Arbeit in der Industrie 4.0

Arbeit in der Industrie 4.0
„Besser statt billiger“ als zukunftsfähige
Gestaltungsperspektive
Welche Folgen hat Industrie 4.0 für die Arbeit? Wie kann „gute Arbeit“
unter den Bedingungen zunehmender Automation und
informationstechnischer Vernetzung gestaltet werden? Von der
Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, ob die Mobilisierung von
Innovations- und Produktivitätsreserven und damit die Sicherung von
Wettbewerbsvorsprüngen gelingen kann. Dafür braucht es
Kompasseinstellungen, die der Ansatz der IG Metall „Besser statt
billiger“ sowohl im Hinblick auf nachhaltige Produktivitätsfortschritte
als auch eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung zu geben
vermag.
Im Zentrum der Diskussion steht die Frage nach dem Wandel der
Arbeit in der Industrie 4.0. Die technischen Entwicklungspotenziale
der Smart Factory haben erhebliche Auswirkungen auf Arbeitsinhalte,
Arbeitsprozesse und Arbeitsumgebungen. Voraussetzung für die
erfolgreiche Realisierung des Zukunftsprojekts Industrie 4.0 ist die
Fähigkeit der Beschäftigten, die technischen Innovationsimpulse zu
absorbieren. Gefragt ist eine intelligente Arbeitsorganisation mit
partizipativen Entscheidungs- und Kooperationsprozessen, die somit
die Innnovationskompetenzen der Beschäftigten fördert. Der Ansatz
der IG Metall „Besser statt billiger“ liefert für diese soziotechnisch
inspirierte Gestaltungsperspektive guter Arbeit wichtige
Orientierungspunkte – mit positiven Effekten für die Sicherung von
Wettbewerbsfähigkeit, Standorten und Beschäftigung.
1. Einleitung
Das Projekt Industrie 4.0 zielt darauf ab, die Potenziale der
Produktionstechnologie mit denen der der Informations- und
Kommunikationstechnik in neuer Qualität zu verbinden. Medium
dieser Verknüpfung sind intelligente Systeme (Cyber-PhysicalSysteme) mit eingebetteter Software, die in Echtzeit Daten erfassen,
speichern und auswerten und sowohl mit der physikalischen Welt (der
Maschine) als auch mit der digitalen Welt (des Internet) interagieren
können.
Man muss kein Prophet sein: Sollten Cyber-Physical-Systeme
breitflächig in der industriellen Welt zum Einsatz kommen, sind in
einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren erhebliche qualitative
Veränderungen der Industriearbeit zu erwarten.
Zu den arbeitsrelevanten Auswirkungen liegen bislang keine
gesicherten empirischen Befunde oder Prognosen vor. Mit Blick auf
die hochautomatisierten Bereiche in der Halbleiter- und
Automobilproduktion lässt sich indes fundiert spekulieren, dass mit
einer verstärkten informationstechnischen Durchdringung und
sensorgestützten Vernetzung des Wertschöpfungsprozesses
umfassende Mensch-Maschine- und System-Interaktionen an
Bedeutung gewinnen werden: Multimedia-, Social-Media- und CloudTechnologien, Endgeräte aus der Bürowelt (iPads, Smart Phones,
Ethernet) und neuartige, adaptive Assistenzsysteme werden
zunehmend Verbreitung in den industriellen Arbeitssystemen finden.
Durch eine fortschreitende Integration interaktiver, virtueller
Arbeitsschritte und Inhalte verändern sich die Aufgabenzuschnitte. In
kurz- bis mittelfristiger Perspektive wird sich der Arbeitsprozess im
beständigen Wechsel virtueller und realer Werkbänke oder
Schreibtische vollziehen. In langfristiger Perspektive werden
Produktentwicklung und Produktion durchgängig virtuell gestaltet
sein.
2. Ambivalente Folgen für Tätigkeitsprofile,
Kompetenzen und Beschäftigung
Für die Mehrzahl der Beschäftigten in der Fertigung produzierender
Unternehmen ist zu vermuten, dass regulierende Tätigkeiten der
Steuerung und Programmierung sowie der Störungs- und
Fehlerbehebung weiter an Bedeutung gewinnen. Für Ingenieurinnen
und Ingenieure in den Entwicklungsabteilungen ist im Verlauf des
Zusammenwachsens von Produktions- und Informationstechnologie
mit steigenden Anforderungen besonders an die interdisziplinäre
Zusammenarbeit zu rechnen. Anders gesagt: Wenn der Softwareanteil
in klassischen mechanischen Produkten und Produktionsprozessen
steigt, wächst auch der Bedarf an fachübergreifendem Wissen und
Fähigkeiten, an Verständnis für die Arbeits- und Denkweisen
korrespondierender Disziplinen und Fakultäten.
Die Arbeit wird an alle Beschäftigten deutlich erhöhte Komplexitäts-,
Abstraktions- und Problemlösungsanforderungen stellen („Denken in
übergreifenden Prozessen“, „Komplexitätsreduzierung erlernen“).
Darüber hinaus wird den Beschäftigten ein sehr hohes Maß an
selbstgesteuertem Handeln, kommunikativen Kompetenzen und
Fähigkeiten zur Selbstorganisation abverlangt. Kurzum: Die
subjektiven Fähigkeiten und Potenziale der Beschäftigten werden
noch stärker gefordert sein. Das bietet Chancen auf qualitative
Anreicherung, interessante Arbeitszusammenhänge, zunehmende
Eigenverantwortung und Selbstentfaltung. Indes implizieren die
Anforderungen der neuen, virtuellen Arbeitswelt auch Gefahren für
Erhalt und Sicherung des Arbeitsvermögens. Je mehr sich der
Arbeitsalltag verdichtet und das technische Integrationsniveau in sich
ständig flexibel ändernden Netzwerken ansteigt, können
Arbeitsintensivierung, ein Verlust an Zeitsouveränität und eine
steigende Spannung zwischen Virtualität und eigener Erfahrungswelt
Raum ergreifen. Der Verlust an Handlungskompetenz, die Erfahrung
der Entfremdung von der eigenen Tätigkeit durch eine fortschreitende
Dematerialisierung und Virtualisierung von Geschäfts- und
Arbeitsvorgängen wären die Folgen. Nicht auszuschließen ist, dass
sich „alte“ und „neue“ Gefährdungen für das Arbeitsvermögen in
neuer Qualität – sowohl in der Bedeutungs- als auch der
Vernutzungsdimension – überlagern und Formen der
Selbstausbeutung befördern. Deshalb kann man die Industrie 4.0
nicht mit Arbeitsverbesserungen gleichsetzen. Die Herausforderung
besteht vielmehr darin, Lösungen zu finden, mit denen die
Beschäftigten dafür gewonnen werden können, Stärken und
Leistungen, Wissen und Kompetenzen in das Produktionssystem 4.0
einzubringen.
Last but not least stellt sich die Frage, welche quantitativen
Beschäftigungseffekte die fortschreitende IT-Durchdringung
insbesondere in der industriellen Fertigung nach sich zieht. Diese
Frage kann derzeit nicht beantwortet werden. Die Arbeitswissenschaft
hat sich mit diesem Thema noch nicht befasst, verlässliche Prognosen
liegen nicht vor, womit zugleich dringlicher Forschungsbedarf
signalisiert ist.
Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich der Abbau einfacher,
manueller Tätigkeiten fortsetzen wird. Deshalb ist die Entwicklung
von umfassenden Qualifizierungsmaßnahmen, die an der ganzen
Breite der Belegschaften ansetzen, d.h. auch An- und Ungelernte
einbeziehen. Alle Beschäftigten müssen eine Chance auf aktive
Teilhabe und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in der Industrie
4.0 haben, sonst droht die soziale Deklassierung ganzer
Beschäftigtengruppen und der Ausschluss von (nicht olympiareifen)
Teilen der Belegschaften. Das ist weder für die Beschäftigten, noch
mit Blick auf den gesellschaftlichen Anspruch der sozialen Integration
akzeptabel.
3. Nicht die Technik, sondern der Mensch
entscheidet
Ob und inwieweit die „dunklen Seiten“ der Industrie 4.0 den
Arbeitsalltag bestimmen werden, ist derzeit (noch) offen. Die Smart
Factory enthält ein Potenzial für eine neue Arbeitskultur, könnte Wege
zu einem intelligenten, an den Interessen der Beschäftigten
orientierten Verständnis „guter Arbeit“ eröffnen. Indes wird sich
dieses Potenzial nicht im Selbstlauf realisieren. Entscheidend dafür
sind neben Weiterbildung, Organisations- und Gestaltungsmodelle
von Arbeit, die ein hohes Maß an selbstverantwortlicher Autonomie
mit dezentralen Führungs- und Steuerungsformen kombinieren, die
„loslassen“ und den Beschäftigten erweiterte Entscheidungs- und
Beteiligungsspielräume sowie Möglichkeiten zur Belastungsregulation
zugestehen.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive geht es darum, ob Arbeit als
Störgröße oder als lebendiges Potenzial in der Industrie 4.0 gefasst
sein wird. Die Technik bietet Optionen in beide Richtungen. Die
Systemauslegung kann sowohl als restriktive, kontrollierende
Mikrosteuerung als auch als offenes Informationsfundament
konfiguriert werden, auf dessen Basis der Beschäftigte entscheidet.
Anders gesagt: Über die Qualität der Arbeit und der
Arbeitsbedingungen entscheiden nicht die Technik oder technische
Sachzwänge, sondern Wissenschaftlerinnen und Manager, die CyberPhysical- Systeme entwickeln und umsetzen. Woran es in diesem
Zusammenhang vielfach fehlt und zugleich Forschungsbedarf besteht:
eine sozio-technische Gestaltungsperspektive, in der
Arbeitsorganisation, Technik- und Softwarearchitekturen in enger
wechselseitiger Abstimmung, „aus einem Guss“ mit dem Fokus darauf
entwickelt werden, intelligente, kooperative, selbstorganisierte
Interaktionen zwischen den Beschäftigten und/oder den technischen
Operationssystemen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu
ermöglichen.
4. „Besser statt billiger“ als Chance und
Orientierungsmaßstab im industriellen Wandel
Dass solche arbeitsorientierten Gestaltungsansätze gegenwärtig in
der Industrie nur rudimentär verbreitet sind, verdeutlicht ein Blick auf
die arbeitssoziologischen Befunde zum Ist-Zustand der
Industriearbeit. Mit dem Ziel der Standardisierung und Optimierung
von Arbeitsvollzügen werden heute in vielen Unternehmen so
genannte Ganzheitliche Produktionssysteme (GPS) in den Fertigungen
und Büros der industriellen Kernsektoren eingeführt. Diese Systeme
sind vielfach sehr restriktiv im Aufgabenzuschnitt ausgelegt und allzu
häufig mit einem Verlust von Beteiligungsmöglichkeiten,
Handlungsspielräumen sowie Dequalifizierung verbunden. Ein
erstarkender Neo-Taylorismus muss aber keine zwangsläufige
Begleiterscheinung Ganzheitlicher Produktionssysteme sein. Dies
zeigen Beispiele insbesondere aus (hoch)automatisierten
Fertigungsabschnitten, in denen auch unter
Standardisierungsbedingungen kompetentes, auf Beteiligung
ausgerichtetes Arbeits- und Innovationshandeln möglich ist – gestützt
auf intelligente Organisations- und Qualifizierungskonzepte.
Damit ist die Entwicklungsrichtung für die Industrie 4.0 klar: Es ist
schwer vorstellbar, dass dieses auf intelligente
Informationsvernetzung ausgerichtete Zukunftsprojekt auf Basis eines
Taylorismus 4.0 reüssieren kann. Eine weitere Radikalisierung des
tayloristischen Gestaltungsansatzes kann nicht als aussichtsreicher
Weg gelten, um die Smart Factory im Einvernehmen mit den
Beschäftigten realisieren und damit neue Effizienzvorteile erschließen
zu können. Gerade weil die Industrie 4.0 ein hochkomplexes,
virtuelles System ist, braucht sie den Menschen als „Sensor“,
Entscheider und Steuerer. Und dafür braucht es faire Arbeits- und
Beschäftigungsbedingungen.
5. Gewerkschaftliche Innovationsstrategie
An dieser Stelle will die gewerkschaftliche Innovationsstrategie
„Besser statt billiger“ tragfähige Standards und Handlungskorridore
für eine „gute Arbeit“ und sichere Zukunft von Standorten und
Beschäftigung aufzeigen. Diese Strategie umfasst einerseits
arbeitspolitische Belange wie eine arbeitsorientierte
Organisationsgestaltung, umfassende Beteiligung, Mitbestimmung
und Qualifizierung. Anderseits ist sie mit globalen
Wettbewerbsanforderungen kompatibel. „Besser statt billiger“ zielt
auf Technologieführerschaft als Weichenstellung für die industrielle
Zukunft Deutschlands. Es geht also nicht nur um das „Wie“, sondern
auch um das „Was“ industrieller Aktivitäten, um die Entwicklung
neuer, ressourcenschonender Prozesse, Produkte und
Dienstleistungen, um die Förderung nachhaltiger Forschungs- und
Entwicklungsaktivitäten, also um Sicherung und Ausbau der
Innovationsfähigkeit von Betrieben und Branchen und damit
gesellschaftlicher Wohlfahrt.
6. Fazit
Technologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklung gehören
bei „Besserstrategien“ zusammen. An die Stelle einer rigorosen
Privilegierung der Förderung und Entwicklung von
Zukunftstechnologien tritt ein Verständnis von Innovation, das
verstärkt auf gesellschaftlichen Impulsen beruht und darauf abzielt,
bisher brachliegende, aktivierbare Innovationsressourcen der
Beschäftigten als wichtige Produktivitätsquelle zu erschließen. In
dieser Perspektive stellen gute Arbeit, technologische Innovation und
Mitbestimmung beim Projekt 4.0 keinen Widerspruch, sondern eine in
die Zukunft weisende Kompasseinstellung bei der Suche nach
technologisch effizienten und sozial ausgewogenen Lösungen dar.
Aktive Zusammenarbeit von Betriebsräten, Gewerkschaften und
Arbeitgebern sichert auch zukünftig die Pole-Position für Produkte
„Made in Germany“.
Constanze Kurz
Author
Constanze Kurz
Dr. Constanze Kurz, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, seit 2009
politische Sekretärin beim IG Metall Vorstand, Funktionsbereich
Betriebs- und Branchenpolitik, Ressort Branchenpolitik/Handwerk.
Zuvor war Frau Dr. Kurz als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e. V. sowie an der
Hochschule Darmstadt als Vertretung für die Professur
Techniksoziologie tätig.
Kontakt
[email protected]
www.igmetall.de