Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Bischof Dr. Dr. h. c. Markus Dröge, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz 20. Sonntag nach Trinitatis, 18. Oktober 2015, 10 Uhr Predigt über Markus 10,13-16 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. I. Absperrbänder; Gitter; Stacheldraht; Zäune. Wir erleben, wie neu über die Errichtung von Mauem und Grenzbefestigungen in Europa nachgedacht wird. Sicherung der EU-Außengrenzen. Menschen, die abgewiesen oder durchgeschleust werden. Kann man über 3.000 Kilometer grüne deutsche Grenze sichern? Werden sogenannte Hotspots oder Transitzonen verhindern, dass Menschen in ihrer Not den Weg zu uns finden? Wird es 25 Jahre nach dem Mauerfall bald wieder neue Mauem geben, wenn auch ganz anders? Fragen, die uns heute bewegen. Auch wenn das Evangelium des heutigen Sonntags mit seiner anrührenden Szene von der Kindersegnung scheinbar harmlos daherkommt, erzählt es doch eine ernste Geschichte von Grenzziehung und Abwehr. Kinder sollen nicht an Jesus herangelassen werden. Im Kern ist diese Erzählung deshalb keine Kindergeschichte. Es geht um die Erwachsenen, um die Jünger, die von Jesus zurechtgewiesen und überzeugt werden müssen, dass er auch die unbequemen Kinder liebt. Als die Kinder es dann schließlich doch schaffen, durchgelassen zu werden, schließt Jesus sie in die Arme und segnet sie. Wer wär nicht gerne solch ein Kind? Ein Kind Gottes, von Gott geliebt, angeschaut und gesegnet. Durchgelassen in den Raum, wo Geborgenheit ist, wo Gott seine schützende Hand über die Kleinen hält, und jeden mit Namen kennt. Aber die Erwachsenenwelt ist eben die Jüngerwelt die Welt, die Grenzen zieht, sichtbare und unsichtbare; die Mauem baut, oft gewalttätig und angsteinflößend. Die Welt der Differenzierungen und Abgrenzungen. "Hier sind wir, da sind die anderen." Barrieren sind dazu da, das Eigene gegen das Fremde, das Störende zu verteidigen. Und plötzlich ist die Geschichte alles andere als harmlos. Sie stellt die Fragen, die wir uns heute stellen müssen. Wo haben Grenzen ihren Sinn? Und wo werden sie unmenschlich? Die Geschichte der Kindersegnung ist eine Erwachsenengeschichte. Sie - die Jünger - stehen im Mittelpunkt mit dem, wie sie sich verhalten. An die Jünger richtet sich Jesus und sagt ihnen: "Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." Il. Immer wieder hat man bei der Auslegung dieser Stelle herumgerätselt, was an dem Wesen eines Kindes wohl als derart vorbildlich gelten mag, dass Jesus daran die entscheidende Bedingung zum Heil knüpfen konnte. Alle möglichen Vermutungen wurden geäußert, indem man die Eigenart eines Kindes im Sinne der Wunschphantasien der jeweiligen Kultur und Zeit zu verstehen suchte. Besonders in der Romantik wurden dafür Bilder entwickelt: Das Kind wurde zu einer Idealgestalt der Herzensreinheit und einfältigen Unschuld. Dagegen stand die menschenfeindliche Hochnäsigkeit des heraufziehenden Zeitalters der Wissenschaft und Technik. Die Entfremdung des Menschen durch die industrielle Revolution, die Entfremdung der Arbeit durch Fließbänder, der Mensch als kleines Rädchen in der Maschine der Welt - all diese dunklen Vorboten zogen am Himmel auf. Diesen Vorboten stellte die Romantik das sich seiner selbst noch unbewusste und naiv in der Welt lebende Kind gegenüber. Mit etwas Abstand betrachtet wird deutlich: Wer die Geschichte der Kindersegnung nur als Kindergeschichte liest, steht in der Gefahr, ins Harmonische und Private zu fliehen und die unbequeme Wirklichkeit auszublenden. III. Ich möchte deshalb eine andere Spur weiter verfolgen. Jesus verleiht mit der Erzählung von der Segnung der Kinder nicht nur der Liebe Gottes Ausdruck, sondern auch seiner Gerechtigkeit. Die Kinder werden zu Jesus gebracht mit dem Gefühl, bei ihm berechtigt und zugelassen zu sein. Es ist dieses Vertrauen, das jedes Kind mitbringt, wenn es geboren wird. Das Vertrauen, ein Recht zu besitzen, unter allen Umständen Beachtung und Aufnahme zu finden. Für ein Kind gilt nicht, was unter erwachsenen 1 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Menschen sonst Gültigkeit beansprucht, nämlich dem Mitmenschen zuzugestehen, dass er mit Wichtigerem beschäftigt sein könnte, als sich um mich und meine Probleme zu kümmern. Ein Kind hält sich instinktiv für das Wichtigste auf Erden. Wenn es ruft, möchte es, dass jemand kommt. Eltern, Großeltern und Paten wissen, wovon ich spreche. Und Kinder haben ein Recht auf dieses Entgegenkommen. Auch wenn es nicht immer erfüllt wird, dennoch haben sie das Recht, und sie nehmen es sich, ohne zu fragen, ob es ihnen erlaubt ist. Dieses Urvertrauen bringt ein Kind mit auf diese Welt und muss es leben dürfen. Alle Beschränkungen und Bedingungen kommen später; sie sind buchstäblich sekundär. Deshalb ruft Jesus die Kinder zu sich. Nicht, weil sie bessere Menschen wären, sondern weil an ihnen das bedingungslose Menschsein des Menschen anschaulich wird. Ein Kind muss man lieben, einfach dafür, dass es da ist. Es hat noch nichts, es kann noch nichts. In seiner Welt zählen nicht die Differenzen von Besitz und Leistung, von eigen und fremd. Ein Kind ist einfach nur da, und es verlangt mit der Zudringlichkeit eines urtümlichen Rechtsanspruchs, dass man es annimmt seines Daseins wegen. Dieses kindliche Urvertrauen ist das Vorbildhafte. So möchte Jesus, dass wir unser ganzes Leben auf Gott hin ausrichten. Gott dürfen wir absolutes Vertrauen entgegenbringen, immer und unter allen Umständen. Ihm gegenüber können wir die Angst verlieren, lästig und ungelegen zu kommen. Jesus stellt uns Gott als ein Gegenüber vor, das sich einfach freut, dass es uns gibt. Er will, dass wir ihm wie ein Kind seine Liebe zu uns glauben. Mit dem gleichen bedingungslosen Vertrauen, mit der gleichen selbstverständlichen Unverschämtheit, mit derselben lebenswichtigen Unverwehrtheit und Unverstörtheit. "Werdet wie die Kinder!" Wer es wagt, so Kind zu werden, der wird erwachsen. Er lernt, die Welt unabhängig und selbstständig zu beobachten, kritisch zu hinterfragen und nichts als unabdingbar gegeben hinzunehmen. Wenn wir sehen, dass der Kaiser genauso nackt die Welt betritt und verlässt wie wir selbst; und wenn wir nicht Kleider sehen müssen, wo gar keine sind, dann befreit das unseren Blick und unsere Lebensweise. Wer dagegen die Welt, so wie sie ist, unhinterfragt als gegeben nimmt, macht sich abhängig und klein. Das, liebe Gemeinde, ist für mich der Wesenskern der Taufe. Wir bekommen bei Gott einen Platz; einen Platz als Mensch. Ohne Vorleistung und ohne Besitz. Wir haben ein Recht, bei Gott zu sein, einfach, weil wir da sind. Das bringen wir in jeder Taufe zum Ausdruck. Und deshalb kann die Geschichte von der Kindersegnung wunderbar bei Kindertaufen gelesen werden. Aber eben nicht nur. Sie ist auch für Erwachsene da. IV. Absperrbänder; Gitter; Stacheldraht und Zäune. Damit hatte ich begonnen. Wir kennen solche harten Grenzen. Manchmal richten wir sie selbst gegen uns auf und machen uns damit das Leben schwer. Manchmal grenzen wir uns von anderen ab und verschließen damit unser Herz. Schnell werden Grenzen unmenschlich. Aber wo ist die Grenze zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit? Heute ziehen sich durch alle Bereiche des Lebens die Fragen, wie wir - jeder Einzelne und unser Land als Ganzes - die Herausforderung annehmen oder abwehren, dass ungeahnt viele Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten kommen, um bei uns Schutz und Lebensmöglichkeiten suchen. Ob ich derzeit Gespräche mit Politikern führe oder bei einer private Einladung, ob ich in der Kirchenleitung den Haushaltsplan der Landeskirche diskutiere oder eine Gemeinde die Frage nach der Zukunft eines kirchlichen Gebäudes zu beantworten hat: Immer schwingen zurzeit die Fragen mit: Sollen, können und wollen wir etwas für die Menschen tun, die Zuflucht suchen und Hilfe brauchen? Und sind wir dann auch bereit die Probleme auf uns zu nehmen, die zwangsläufig daraus entstehen werden? Wo sind wir offen? Wo ziehen wir Grenzen? Es wäre viel zu einfach, das Evangelium des heutigen Sonntags so auszulegen, dass Gott einfach alle Grenzen öffnet. So ist unsere Welt nicht. So ist auch unser Leben nicht. Unsere Politikerinnen und Politiker müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und mit aller Kraft nach Lösungen suchen. Lasten müssen angemessen verteilt werden: innerhalb unseres Landes und vor allem innerhalb Europas. Nicht jedes Kontingent, nicht jeder Verteilschlüssel ist gleich eine moralisch verwerfliche Grenze oder eine unbillige Zumutung. Wir brauchen dringend bessere politische Vereinbarungen in Europa, klarere Organisation vor Ort, Strukturen und Unterstützung für ehrenamtliches Engagement. Ich kann aber aus meiner Erfahrung nur sagen, dass in Politik und Verwaltung und auch in unserer Kirche mit Hochdruck daran gearbeitet wird, die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir die epochale Herausforderung der Flüchtlingsnot bewältigen können und zwar menschlich! Wo aber versucht wird, durch 2 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin dramatisierende Darstellungen Angst in der Bevölkerung zu schüren, da werden die Grenzen des Verantwortbaren überschritten. Wohltuend klar und unaufgeregt ist dagegen die Art und Weise, wie die Bundeskanzlerin die Problemlage beschreibt, ohne falsche Versprechungen zu machen oder populistische Scheinlösungen zu verkaufen. Ihr Wort und die Zielrichtung ihrer Politik verdienen Vertrauen. Wir brauchen den langen Atem, nicht kurzatmige Symbolpolitik, die morgen schon überholt ist. V. "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Nämlich Recht üben, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott." Der Wochenspruch dieser Woche bringt zum Ausdruck: Menschsein, das ist das Wesentliche. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn wir menschlich miteinander umgehen und die Würde untereinander achten, dann ist Gott uns im Antlitz des Anderen ganz nah. Ich erlebe diese Menschlichkeit unbeirrt an der Basis des kirchengemeindlichen und kommunalen Lebens. In der letzter Zeit habe ich viele Besuche in Kirchenkreisen und Gemeinden gemacht und habe mit ein Bild von der Vielfalt des Engagements verschaffen können. Was an der Basis - von Mensch zu Mensch geleistet wird, ist beeindrucken. Und ich weiß, das geschieht flächendeckend in unserer Kirche und in der Zivilgesellschaft generell. Gefahrlieh ist dagegen das Gerede davon, dass die Stimmung kippen würde. Die Stimmung kippt nur dann, wenn sie gekippt wird - mutwillig durch Panikmache und menschenverachtende Parolen. Wo wir einander als Menschen begegnen, da entsteht Solidarität und Vertrauen. Da entsteht Verantwortung füreinander. Menschen wollen sich gegenwärtig engagieren. Das ist das Neue und Wunderbare. Dieses Engagement macht Mut. Und es macht Hoffnung, dass wir von dieser Basis der Menschlichkeit her auch politisch neue und angemessenere Wege finden werden, den Menschen beizustehen, die aus Not geflohen sind. Mit einem langen Atem. VI. "Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie." Ja, es sind in dieser Geschichte vor allem die Kinder, die im Blick sind. Sie bekommen geradezu demonstrativ den Segen Jesu, weil sie ausgeschlossen werden sollten und weil sie so beispielhaft vertrauen. Aber natürlich gilt diese Wertschätzung jedem Menschen, der über Gottes Erde läuft. Daran erinnern wir in jedem Gottesdienst, in dem wir taufen, so wie heute. Wir erinnern an die Freiheit und das Recht auf menschliches Leben. Im Namen des dreieinigen Gottes. Amen. 3
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