Die Gelbe von Rio

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Die Gelbe
von Rio
Eine Fahrt mit dem »Bondinho« Fünf Kilometer vom Zuckerhut entfernt wartet eine der
schönsten Touristen-Attraktionen von Rio de Janeiro: die Santa Teresa Tram, auch »Bondinho«
genannt, eine Straßenbahn mit urigen Sommerwagen. Für knapp 40 Cent bietet sie spannende
Ausblicke auf die Millionenstadt und viel brasilianisches Lebensgefühl obendrein
ängst hat sich der einstige Geheimtipp Rio de Janeiros herumgesprochen. Täglich drängen sich nicht nur
Einheimische durch das schmale
Drehkreuz der Haltestelle, sondern auch
Besucher aus der ganzen Welt. Für sie ist
die elektrische Straßenbahn ein unvergessliches Erlebnis.
Die Fahrt mit der Santa Teresa Tram beginnt unten in der Stadt, nicht weit entfernt
vom Teatro Municipal. In die lange Schlan-
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ge wartender Fahrgäste muss ich mich außerhalb des kleinen Bahnsteigs auf einer
Treppenstufe einreihen. Rechts nebenan, in
der Straße Lélio Gama, ragt die grau-braune Steinfassade von PetroBras steil in den
Himmel. Hier, im Stadtteil Lapa, hat der
brasilianische Ölkonzern seinen Hauptsitz.
Moderne Architektur neben antiker Beförderungstechnik. Am 8. Oktober 1892 eröffnete der Vizepräsident Brasiliens, Floriano
Peixoto, zwischen Largo da Carioca und
Largo do Machado in Rio de Janeiro die erste elektrische Straßenbahn des Landes.
Durch den zunehmenden Autoverkehr
wurde das einst umfangreiche Netz fast
vollständig stillgelegt. Nur der Bondinho
blieb übrig; so heißt im Volksmund die
Tram, die 1896 in Betrieb genommen wurde. Sie befährt heute noch den sieben Kilometer langen Streckenabschnitt nach Silvestre (dort gibt es einen Anschluss an die
Bergbahn auf den Berg Corcovado mit der
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Brasilien: Rio de Janeiro
So sehen die Fahrgäste die Reise über den Arcos da Lapa; Führungsschienen für die Tram und Zäune an der Strecke geben zwar etwas Sicherheitsgefühl, trotzdem braucht man starke Nerven
Der Fuhrpark des Bondinho umfasst insgesamt sieben historische Sommerwagen mit Holzaufbau. Bis zu 40 km/h Geschwindigkeit sind erlaubt, werden aber selten ausgefahren
Buchstäblich der Höhepunkt jeder Fahrt mit
dem Bondinho: Fast 70 Meter über der Erde
rollen die gelben Sommerwagen über den
Arcos da Lapa, einst ein Aquädukt, heute
eine Straßenbahnbrücke
ALLE AUFNAHMEN DES BEITRAGS: SOLVEIG FLÖRKE
Christusstatue) und Paula Mattos. Wie eh
und je erhalten die Wagen den Strom über
Stangenstromabnehmer.
Keine Anzeigentafel,
keine Fahrscheine
Bloß ein kurzes Quietschgeräusch kündigt
die zweiachsige Straßenbahn an. Keine
Lautsprecherdurchsage, keine Anzeigentafel, nichts. Doch der knallgelbe Wagen ist
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»Bondinho« und »Bonde«
In Brasilien wird die elektrische Straßenbahn
»Bonde« und verniedlicht auch »Bondinho« genannt. Zwei Versionen zur Entstehung dieser Namen sind im Umlauf: Die erste bezieht sich auf die
englische Bezeichnung »bond« für die neuen,
miteinander verbundenen Elektrobahnen in Sao
Paulo, aufgestellt vom amerikanischen Unternehmen »The São Paulo Tramway Light and Power
Co. Ltda«. Die Brasilianer riefen damals: »Lá vai
o meu Bond« (»Da kommt meine Bahn«), weil
ihnen ein eigenes Wort für dieses moderne Verkehrsmittel noch fehlte. Der Ausdruck bürgerte
sich ein als »Bonde«. Die zweite Version kommt
aus Rio de Janeiro, wo es ebenfalls ein amerika-
nisches Unternehmen gab, welches »Botanical
Garden Railroad Company« hieß und damals die
erste elektrische Bahnlinie Lateinamerikas in Betrieb nahm. Aus »Botanical« wurde »Bondi« bzw.
»Bonde«, was man im Portugiesischen gleich ausspricht. In Brasiliens Metropolen Rio de Janeiro
und Sao Paulo verbreitete sich das System der
elektrischen Bondes rasch. Bis heute steht die
letzte aktive Straßenbahn in Rio für das urbane
Wachstum von einst. Mittlerweile ist das staatliche Unternehmen Central (»Companhia de
Engenharia Transportes e Logística«) für den
Betrieb zuständig. Weitere Info im Internet:
http://www.central. rj.gov.br/02_Bonde.htm
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Ausland
Bondinho grüßt Bondinho: Aus einem Wagen heraus entstand das Foto auf den Gegenzug.
Gleich wird Wagen 12 so nahe vorbei fahren, dass sich die Fahrgäste beider Züge ohne Probleme »abklatschen« könnten
32 Leute finden in dem Sommerwagen einen Sitzplatz – viel zu wenig,
um alle Fahrgäste mitzunehmen. Und so suchen sich alle übrigen (oder
Nachzügler) eben einen Stehplatz, wahlweise im Wagen oder draußen
auch so nicht zu übersehen. Niemand kann
sich vorstellen, dass der Bondinho früher
einmal grün lackiert war; mittlerweile ist
das kräftige Gelb von den Bonde-Postkarten aus Rio nicht mehr wegzudenken.
Übrigens, Fahrscheine verkauft man
beim Bondinho ebenfalls nicht. Wer gezahlt
hat, geht durch das Drehkreuz und das war
es. Viele wollen mit: Ich frage einen älteren
Brasilianer neben mir, wie all die Leute um
uns herum in dem kleinen zweiachsigen
Sommerwagen Platz finden sollen. Er lacht.
Hier, meint er, musste noch nie jemand auf
den nächsten »Bondinho« warten. 32 Sitze hat der Triebwagen offiziell, aber nicht
selten steigen bis zu 80 Fahrgäste ein.
So auch heute. Dank eines behänden Hüpfers auf den erhöhten Wagenboden ergattere ich noch einen Sitzplatz auf einer der
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Nicht den Eingang zum Bondinho-Depot, sondern zu einem Geschäft für Meeresfrüchte ziert
diese Tür im Straßenbahn-Design
Die gelben Trams sind bei den Einwohnern von Rio sehr beliebt, weshalb man sie gern als Motiv für den Alltag aufgreift. Hier hat ein
Verkaufsstand das Aussehen des Bondinho bekommen
dunklen Holzbänke. Sie ist glatt und wirkt
wie frisch poliert, bequeme Polster gibt es
nicht. Ebenfalls Fehlanzeige sind Audiosysteme mit Informationen in verschiedenen
Sprachen – touristischer Schnick-Schnack
eben. Dafür entdecke ich über allen Fensteröffnungen braune Rollos aus Stoff, die aussehen, als seien sie noch nie benutzt worden.
Mutprobe: draußen mitfahren
Der Wagen ist voll. Wer nun noch mit will,
muss sich außerhalb an den Streben des
Bondinho festhalten und im Stehen die 25minütige Fahrt hinter sich bringen. Besonders bei den Jugendlichen der angrenzenden Favela ist diese waghalsige Art der
Reise beliebt. Sogar die ganz Kleinen machen es den Größeren nach. Wie quirlige
Kletteraffen halten sie sich mit einer Hand
fest, gehen in die Hocke oder springen unterwegs einfach ab. Bei 20 km/h im Schnitt
lässt der Bondinho diese Kunststücke offensichtlich zu. Seine Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h fährt er selten aus. »Vielleicht auch besser so«, denke ich; zeitgemäß
sind weder die Sicherheitsvorkehrungen
noch die Antriebs- und Bremstechnik.
Dennoch ist die Beförderungsqualität einwandfrei – so lange man nicht unter Höhenangst leidet. Besonders bei der Fahrt über
den Arcos da Lapa. Das Aquädukt aus dem
18. Jahrhundert erreicht fast 300 Meter Länge und fast 70 Meter Höhe. Die riesigen, weißen Doppelbögen führten einst das Wasser
des Rio Carioca bis nach Santa Teresa, seit
Ende des 19. Jahrhunderts nutzt man sie für
den Bondinho. Er überlebte die Stilllegung
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Klassische Kurbeltechnik verlangen die Triebfahrzeuge der Santa Teresa Tram von dem Fahrer.
Der bedient außerdem noch Bremse und Ölzufuhr
nur wegen seiner Lage außerhalb des Stadtzentrums und der spektakulären Route über
das Aquädukt. Gemeinsam mit der Straßenbahn in Braunschweig ist der Bondinho
die letzte Tram der Welt, die mit der Spurweite von 1.100 Millimetern betrieben wird.
Ein Fahrer, ein Helfer
und jubelnde Gäste
Von unten winken die Passanten uns Straßenbahn-Fahrgästen freundlich zu. Auf
dem Schienenstrang rollt der Sommerwagen bis zum Ende des Aquädukts und weiter. Er schaukelt ein wenig hin und her, regelmäßig klackt die manuelle Schaltung.
Ein Fahrer und ein Helfer regeln den Ablauf. Der eine steuert das Fahrzeug, bedient
Schaltung und Ölzufuhr, bremst und beschleunigt; der andere achtet darauf, dass
beim Ein- und Ausstieg niemand zu Schaden kommt. Konvoibildung oder Behinderungen durch Individualverkehr gibt es
nicht; die gepflasterten Straßen sind für Autos meist gar nicht zugelassen. Hin und zurück bewältigt der Bondinho 14 Kilometer.
Zügig geht es die Rua Almirante Alexandrino hinauf, die direkt in das verträumte Künstlerviertel führt. Ein zweiter
Schienenstrang zweigt ab und plötzlich jubeln die Fahrgäste – von oben kommt der
zweite Bondinho an uns vorbei. So nah,
dass wir uns mit den anderen Fahrgästen
abklatschen könnten. Es sind immer zwei
Wagen im Einsatz, fünf weitere stehen im
überdachten Depot, das man von der Strecke aus sehen kann. Wir fahren vorbei an
der Kirche des Carmelita-Konvents von
Santa Teresa, der dem traditionellen Vier-
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tel seinen Namen gab. Die Schwestern führen ein Leben in Einfachheit, fast komplett
abgeschottet von der Außenwelt. Nur wenige Einwohner von Santa Teresa können
bestätigen, hier überhaupt einmal eine
Nonne gesehen zu haben.
Der Bondinho erreicht das Herz des
Stadtviertels: Am Largo do Guimarães gibt
es tolle Restaurants, dazwischen haben
Künstler liebevoll gestaltete Ateliers eingerichtet. Intellektuelle aus Rio stöbern
gern durch die kleinen Buchantiquariate.
Weiter geht die Straßenbahnreise zur Haltestelle Largo das Neves und schon zeigt
sich der Gegensatz: Gleich in der Nachbarschaft liegt wieder eine Favela, eine der
Armensiedlungen Rios. Endstation. Die
letzten jugendlichen Kletterkünstler springen ab und laufen barfuß die Straße entlang
nach Hause. »1,20 Reais für Hin- und Rückfahrt«, sagt mir ein Straßenbahner, »das
reicht nicht, um die Kosten zu decken, darum gibt es immer wieder Überlegungen,
die Bahn zu privatisieren.« Erleichtert wirkt
er bei dem Gedanken nicht. »Da kostet die
Fahrt mit dem Bondinho bald so viel wie
der Lift zum Zuckerhut. Einheimische fahren dann nicht mehr mit.« SOLVEIG FLÖRKE
Bonde-Museum
Einen Ausflug in die Geschichte dieser Tram bietet das Museu do Bonde. Dort gibt es mehr als
300 Exponate zu sehen, zum Beispiel Arbeitskleidung, alte Original-Anzeigen und Miniaturmodelle. Geöffnet ist es montags bis samstags von 9 bis 16 Uhr. Adresse: Rua Carlos Brant,
14, Rio de Janeiro; Tel.: + 55 (21) 2222-1003