Magazin - VANESSA PÜNTENER

WISSEN
NEUE HEIMAT
in den Alpen
Ob Schottisches Hochlandrind, Islandpferde oder Kaschmirziegen:
Immer mehr NUTZTIERE AUS FERNEN LÄNDERN leben in den ­
Schweizer Bergen. Zum Wohl der Weiden und zur Freude der Bauern.
Stolz der Highlands: Das
Schottische ­Hochlandrind
gedeiht prächtig auf
­Tessiner Alpweiden.
Text Susanne Rothenbacher Fotos Vanessa Püntener
Schweizer Familie 35/2013
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Guido Leutenegger lässt
seine 700 S
­ chottischen
Hochlandrinder auf sechs
Tessiner Alpen weiden.
GUIDO LEUTENEGGER, 55, UMWELTSCHÜTZER UND FLEISCHPRODUZENT
Vieles war Zufall. 1990
gründete ich meine Firma
Natur Konkret. Die Idee
war, Naturschutzgebiete zu
pflegen. Deshalb schaffte ich auch
die ersten Schottischen Hochlandrinder an. Dass uns heute
die grösste Herde in der Schweiz
gehört, hat sich so ergeben. Den
Satz «Das geht nicht» gibts für
mich nicht. So kam unser
Kuh-Investment zustande.
Für 2500 Franken können sich
Kunden bei uns auch heute noch
STEPHAN WAGNER, 54,
GEOPHYSIKER UND KASCHMIRZIEGENZÜCHTER
Mein Grossvater hat den
Hof gekauft, 1927, als
Kapitalanlage. Der Betrieb
war lange verpachtet. 1994 zog ich
herauf, auf knapp 1000 Meter
über Meer. Zuerst wohnte ich bloss
hier. Dann entschied ich mich,
auch das Land zu bewirtschaften.
Sieben Hektaren. Davon kann
man heute eigentlich nicht leben.
Deshalb suchte ich eine Tierart,
die man intensiv nutzen, aber
extensiv halten kann: Das heisst,
dass es den Tieren gutgeht, auch
wenn mich tagsüber meine
IT-Firma in Anspruch nimmt. Ich
habe die Haltung von Yaks,
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Lamas, Alpakas, Kamelen
geprüft– die Kaschmirziegen waren
die Einzigen, die passten. Zwar
ähneln sich weltweit alle Kaschmirziegen – doch der Name bezeichnet
keine Rasse. Jede Ziege, deren
Unterwolle einen Feinheitsgrad von
weniger als 19 Mikron (millionstel
Meter) aufweist, gilt als Kaschmirziege. Zum Vergleich: Ein
Men­schenhaar misst 60 bis 100
Mikron. Seit 2009 lebt und arbeitet
auch meine Partnerin Andrea Etter
auf dem Hof. Wir stellen ein
Luxus­produkt her. Eine Kaschmirziege liefert im Jahr ungefähr
150 Gramm brauchbare Wolle.
eine Kuh sichern. Die Dividende
wird ihnen in Fleisch ausbezahlt
– von den Kälbern, die wir
metzgen. Wir halten auch
Wollschweine. Und seit diesem
Sommer züchten wir Rassehühner auf den Alpen. Es kann doch
nicht sein, dass es nur noch
Mast- und Legehennen gibt.
Hochlandrinder, Wollschweine,
Rassehühner – das passt. Ich
denke, ich werde es dabei
belassen.
www.natur-konkret.ch
Andrea Etter und
Stephan Wagner mit
ihren Ziegen.
Wir nutzen alles, was die Ziegen
hergeben: Milch, Fleisch, Wolle.
Und wir verarbeiten und verkaufen
die Produkte selber. Das ist mir
wichtig: So ernährt der Hof heute
eine Person. Zurzeit ist unsere
Herde rund 40 Köpfe stark. Um
schneller weiterzukommen, habe
ich mit anderen Züchtern den
Verein Alpine Cashmere
Association gegründet.
www.cashmere-garden.ch
Die feinste Wolle der Welt:
Die ­Kaschmirziegen liefern
pro Tier nur 150 Gramm
Wolle im Jahr.
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MIKA RAGUTH TSCHARNER, 33, BIO-BAUER
Meine Frau Ursina hat
mich mit ihrer Leidenschaft für Islandpferde
angesteckt. Ich bin ein Glückskind, wusste schon im Kindergarten, dass ich Bio-Bauer
werden möchte. Ich züchte
Angusrinder. Sie und die
Islandpferde passen bestens
zusammen. Beide sind robust
und genügsam. Vor sechs Jahren
begannen wir, nicht nur unsere
eigenen drei Islandpferde auf der
Alp zu übersömmern, sondern
auch Gastpferde aufzunehmen.
Manche von ihnen tun mir
richtig leid, wenn sie ankommen,
zerkratzt, wie sie sind: Islandpferde reagieren empfindlich auf
Kriebelmücken. Die Ekzeme, die
sie von deren Stichen bekommen,
müssen höllisch jucken. Auf
knapp 2000 Meter über Meer
haben sie vor den Biestern Ruhe.
Zurzeit sind 16 Islandpferde auf
der Alp. Einige werden noch
kommen, andere gehen wieder
runter. Diese Wechsel bringen
jeweils etwas Unruhe in die
Herde – aber die Pferde haben
genug Platz, um einander
auszuweichen. Unsere Alp ist
eine Genossenschaft, 300
Hektaren gross. Klar, steht der
eine oder andere Bauer den
Pferden skeptisch gegenüber.
Bevor Ursina
und ich
geheiratet
haben, war ich
in Kanada: Die offene Denkweise, die ich traf, fehlt mir hier
manchmal. Wir gehen jeden Tag
bei den Pferden vorbei. Oft
bleiben wir viel länger, als wir
wollten – einfach weil es so
spannend ist, sie zu beobachten.
www.mikasvieh.ch
Viele Islandpferde, die den Sommer bei Mika Raguth
Tscharner verbringen, werden den Rest des Jahres
als Therapiepferde für Kinder und Behinderte eingesetzt.
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Herr über 40 Kaschmirziegen: Stephan Wagner führt seine Herde auf eine Toggenburger Weide.
D
ie zottligen Rinder sehen aus, als
ob sie schon seit Jahrhunderten
hier lebten – hier, in der wild­
kargen Berglandschaft des Tessins. Dabei
stammen sie ursprünglich aus Schottland.
Dennoch erobern sie langsam, aber sicher
den Südzipfel der Schweiz. Urig wirken
auch die wuschligen Islandpferde, die im
Bündnerland die Bergluft geniessen. Im
Toggenburg wiederum meckern Ziegen,
die nur von weitem den weissen Appenzellerziegen ähneln: Kaschmirziegen werden vor allem in China gezüchtet. Kurz:
Statt währschafter Milchkühe sind in unseren Bergen immer mehr Tiere anzutreffen,
die ihre Wurzeln in ganz anderen Gefilden
der Welt als in der Schweiz haben.
Die heimische Landwirtschaft ist einem
grossen Wandel unterworfen. «Deshalb ist
es logisch, dass sich auch das Bild auf den
Alpen verändert», stellt Giorgio Hösli, 49,
fest. Der Herausgeber des «Handbuchs
Alp» und Betreiber der Internetplattform
für Älpler und Älplerinnen gilt als einer
der profundesten Kenner des Alpwesens.
Aber vielerorts lohnt die traditionelle Bewirtschaftung nicht mehr. Das ist die Stunde der Exoten. Sie helfen, Bergwiesen und
Alpen vor dem Verganden zu bewahren,
und eröffnen neue Einkommensquellen.
Etwas über 7000 Sömmerungsbetriebe
gibt es heute noch in der Schweiz. Und obwohl die Zahl der Nutztiere, die von ihren
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Die Exoten bewahren Alpen vor dem
Verganden und
eröffnen neue
Einkommensquellen.
Besitzern «z Alp» geschickt werden, seit
Jahren abnimmt, verbringen immer noch
erstaunlich viele den Sommer in den Bergen. 2011 zügelten 261 070 Rinder und
Kühe, 25 264 Schafe und 6104 Ziegen in
höhere Gefilde. Vor allem Milchkühe werden weniger gealpt – weil viele Bauern
wegen des sinkenden Milchpreises auf
Fleischproduktion umstellten.
Pferde in der Sommerfrische
Auch Bio-Bauer Mika Raguth Tscharner,
33, aus dem bündnerischen Scheid hat
schon längst die Milchkühe aus seinem
Stall verbannt und züchtet amerikanische
Angusrinder. Seine 150 Tiere wandern im
Sommer hoch über dem Dorf Seite an Seite
mit heimischen Kühen über die Matten.
Etwas abseits, auf einer grossen Waldlichtung, dösen 16 Islandpferde in der Nachmittagssonne. Mika Raguth Tscharner bietet Besitzern von Islandpferden an, ihre
Tiere bei ihm in die Sommerfrische zu geben. «Im Flachland werden die Pferde oft
von Ekzemen geplagt», erklärt der Bauer
und streicht einem seiner Gäste übers dunkelbraun glänzende Fell. «Hier oben auf
1900 Meter über Meer haben sie viel weniger Beschwerden.» Für die sechsköpfige
Familie liefern die robusten Kleinpferde
einen willkommenen Zustupf zur Haushaltskasse – und fressen das Gras von Bergwiesen, die sonst verganden würden: «Es
wäre viel zu aufwendig, eine solche Waldlichtung zu mähen», sagt Raguth Tscharner.
«Ohne die Pferde würde sie zuwachsen.»
«Viele Menschen denken, dass Alpen
hoch über der Waldgrenze liegen», sagt
Giorgio Hösli. «Doch Alpen haben sehr verschiedene Gesichter. Viele finden sich schon
ab 1200 Metern.» Vor Generationen wurden diese Matten dem Wald abgetrotzt –
nun kehrt dieser an vielen Orten zurück.
«Heute arbeiten viel weniger Leute als früher auf den Alpen; die Bergbauern haben
kaum mehr Zeit, die Weiden zu pflegen.»
Am weitesten fortgeschritten ist das
Verbuschen ganzer Alpen im Tessin. «Das
sieht man auf Luftbildern gut», sagt Guido
Leutenegger, 55. Der umtriebige ehemalige Lehrer, Hobby-Ornithologe und Politiker aus Kreuzlingen kaufte 1996 seine ersten Schottischen Hochlandrinder – um
mit ihrer Hilfe Naturschutzgebiete zu pflegen. Seine Zottelherde wuchs rasch. Also
klopfte Leutenegger bei über zwei Dutzend Tessiner Gemeinden an und fragte, ➳
Freundschaft:
Norina Raguth
Tscharner, 9, mit
einem Islandpferd.
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Seit vielen Jahren im Tessin zu Hause: Das Schottische Hochlandrind.
ob die verlassenen Alpen zu pachten seien.
«Die meisten hatten Interesse.»
Heute besitzt seine Firma Natur Konkret
über 700 schottische Hochlandrinder und
gibt 15 Menschen Arbeit. Die kleinen, genügsamen Rinder bewahren sechs Alpen
vor dem Verwalden. Sie helfen Trockenwiesen zu erhalten – Lebensräume für seltene
Vogelarten wie Birkhuhn oder Neuntöter.
Und sie liefern schmackhaftes Fleisch.
RICHTIG EXOTISCH
Noch ungewohnter als Schottische
Hochlandrinder oder Islandpferde ist
bei uns der Anblick von Lamas und Al­
pakas. Vor 20 Jahren brachten Pioniere
sie in die Schweiz. Heute leben hier­
zulande 3110 Alpakas und 3323 Lamas.
Einer der ersten Züchter ist Arnold
­Luginbühl aus Aeschi BE. Die meisten
seiner über 300 Tiere schickt er im
Sommer auf die Alp: «Sie verursachen
weniger Schäden als Schafe.» Von der
Wolle, sagt Luginbühl, könne er nicht
leben: Er verkauft seine Tiere an Lieb­
haber in ganz Europa. www.lama1.ch
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Die kleinen und genügsamen
Rinder helfen Lebensräume
für seltene Vogelarten wie Birkhuhn
und Neuntöter zu erhalten.
Guido Leuteneggers Erfolgsprinzip –
grosse Flächen mit vielen Tieren extensiv
bewirtschaften – taugt kaum für die Mehrheit der Bergbauern. «Die Strukturen sind
oft sehr kleinräumig», sagt Ivo Torelli von
der Schweizer Berghilfe, einer gemeinnützigen Stiftung, der sich für ein lebendiges
Berggebiet einsetzt.
Ein harter Kampf
In den Bergen einen Bauernhof zu führen,
war schon vor 100 Jahren ein harter
Kampf. «Seit 1874 ein Erbrecht eingeführt
wurde, das alle Erben gleichstellt, musste
das Land aufgeteilt werden – die Höfe
wurden kleiner», blickt Ivo Torelli zurück.
Viele Bergbauernfamilien überlebten nur,
weil alle mit anpackten – und auch die
Kinder im Sommer z Alp gingen.
Ein Bergbauernhof mit weniger als
zehn Hektaren Land, sagt Ivo Torelli, könne
heute kaum mehr nur von der Landwirtschaft leben. Der Hof von Stephan Wagner
ist sieben Hektaren gross. Seit Ende der
Neunzigerjahre hält der Geophysiker deshalb auf dem kleinen Anwesen Kaschmirziegen. «Ihre Wolle ist die feinste der Welt»,
sagt Stephan Wagner. «Wir sind heute einer
der ganz wenigen Betriebe weltweit, die
Kaschmirwolle in Bio-Qualität anbieten.»
Doch auch wenn immer mehr fremde
Tiere in den Bergen anzutreffen sind – die
Milchkühe werden nicht von den Alpen
verschwinden. Im Gegenteil. «Viele Bergbauern entdecken wieder die Vorteile des
einheimischen, originalen Braunviehs»,
sagt Giorgio Hösli. Diese urschweizerischen Kühe kommen in stotzigem Gelände zurecht und liefern anständige Milchmengen. Denn, so Ivo Torelli: «Ein guter
Alpkäse ist immer noch eines der exklusivsten Produkte der Berglandwirtschaft.» ●