Erfolgsgeschichte oder Rohrkrepierer? 15. Januar 2016 · by Dennis Salge · in Story Ein Jahr Mindestlohn im Kreis Minden-Lübbecke Seit einem Jahr gibt es den flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auch im Kreis Minden-Lübbecke. Zeit für ein Resümee. Der MiKu hat die Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld (IHK) und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft für den Bezirk Herford-Minden-Lippe (Verdi) gefragt: Wie sieht ihre Bilanz nach zwölf Monaten aus? Was muss sich ändern? Und sollte der Mindestlohn auch für Flüchtlinge gelten? Der gesetzliche Mindestlohn feiert seinen ersten Geburtstag. Dr. Christoph von der Heiden, Geschäftsführer bei der IHK Ostwestfalen, zieht ein gemischtes Fazit. Die Vorteile liegen für ihn auf der Hand: Wer keinen Mindestlohn erhalten habe, hat ihn nun – falls sein Arbeitsplatz erhalten geblieben sei. Denn „das ist nicht immer der Fall gewesen“, wie von der Heiden zu Bedenken gibt. „Es gab Arbeit, für die sich der Mindestlohn am Markt nicht erzielen ließ. In vielen Fällen ist es zur Streichung von Arbeitsplätzen gekommen, insbesondere bei geringfügig Beschäftigten.“ In weiten Bereichen der heimischen Wirtschaft habe das neue Gesetz ohnehin keine Spuren hinterlassen, weil bereits merklich über dem Mindestlohn gezahlt worden sei. In einigen Branchen jedoch habe es gravierende Veränderungen gegeben – speziell dort, wo Menschen Möglichkeiten genutzt hatten, etwas Geld hinzuzuverdienen, wie in der Gastronomie, im Handel oder in der Logistik. Von der Heiden resümiert: „Der Mindestlohn war in jedem Fall arbeitsplatzvernichtend. Die Zahl der entfallenen Arbeitsplätze lässt sich schwer beziffern, sie ist in jedem Fall ausgeprägt sechsstellig.“ Einschätzungen, die Hermann Janßen nicht teilt. Der Bezirksgeschäftsführer der Verdi HerfordMinden-Lippe hat keine negativen Erfahrungen mit der Einführung des Mindestlohnes machen können. Im Gegenteil. Im Organisationsbereich der Gewerkschaft habe man noch keine Klagen auf Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnes führen müssen. Laut Janßen besteht eine leichte Tendenz zum vermehrten Abschluss von unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen im Dienstleistungsbereich. Dies sei „ein Erfolg der Bekämpfung von prekären Arbeitsverhältnissen, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Einführung von Lohnuntergrenzen steht“, sagt Janßen. Verbesserungspotenzial sei aber immer noch vorhanden. So hat für Verdi eine Erhöhung des Mindestlohnes auf mindestens 10 Euro absolute Priorität. „Wir wünschen uns gerade in den gewerkschaftlich schwach organisierten Dienstleistungsbereichen den Abschluss von Tarifverträgen, um die Lohnuntergrenze des Mindestlohnes auf ein existenzsicherndes Einkommen aufstocken zu können. Der Mindestlohn ist kein Ersatz für tarifliche Entgelte und hat nur die Aufgabe, die Spirale des Lohndumpings nicht noch weiter nach unten zu treiben“, erklärt Janßen. Die IHK spricht sich gegen eine „zu frühe und zu starke“ Erhöhung des Mindestlohnes aus, diese „wäre viel zu riskant.“ Gesetzesnovellierungen fordert aber auch sie. Laut von der Heiden müssen die Aufzeichnungspflichten für Unternehmen gelockert werden. Das Gesetz habe zu viel bürokratischen Aufwand erzeugt. Es sollten kluge Regelungen für Berufsanfänger und Leistungsschwächere geschaffen werden, denn der Mindestlohn treffe ja nicht die höher Qualifizierten. Für junge Menschen sei der Mindestlohn gar ein „bildungspolitischer Dolchstoß“ gewesen. Nach den Erfahrungen der IHK stellen die Unternehmen deutlich weniger Praktikanten ein als vorher. „Die Trennung zwischen Verhinderung des Missbrauchs von Praktika und der Ermöglichung nützlicher, kompetenzsteigernder Praktika ist dem Gesetz nicht gelungen“, kritisiert von der Heiden. Mindestlohn auch für Flüchtlinge? Bundesweit wird über die Integration von Flüchtlingen in den deutschen Arbeitsmarkt diskutiert. In diesem Kontext wird auch häufig die Frage aufgeworfen, ob für sie der Mindestlohn gelten sollte oder nicht. IHK-Geschäftsführer Dr. Christoph von der Heiden schweben „neue realistische Lösungen vor.“ Die zeitlich eng begrenzten, vom Mindestlohn ausgenommenen Berufsorientierungspraktika reichten vielfach für die erforderlichen Vorbereitungsphasen von Flüchtlingen nicht aus. Die IHK Ostwestfalen schlägt daher vor, Flüchtlinge wie Langzeitarbeitslose zu behandeln, bei denen der Mindestlohn für ein halbes Jahr nicht gilt. „Dann haben Betriebe und Praktikanten die Möglichkeit einander besser kennenzulernen, was für eine Ausbildung oder Beschäftigung ganz wichtig ist“, erklärt von der Heiden seinen Ansatz. Hermann Janßen spricht sich gegen eine Aushebelung des Mindestlohnes für Flüchtlinge aus. Andernfalls fürchtet der Verdi-Bezirksgeschäftsführer um den sozialen Frieden: „Auch für Flüchtlinge müssen die Maßstäbe des Mindestlohngesetzes gelten, um Lohndumping und soziale Verwerfungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verhindern. Gleiche Arbeit für gleichen Lohn und keine Entgeltdiskriminierung aufgrund anderer Hautfarbe, Nationalität oder Religion. Für Flüchtlinge und zukünftige Mitbürgerinnen und Mitbürger gelten die gleichen Verfassungsgrundsätze“, erläutert Janßen seine Position. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Hauptzollamts Bielefeld hat im vergangenen Jahr rund 400 Betriebe im Kreis Minden-Lübbecke einer Wirtschaftsprüfung unterzogen. Infolge dieser Untersuchungen sei es zu 40 Verstößen und Ermittlungsverfahren gekommen, sagt Dirk Waschull, Zollexperte für Schwarzarbeit. Wie viele Verstöße es dabei gegen den Mindestlohn gegeben habe, sei schwer herauszufiltern, da diese meist einhergingen mit Delikten wie zu niedrigen Sozialversicherungsbeiträgen. Die Überprüfung der Unternehmen erfolge auf handfesten Hinweisen und Anzeigen von anderen Behörden oder Arbeitnehmern. Verstöße gegen den Mindestlohn geschehen laut Waschull oft im Einverständnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer. So werde die Zeiterfassung manipuliert und Restgeld schwarz ausgezahlt. „Die meisten Verstöße gehen von kleinen Unternehmen aus, in denen es viele Mauscheleien und geheime Absprachen gibt.“ Die FKS habe in jedem Falle gut zu tun, für Mindestlohnprüfungen wurden und werden viele Extra-Stellen geschaffen. Da es sich beim Mindestlohn 2015 um ein neues Gesetz handelte, habe man noch viele Mahnungen statt Strafen ausgesprochen und ein Auge zugedrückt. „Doch das wird sich 2016 ändern“, verspricht Waschull.
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