VERWANDTSCHAFTSsystem & RESSOURCENorganisation

SFB VISCOM and FSP Gemeinschaftskonzepte, Identitäten und politische Integration (Universität Wien)
present
Bernhard Jussen (Goethe-Universität Frankfurt)
Verwandtschaftssystem & Ressourcenorganisation
Die Neudeutung der europäischen Geschichte von Ehe und Verwandtschaft
und ihre Konsequenzen für die Mediävistik
Tuesday 22 September 2015 • 16:30 -18:00 • Seminar Rooms • Apostelgasse 23, A-1030 Wien
Abstract
In dem Forschungsgespräch geht es um eine Problemstellung, die sich aus der Neudeutung der Geschichte von Familie und Verwandtschaft im vormodernen Europa ergibt: Ein breiter Konsens stützt
die Hypothese, dass der Blick auf Verwandtschaft
besonders zielführend ist, um vormoderne Formen
gesellschaftlicher Organisation zu verstehen. Dabei
gilt einerseits Verwandtschaft in vormodernen Gesellschaften als besonders starke Institution, andererseits setzte sich in den letzten Jahrzehnten die
Annahme durch, dass das vormoderne lateinische
Europa gerade nicht diesem „anthropologischen Normalfall“ folgte. Hier ist vielmehr seit dem frühen Mittelalter eine „Entverwandtschaftlichung des Sozialen“
(Morsel) zu beobachten, eine massive Schwächung
der Verwandtschaft zugunsten der monogamen,
untrennbaren, auf Konsens gegründeten Ehe. Eine
solche Verschiebung muss fundamentale Folgen gehabt haben für die verwandtschaftliche Kapazität der
Ressourcenorganisation, von der biologischen Reproduktion über die Wissensweitergabe bis zur Besitz- und Statusübertragung. Wer diese Kapazität in
den Blick nehmen will, stellt letztlich die Frage nach
dem Zusammenhang von Verwandtschaftssystem
und allgemeiner Institutionengeschichte („Verfassungsgeschichte“). Was die – im Kulturvergleich
schwache – Verwandtschaft im lateinischen Europa nicht geleistet hat, müssen andere Institutionen
geleistet haben. In dieser Konstellation dürfte ein
Zugang zur spezifisch lateineuropäischen Institutionengeschichte liegen. Das Gespräch diskutiert
Zugänge zum Verhältnis von Verwandtschaftsund Institutionengeschichte.
Biography
Bernhard Jussen ist Professor für mittelalterliche
Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt.
Seine Forschungen konzentrieren sich auf das
lateinische Europa, insbesondere auf politische
Semantik, auf den Zusammenhang von verwandtschaftlichen und politischen Systemen und auf
das Verhältnis von objektbasierten und textbasierten historischen Entwürfen. Im Jahr 2007 erhielt
er den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.