrere gesuchte Terroristen ausfindig zu machen, die in dieser Gegend untergetaucht sind.11
Neben den BIFF verbreitet seit einiger Zeit auch wieder
die Terrorgruppe „Abu Sayaf “ auf den Philippinen Angst und
Schrecken. Im September 2014 hat sie medienwirksam dem
IS Treue geschworen und der Regierung in Manila den Kampf
angesagt.12 Bisherige Einschätzungen, die davon ausgingen,
dass es sich bei den Abu Sayaf lediglich um Piraten, Kidnapper und Erpresser handelt, die den Islam als Vorwand für ihre
Raubzüge benutzen, werden wohl schon sehr bald revidiert
werden müssen.
Tatsache ist, dass die Abu Sayaf in bester IS-Tradition von
derartigen kriminellen Aktivitäten profitieren. Noch mehr
trifft dies auf die islamistischen Gruppen in Thailand zu, die
seit Jahren einen blutigen Krieg gegen die Regierung führen
und die Errichtung eines unabhängigen islamischen Staats
(Sultanat Patani) im Süden des Landes oder die Angliederung
der thailändischen Südprovinzen an das muslimische Malaysia fordern.
Die thailändische Regierung hat über die Provinzen den
Ausnahmezustand verhängt und geht mit aller Härte gegen
die Rebellen vor. Allein zwischen 2004 und 2013 kamen mehr
als 5600 Menschen bei den Kämpfen ums Leben, und eine
Ende der Gewalt ist trotz Bemühungen um ein Friedensabkommen nicht in Sicht.
Wie auf den Philippinen wird die Annäherung der
Konfliktparteien von gewissen Kreisen behindert. In Thailand
sind das in erster Linie Armeeoffiziere, die außerhalb staatli-
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cher Kontrolle agieren und ein Friedensabkommen mehr oder
weniger offen ablehnen. Auf Seiten der Rebellen gibt es wiederum Hardliner, die unerfüllbare Bedingungen stellen, sie fordern unter anderem die sofortige Freilassung gefasster Terroristen, wohl wissend, dass die thailändische Regierung auf so
eine Forderung unmöglich eingehen kann.13
Ähnlich festgefahren sind die Verhandlungen in der
indonesischen Provinz Aceh, wo der Gouverneur von der
Zentralregierung in Jakarta die Einführung der Scharia verlangt, obwohl dieses Land sich als säkulares Staatswesen versteht und den Islam als Staatsreligion ablehnt. Der Gouverneur
von Aceh, Zaini Abdullah, hat im Dezember 2013 sogar eine
Verordnung unterzeichnet, nach der auch die 90000 Christen,
die in der Provinz leben, die Scharia befolgen müssen. Ein Veto
der Zentralregierung verhindert vorläufig die Umsetzung der
Verordnung.
Man sieht, dass auch jene Konflikte, die man bisher nur als
Unabhängigkeitsbestrebungen betrachtet hat, immer tiefer in
den Strudel des Islamismus hineingezogen werden und dem
IS dadurch bedrohlich nahe kommen. Das gilt auch für den
Kampf der Uiguren in China. Einst als Freiheitskampf eines
muslimischen Volkes gegen die Regierung in Peking deklariert,
tauchen nun immer öfter Begriffe wie islamistische Fanatiker
und Terroristen auf. Es steht zu befürchten, dass die aufstrebende Weltmacht China gerade dabei ist, sich sein eigenes Bedrohungsszenario zu erschaffen, das anschließend als Rechtfertigung für ein weitaus intensiveres Engagement im Krieg
gegen den Terror herhalten muss.
China scheint allen Ernstes auch in diesem Punkt in direkte
Konkurrenz zu den USA treten zu wollen. Sollte es tatsächlich
dazu kommen, dass Peking zum Krieg gegen den islamistischen Terror im eigenen Land aufruft, wird eine ganze Region
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ins Chaos gestürzt. Was das für die Menschen in diesen Ländern und Provinzen und für uns Europäer bedeutet, kann man
schon heute im Nahen Osten sehen.
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Interview
Okorie O. (33) aus Nigeria
Okorie kommt aus Nigeria und hat den Spitznamen „Bishop“.
Er wird von seinen Freunden und Zimmergenossen auf seinen
Wunsch hin so genannt. Bishop ist 33, Christ und sehr gläubig.
Schon als kleiner Junge, so erzählte er mir, fand er die Besuche
in der Kirche zusammen mit seinen Eltern an Sonntagen besonders toll. „Es wurde nämlich immer gegessen, gesungen und
getanzt, während der Priester das Wort Gottes verkündete und
dazu sang und die Leute inspirierte zu leben, zu leuchten und zu
Gott aufzuschauen.“ Bishop liebt es auch heute noch zu predigen
und das Wort Gottes zu verkünden. Das ist die Aufgabe seines
Lebens, verriet er mir.
„Sonntags muss man in die Kirche gehen und am Dienstag
das Wort Gottes verkünden“, dies sei für viele in seinem Land
bis vor einigen Jahren noch ganz normal gewesen.
Seitdem jedoch mehrere Terroristengruppen zunehmend für
Unruhe und Chaos sorgen, ist dies nicht mehr so einfach. Der
Grund sei „die Islamisierung des Landes“: Zwar hat Bishop wie
viele andere absolut nichts gegen andere Religionen, sich eine mit
Waffengewalt aufzwingen lassen möchte er jedoch auch nicht. In
seinem Land hat er vor knapp zwei Monaten noch regelmäßige
Predigten gehalten. Das Erstaunliche daran ist, dass er seine geliebten Predigten seit Ende 2012 in einem geheimen Keller seines
Freundes halten musste.
Die religiösen Diskrepanzen in seinem Land seien jedoch nicht
der einzige Grund, weshalb Bishop nun in Deutschland leben
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möchte. „Die wirtschaftliche Lage, ethnische Konflikte und interkulturelle Unstimmigkeiten“ seien weitere Gründe, die gegen eine
erfolgversprechende Zukunft im eigenen Land sprechen würden.
In einem Interview erzählte Bishop mir seine Geschichte.
Meine Zwischenfragen die ich während des Interviews gestellt habe, ermöglichten mir eine detaillierte Nachstellung der
realen Verläufe samt Lesefluss aus dem Leben von Bishop. Einige Namen wurden durch Pseudonyme ersetzt.
A.:„Grüß dich Bishop. Wie du mir bereits erzählt hast, bist
du 33 Jahre alt, kommst aus Nigeria und kamst vor ungefähr
einem Monat nach Deutschland. Wie hast du vorher gelebt und
welchem Beruf bist du nachgegangen? Erzähle mir bitte etwas
aus deinem Leben, bevor du nach Deutschland gekommen
bist.“
O.: „In meinem Heimatland halte ich religiöse Sitzungen und
versuche das Wort Gottes zu verkünden, wann und wo ich nur
kann. Hauptberuflich jedoch bin ich als Sekretär in einer Institution angestellt. Ich kriege von meinem Chef die Monatsgehälter für die Arbeiter und meine Aufgabe ist es, dieses zu verwalten und alle am Monatsende auszuzahlen. Ansonsten habe
ich mit meiner Freundin zusammen, soweit es möglich war, ein
ganz normales Leben geführt.“
A.: „
A.: „Lieber Bishop, erzähle mir doch dann bitte von deinem
prägnantesten Erlebnis in deinem Leben, welches dir nicht
mehr aus dem Kopf geht und welches eventuell sogar deinen
Adrenalinpegel in die Höhe hat schnellen lassen?“
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O.: „Da sind mehrere Ereignisse, wie ich bereits vor unserem
Treffen am Telefon angekündigt habe. Der 26 Juli 2012 geht
mir zum Beispiel nicht mehr aus dem Kopf. An diesem Tag
hatte ich eine Aussage als Zeuge in der Polizeistation in Abuja
zu machen. Als ich dort gegen Mittag ankam und aus meinem
Auto ausstieg, hörte ich Schüsse. Viele Menschen liefen wie
wild umher und einige die aus der Wache gerannt kamen, haben im Gesicht stark geblutet als wären sie verprügelt worden
und schrien sich die Seele aus dem Leib. Ich hörte plötzlich
eine laute Sirene die hinter mir laut aufbrüllte und stieg daraufhin sofort wieder in mein Auto ein und fuhr weg. Am
Ende des Tages liefen über dieses Ereignis auch viele Nachrichten im Fernsehen: Ein Selbstmordattentäter hat sich als
verkleideter Polizist den Weg in die Station gebahnt und eine
Bombe gezündet die er um seinen Bauch geschnallt trug. Einige Polizisten wurden getötet und viele Zivilisten die sich zu
diesem Zeitpunkt in der Nähe befanden wurden verletzt.
A.: „Das klingt furchtbar. Die Unruhen in deinem Land hast
du bereits erwähnt, in welchen brenzligen Situationen hast du
dich jedoch außerdem noch persönlich wiedergefunden? Gab
es auf deinem Weg nach Deutschland eventuell Ereignisse,
die du erzählen möchtest?“
Die Reise nach Deutschland
O.: „Bevor ich nach Deutschland kam, war ich die Nacht
zuvor mit meiner Frau bei Verwandten von uns zu Besuch.
Übers Wochenende wollten wir dort zusammen die Tage verbringen und uns die die Sehenswürdigkeiten der Stadt Diko
anschauen. Als ich mit meinem Freund Tayo loszog um Besorgungen zu machen, trafen wir einen weiteren Freund von
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uns in der Stadt. Hafsa erzählte uns etwas von seiner Arbeit
und ob wir ihm nicht helfen könnten, da er zur Zeit sehr krank
sei. Welche Krankheit er hatte wusste niemand, denn er sprach
ansonsten gar nicht mehr darüber. Man konnte ihm jedoch ansehen, das er Fieber hatte und seine Haut heller war als sonst.
Als wir drei mit dem Bus in ein näher gelegenes Dorf fuhren,
hatte ich bereits ein mulmiges Gefühl. Hafsa hat uns nicht besonders viel erzählen können, da er mit sich selbst beschäftigt
war und um welchen Job es denn nun gehe, wusste Hafsa selbst
nicht einmal genau. Tayo schaute mich die ganze Fahrt über
ebenso skeptisch an, wie ich ihn. Als wir dann angekommen
sind, warteten wir mehrere Stunden an einem Kiosk, nachdem
Hafsa sich auf den Weg gemacht hat den Auftraggeber zu holen. Dort tranken wir Bier und redeten über Gott und die Welt.
Wir ahnten noch nicht, wie sich unsere gute Laune gleich in
eine Todesangst verwandeln würde. Als Hafsa dann endlich
mit einem anderen Mann angekommen ist, erklärte uns der
Mann mit einem langen Bart über unsere angebliche Mission,
die wir zu erledigen hätten. Es sollten schwere Kisten aus einem Lager geschleppt und auf einen LKW verladen werden.
Das hörte sich zunächst nach einer erschwinglichen Arbeit an
und wir horchten auf.
Die Mission sollte im Land Libyen ausgeführt werden. Was in
den Kisten ist und andere Fragen sollten wir lieber nicht stellen. Daraufhin hatte ich dann plötzlich doch kein gutes Gefühl
mehr bei der Sache und wollte diese Arbeit nicht mehrw machen. Das habe ich dem Mann mitgeteilt. Er zog daraufhin sein
Hemd ein wenig hoch und zeigte mit seinen Augen auf eine
Pistole die er in der Hose trug. Keine Fragen, hieß es. Er ging
mit uns um die Ecke wo sein Wagen stand und dort sollten wir
einsteigen.
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Tayo fragte noch wie lange es dauern würde die Mission
zu erledigen, woraufhin der Mann dessen Namen niemand
wusste nun deutlicher wurde und uns zu verstehen gab, es
solle nicht mehr gesprochen werden, da er ansonsten jeden
einzelnen von uns umbringt.
Spätestens dann begriff ich den Ernst der Lage: Scheinbar
handelte es sich bei dem Mann um einen Terroristen der nichts
Gutes mit uns vor gehabt hat. Tayo und ich schauten Hafsa die
Fahrt über immer wieder wütend an, da er uns in diese Situation gebracht hat. Er sah jedoch selbst verwundert umher
und flüsterte uns zu, dass er selbst reingelegt wurde und keine
Ahnung hat was uns nun bevorstehen würde. Bevor wir uns
also auf den Weg nach Lybien in Richtung Tchad aufgemacht
haben, hielten wir noch an einem großen Gebäude. Aus der
Erde (Bunker) kam ein anderer Mann dazu, welcher ein Halstuch um den Mund trug. Er verlud Kisten mit Konservendosen, Brot, Getränken und anderen notwendigen Sachen für die
Reise in den Kofferraum des Wagens. Als er nach einigen Minuten fertig war, fuhren wir los. Die Reise dauerte insgesamt
acht Tage und es war die gesamte Fahrt über beängstigend ruhig im Auto. Gestoppt wurde nur dann, wenn der Fahrer auf
Toilette musste und danach mussten wir uns richten. Ebenso
durften wir nur dann essen, wenn der Fahrer gegessen hat. Niemand sagte was und Hafsa sah man an, das sein Zustand sich
fortwährend verschlimmerte und er immer lauter hustete und
blasser aussah, als noch vor einigen Stunden zu Fahrtbeginn.
Als wir dann endlich in Syrien angekommen sind, hielt der
Fahrer erneut an um zu schlafen. Wir haben uns vorher abgesprochen, dass wir warten bis der Fahrer mehrere Tage fährt
um so müde wie nur möglich zu sein, bevor wir es riskieren
weg zu laufen. Als der Tag nun da war, schlichen wir uns da-
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von, als wir nahe der Grenze gehalten hatten und der Fahrer in
den Tiefschlaf fiel. Ohne jegliche Mittel oder Gelder mussten wir
ungefähr 9 Stunden die Nacht hindurch laufen und das war wie
man sich vorstellen kann, besonders für Hafsa eine große Qual.
Tayo und ich haben zuvor noch mehrere Dosen Thunfisch und
Brote gegessen und ausreichend Wasser getrunken, sodass wir
vor dem Marsch genügend Kraft besaßen. Er hingegen, krank
und blass, hat die ganzen Tage bereits kaum etwas gegessen und
eigentlich ständig nur vor Schmerzen gestöhnt. Während wir
marschierten hat Hafsa ständig von uns verlangt langsamer zu
laufen, jedoch hatten wir Angst, dass der Terrorist uns eventuell
noch findet, nachdem er aufgewacht ist und uns mit Sicherheit
auf der Stelle umbringen würde. Selbst hier in Deutschland habe
ich noch Angst vor den Terroristen. Hafsa hat angefangen sich
durch den Stress immer wieder zu übergeben, sodass wir gezwungen waren ab und an auf ihn zu warten.
Dank eines gutmütigen Menschen der uns Unterkunft bot,
konnten wir unsere Kraftreserven wieder ein wenig auffüllen.
Als wir endlich in einer kleinen Stadt angekommen sind, an
deren Namen ich mich leider nicht mehr erinnern kann, sprach
Tayo einen Mann mit schwarzer Hautfarbe an. Als er uns freundlich begegnete baten wir ihn um Asyl, wenigstens für eine Nacht.
Wir erzählten ihm, dass wir auf der Flucht vor den Terroristen
waren und das wenn wir zurück in unser Land gehen würden, sie
uns direkt umbringen würden ohne mit der Wimper zu zucken.
Zum Glück hat der nigerianische Mann aus Lybien namens Otlile uns geholfen, obwohl wir ihm kein Geld dafür geben konnten
da wir keines besaßen. Nachdem wir in seiner Wohnung waren,
redeten wir energisch über alles was geschehen ist und tranken
Tee. Er kochte uns einen großen Topf Reis und wir aßen, bevor
wir am nächsten Tag von ihm rausgeschmissen wurden.
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Er hat nachdem wir einen Tag und eine Nacht bei ihm waren
selbst Angst vor den Terroristen bekommen, da wir ununterbrochen darüber sprachen und uns mitgeteilt, dass er an seine
eigene Sicherheit denken müsse und uns leider gehen lassen
muss. Hafsa war immer noch in einem sehr schlechten Zustand
und müsste eigentlich ins Krankenhaus, jedoch war er weder
versichert, noch hätte er Geld, als das ihn jemand behandeln
würde. Daher wollten wir Otlile davon überzeugen, wenigstens
Hafsa einige Tage bei sich wohnen zu lassen, zumindest bis er
wieder etwas gesünder wird. Leider wurden wir uns nicht einig
und Hafsa musste sich weiterhin mit uns auf Reise begeben.
Ohne irgendeine Ahnung was wir nun machen sollten, standen wir wieder auf der Straße. Als wir durch die Stadt zogen
fanden wir einige Stunden später einen Obdachlosen, welcher
uns in einen Raum gelotst hat, welcher noch einige Plätze bot,
um zumindest die Nacht über nicht auf der Straße schlafen zu
müssen. Der Raum war voll mit Menschen aus den umliegenden Ländern, denen es offensichtlich nicht besser als uns ging.
Der Helfer in der Not
Nach einigen Tagen in diesem Raum verlor ich Tayo auch
noch und war letztendlich auf mich allein gestellt. Als dann eines Nachts ein weißer Mann mit einer Taschenlampe in den
Raum stürmte und einzelne Personen zu sich bestellte, wusste
ich das meine Gebete erhört wurden. Der Mann kam scheinbar im Auftrag der Regierung und man munkelte später auf
dem Schiff, das er Mitglied des UNO-Flüchtlingshilfswerks
(UNHCR) sei. Etwa 25 oder 30 weitere Personen unterschiedlichster Herkunftsländer, wie zum Beispiel aus Ägypten oder
dem Sudan wurden neben mir ebenfalls aufgerufen, bzw. durch
ein Handzeichen eingeladen mit auf eine Reise zu kommen,
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die uns nach Europa führen sollte. Selbstverständlich bin ich
auf gut Glück einfach mitgegangen, denn ich hatte in meiner
miserablen Lage ohnehin keine andere Wahl und glaubte trotz
schlechter Erfahrungen dennoch daran, dass dieser Mann uns
von Gott zugesandt wurde um zu helfen.
Als wir alle draußen standen lotste der Mann uns in einen
Bus. Zusammen mit all den anderen Flüchtlingen war es sehr
eng und stickig. Auf dem Weg nach Tripoli waren die meisten
sehr müde, hungrig und gereizt. Der Busfahrer hat sich ständig
lauthals auf arabisch über die üblen Gerüche im Bus beschwert
und einmal kam es auch kurz zu einer Auseinandersetzung
zwischen zwei Passagieren. Daraufhin musste der Bus anhalten
und den beiden wurde von dem Mann des Hilfswerks erklärt,
das sie aus dem Bus geschmissen werden, falls sie sich nicht
beherrschen. Daraufhin stiegen wieder alle ein und die Fahrt
konnte weitergehen.
Die Bootsfahrt & Ankunft in Italien
Als wir nach einigen wenigen Tagen mit kaum Verpflegung
in Tripoli ankamen, ging die Bootsreise auch schon direkt los.
Zuvor kamen wir vorher noch in eine Art Zelt, in dem es für jeden ein Leib Brot und etwas Zwiebelsuppe gab. Die Bootsfahrt
selbst dauerte ungefähr 3 Tage und war noch viel unangenehmer als die Busfahrt zuvor. Da es sich nur um ein kleines Boot
mit einem einfachen Benzinmotor handelte, spritzte ständig
Wasser ins Boot und alle waren nass, verschwitzt, dreckig und
die Situation machte vor allem den ganzen Müttern mit ihren
Kindern zu schaffen. Als wir endlich in Italien angekommen
sind, musste jeder ein Schriftstück unterschreiben, welches auf
italienisch verfasst war. Obwohl niemand genau wusste, was er
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da unterzeichnete, tat es jeder. Daraufhin gab es dann nämlich
für jeden Mitreisenden 75€ Verpflegungsgeld. Dieses sollte bis
nach Deutschland reichen, was man uns jedoch erst später genauer erklärt hat.
Die Ankunft in Deutschland
Von Italien aus ging die Reise mit dem Zug eigentlich sehr
schnell. Ich kam in einen Zug mit vielen anderen Flüchtlingen aus aller Welt und kaum war ich eingeschlafen, waren wir
auch schon in Deutschland angekommen. Als wir ankamen
gab man mir nahezu neue Kleidung und etwas zu essen. Nach
einer Nacht im Flüchtlingsheim, welches im zweiten Weltkrieg noch als Munitionslager genutzt wurde, musste ich zum
Arzt. Dieser hat mich untersucht und mir Blut abgenommen.
Des Weiteren habe ich einige Impfungen erhalten und durfte dann auch wieder gehen. Ich bin sehr froh, dass die Menschen in Deutschland mir derart freundlich begegneten und
begegnen.
A.: „Neben den freundlichen Bürgern, gibt es jedoch auch
die besorgten Bürger. Hast du bereits negative Erfahrungen
machen können? Wurdest du eventuell sogar beschimpft oder
wegen deiner schwarzen Hautfarbe schief angeguckt?“
O.: „Ich habe in Deutschland so etwas noch nicht erfahren.
Ich habe zwar in den Nachrichten gesehen, dass es so etwas
bereits in anderen Städten gegeben hat. Hier im Nordwesten
jedenfalls habe ich es nicht einmal erlebt, dass jemand gemein
war zu mir. Nicht einmal schief angeschaut wurde ich. Alle
sind nett und ich habe bereits sehr viel Hilfe erfahren dürfen.
Im Flüchtlingsheim bekommen wir jede Woche 30€ Verpfle-
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gungsgeld. Das ist sehr viel für mich und ich bin Deutschland
unendlich dankbar dafür, dass ich soviel Hilfe erhalte.“
A.: „Wie du bereits erzählt hast herrschen in deinem Land
viele terroristische Gruppen, welche selbst vom eigenen Staat
nicht aufgehalten werden können. Wie siehst du das Ganze?
Was weißt du über den eigentlichen Konflikt in deinem Land?“
O.: „Der Staat versucht erst gar nicht mehr die Terroristen
aufzuhalten. Viele meiner Freunde hier glauben dem Staat und
was in den Nachrichten gesendet wird ohnehin nicht mehr,
denn es werden nur leere Versprechungen gemacht. Insgeheim
arbeiten die meisten Politiker mit Sicherheit mit den ganzen
mächtigen Mitgliedern der Terroristen zusammen. Das Volk
leidet enorm darunter, denn die Anschläge die auf unschuldige
Zivilisten ausgeübt werden sind provokativ eingeleitet worden,
um regelmäßig für Angst und Chaos zu sorgen. Die Bürger sollen verunsichert werden und somit Ihre Meinungsfreiheit aufgeben und das tun, was die Terroristen letztendlich fordern.“
A.: „Es ist dir also nicht schwer gefallen den afrikanischen
Kontinent zu verlassen und nach Europa auszuwandern?
Musstest du dich nicht dazu überwinden dein altes Leben,
deine Freunde und alles andere für einen Neubeginn in einem
fremden Land zu verlassen?“
O.: „Selbstverständlich ist es für Außenstehende schwer zu
begreifen, dass so viele Menschen wie ich einfach auf gut Glück
in ein anderes Land reisen um ein neues Leben zu beginnen.
Ich möchte Deutschland schließlich keine Belastung sein, sondern eine Bereicherung. Um die Frage ehrlich zu beantworten
kann ich getrost sagen, dass ich unter meinen Umständen gar
keine andere Wahl hatte. Hätte ich eine Wahl, dann würde ich
dennoch Deutschland als neues Heimatland auswählen, denn
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hier sehe ich eine bessere Zukunft für mich als in anderen Ländern. Es wäre für mich also keine große Überwindung mein
Land zu verlassen, wenn ich die Wahl hätte.“
A.: „Wie sind die Zustände im Flüchtlingsheim? Du bist bereits seit dem 22 September 2015 dort und hast sicher einiges
zu berichten.“
O.: „Es geht allen hier gut. Ich habe ein Dach über dem Kopf,
anders als in meinem Heimatland sind die Menschen hier nicht
damit beschäftigt sich wegen verschiedener Glaubensrichtungen zu bekriegen. Obwohl im Flüchtlingslager mehr als 80%
der Menschen Moslems sind, fühle ich mich auch als Christ
unter ihnen wohl. Die vielen Sicherheitsbeamten und freiwilligen Helfer die teilweise unsere Sprache sprechen, sind ungemein wichtig für alle Betroffenen. Im Gegensatz zu mir sprechen nämlich viele andere kein fließendes Englisch und sind
somit auf die Hilfe der Malteser-Helfer angewiesen.“
A.: „Welche Pläne hast du nun in Deutschland und welche
Ziele haben für dich Priorität?“
O.: „Im Flüchtlingslager werden in den nächsten Wochen bereits kostenlose Sprachkurse angeboten und ich brenne darauf
teilnehmen zu dürfen. Da mir bereits erklärt wurde, das dieses
Lager in dem ich zur Zeit bin nur eine Zwischenstation ist, hoffe ich dennoch noch ein wenig zu lernen, bevor ich meine ID
kriege und in einer der Kommunen untergebracht werde.“
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