Wirklichkeit und Wirken des Heiligen Geistes heute

Vorlesung >Pneumatologie< § 6: Wirklichkeit und Wirken des Heiligen Geistes heute
§ 6. Wirklichkeit und Wirken
des Heiligen Geistes heute
Literatur: B.J. HILBERATH, Pneumatologie 162-171; M. WELKER, Gottes Geist, Theologie des Hl. Geistes 15-57;
"In der Kirche bewirkt der Heilige Geist die Harmonie. Einer der ersten Kirchenväter schrieb, dass der Heilige Geist „ipse harmonia est“: er selbst ist Harmonie. Er allein ist zugleich Urheber der Einheit und der Vielfalt. Der Geist allein bewirkt Verschiedenheit, Vielfalt, und gleichzeitig Einheit. Denn wenn wir es sind, die Verschiedenheit machen, kommt es zu Schismen,
und wenn wir es sind, die die Einheit wollen, kommt es zur Uniformität und Gleichschaltung. In Aparecida haben wir gemeinsam diese Arbeit des Heiligen Geistes vorangebracht. Und wer das Dokument aufmerksam liest, der kann erkennen, dass dahinter ein harmonisch kreisender Gedanke steht. Man nimmt diese nicht passive, sondern kreative Harmonie wahr, die zur Kreativität drängt, weil sie vom Geist kommt. (...)"1
I.
Gottes Geist in der weltweiten charismatischen Bewegung
Dass der Geist Gottes unter den Menschen heute wirksam ist, wird in einer sich weltweit ausbreitenden Frömmigkeitsbewegung behauptet und bezeugt, die aus inner- und außerkirchlichen Strömungen
zusammengesetzt ist. Den Anhängern der sog. >charismatischen Bewegung< oder >charismatischen Erneuerung< ist gemeinsam, dass sie sich auf die kraftvolle Erfahrung der Gegenwart Gottes
im Geist berufen, dass sie von intensiven und frohen Gemeinschaftserfahrungen - besonders in Gottesdienst, in Verkündigung und Verherrlichung Gottes - berichten, dass sie sich für die Pluralität und
Individualität der Gaben des Geistes öffnen und danach streben, hierarchische Gemeindestrukturen
und konfessionelle Abgeschlossenheit zu überwinden. Die charismatische Bewegung gilt als die
am schnellsten wachsende Frömmigkeitsbewegung unserer Zeit und ist die größte Frömmigkeitsbewegung in der Geschichte. "Mitte 2006 belief sich die Zahl der den pfingstlich-charismatischen Aufbrüchen zuzurechnenden Menschen weltweit auf ca. 596 Millionen. Es ist die am
stärksten wachsende religiöse Bewegung in der Welt, wobei die größte Verbreitung in Afrika, Lateinamerika und Asien zu finden ist."2 Für die meisten Anhängerinnen und Anhänger der charismatischen Bewegung ist deren erfolgreiche Entwicklung ein direkter Beweis dafür, dass der Heilige Geist
erfahren werden kann, dass Gott im Geist gegenwärtig ist und in der Welt unserer Tage wirkt.
1.
Gruppierungen in der charismatischen Bewegung
Durchgängig werden in der Literatur drei bis vier Strömungen unterschieden, die sich selbst als >charismatisch< bezeichnen oder von außen so genannt werden.
(1) Die sogenannte Pfingstbewegung, die 1901 in Topeka/Kansas (USA) aus dem Methodismus
und einigen Baptistenkirchen, hervorgegangen ist. Zunächst von den Mutterkirchen in der Regel zurückgewiesen und isoliert, breitet sich diese Bewegung bis heute mit enormer Geschwindigkeit vor allem in Lateinamerika und Afrika aus. Derzeit hat sie über 400 Millionen Anhänger und ist gerade in
städtischen Großzentren von New York über Mexiko-Stadt bis Seoul stark vertreten; lediglich Europa
blieb hiervon bis heute weitgehend unberührt.
"Die Pfingstbewegung ist die am stärksten wachsende Missionsbewegung der Welt. Ein Wachstum von Null auf 400 Millionen
in neunzig Jahren gab es in der gesamten Kirchengeschichte noch nicht. Es gibt Spezialisten, die erwarten, daß sie im nächsten Jahrhundert die katholische Kirche zahlenmäßig überflügeln werde..., treten doch täglich 8000 Menschen aus der katholischen Kirche Lateinamerikas aus. Die meisten von ihnen treten pfingstlichen Kirchen bei. In Europa ist das Wachstum bescheiden, außer in katholischen oder orthodoxen Ländern wie Frankreich, Italien und Rumänien."3
1
Interview mit Kardinal Jorge Mario Bergoglio im November 2007 (http://www.30giorni.it/articoli_id_16590_l5.htm
23.09.2014)
2
http://de.wikipedia.org/wiki/Charismatische_Bewegung (23.09.2014).
3 W.J. HOLLENWEGER, Von der Azura Street zum Toronto-Phänomen. Geschichtliche Wurzeln der Pfingstbewegung, in:
Concilium 32 (1996) 209-216, 209. - Die enorme Schwierigkeit, das komplexe Phänomen Pfingstbewegung angemessen zu
beschreiben, erläutert Y. SUARSANA, Was ist die Pfingstbewegung? Zur prekären Konstitution eines Gegenstands der Religionsgeschichtsschreibung, in: Interkulturelle Theologie 39 (2013) 175-192.
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Dass die Pfingstbewegung sich vor allem in katholisch geprägten Kulturen verbreitet, liegt nach Hollenweger daran, dass sie viele Elemente aus dem Katholizismus aufgenommen hat. Hierzu gehören: (1) die Lehre vom freien Willen, (2) eine strikt bischöfliche Kirchenstruktur, (3) die (aus dem
vorkonziliaren Katholizismus) stammende Zweiteilung der Wirklichkeit in einen >natürlichen< und
einen >übernatürlichen< Bereich, sowie (4) die Vorstellung einer Stufenordnung der Heilsaneignung.
Das Einheitssekretariat des Vatikans führt einen intensiven Dialog mit den Pfingstlern. Was die
Pfingstkirchen verbindet, ist aber nicht eine Lehre, sondern eine religiöse Erfahrung, die freilich sehr
verschieden interpretiert und begründet wird. Wichtig sind ihre ökumenischen Wurzeln. Sie wollten keine neue Kirche gründen, sondern die bestehenden Kirchen beleben. Meist aber entwickelten
sie sich zu eigenen Denominationen bzw. Konfessionen.
(2) 1960 beginnt in den USA ein zweiter charismatischer Aufbruch, die >Charismatische Erneuerung<, erst unter Anglikanern und Episkopalen, dann in anderen reformatorischen Kirchen. 1967
greift die charismatische Erneuerung auf die katholische Kirche über und breitet sich dort geradezu
explosionsartig aus. Etwa 1971 wird auch die griechisch-orthodoxe Kirche erfasst.
(3) Parallel zu dieser Bewegung entsteht das sogenannte Neupfingstlertum. Dieses will wie die
charismatische Erneuerung in den Kirchen bleiben, übernimmt aber im Gegensatz zu ihr die Theologie der klassischen Pfingstbewegung, ihr fundamentalistisches Bibelverständnis und ihr baptistisches
Taufverständnis. Vor allem betont es, dass nicht nur die >Geisttaufe<, sondern auch, mit ihr streng
verbunden, das Zungenreden als Glaubensinitiation oder als Gipfelpunkt des Glaubensweges nach
Bekehrung und Heiligung zentral sei.
(4) Mit einiger Unsicherheit werden in der neueren Literatur schließlich >Thirdwavers<, Angehörige einer >dritten Welle<, genannt. Damit sollen sogenannte Evangelikale oder andere Christen erfasst werden, die seit den 80er Jahren - ohne direkt mit der Pfingstbewegung oder der charismatischen Bewegung verbunden zu sein - eine auf den Heiligen Geist und auf Erfahrungen des Geistes
konzentrierte Frömmigkeit entwickeln.
2.
Das Profil der charismatischen Bewegung
So auffällig der Erfolg der charismatischen Bewegung ist, so auffällig ist auch, dass sich die Gründe
für ihren Erfolg außenstehenden Menschen nicht leicht vermitteln lassen. Glieder der charismatischen
Bewegung betonen aber,
(1) dass sie die Wirklichkeit und Gegenwart Gottes mit neuer Kraft erfahren hätten. Dazu
gehören bes. die Erkenntnis der Lebendigkeit und Gegenwartsbedeutung der biblischen Welt und eine - oft erstmalig erlebte - Befähigung, zu beten, Freude am Gebet zu haben und in neuer Weise froh
und kraftvoll von Gott zu reden. Eine Konsequenz ist, dass die Wahrheit nicht an die Vernunft gebunden gedacht wird:
"Das Spektrum des Wissens umfaßt Erkenntnis, Gefühl und Verhalten, wobei jeweils zwei mit dem dritten verschmelzen. Gott
erkennen heißt Gott in einer Begegnung erfahren. Diese Begegnung führt zu einer Transformation des Erkennenden. Eine solche Transformation kann in vielen Formen erfolgen. Sie kann erlebt werden als Befreiung von den Dämonen; sie kann vorkommen als eine Wiedergeburt zum Heil; sie kann als Heilung stattfinden; sie kann eine Heiligung der Gefühle beinhalten; und
sie kann als die Erfüllung mit dem Heiligen Geist erlebt werden."4
(2) dass sie zu einem neuen Gemeinschaftsbewusstsein und zu neuen Gemeinschaftserfahrungen gekommen seien, wobei oft die Verbindung der Freude an der Gemeinschaft und der gemeinsamen Verherrlichung Gottes hervorgehoben wird. Die Gemeinden werden dann als Räume der Befreiung verstanden, die der Heilige Geist schafft.
(3) dass unter ihnen die Fülle und die Vielfalt der Gaben des Geistes (1 Kor 12,8-10; Röm 12,
6-8; 1 Petr 4,10f) ernst genommen werde und dass damit die Gaben und Begabungen der einz. Menschen entdeckt und geschätzt würden. Dies führe dazu, dass in der Gemeinde die Trennung der Menschen in profess. >Hauptdarstellende< und in >Statistenrollen< bekleidende Laien abgebaut würden;
4 Ch. BRIDGES JOHNS, Heilung und Befreiung aus pfingstlicher Perspektive, in: Concilium 32 (1996) 238-242.
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(4) dass die Relativierung und Aufhebung konfessioneller Grenzen und eine damit verbundene Öffnung für ein ökumenisches Christentum für sie zu einem wichtigen Zeichen der Kraft des
Geistwirkens geworden sei;
(5) die auch für sie noch schwer beschreibbare Erfahrung, die >Taufe mit dem Heiligen Geist<
genannt wird und der das >Reden in Zungen< folgen kann. Das Zungenreden wird vor allem als
Gewinn einer neuen Sprach- und Ausdrucksform des Gebets und des Gotteslobes angesehen.
3.
Ein Kriterium zur Einschätzung der charismatischen Bewegung
Gewiss ist die Sehnsucht nach Kräften des Geistes, nach Erweisen der Kraft, des Besonderen und
Mitreißenden des Glaubens verständlich. Gewiss ist auch das Bedürfnis nach reicher, vielfältiger, die
Individuen ernst nehmender und im Austausch der individuellen Gaben des Geistes wachsender Gemeinschaft sehr zu teilen. Gewiss sollte auch dem vielfach einseitig Intellekt und rationales Erkennen
betonenden Glaubensleben unserer Tage entgegengewirkt werden. Doch bleibt als Hauptfrage an die
charismatische Bewegung, wie an alle anderen Christinnen und Christen auch:
Dienen all ihre Aktivitäten in erster Linie dazu, selbst außergewöhnliche Erfahrungen zu
machen und sich dadurch von der übrigen Welt abzuheben oder dienen sie in erster Linie
dazu, dass der Heilige Geist unter ihren Mitgliedern wie in der gesamten Menschheit Gerechtigkeit, Freude und Frieden bewirkt?
II.
Gottes Geist und die Ausbreitung von Befreiungstheologien
Literatur: M. WELKER, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes 27-32;
Nach den messianischen Verheißungen richtet Gott durch einen >Erwählten<, auf dem der Geist Gottes ruht, sowie durch die >Ausgießung< des Geistes Recht, Erbarmen und Gotteserkenntnis auf Erden auf. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Erbarmen, ohne Integration der Schwachen, ohne
Befreiung der Unterdrückten, ohne Beteiligung der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten an den wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Lebensprozessen. Für die
Offenbarung und Durchsetzung dieses Vorhabens Gottes werden unterschiedlichste Menschen in
Dienst genommen.
Die Befreiungstheologien unserer Tage gehen faktisch von diesen Verheißungen aus. Die Vielfalt
der Bewegungen entspricht der Fülle des Geistes, der - gemäß den Verheißungen - Rettung nicht
nur durch eine Gruppe und für eine Gruppe, nicht nur aus einer Perspektive und nicht nur im Rahmen eines Programms oder eines Weltentwurfes bringen will und bringt. Ihre differenzierte Einmütigkeit und ihre aus wechselseitiger Verstärkung resultierende Kraft erhalten die verschiedenen Bewegungen in der Ausrichtung auf Gerechtigkeit und Freiheit im Kraftfeld von Recht, Erbarmen und
Gotteserkenntnis.
Die Theologien der Befreiung haben innerhalb von zwei Jahrzehnten >Präsenz auf Weltebene<
(Boff) erreicht. Dies bedeutet, dass sie heute nicht nur zu den bedeutendsten Formen von Theologie
überhaupt gehören, sondern dass zudem die Theologie weltweit stark von den Befreiungstheologien
beeinflusst worden ist. Befreiungstheologisches Denken hat längst begonnen, alle Formen
theologischen Denkens zu durchdringen, und hat hierin einen >Para-digmenwechsel<5 bewirkt. Die Begründung hierfür liegt darin, dass die Befreiungstheologien zentrale Anliegen der biblischen Überlieferungen und des in ihnen ausgedrückten Willens Gottes aufnehmen und für unsere
Zeit und Lebenssituation umsetzen, sowie darin, dass sie in der Kraft der Verheißung Gottes und seiner Gerechtigkeit stehen.
5 So z.B. H. KÜNG/D. TRACY (Hg.), Theologie - wohin? Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma (Ökumenische Theologie
11) Zürich u.a. 1984; DIES. (Hg.), Das neue Paradigma von Theologie. Strukturen und Dimensionen (Ökumenische Theologie
13) Zürich-Gütersloh 1986.
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Ihre besondere Basis haben die Befreiungstheologien in den Gesetzen des Alten Testamentes, die
sich auf Recht und Erbarmen (Gottes und der Menschen) beziehen. Die Erbarmensgesetze und
die Verheißungen des Geistes stellen Gottes besondere Parteinahme für die Schwächeren, die Unterdrückten und Notleidenden einer Gemeinschaft in Aussicht. Die Erbarmensgesetze haben nicht das
Ziel, eines kurzfristigen >moralischen< Handelns oder Gefühles, sondern sie kultivieren unter den
Menschen die stetige Hinwendung zu den Unterdrückten und Schwächeren; sie kultivieren
die Zurücknahme eigener Ansprüche zugunsten der Schwächeren und Notleidenden; und sie kultivieren das konsequente Streben nach Befreiung aus systemischen Zwängen von Unterdrücktsein und
Unterdrückung.
Die Tatsache, dass Gottes Wort im Erbarmensgesetz und in den seine Erfüllung in Aussicht stellenden messianischen Verheißungen wieder neu und klar kenntlich wurde, hat einen vielgestaltigen Aufbruch in Kirchen und Gesellschaften ausgelöst und verstärkt. Die Kraft, die Armen und Reichen,
Starken und Schwachen, ökonomisch, politisch, rassistisch und sexistisch getrennten und entfremdeten Menschen neue Gemeinschaft verheißt und diese Gemeinschaft verwirklicht, wird von den messianischen Verheißungen >Geist Gottes< genannt.
"Manche sehen eine Gegnerschaft zwischen der Pfingstbewegung und der Befreiungstheologie. Es gibt den Ausspruch, daß, als
die Kirche eine Option für die Armen gewählt hatte, die Armen selbst eine Option für die Pfingstbewegung trafen! Ich persönlich sehe beide Bewegungen als machtvollen Ausdruck des Geistes, die zwar in einigen grundlegenden Fragen verschiedener
Auffassung sind, aber nicht wirklich in einer Gegnerschaft stehen oder sich gar widersprechen. Es ist in Wirklichkeit eher so,
daß die eine besitzt, was der anderen zur Erlangung ihrer Ziele fehlt und nötig ist. Beide stärken die Ausgegrenzten: die
Pfingstler durch eine innerliche Erlösung der einzelnen, während die Bewegungen der Befreiung es unternehmen, dem Volk die
Mittel zu verschaffen, mit denen es die gesellschaftlichen Kräfte, die ihr Schicksal bestimmen, besser beeinflussen kann."6
III. Gottes Geist, Pluralismus und Individualismus
Gottes Geist gibt Gottes Macht und Gottes Gerechtigkeit zu erkennen durch und für Frauen und
Männer, Mägde und Knechte, Alte und Junge, Inländer und Ausländer, Angehörige der eigenen Kirche und nach Gotteserkenntnis und Gerechtigkeit suchende Außenstehende. Indem der Geist zugleich die verschiedenen Menschen und Menschengruppen erleuchtet und nicht nur zu Empfängern,
sondern auch zu Trägern der Offenbarung Gottes werden lässt, offenbart er Gottes Macht. Der Geist
offenbart die Macht Gottes in starken, aufbauenden, pluralistischen Strukturen.
Dieser Pluralismus ist nicht ein zerrüttender, babylonischer Pluralismus, sondern bildet bereichernde,
stärkende Kraftfelder. Der Geist Gottes bewirkt ein vielstelliges, für Unterschiede offenes Kraftfeld,
in dem die Freude an geschöpflichen, stärkenden Differenzen gepflegt wird und in dem ungerechte,
schwächende Differenzen in Liebe, Erbarmen und Sanftmut abgebaut werden.
Dass Gottes Geist Einmütigkeit und >Einheit< unter den Menschen wirkt (vgl. Phil 1,27; Eph 4,3f;
Jud 19), ja dass der Geist alles Geschaffene >zusammenhält< (Weish 1,7), ist - mit verschiedenen Interessen verbunden - immer wieder betont worden. Weniger deutlich und energisch wird gesagt,
dass die >Einheit des Geistes< nicht nur Differenzen und Differenziertheit erträgt, sondern
dass sie die dem Recht, dem Erbarmen und der Gotteserkenntnis nicht widersprechenden
Differenzen erhält und pflegt.
Nach den prophetischen Verheißungen, deren Erfüllung Pfingsten verkündet wird, bewirkt der Geist
eine Einheit, die nicht nur Menschen verschiedenster Sprachen und Traditionen anspricht und einschließt. Es handelt sich um eine Einheit, in der das prophetische Zeugnis der Frauen nicht weniger
wichtig ist als das der Männer, das der Jungen nicht weniger bedeutend als das der Alten, das der sozial Benachteiligten nicht weniger relevant als das der Privilegierten. In der differenzierten, für Differenzen sensiblen Gemeinschaft, in der stetig die sich dem Recht, dem Erbarmen und der Gotteserkenntnis widersetzenden Differenzen abgebaut werden, ist der verheißene Geist Gottes wirksam.
6 ELIZONDO, Geistheilung und Befreiung: die Antwort der Befreiungstheologie, in: Concilium 32 (1996) 242-246.
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IV. Gottes Geist in der Frömmigkeit des Volkes
Literatur: O. FUCHS, Pneumatopraxie in der Frömmigkeit des Volkes, in: Una Sancta 68 (2013) 162-178;
OTTMAR FUCHS legt in seinem Beitrag dar, wie vielfältig sich der Geist Gottes in der Frömmigkeit
des Gottesvolkes auswirkt, und zwar durchaus mit erheblichen Auswirkungen auf das ganze >Menschenvolk<; deshalb "kann es keinen 'Abschied von der Volkskirche' geben, weil es der Kirche aufgetragen ist, sich für das ganze Volk nach innen wie nach außen im Sinne des Reiches Gotte einzusetzen, was zugleich bedeutet, die Menschen von ihren eigenen Erfahrungen her ernst zu nehmen
und sich darauf zu beziehen" (162).
Symbole der kirchlichen Religiosität, so Fuchs, begegnen mit intensivierender Wirkung in den Medien wie umgekehrt neuere ästhetische Wahrnehmungsformen auch in den Gottesdiensten anzutreffen
sind. Karl Rahner schon hatte in der Volksfrömmigkeit "einen eigenen theologischen Ort vermutet,
zwar nicht unambivalent, aber immer dem positiven Verdacht auszusetzen, dass sich darin eine authentische Verbindung von Symbol, christlichem Glauben und persönlicher Erfahrung zeigt" (164).
Und es könne "Zeiten geben, in denen die impliziten theologischen Inhalte der Volksfrömmigkeit den
expliziten theologischen Diskursen der Theologie inhaltlich voraus sind" (164).7
In besonders herausgehobener Weise zeigt sich das geistige Leben der Volksfrömmigkeit in der Heiligenverehrung. Nach Fuchs wurde hier gerettet, "was die offizielle Verkündigung von Seiten Gottes
dem Volk vorenthalten hat, nämlich angesichts des eigenen Leidens zu weinen und zu klagen, alles
sagen zu dürfen ohne Angst zu haben, als unbotmäßig weggeschickt zu werden" (164). Hier beansprucht die Volksfrömmigkeit, "was ihr in der Gottesbeziehung offiziell verweigert wurde: nämlich
dass Gott nahe ist, dass er als jemand angesprochen wird, der mit den Menschen mitgeht, sich mit
ihnen mitfreut und mitleidet" (165). Einer in dieser Weise kritischen Perspektive ist aber entgegenzuhalten, dass auch Jesus selbst in der Volksfrömmigkeit oft für die Menschen sehr nahe gewesen ist
und auch heute den Menschen nahe ist. Die Heiligenverehrung darf vor diesem Hintergrund nicht allein als eine Ersatzhandlung hinsichtlich einer nicht genügenden Nähe Gottes oder Jesu Christi interpretiert werden.
Nachvollziehbarer ist hingegen, dass O. Fuchs schreibt: "Die Volksfrömmigkeit hat die Heiligen nie
mit Gott verwechselt, aber sie hat sie als jene verehrt, in denen sich etwas Spezifisches vom Geist
Gottes widerspiegelt und dadurch annähernd erlebbar wird" (165). Und: Man könne "im Katholizismus von einer Auffächerung der geschichtlichen Wirksamkeit des einen Gottes in viele, auch
kulturell unterschiedliche Erfahrungsfiguren hinein reden, die zwar die Gnade Gottes durch ihre
Biographie und durch ihr Sein bei Gott spiegeln, aber ohne dabei die je eigene Subjektivität zu verlieren. Vielmehr konstituieren sie tatsächlich unterschiedliche Identitäten in der Begegnung mit einer
durch sie sehr pluralen Präsenz Gottes in unterschiedlichen Geschichten und dadurch in der Geschichte. Was also formal den Polytheismus auszeichnet, nämlich verschiedene Identitäten der
Transzendenz zu erfahren, wird hier in einer... höchst lebensdienlichen, übersetzungsfähigen
und pluralitätsfreudigen Weise als Repräsentanz des einen Gottes erfahren" (165).
7
Vgl. K. RAHNER, Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Volksreligion, in: DERS. u.a. (Hgg.),
Volksreligion - Religion des Volkes, Stuttgart 1979, 9-16.
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