Die schlechte Versorgungslage der erwachsenen Betroffenen und

Mein Name ist Regine Winkelmann, ich bin Autistin und habe
zusätzlich auch die Diagnose ADHS.
Außerdem bin ich Mutter von vier Kindern, die ebenfalls
unterschiedlich betroffen sind.
Wie viele meiner erwachsenen Mitbetroffenen, habe ich erst sehr
spät die Diagnose Autismus erhalten – und zwar erst im
Zusammenhang mit der Diagnose meiner Kinder.
Obwohl ich natürlich nie anders gedacht und gefühlt habe, nie
anders mich und die Welt wahrgenommen habe als autistisch –
wussten jahrelang weder ich, noch meine Bezugspersonen, dass das
was oft schwierig, seltsam und anders war an mir, die Folge
autistischer Wahrnehmungsweisen war.
Es gab also, wie bei den meisten erwachsenen Autisten, ein Leben
vor der Diagnose. Das war nicht anders als jetzt. Es war lediglich
ein Leben ohne Diagnose.
Ein Leben ohne Autismus hat es allerdings bei keinem von uns
jemals gegeben.
Autismus sei eine andere Art zu denken – eine andere Art der
Wahrnehmung, die nicht falsch, eben einfach nur anders ist, sagen
die Einen.
Bewege ich mich in dem Rahmen, wo ich meine Fähigkeiten einsetzen
kann und reduziere alle Belastungen – schaffe stattdessen für mich
die notwendigen Sicherheiten,... dann empfinde ich das auch so.
Andere bezeichnen Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung
und definieren ihn als eine Behinderung.
Das stimmt auch. - Auch das empfinde ich sehr oft so.
Eine Behinderung, die man mir vielleicht überhaupt nicht an sieht.
Ich habe ja keinen Rollstuhl der mich kennzeichnet, keine
Gehhilfe...trotzdem behindert mich doch der Autismus ganz
erheblich, mich im selben Schritt, im selben Tempo, wie ihr das
tut, in der Gesellschaft zu bewegen.
Und das was mich daran behindert ist für die wenigsten erkennbar.
Es sei denn, sie erleben mich an den Tagen, an denen ich nicht
tauglich bin, oder in solchen Momenten, wo meine
Kompensationsmechanismen versagen.
Vielleicht weil ich etwas falsch verstanden habe oder ein für mich
bedeutender Termin verschoben wird.
Vielleicht weil ich zu lange mit verschiedenen sensorischen oder
emotionalen Situationen konfrontiert wurde.
Das ist völlig egal ob das negative oder positive Situationen
sind.
Mein System differenziert dabei nicht nach Qualität, sondern es
registriert die Summe.
Wenn es möglich ist, versuche ich dann die Gesellschaft zu meiden
– um unerkannt zu bleiben.
Es bleibt vor allen hochfunktionalen Autisten nichts anderes
übrig, als sich in einer nichtautistischen Gesellschaft zu
verstecken und ihre Behinderung unsichtbar zu machen oder dauernd
ihre Defizite unter Beweis zu stellen, bzw darum zu betteln, dass
man ihnen glaubt, dass sie manchmal Hilfe brauchen bei Dingen die
ihr selbstverständlich findet.
Unsere Anpassungsstrategien sind mitunter so perfekt geworden,
dass man uns den Autismus nicht einmal abnimmt, auch wenn wir uns
outen. Und selbst wenn wir uns outen oder sogar die Diagnose
vorlegen, wird sie oft angezweifelt.
In der Schule zB:
„Wie bitte? Der soll ein Autist sein – so grottenschlecht wie
der rechnet? Niemals...“
Oder:
„Du bist Autist? – das kann gar nicht sein – du bist
freundlich, kannst die Hand geben, du sprichst ja kannst in
meine Augen schauen“.
Ja klar...etwa mit 6 Jahren habe ich damit begonnen auch vor
Fremden zu sprechen...nur das Nötigste.
Für meine Mutter oder auch für Lehrer war das viel
Überzeugungsarbeit die sie geleistet haben.
In die Augen schaue ich allerdings immer noch nicht so wirklich.
Das funktioniert irgendwie gar nicht. Versucht mal bitte
gleichzeitig eurem Gegenüber in beide Augen zu schauen.
Also mit ihrem linken Auge in das rechte des anderen und mit dem
rechten Auge in das linke...und dann sagt mir bitte, wie ihr das
anstellt.
Ich fixiere mit beiden Augen entweder eines von beiden oder suche
mir einen Punkt genau in der Mitte zwischen den Augenbrauen –
eben weil ich ja weiß, dass ihr so was höflich findet... bin dann
aber erinnert daran, dass man nicht starren soll...und schaue
schnell wieder weg.
Autismus ist also oft zunächst unsichtbar. Und nicht einmal
Fachleuten gelingt es immer, uns nicht auf übliche Klischees zu
reduzieren.
Innerhalb der Untersuchungen für meine Diagnose, wurde ich
gefragt, ob ich Spieletabellen oder Fahrpläne auswendig lerne –
Natürlich nicht. was soll ich denn damit?
Ich fahre möglichst nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln –viel
zu riskant finde ich das...
Es ging aber gar nicht um diese Frage an sich.
Es ging ihnen darum zu erkennen, ob ich an irgendwelchen Dingen
ein gesteigertes Interesse habe, was man als ungewöhnlich
einordnen könnte.
Was ist denn ungewöhnlich?
Wäre ich direkt gefragt worden, ob ich aus dem Stehgreif 100
heimische Vogelarten aufsagen kann oder vielleicht eine
Nährwerttabelle auswendig weiß – dann hätte ich das doch
zugegeben.
Warum denn nicht?
Aber das hat ja keiner gefragt.
Also hab ich „nein“ gesagt.
Heute weiß ich auch, dass ich hier mal wieder diese Frage viel zu
wörtlich genommen habe.
Da gab es also sogar mit einer Fachperson für Autismus die
üblichen Kommunikationsdefizite.
Wir alle haben ja, so steht es auch in den Kriterien, ein Problem
mit der Kommunikation und mit der sozialen Interaktion.
Ich bin natürlich immer noch davon überzeugt, dass man diese Frage
hätte präziser stellen müssen.
Aber ich gebe zu: häufig sind es meine Kommunikationsdefizite die
einiges an Problemen mit sich bringen und verantwortlich sind für
unglaublich viele Missverständnisse.
Wenn wir auch Kommunikationsdefizite heben, bedeutet das aber
nicht, dass wir keinerlei Interesse an unsere Mitmenschen haben.
Oder grundsätzlich nicht kommunizieren wollen.
Das bedeutet vor allem nicht, dass wir nichts zu sagen hätten.
Auch, wenn wir sehr oft nichts sagen können.
Während neurotypische Personen solche oder andere Gespräche
relativ unanstrengend erledigen, weil sie über so was gar nicht
bewusst nachdenken müssen – weil sie eben so etwas intuitiv
machen, sind Autisten während einer Unterhaltung dauernd mit
dieser aktiven Bewusstmachung der sozialen Regeln beschäftigt –
mit dem Erkennen oder decodieren der Absicht oder Stimmung des
Gesprächspartners - plus das Thema natürlich, um welches es
gerade geht.
Ihr könnt euch darum vielleicht vorstellen, dass das unglaublich
viel zusätzliche Kraft kostet und man oft nicht gewillt ist,
soziale Interaktionen dann nur so zum Zeitvertreib zu tun –
sondern sie möglichst zu reduzieren versucht auf das was wichtig
ist / unvermeidbar,
oder aber ausschließlich unseren eigenen Interessen dient.
Also darüber könnte ich stundenlang mit euch reden – wenn es um
meine Interessen geht.
Man sagt auch über uns, wir können schlecht lügen – dabei lügen
wir täglich, wenn wir nicht mit den Menschen zusammen sind, wo wir
uns Ehrlichkeit leisten können.
Und wie einfach das Leben ist, wenn man dort ist, wo man ehrlich
sein darf.
Wir haben im Laufe unseres Lebens festgestellt, dass man nicht
alles wortwörtlich nehmen darf.
Dass manche Leute Aussagen machen, die sie niemals so meinten und
von denen sie auch morgen nicht mehr wissen, dass sie sie machten.
Wir haben gelernt und oft bitter erfahren, dass nicht jeder der
freundlich ist, ein Freund ist.
Aber erkennen könnte ich das auch heute noch nicht.
Wir wissen, dass viele Leute Komplimente machen – sich dahinter
aber möglicherweise eine Kritik verbirgt – man nennt das Ironie
oder Sarkasmus – auch das erkenne ich oft nicht.
Auch wenn ich es gerne selber verwende. Dann weiß ich das aber und
bin vorbereitet.
Genauso kann ich über meine Witze auch immer lachen, weil die
versteh ich sofort.
Selbst wenn mir viele dieser Kommunikationsschwierigkeiten heute
klar sind, durch Wissen und Logik - ich durch meinen Mann immer
wieder gewarnt, durch die Menschen in der Therapiestelle oft
korrigiert und in die passende Richtung geschoben werde, heißt das
nicht dass ich es auch alleine oder irgendwann einmal sicher
beherrschen werde.
Das wird mit keiner Therapie und auch mit keinem Medikament je
anders. Weil es keine Therapie und kein Medikament gibt, was aus
einem autistisch funktionierendem Gehirn ein unautistisches macht.
Wir erlernen mühsam durch Anpassung die Strategien, die ihr
intuitiv macht. Was ihr quasi so mit dem Bauchgefühl macht. –
„Regine das musst du nicht verstehen – das musst du aus dem Bauch
heraus machen“
Ich bin nicht sicher, ob mein Bauch und ich da immer konform gehen
und die selbe Meinung haben.
Wir alle bemühen uns um eine Perfekte Anpassung und Tarnung. Je
nachdem mit welchen Eigenschaften und kognitiven Fähigkeiten wir
außer unserem Autismus noch ausgestattet sind, gelingt uns das
auch weitgehend.
Das allerdings hat immer einen sehr hohen Preis.
Gerade weil ich an manchen Tagen so enorm gute Funktionen gezeigt
habe, ist das Umfeld oft der Meinung...da könne man sich doch
heute auch noch zusammennehmen.
“Du hast ja gezeigt, dass du durchaus kannst – wenn du nur
willst.“
Glaubt mir bitte – es war niemals eine Frage des Wollens.
Nach zwei oder drei Tauglichkeitstagen – falle ich in ein tiefes
Loch – brauche dringend Rückzug und Erholung – das wiederum für
mindestens den Folgetag, wenn nicht sogar mehr.
Ich schaffe es dann nicht einmal einen Einkauf zu erledigen, den
Gang zur Post oder ans Telefon zu gehen.
Das war noch nie anders. So war es in der Schule, während des
Studiums und so ist es heute.
Und damit ist man einfach gemessen an der Norm , niemals voll
schulfähig, arbeitstauglich und lebensfähig ohne Hilfe - oder ohne
Verständnis der Mitmenschen.
Auch wenn ich an den Tauglichkeitstagen sogar 150% meiner Leistung
gebe.
In dieser nichtautistisch ausgerichteten Gesellschaft ist es
erforderlich konstante Tauglichkeit zu haben.
Unsere Probleme und Auffälligkeiten beginnen meist mit dem
Kindergarten deutlicher zu werden – spätestens in der Schule sind
sie nicht mehr zu leugnen und sie hören auch mit Therapie und
noch so großen Anpassungsbemühungen leider nicht auf.
Autistische Kinder werden junge Erwachsene und auch die werden
älter.
Autist bleibt der Mensch aber sein Leben lang.
Darum sind Autisten auch leider ihr Leben lang hoch gefährdet in
Mobbingsituationen zu geraten, in Beziehungskonflikte und auch in
Abhängigkeiten, die sie eingehen – um so etwas zu erfahren wie
Begleitung oder Sicherheit – auch wenn es manchmal sehr schlechte
Kompromisse sind.
Autisten erleiden aufgrund ihrer Fehleinschätzung sozialer und
emotionaler Situation vielfach Schiffbruch und sie brauchen in
allen Lebenslagen – von Kind an , bis ins hohe Alter, aufrichtige
und ehrliche Mitmenschen.
Sie geraten oft in Not und erkennen das nicht einmal - oder viel
zu spät- und sind dann nicht einmal in der Lage zu wissen, wie
oder wo sie um Hilfe bitten sollen.
Diese vielen negativen Erfahrungen akkumulieren mit den Jahren –
während analog dazu die Kompensationskräfte sich verbrauchen.
Und dann ist es nicht verwunderlich wenn Depressionen und
psychosomatische Beschwerden zu nehmen und bei Menschen mit
Autismus annähernd obligat sind.
Fast alle Autisten, die ich kennengelernt habe, zeigen deutliche
Symptome einer Depression.
Viele werden auch medikamentös deshalb behandelt und erhalten
weitere Therapien aufgrund ihrer komorbiden Erkrankungen.
Bei den Kindern und Jugendlichen sieht es bereits nicht unbedingt
anders aus.
Wer sich als Autist dauernd an eine nichtautistische Welt anpassen
muss – auch deren Erwartungen erfüllt und nichtautistisches
Verhalten kopiert, welches ihm unverständlich, fremd und
verschlossen bleibt – der bezahlt dafür.
Ich weiß, dass viele Eltern, auch viele Betroffene und Fachleute
hier von einem Autisten nun gerne hören würden, was alles trotzdem
geht.
Was alles drin ist und was alles rauszuholen geht...um möglichst
ein Höchstmaß an Tauglichkeit und unautistischem Verhalten zu
erreichen.
Ich weiß doch selber mit welchen Ängsten und Sorgen ich als Mutter
von autistischen Kindern in die Zukunft schaue – bzgl. deren
Chancen an Teilhabe und Aussicht auf einen Platz auf dem 1.
Arbeitsmarkt.
Ich weiß, dass viele also lieber von mir ausschließlich etwas über
die positiven Seiten und unseren durchaus vorhandenen Fähigkeiten
hören wollen.
Das ist absolut verständlich und berechtigt. Ich kenne sowohl
meine als auch die Fähigkeiten meiner Kinder.
Aber wir alle säßen nun nicht hier – würden unsere Defizite und
die Probleme dadurch, nicht deutlich schwerer wiegen.
Aufgrund unserer Defizite ist es uns leider oft nicht möglich,
unsere wirklich vorhandenen Fähigkeiten auch einzusetzen.
Ich möchte deshalb die Möglichkeit nutzen, euch zu bitten, nicht
die Realität aus den Augen zu verlieren und euch vorzumachen oder
von euren betroffenen Kindern oder Erwachsenen zu erwarten, dass
sie irgendwann einmal so denken wie ihr denkt, so fühlen wie ihr
fühlt oder die Welt so sehen wie ihr sie seht.
Es ist nicht damit getan, in der Kindheit und im Jugendalter
einige Dinge zu erlernen und Kompensatiosmechanismen zu
beherrschen.
Es ist sicher nicht verkehrt soziale und gesellschaftliche
Verhaltensweisen und Regeln zu kennen und diese an den passenden
Stellen auch einsetzen zu können.
Das gibt uns manchmal mehr Sicherheit und lässt uns tauglich
erscheinen und die Fassade wahren.
Aber nur wenige halten das auch auf Dauer durch, ständig etwas vor
zuspielen, was man gar nicht ist.
Der Rest fällt ja doch irgendwann auf.
Und somit fällt er dann eben auch durch –
durch das Netz dieser Gesellschaft - wird ggf unbeschulbar nicht
ausbildungsfähig, arbeitsunfähig oder aber krank.
Untauglich und krank sind wir ein Kostenfaktor von nicht
unerheblichen Ausmaß.
Dabei könnten diese Gelder vielleicht für uns verwendet werden,
bevor es mit uns so weit bergab geht. Und wir hätten noch etwas
übrig von unserer Kraft, was wir wieder zurückgegeben geben
könnten.
Viele erwachsene Autisten brauchen immer wieder Bewältigungshilfe
im Alltag – für sehr viele Bereiche. Vor allem soziale und
emotionale Verarbeitungshilfe.
Spätestens wenn im Job die Kommunikation die Sachebene verlässt
und die Kollegen erwarten, dass man sich mit ihnen in die Pause
begibt, fängt unweigerlich der Stress an.
Während die anderen in der Pause entspannen und sich erholen –
wird ein Autist dies oft empfinden als sei das, ein mit
Fettnäpfchen übersäter Kampfplatz.
Außerdem haben Autisten häufig Probleme damit ihren Tagesablauf zu
strukturieren oder mit unvorhersehbaren Situationen fertig zu
werden.
So erleiden sie immer wieder Zusammenbrüche, die Folge emotionaler
oder sensorischer Überforderungen sind.
Für Nichtautisten geht es dabei oft nur um nicht nachvollziehbare
Bagatellen.
Sie aber schaffen es nicht, ohne Hilfe heil durch
Konfliktsituationen zu kommen.
Oder schaffen es nicht, sich um ihre eigenen gesundheitlichen oder
finanziellen Angelegenheiten zu kümmern.
Es gibt wenige erwachsene Autisten, die es schaffen überhaupt so
zu arbeiten, dass sie für sich selber oder für ihre Familie
ausreichend sorgen können.
Und noch weniger sind es, die das dann bis ins Rentenalter auch
durchhalten.
Obwohl sie oft hochbegabt sind – teilweise herausragende
Fähigkeiten haben – nicht selten Hochschulabschlüsse vorweisen
können –
Wir scheitern an diesem System und wir belasten es auch.
Ich stehe nun seit einigen Jahren über Foren in einem sehr
intensiven Kontakt und Austausch zu vielen Mitbetroffenen –
unterschiedliche Altersgruppen – auch Angehörige und Partner von
Autisten darunter.
Wir informieren uns, wir tauschen uns aus – unterstützen uns
gegenseitig.
Wir erleben tiefe Freundschaften, die teilweise über die virtuelle
Welt hinausgehen.
Das wäre in der Form nicht möglich, gäbe es nicht das Internet für
uns als täglichen Treffpunkt. Das ist etwas, was uns barrierefrei
Kontakt ermöglicht.
Da wir rein statistisch gesehen eine kleine Minderheit sind,
noch dazu über die Welt verteilt - und uns ja allen nicht der
Autismus auf der Stirn geschrieben steht, wäre es uns wohl ohne
diese Möglichkeit, dass wir Netzwerke und Communities nutzen, kaum
gelungen uns gegenseitig kennen zu lernen.
Wir hätten nicht erfahren dass wir zwar eine Minderheit sind aber
nicht alleine.
Wir hätten uns selber lediglich nach diesem Kriterienkatalog
eingeordnet, auf deren Grundlage sich ja unsere Diagnose bezieht.
Isoliert von all den den anderen, hätten wir in den Fachbüchern
gelesen, dass wir Autisten unempathisch sind - und wir hätten es
vielleicht sogar geglaubt.
Wir hätten gelesen, dass wir Autisten kein Interesse an sozialen
Strukturen haben - und wir hätten uns gefragt, warum wir uns dann
so oft nach gleichgesinnten, aufrichtigen und ehrlichen
Mitmenschen sehnen.
Wir sind alle sehr verschieden. So wie ihr neurotypische Menschen
ja auch verschieden seid.
Wir sind uns auch weiß Gott nicht immer einig – aber in vielen
Punkten, außer dass uns gemeinsame Merkmale (autistische
Kriterien) verbinden – haben wir eine ganze Menge gemeinsam.
so haben wir auch festgestellt, dass wir alle irgendwie an den
selben Dingen scheitern oder verzweifeln, die ich gerade
angesprochen habe.
Wir erwachsene Autisten sind nun die erste Generation, die wissen
warum sie so sind, wie sie sind.
Und wir alle leben und erleben jeden Tag, was es bedeutet,
autistisch zu denken und zu fühlen.
Wir sind darum der Meinung, dass wir durchaus etwas zu sagen
haben, vor allem wenn es darum geht, wie Nichtautisten erklären
wollen, wie wir die Welt verstehen.
Wir denken alle, dass wir einiges an Krankheit verhindern und
einiges mehr leisten könnten – wenn auch wir Erwachsene hin und
wieder individuelle Bewältigungshilfe oder ein gewisses Coaching
erhalten würden.
Es gibt aber kaum Hilfestellen und Anlaufstellen für uns. Vor
allem gibt es keine wirklich funktionierenden
Finanzierungskonzepte dafür. Sodass uns Hilfestellen ablehnen,
selbst wenn sie uns helfen könnten und wollten.
Dabei würden die Therapeuten gerade mit uns wirklich viel
Erfahrung machen. Denn viele Erwachsene können mittlerweile sehr
gut benennen was Autismus aus ihrer Sicht bedeutet.
Auch für die, die jetzt noch Kinder sind.
Ab einem gewissen Alter haben wir halt unautistisch zu sein oder
wir fallen durch das Netz.
Wer keine Hilfe von Außen hat, ist vielleicht in der glücklichen
Situation eine Bezugsperson zu haben – ohne die er nicht in der
Form alltagstauglich, arbeitsfähig, lebensfähig wäre.
Ich sage, dass es oft so ist und bei vielen Autisten so läuft.
Ich sage ausdrücklich nicht dass es immer und für alle gilt.
Ich kenne aber sehr viele meiner Mitbetroffenen mittlerweile so
gut, dass ich zu keinem anderen Schluss komme, als dass ein Leben
- nicht am Rande der Gesellschaft, sondern mitten drin eine
absolute Seltenheit ist.
Wir, die wir mittlerweile auch Eltern sind von betroffenen
Kindern, sehen die selben Probleme, die wir haben, auf unsere
Kinder zukommen.
Obwohl unsere Kinder, im Gegensatz zu uns damals, eine Diagnose
haben, und mit einer Diagnose vielleicht auch therapeutisch
unterstützt werden - obwohl langsam in der Öffentlichkeit ein
Bewusstsein geschaffen wird für dass, was Autismus bedeutet sehen
wir, dass sich an dem, was uns scheitern ließ und immer noch
scheitern lässt, was uns auf Dauer krank und depressiv macht –
arbeitsuntauglich und sozialhilfeabhängig, nichts wirklich
geändert hat.
Es ist nicht so, dass man am Grad der Anpassung festmachen kann,
wie gut sich der Betroffene in Richtung „Norm“ bewegt.
Wenn man zu mir sagt, dass es absolut nicht auffällt, dass ich
Autist bin, dann löst das zwei Gefühle aus.
Zum einen, freue ich mich, dass es mir offensichtlich so gut
gelungen ist, mich zu tarnen – zum anderen möchte ich demjenigen
dann manchmal entgegen brüllen, ob er überhaupt eine Ahnung davon
hat, was das für mich bedeutet.
Das tue ich natürlich nicht. Ich nicke und bedanke mich höflich.
Ich bin nun nicht die Person, die hier Lösungsvorschläge hat – ich
bin aber in einer Position - hier für mich, und viele andere
Betroffene zu sprechen - und auch für alle eure und meine Kinder
und Jugendlichen - die ihr gerade im Fokus habt.
Ich möchte ich euch bitten – bedenkt, dass aus jedem autistischen
Kind ein autistischer Erwachsener wird.
Und bedenkt, dass wir auch dann noch autistisch denken und
fühlen...auch wenn wir erlernt haben, zu verbergen, wie wir denken
und fühlen.
Und dass wir unsere Fähigkeiten, auf die wir doch so stolz sein
sollten, nur dann für uns und für die Gesellschaft einsetzen
können, wenn man uns auch als Erwachsene noch als das annimmt, was
wir sind und bleiben. Mitmenschen die autistisch denken – und
ein Teil dieser Gesellschaft sind – Menschen die durchaus wollen
und können - wenn man sie nicht ganz verbiegt und … wenn man sie
mit ihren Defiziten nicht ganz alleine lässt.
Aufgrund dieser Überlegung – bzw, der Feststellung dass sich es
hier keinesfalls bei mir um ein Einzelphänomen handelt, habe vor
ein paar Wochen unter meinen Mitbetroffenen eine Umfrage gemacht:
Meine Frage war:
Wer von den erwachsenen, diagnostizierten Autisten ist auf Hilfe
angewiesen?
Wer ist oder wäre ohne Hilfe nicht in der Lage für sich selbst zu
sorgen?
–
Darunter ist auch zu verstehen , die Hilfe die durch Eltern,
Partnern oder Freunde und andere Angehörige passiert – und
dies in einem Umfang, der deutlich größer ist als es üblich
und normal wäre.
Ich wusste ja bereits, durch unseren z.T. auch sehr
Austausch, dass sich hier einige finden würden, die
bestätigen.
Dass es dann aber so viele waren, die angaben einen
Hilfebedarf zu benötigen hat mich erstaunt
und im Hinblick auf uns und unsere Kinder auch sehr
nachdenklich gemacht.
privaten
das
deutlichen
besorgt und
Von 35 Personen, die sich hier zu meiner Frage äußern wollten...
warum sich einige gar nicht äußern wollten lasse ich nun einfach
offen...
haben 32 Betroffene quasi knapp identische Probleme ihren Alltag
zu bewältigen und sind immer wieder aufgrund ihrer autistischen
Eigenschaften gescheitert, in Depression und/oder auch
Abhängigkeit geraten sind.
Diese 32 Personen gaben auch an, ohne Hilfe nicht selbständig
Leben oder für sich sorgen zu können
– in ihrem Beruf, sofern sie einen haben
nur gering oder gar
nicht mehr arbeiten zu können.
Und dann haben sich spontan auch einige bereit erklärt mich hier
bei meinem Anliegen zu unterstützen, bzw. meine Aussagen durch
ihre eigene Geschichte und ihre individuellen Erlebnisse zu
ergänzen
Ich heiße Bettina, ich bin Aspergerin und habe ADHS.
Von Beruf bin ich Polizeikommissarin.
Meine Diagnose Autismus habe ich vor 18 Monaten erhalten.
Hätte ich nicht die Unterstützung und das bedingungslose
Vertrauen von meinem Freund, wäre ich heute Frührentnerin. Das
Autismustherapiezentrum hätte mir helfen können, Warteliste
bis zu 12 Monate und pro Sitzung einmal die Woche 75 Euro
Selbstzahlung. Meine Behörde hatte nicht 12 Monate Zeit
Ich heiße Svetlana und bin Asperger Autistin, ich bin gelernte
Krankenschwester, verheiratet und Mutter zweier autistischer
Mädchen. Beruflich habe ich meine Nische gefunden als
Pflegefachkraft in einer Wohngruppe für demente Menschen.
Privat habe ich zum Glück meinen Ehemann an meiner Seite der
mir oft genug beisteht oder mich unterstützt und lenkt wenn
ich nicht zurecht komme und Hilfe benötige.
Ich heiße Silke , ich bin Asperger Autistin. Ich arbeite als
Demenzbetreuerin in einem kleinem Pflegeheim. Seit einiger
Zeit kann ich das aus Krankheitsgründen nicht. Ich würde aber
gerne wieder die Kraft haben, um wenigstens in Teilzeit diese
Tätigkeit ausführen zu können.
Ich brauche allerdings dann auch Unterstützung, zB dass meine
Arbeitszeit entsprechend meiner Kräfte angepasst werden würde.
Zudem benötige ich manchmal Hilfe um zB. meine Belange bei
Behörden oder Ärzten durchzusetzen.
Ohne Hilfe kommt es immer wieder zu schwerwiegenden
Kommunikation Problemen wodurch mir Hilfen dann letzten Endes
einfach verweigert werden.
Bei Ärzten werde ich aufgrund meiner Art zu kommunizieren
nicht ernst genommen, was schon mehrfach zu kritischen
Situationen geführt hat.
Katrin: bin Autistin und depressiv...ich habe eine
eingeschränkte Mimik was bedeutet, dass ich meist auf die
Menschen wirke als sei ich wütend oder irgendwie sauer...
meine Depression merkt man mir nicht an, eher denken die
Menschen incl. mein Mann, ich bin wütend!
Ich bin aber nicht wütend, ich bin erschöpft von all den
Dingen die um mich herum passieren...habe Kopfschmerzen
davon...
Ich bin traurig wenn man mir meine klaren Worte nicht abnimmt
und anderes versucht hinein zu interpretieren...
Das ist furchtbar anstrengend und Kräfte zehrend!
Mein Name ist Marc. Ich arbeite als Bürokaufmann im Betrieb
meiner Eltern.
Kundenkontakte, E-Mail – Verkehr und das Abwickeln täglicher
Geschäftsvorgänge ist ein Hauptteil meiner Arbeit.
Meine Ausbildung habe ich bei der Firma Salo West in Köln
gemacht.
Einer speziellen Maßnahme für Menschen mit Autismus.
Ohne die Unterstützung meiner Eltern und Salo wäre ich heute
nicht im Arbeitsleben sondern ein Sozialhilfeempfänger.
In meinem Alltag brauche ich in Krisen und
Überforderungssituationen Hilfe und Rückzugsmöglichkeiten.
Wenn ich überlastet bin gehe ich früher nach Hause um Ruhe zu
finden und abschalten zu können. Dies würde in einem normalen
Betrieb nicht funktionieren.
Mein Arbeitsplatz wird vom Landschaftsverband gefördert.
Durch eine angeblich positive Entwicklung soll mein
Schwerbehindertenausweis auf 30% reduziert werden.
Davon hängen die Förderung und der Fortbestand meines
Arbeitsplatzes ab. Die Förderung könnte bis zu meinem
Rentenalter bestehen bleiben.
ich bin Rieke und bin Autistin, dies weiß ich nun seit dem
letzten Jahr.Bin Mama von2 Jungs.Der große wird derzeit auch
getestet.. Ja und verheiratet bin ich auch... Die größte Hürde
besteht nämlich genau dort.
Schon immer haben mein Mann und ich uns nicht wirklich
verstanden, bez er versteht mich kaum..
Mein Mann ist meine Hilfe im Alltag.. wenn ich meine Zeit für
mich brauche springt er ein...
Das ist nicht immer Bedingungslos.. Dadurch dass wir nie auf
einen Nenner kommen, ist bei mir eine Art der Abhängigkeit
entstanden.