sonst könnt ihr tanzen gehen

32 | TREFFPUNKT GRENCHEN | MAI 2015
MAI 2015 | TREFFPUNKT GRENCHEN | 33
«SONST KÖNNT IHR TANZEN GEHEN»
Die ersten zehn Minuten waren locker. Die zweiten zehn Minuten dauerten eine Stunde. Danach konnte
ich nicht mehr. Aber ich musste. Willkommen beim Training des Boxing Circle Grenchen.
Foto: Andreas Krebs
Disziplin und Sprüche: Trainer Angelo Falcone pflegt beides.
Text: Andreas Krebs
Das hätte ich nicht gedacht: Das Training beim Boxing
Circle Grenchen (BCG) hat saumässig Spass gemacht.
Ich verliess das Vereinslokal völlig entkräftet, aber total
happy. Kein blaues Auge, kein Brummschädel, keine
dicken Lippen. Die Schmerzen kamen erst am nächsten
Tag: Muskelkater. Überall. Aber erzählen wir die Ge­
schichte doch von vorne.
Ich hatte Vorurteile gegenüber dem Boxen, glaubte,
das sei ein Sport für Primitivlinge – wer haut sich schon
auf den Kopf!? Weil Vorurteile doof sind, wollte ich es
genauer wissen und meldete mich beim BCG. «Gerne
stellen wir uns für deine Selbsterfahrung und ein Porträt
zur Verfügung», kam die Antwort per Mail. Na also.
An einem Donnerstagabend ist es so weit. Ich stei­
ge hinab in die Katakomben des BCG, werde herzlich
empfangen, als ob ich schon immer dazugehörte. Zum
Training erscheinen fünfzehn junge Boxer, erstaunlich
viele Frauen, ein 12-jähriges Mädchen sogar. Lockere
Stimmung, fast familiär. Trainer Angelo Falcone, Grün­
dungsmitglied des Vereins, streckt mir Bandagen entge­
gen. «Bandagieren ist Pflicht», sagt er und erklärt: «Das
stabilisiert die sehr heiklen Handwurzeln mit den vie­
len Knöchelchen. Insbesondere wenn die Muskulatur
schwach ist, ist das wichtig.» Das sagt er zum Richtigen.
Profiboxer, die Tausende Schläge auf den Kopf bekommen,
leiden öfter als andere Menschen an Morbus Parkinson
(Muhammad Ali), Demenz, Depressionen und Dementia pugilistica, dem sogenannte «Punsh Drunk Syndrom»
(Jack Dempsey, Jerry Quarry). Hobby- und Amateur­boxer
Boxen ist seit 1908 olympisch und erlebte mit Muhammad
Ali seine Glanzzeiten. Nachdem der herausragende Athlet seinen seinen Rücktritt gab vom Boxsport, verschwand
dieser in den 70er- und 80er-Jahren weitgehend aus dem
Bewusstsein der Öffentlichkeit. Erst nach der Wende und
durch die Erfolge des charismatischen Henry Maske wurde
Boxen in Europa wieder salonfähig. Und als 1999 Muhammad Ali vom Internationalen Olympischen Komitee
zum «Sportler des Jahrhunderts» gewählt wurde, war Boxen definitiv wieder en vogue. Auf einmal begannen sich
Leute aus unterschiedlichsten Schichten dafür zu interessieren. Es galt nun als chic, selbst in den Boxsack zu hauen und sich bei grossen Kämpfen am Ring zu zeigen. Die
meisten Hobbyboxer steigen selber nie in den Ring. Für sie
ist Boxen ein Sport, der sie fit hält und Spass macht.
Wir spielen Katz und Maus. Ziel ist es, den anderen mit
der Hand sanft an der Schulter oder am Knie zu treffen.
Wir tänzeln im Kreis, versuchen den Attacken auszu­
weichen, was mir selten gelingt. Selber markiere ich
immerhin den einen oder anderen sanften Treffer. Das
Spiel ist lustig. Und extrem anstrengend. Ich schnaufe
wie eine Dampflock. Mein Gegner tänzelt lächelnd wei­
ter - keine Spur von Erschöpfung. Ich gehe auf Abstand,
hechle nach Luft; immer wieder. So stehe ich die Runde
Foto: Andreas Krebs
Fitnessboxen liegt im Trend. Während 90 Minuten Training werden durchschnittlich 900 bis 1000 Kalorien verbraucht, mehr als z. B. bei Aerobic. Fitnessboxen ist für
Männer und Frauen jeden Alters geeignet, auch für Kinder. Es trainiert Gleichgewichtssinn, Koordination, Kondition, Spritzigkeit und Gedankenschnelle. Boxen gilt als
«Schule für das Leben». Es dient der Persönlichkeitsentwicklung und fördert Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit,
Willensstärke und Durchsetzungsvermögen.
Druck ablassen, fit bleiben, den Kollegenkreis pflegen
– deshalb sind die Boxerinnen und Boxer hier, erzählen
sie mir in der kurzen Pause. «In den Ring steigen? Nein
danke», sagt zum Beispiel der Vereinspräsident Claudio
Palazzi, 43. «Mir geht es um die Fitness. Wir haben
aber ein, zwei Kämpfer, die wir für den Ring fit ma­
chen wollen.» Angefangen habe alles im engen Kolle­
genkreis. «Wir wohnen mittlerweile alle verstreut. Hier
treffen wir uns und haben Spass.» Bald sind Kollegen
der Kollegen dazugestossen; rasch hat es sich herumge­
sprochen, dass an der Markgasse 7 in Grenchen gute
Typen Spass beim Boxen haben. «Vor einem Jahr haben
wir dann den Verein gegründet. Heute haben wir etwa
30 aktive Mitglieder», berichtet Claudio. «Alles Kolle­
gen», sagt Angelo, «hopp, weiter gehts!»
Wir ziehen die Boxhandschuhe an. Endlich. Noch
steckt etwas Restkraft in meinem Körper. Angelo zeigt
mir die Grundlagen des Boxens. «Die Fäuste schützen
den Kopf, das ist das Wichtigste.» Bei Rechtshändern
wie mir steht der linke Fuss vorne, der rechte hinten.
Das ist die Grundposition, ein fester Stand ist entschei­
dend. Die Ellbogen liegen eng am Körper, um Schläge
abzudecken. «Ausweichen ist besser», sagt Angelo. Ich
winde mich ungelenk.
Mit der linken Hand, der Führhand (Jab), ver­
sucht man den Gegner auf Trab zu halten, um mit der
Schlaghand (Cross) einen Volltreffer zu landen. Angelos
Boxhandschuhhand soll ich boxen, linke Hand rechte
Hand, rechte Hand, linke Hand. Bamm, bamm, rechts,
links, bamm, bamm. Ich bin Rocky Bilbao. Abdecken,
Diagonalschritt – und Jab, Cross, Jab schlagen. Die drei
Minuten dauern ewig. Ich bin wieder ich bevor sie vor­
bei sind. Bamm; bamm. Rechts; links. Bamm. Bamm.
Rechts. Links. Ich schwitze wie ein Schlittenhund in
den Tropen.
Pause. Viel zu kurz.
«Weiter! Eins, zwei, drei, Hände oben lassen, vier, fünf,
härter, auf gehts! Sechs, sieben, acht, neun, zehn!» Mein
Foto: Fabrizio Gallo
Angelo, 37 und Trainerkollege Pascal Marzo, 34, rufen
zum Einwärmen. Lockerungsübungen; Dehnen; Kopfund Armkreisen; Sit-ups; Hampelmann; Schattenbo­
xen. Die ersten zehn Minuten sind easy.
Dann knackige Sprints, leichte Gewichte stem­
men, Kniebeugen, Rumpfbeugen. «Eins, zwei, drei»,
zählt Angelo, «und noch mal, eins, zwei, drei.» Ich zeige
Schwäche. Angelo bestimmt: «Chom jetzt, Andreas!»
Weitere Sprints. Wieder Gewichte stemmen. Knie­
beugen. Rumpfbeugen. «Eins, zwei, drei – und noch
mal: eins, zwei, drei…». Ich kann nicht mehr. Angelo
und Pascal machen Liegestützen vor. Liegestützen! «…
.sechs, sieben, acht…». Die beiden sind im Element;
einige Frauen schwächeln. «Chömet! Sonst könnt ihr
auch tanzen gehen», sagt Angelo, der Motivator.
Ich habe gar nicht erst angefangen mit den Lie­
gestützen. Ich muss jetzt Pause machen. Mein Hirn
braucht Sauerstoff. «Fotos. Für den Bericht», sage ich
und denke: gute Ausrede. «Weiter jetzt!», raunzt Angelo.
irgendwie durch. «Trinkpause», verordnet Angelo, der
Gnädige.
Richtig zugelangt wird nicht im Training. Sind ja keine hirnlosen Schläger, die Boxer.
Herz rast. Meine Lunge explodiert. «Letzte Runde.
Komm schon!» Ich röchle. Die Arme sind bleischwer.
«Die Hände bleiben oben!» Ich reisse die Hände hoch
in die Doppeldeckung. Schlage ohne Kraft. «Eins, zwei,
drei, vier, locker bleiben! Fünf, sechs…»
Irgendwann habe ich wieder genug Kraft, um es unter
die Dusche zu schaffen. Tut das gut! Sich so richtig aus­
powern. Grenzen überschreiten. Und Vorurteile über
Bord werfen. Boxen ist definitiv keine sinnlose Prügelei,
sondern ein Sport, der alles von einem abverlangt. Und
in guter Runde so richtig Spass macht.
Nach hundert Stunden hat die Qual doch noch ein
Ende. Angelo streckt mir seine Hand entgegen. «Gut
gemacht.» Ich versuche zu lächeln.
Das perfekte Ganzkörpertraining
Foto: Fabrizio Gallo
sind von solchen Dauerschäden kaum betroffen. Auch
weil sie mit Kopfschutz kämpfen. Eine Langzeitstudie
in Deutschland zeigt, dass Amateurboxen ein geringeres
Verletzungsrisiko in sich birgt als beispielsweise Fussball,
Skifahren oder Kegeln. Studien belegen zudem, dass Amateurboxer gegenüber unsportlichen Vergleichspersonen eine
deutliche Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit aufweisen.
Beim Probeboxen lernt Reporter Andreas Krebs
schlagartig die Grenzen seiner Kondition kennen.
Das sogenannte Fitnessboxen – Boxen ohne
Vollkontakt - liegt im Trend – und ist viel mehr
als Frustabbau und Dampfablassen.
Beim Fitnessboxen werden alle Komponenten
der «physical fitness» trainiert: Kraft, Ausdauer,
Schnellkraft, Koordination, Reaktionsvermögen,
Technik und Taktik.
Die Mitglieder des Boxing Circle Grenchen
trainieren an der Markgasse 7 im Dojo des
Nippon Karate Clubs. Trainingszeiten:
Di & Do 18.30-20 Uhr, Sa 10-11.30 Uhr.
Mehr Infos auf Facebook unter
«Boxing Circle Grenchen»