Agile Softwareentwicklung im Fokus Die Ziege und das Agile Manifesto 2.0 Thomas van Aken Seite 3 Der systemische Ansatz Thomas Albicker Seite 7 Juliane Kluge & Vincent Tietz Seite 10 Ein starkes ICH für ein starkes WIR Artgerechte Menschenhaltung Gabriele Kottlorz Seite 13 Dr. Ralf Klühe Seite 16 Agil, aber richtig! Deshalb Agil! Klaus Bucka-Lassen Seite 19 Ausgabe 15 sybit-agile.de Agile ! and beyond Grundsolide und knallhart recherchiert: hier ist die Sybit Agile, begleitend zur Agile Bodensee Konferenz 2015. Ganz dem agilen Gedankengut verhaftet, haben wir der diesjährigen #abkon natürlich auch wieder eine Vision, ein Motto mitgegeben. Mit dem Konferenzthema „Agile and beyond!“ schauen wir dieses Jahr schonungslos über den agilen Tellerrand. Zuerst lassen wir es uns jedoch nicht nehmen, einen Pflock für die ewig Skeptischen einzuhauen. Auch wenn für Sie die Routenführung für eine Fahrt von Birmensdorf nach Männedorf nicht lebenswichtig ist, lesen Sie den Artikel von Klaus Bucka-Lassen! Auch scheinbar einfache Dinge können sich auswachsen und es ist gut, darauf eine Antwort zu haben. Mich schreckt das Adjektiv „systemisch“ immer etwas ab – da wird es komplex und ich verliere leicht den Faden. Nicht so beim Artikel von Thomas Albicker, er begründet darin die Praktiken, die wir bei der Durchführung agiler Projekte kennen und schätzen gelernt haben. Aber wir wollten nicht nur in den Niederungen der Projektrealität verweilen, das „beyond“ beschäftigt uns auch. Hier konnten wir gleich zwei Autorinnen gewinnen, die uns zwischenmenschliche Aspekte näher bringen. Die Befähigung des Teams ist in der agilen Softwareentwicklung ein zentraler Punkt. Doch wie bekommen wir die Ansprüche des Einzelnen und gleichzeitig die Forderung nach einem gut funktionierenden, eigenverantwortlichen Team unter einen Hut? Juliane Kluge und Vincent Tietz liefern in ihrem Artikel „Ein starkes ICH für ein starkes WIR – Soft-Skills im Scrum-Team“ wichtige Gedanken dazu. 2 sybit agile Ausgabe 15 Und auch fürs Management (eine unterrepräsentierte Spezies im agilen Kontext?) gibt es was auf die Augen: Gabriele Kottlorz zeigt uns ihren Weg zur „Artgerechten Menschenhaltung“ auf – es geht um intrinsische und/oder maximalmotivierte Mitarbeiter, die eimerweise die Wertschöpfungskette anreichern – lesen! An einem ganz anderen Ende (oder eher am Anfang) zieht Dr. Ralf Klühe. Er ist Rechtsanwalt und beschäftigt sich mit der Problematik „Wie sich agile Projekte vertraglich abbilden und Schieflagen vermeiden lassen“. Wie hält man die Flexibilität agiler Projekte vertraglich fest, wie sieht die Vergütung aus, wie verhält man sich bei Eskalationen? Dr. Klühe liefert wichtige Eckpunkte eines agilen Vertrags. Last but noch least zeigt uns Thomas van Aken in seinem Artikel „Die Ziege und das Agile Manifesto 2.0“ auf, wie der richtige Umgang mit Ziegen das „Next Bench Syndrome“ lindern kann. Die Devise: Ohne Kunden-, Nutzer- und Marktorientierung hilft der schönste agile Softwareentwicklungsprozess nix. Viel Spaß beim Lesen und vielleicht sehen wir uns am 1.10.2015 auf der 4. Agile Bodensee Konferenz in Konstanz – ich freue mich drauf. Johannes Hartmannsgruber Die Ziege Thomas van Aken Foto: pixabay.com, CC0 und das Agile Manifesto 2.0 Das Motto der diesjährigen Agile Bodensee Konferenz dann so an wie post Agile zu sein, wie manche von sich lautet „Agile and beyond“. Bewusst wollen wir mit die- behaupten? Umgekehrt hat man manchmal den Ein- sem Motto den Blick über den agilen Tellerrand wagen. druck, für Agilisten darf es ausschließlich agile Metho- Doch relativ schnell stellen sich beim Lesen dieses Mot- den geben, denn drumherum ist nur finstere, veraltete tos einige Fragen. Wenn zum Beispiel ein Wesenszug und unproduktive Ödnis. Doch wie kann das Agile agil des Agilen ist, sich ständig zu hinterfragen und wei- sein, wenn es sich nicht auf der Meta-Ebene weiterent- terzuentwickeln (inspect and adapt), kann man dann wickelt? Sind wir Agilen nicht dazu verpflichtet, konti- überhaupt beyond Agile sein? Wenn doch, fühlt sich das nuierlich über den Tellerrand zu schauen? sybit agile Ausgabe 15 3 Die Bedeutung des Wortes „Agile“ 5. die konkreten Aufgabenstellungen oft nicht ausreichend Bevor man sich all diesen Fragen nähert, ist zunächst einmal hinterfragt. Das heißt, bei der Schaffung von Lösungen zu klären, was Agile überhaupt ist. Laut Dictionary.com [1] gibt ist häufig weder der Bedarf beim Anwender noch die es für das englische Adjektiv „agile“ drei Grundbedeutungen: damit verbundene Positionierung der Lösung am Markt ausreichend geklärt. Und noch viel schlimmer wird es, 1. Flink und gut koordiniert in der Bewegung. wenn 2. Aktiv, lebendig. 3. Gekennzeichnet durch die Eigenschaft, schnell zu denken. 6. beide Aspekte das Software-Engineering-Team überhaupt nicht interessiert. In unserem Kontext steckt hinter dem Wort „Agile“ ursprünglich ausschließlich die „agile Softwareentwicklung“, welche Zusammengefasst kann man sagen, dass Software- eine Software-Engineering-Philosophie ist und aus Werten ingenieure stark im technischen Lösungsraum sind, die agi- (dem agilen Manifest), den zugehörigen Prinzipien sowie len von ihnen ganz besonders. Doch der Problemraum, in dem konkreten agilen Methoden besteht. Auf der Ebene der versucht wird, die richtigen Fragen und Annahmen über die Methoden gibt es z.B. mit Scrum oder Kanban diverse Fra- Anwender und deren Bedürfnisse sowie den Markt zu stel- meworks, die ein bestimmtes Methoden-Set und die damit len, wird zu selten strukturiert angegangen (siehe Abbildung verbundenen Rollen und Prozesse beschreiben . 1). Im Agilen ist dies oft sogar verstärkt, versucht man doch [2] die Phase bis zum Entwicklungsstart so kurz und schlank wie Der „Engineering-Tunnelblick“ möglich zu halten. Die große Stärke des agilen Software-Engineering-Ansatzes ist auch gleichzeitig seine größte Schwäche: Der Fokus liegt The New New Product Development Game auf der technischen Erstellung und der zeitnahen Lieferung, Dabei waren Hirotaka Takeuichi und Ikujiro Nonaka zwei der dem „Machen“, der jeweiligen Software. Die gestiegene Zahl geistigen Väter des Agilen bereits 1986 vom Grundverständ- der Projekte, die wirklich am Ende liefern, gibt dem Agilen nis her aus meiner Sicht weiter: In ihrem seinerzeit bahnbre- daher per se Recht. Nun, vielleicht nicht immer. chenden Artikel „The New New Product Development Game“ Denn der Engineering-Ansatz fokussiert das Finden hoch- [3] qualitativer Antworten auf konkrete Aufgabenstellungen – für Scrum. In dem von ihnen postulierten ganzheitlichen mit drei gravierenden Problemen: Ansatz gehören auch Vertriebler, Marktexperten und Desig- 4. Qualität wird oft als technische Qualität verstanden ner zum crossfunktionalen Team. Darüber hinaus erwähnen und nicht als Qualität der Nutzungserfahrung des Anwenders. Darüber hinaus werden Product Idea Empathise liefern sie nicht nur mit ihrer Rugby-Metapher den Namen sie Fokusgruppen-Interviews und quantitativ Marktanalysen als Instrumente der Produktentwicklung und unterstreichen damit die Wichtigkeit der Marktorientierung solcher Define Problem Space Ideate Prototype Test Delivery MVP Solution Space Abbildung 1: Im „Doppeldiamant“ des Design-Thinking gibt es den Problemraum und den Lösungsraum. Im ersten Raum geht es nur um die Sorgen und Nöte, sprich den Bedarf der Anwender und des Marktes. Erst im Lösungsraum geht es um konkrete Anforderungen und User Experience Design sowie deren Verprobung. In beiden Räumen versucht man zunächst, eine großer Vielfalt an Standpunkten zu berücksichtigen (divergent), um sie im zweiten Schritt auf die wesentlichen Aspekte zu verdichten (convergent) [6]. 4 sybit agile Ausgabe 15 Teams. Als Beispiel führen sie die Firma Hewlett-Packard nicht nur für den Einzelnen ist sie unerlässlich. Eine gute an, die bereits damals die Transition „from a company run Team-Vision, die Sinn stiftet und inspiriert, ist die Basis für by engineers for engineers to one with stronger marketing den Zusammenhalt im Team. Wichtig ist, dass eine solche focus“ anstrebte. Vision eine Herausforderung für alle darstellt und Ehrgeiz All dies postulieren Takeuchi und Nonaka um das soge- weckt. Für mich absolut schlüssig, diesen Wert ganz nach nannte „Next Bench Syndrome“ zu bekämpfen – ein Produkt- vorne zu stellen. Design-Ansatz, bei dem der Büronachbar gefragt wird, wel- Disziplin und Agile sind zwei Begriffe, die von Außenste- che Eigenschaften er an dem neuen Produkt denn gerne henden gerne ohne Zusammenhang gesehen werden. Der sehen möge. Ihnen kommt das bekannt vor? 30 Jahre ist die- geneigte und mit agilen Praktiken versierte Leser lächelt an ser Artikel nun fast alt und immer noch top aktuell. dieser Stelle wissend. Denn selbstorganisierte Teams, die Die Ziege richtig kraulen den Regeln folgen, die sie sich selbst auferlegt haben, arbeiten definitiv effizienter. Für mich ist es eine klare praktische Nun gibt es mittlerweile Ansätze wie das Lean Startup, die Erfahrung, dass agiles Arbeiten entgegen der landläufigen das Lernen über unsere Kunden und über unseren Markt wie- Meinung den Beteiligten ein hohes Maß an Selbstdisziplin der in den Fokus stellen. Kent Beck, einer der Mitunterzeich- abverlangt und dies auch dem Endergebnis gut tut. ner des Agile Manifesto, hat das anlässlich eines Vortrags auf der Startup Lessons Learned Conference 2010 mit dem Validated Learning Kraulen seiner Ziegen verglichen . Er hat festgestellt, dass Laufende Software einer vollständigen Projektdokumen- es bei ihnen spezielle Punkte gibt, die sie besonders gerne tation voranzustellen war 2001 ein großer und wichtiger gekrault bekommen. Er nennt diese Punkte „itchy spots“. Schritt. Doch sie ist niemals ein Selbstzweck! Eine Ziege zu Der Erfolg des Kraulens liegt also nach wie vor auch in einer kraulen, die gerade weder in der Stimmung ist, noch einen guten Kraultechnik (Software Engineering), aber vor allem „itchy spot“ hat, ist einfach „pointless“. So eingängig das daran, die richtigen Stellen zu finden. Unsere Herausforde- klingt, so oft fangen wir Softwareentwickler schon an zu rung als Software-Produzenten ist es also, diese itchy spots kraulen, bevor sich überhaupt irgendjemand Gedanken über unserer Kunden zu entdecken. einen möglichen Bedarf gemacht hat. Es gilt, unsere Annah- [4] Das Agile Manifesto 2.0 men über Bedürfnisse und gewünschte Nutzererfahrungen so schnell und so günstig wie möglich zu validieren (das Vor dem Hintergrund seiner Ziegen und des Lean Start-up heißt zu messen), um daraus zu lernen. Und das bedeutet hat Kent Beck eine Erweiterung des Agile Manifesto oft, dass wir dies ohne ein Stück Software tun können, nein vorgeschlagen: in vielen Fällen sogar sollten. So können wir den Vorteil von Menschen gegenüber Ziegen knallhart ausnutzen und Team vision and discipline over individuals and inter- mit ihnen sprechen und z.B. Nutzererfahrungen mit bereits actions (or processes and tools) bestehenden Angeboten abfragen. Validated Learning zielt Validated learning over working software (or compre- also auf die Frage ab, wie ich möglichst sicherstelle, dass ich hensive documentation) mit meinem Vorhaben echte Mehrwerte generiere. Customer discovery over customer collaboration (or experiment contract negotiation) Initiating change over responding to change (or following a plan) Aus seiner Sicht war das Agile Manifesto im Jahr 2001 ein großer Schritt nach vorne, doch es gilt, diese Wertepaare für build measure Lean Startups zu erweitern. Aber passt die Erweiterung nicht auch generell für andere agile Organisationen? Ich denke schon, daher nenne ich es auch völlig vermessen das „Agile Manifesto 2.0“. Gehen wir die Paare im Einzelnen durch: Team vision and discipline Die Team-Vision ist die Motivation der Team-Mitglieder, für learn ein bestehendes Vorhaben morgens aufzustehen. Doch Abbildung 2: „build-measure-learn“ – Der Lean Startup-Prozess sybit agile Ausgabe 15 5 Customer discovery Fazit Hier kommt eine Neuigkeit: Startups haben anfangs keine Sicher ist für mich, dass der Blick der reinen agilen Soft- Kunden, sie müssen erst welche finden. Klingt einfach, ist wareentwicklung zu eng gefasst ist. Die Kunden-, Nut- es aber nicht. Für sie ist es unerlässlich zu verstehen, ob es zer- und Marktsicht muss stärker in den Werten, Prinzipien, da draußen Menschen mit Bedürfnissen gibt, die sie zu ihren Methoden und Prozessen verankert werden. Ansätze wie Kunden machen können. Übertragen auf andere Organisatio- Lean Startup sind daher aus meiner Sicht wichtige Weiter- nen heißt dies, dass eine enge Zusammenarbeit mit Kunden entwicklungen. Und ja, sie sind „beyond Agile“. In dem Sinne, zwar ein wichtiger Faktor ist, es aber darüber hinausgehen dass sie zwar über die agile Softwareentwicklung hinausge- muss: Wir sollten unsere Kunden (im B2B-Umfeld auch die hen, sie aber nicht hinter sich lassen. Agile Entwicklung wird Kunden unserer Kunden) und ihre Bedürfnisse wirklich ver- immer ein Kernbestandteil bleiben. Denn am Ende muss es stehen und sie aktiv erkunden. Oftmals kennen sie diese immer noch einen geben, der die Ziege ordentlich krault. selber nicht. Und manchmal braucht es hierzu gar nicht den Build-Measure-Learn-Zyklus des Lean Startup (siehe Abbildung 2), manchmal genügt einfach der Dreiklang Assumpti- [ 1 ] http://dictionary.reference.com/browse/agile on-Ask-Learn (User Interviews) oder Assumption-Read-Learn [ 2 ] Im Wikipedia-Artikel werden diese Frameworks einfach nur „agile Prozesse“ genannt. Trickkiste [5]. Grundsätzlich gilt an dieser Stelle im übertrage- [ 3 ] https://hbr.org/1986/01/he-new-new-product-development-game nen Sinne der Leitsatz „go past your next bench colleague [ 4 ] Vortrag auf der Startup Lessons Learned Conference 2010: https://www.youtube.com/watch?v=d4qldY0g_dI [ 5 ] Siehe http://uxmastery.com/resources/tools/ [ 6 ] Siehe http://www.designcouncil.org.uk/news-opinion/ design-process-what-double-diamond (Markt- und Zielgruppenanalysen) aus der User Experience and get out of the building!”. Denn nur dort trifft man die Leute, die die wirklich relevanten Informationen über Bedarf und Mehrwert Ihres Vorhabens bereithalten. Initiating Change Auch hier muss man den Zeitpunkt des Agile Manifesto mitbedenken. In 2001 war es anscheinend immer noch bahnbrechend zu sagen, dass „plan the work, work the plan“ überholt ist. Die Bereitschaft, Änderungen auf dem Weg mit aufzunehmen ist ja auch ein hoher Wert an sich und auch heute noch eine Herausforderung für viele Organisationen. Doch Agile und Lean Startup bringen beide mit sich, den Wandel bewusst zu provozieren. Denn wie doof sind wir denn, wenn wir das, was wir auf dem Weg lernen, nicht aktiv in den Plan mit aufnehmen? Thomas van Aken ist seit mehr als 15 Jahren in der Softwareentwicklung unterwegs. Dabei hat er unter anderem als Entwickler, Produkt-, Projektund Programm-Manager die verschiedensten Aufgabenfelder bearbeitet. Seit 2008 wendet Thomas agile Methoden an – von Anfang an auch in Zusammenarbeit mit Designern und Konzeptern. Seit 2012 begleitet er als Agile Coach bei der Sybit GmbH Teams in Kundenprojekten und gibt Schulungen zu den Themen Scrum, Kanban, agiles Anforderungsmanagement und Lean UX. 6 sybit agile Ausgabe 15 Foto: pixabay.com, CC0 Der systemische Ansatz Thomas Albicker und wie wir damit (IT) Projekte erfolgreicher machen Zugegeben – es ist ein wenig unkonventionell auf einer Der erste Schiedsrichter sagt: IT-dominierten agilen Konferenz das Wort „systemisch” „Wenn ein Spieler ein Foul macht, dann pfeife ich!“ auf die Agenda zu setzten. Systemisch im Kontext eines IT-Schwerpunkts hört sich initial wahrscheinlich etwas Der zweite Schiedsrichter meint: fremd an. „Wenn ich ein Foul sehe, dann pfeife ich!“ Was war denn Ihre erste Assoziation mit dem Wort „sys- Der dritte Schiedsrichter entgegnet: temisch“? Welche Erfahrungen haben sie damit, welche „Bei mir ist es erst dann ein Foul, wenn ich pfeife!“ Theorien kennen Sie bereits? Was haben Systeme für eine Bedeutung in Ihrem Alltag, sei es im privaten oder Für den Begriff des „systemischen Projektmanage- im beruflichen Kontext? Welche Bilder haben Ihre neu- ments“ kann ich Ihnen leider keine DIN-zertifizierte ronalen Netze in Ihrem Gehirn Ihnen geliefert? Definition liefern – er wird, und das ist richtig so – von jedem Benutzer sehr individuell interpretiert. Denn Bevor dieser Text den Zusammenhang zwischen Sys- eine der wichtigsten systemischen Kernaussagen lau- temtheorie und Projekten näher aufzeigt, lade ich Sie tet: Es gibt keine objektive – d.h. vom Beobachter unab- ein, folgenden Dialog zwischen drei Schiedsrichtern zu hängige – Wirklichkeit. beizuwohnen [1] . Wer von den dreien hat recht? sybit agile Ausgabe 15 7 Wahrscheinlich klingt dies in unserer „Input/Output“ (I/O) Ursache-Wirkungs-Beziehungen Als Systeme gelten in der getriebenen Denklogik, – welche bei gleichem Input immer steuerbar. Wir stehen ständig in Theorie „abgegrenzte, den gleichen Output „annimmt“ – erstmal seltsam. Um dies Kontakt mit anderen „Systemen“; funktionale Einheiten, zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der Herkunft sei dies in unserer eigenen Firma, die aus Elementen dieses konstruktivistischen Gedankens befassen. Bekannte beim Kunden, mit unserem Lie- bestehen, die Vertreter dieser Theorie waren Paul Watzlawick, Jean Piaget feranten oder zu Hause bei der miteinander in und Niklas Luhmann (Soziologie) bzw. Humberto Maturana Familie. Der Nicht-Kausalität die- Wechselwirkungen sind“ und Francisco Varela im Bereich der Neurobiologie und Kog- ser fundamentalen, gegenseiti- nitionswissenschaften. Ihre Erkenntnisse lassen sich kurz gen Wechselbeziehung schenkt Übertragen auf unsere wie folgt zusammenfassen: Die Perspektive und das Beob- der systemische Blickwinkel ein Projektrealität können achtungsraster einer Person bestimmen dessen Wahrneh- besonderes Augenmerk. wir Firmen, Abteilungen, Projektteams …. – und mung der Wirklichkeit. Jeder von uns konstruiert fortlaufend aktiv seine eigene individuelle Realität (Humberto Maturana, In einer stark vernetzten Welt damit schlussendlich 2002). des 21. Jahrhunderts kommen wir jeden einzelne Menschen Dieses sich ständig neu organisierende Raster der Bewer- daher nicht mehr umhin, Projekte, – als soziales System tung und Wahrnehmung ist das Ergebnis unserer Prägung mit denen wir komplizierte und betrachten. bedingt durch: Sozialisation, Freunde, Familie, Bekannte, komplexe Probleme lösen wollen, Arbeitskollegen und allgemeine Lebenserfahrungen. Dar- „systemisch“ zu betrachten. aus haben sich in unseren neuronalen Netzen des Gehirns lohnt sich daher, einen kurzen bestimme Haltungen, Glaubenssätze und Grundannahmen Blick auf einige wenige zentrale Kernaussagen zu werfen, festgesetzt, die schlussendlich unsere Gedanken, unsere um damit ihre (agile) Projektmanagement-Philosophie wei- Wahrnehmung und damit unser Handeln massiv beeinflus- ter anreichern zu können: Es sen und für einen „Außenstehenden“ verschlossen sind. ½½ Die Systemtheorie, auf welcher u.a. die ersten agilen Sche- Systeme überleben nur dadurch, dass sie sich von der Umwelt abgrenzen mata aus den 50er Jahren basieren, stellt daher unser tra- Schaffen Sie in Ihren Projekten eine „Projektidentität“. ditionell geprägtes, kausal-mechanistisches „I/O-Weltbild“ Die Mission, Ziele müssen für jeden „Sinn“ ergeben radikal in Frage. Systemtheoretisch gesehen sind wir auf- – dies ist mehr als die bloße Postulierung von grund der oben beschriebenen, komplexen Vergangen- Mission und Zielen. Lassen sie eine konstruktive heitsabhängigkeit der eigenen individuellen Realität analy- Auseinandersetzung über Sinn / (Un)sinn des Projekts tisch unbestimmbar und damit nicht im Sinne geradliniger zu, um den Blick für das „große“ Ganze zu ermöglichen. Systemisches Weltbild [2] Mechanistisches Weltbild Systemisches Weltbild ½½ Objektivität, eine Wahrheit, unveränderliche Gesetze ½½ Wirklichkeitskonstruktion, viele «Wahrheiten», Thesen ½½ richtig – falsch, schuldig – unschuldig ½½ Kontextabhängigkeit, Nützlichkeit, Anschlussfähigkeit ½½ (Fremd-)Steuerung ½½ Selbststeuerung und –organisation ½½ lineare Kausalketten ½½ vielfältige Wechselwirkungen, Feedbackschleifen ½½ messbarer, fixer Unterschied ½½ sich unterscheiden, verändern ½½ linearer Fortschritt, ändern ½½ Entwicklung, ändern und bewahren ½½ formale Logik, Widerspruchsfreiheit, Ausschluss ½½ Integration von Widersprüchen, Einbeziehung ½½ harte Fakten, rationale Beziehungen ½½ Integration von harten und weichen Faktoren ½½ Rollen: Macher, Führende und Geführte, Manipulation ½½ Rollen: Impulsgeber, Gärtner ½½ Methoden: Instruktion, Anordnung, Befehl, Lernen durch ½½ Befähiger, Entwicklungshelfer, Coach ½½ Methoden: Zuhören, Fragen, Dialog, Diskussion, Reflexion, Versuch und Irrtum Lernen des Lernens Schaffen sie (kleine) Artefakte, welche das Projektteam nach „außen“ abgrenzen und ihnen einen eigenen „Spirit“ verleihen. Dies beinhalte auch, dass jede Form der „Ausgrenzung“ von Zugehörigen nicht toleriert wird. ½½ Kommen wir zu unserem Beispiel der drei Schiedsrichter in der Konstanzer Kneipe zurück. Was können wir von den beschriebenen Prinzipien lernen? Was können wir systemisch gesehen zur Frage „Wer hat recht“ ableiten? Systeme bilden sich, um Komplexität der Umwelt zu Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesem kleinen „Ausschnitt“ ein reduzieren wenig neugierig auf die Sichtweisen des systemischen Pro- Dies schaffen Systeme nur dann, wenn durch jektmanagements machen. Vielleicht sagen Sie auch: Das ist Kommunikation ein Austausch von Informationen ja eigentlich nichts Neues. Dem möchte ich zustimmen – die zustande kommt, der dem menschlichen Bedürfnis „Grundlagen“ sind mehrere Jahrzehnte alt, die agilen Modelle nach Ordnung und Orientierung nachkommt. Das haben viele dieser Prinzipien genutzt. Die Frage darf den- Projekt für die Teilnehmer einen adäquaten Umgang noch erlaubt sein: Warum ist das „daily business“ in vielen mit allen Informationen der Projektumwelt finden. Organisationen noch das pure Gegenteil? Achten sie insbesondere auf klare Funktionen und ½½ Rollen, einen wahrhaft respektvollen Umgang und die Ich freue mich auf einen regen Austausch mit Ihnen während Gleichwürdigkeit eines jeden Projektmitglieds. und nach der Konferenz. Systeme haben die Eigenschaft, sich aus sich selbst [ 1 ] Quelle: Vortrag Universität Zürich, Beate Kuhnt heraus immer wieder neu hervorzubringen [ 2 ] Quelle: Königswieser / Hillenbrand, Systemische Organisationsberatung, 2011 Gerade in dieser – veränderten – Geisteshaltung des konstruktivistisch/systemischen Weltbildes (siehe Tabelle) liegt der Schlüssel zu noch erfolgreicheren Projekten. Fragen Sie sich immer, wie Sie dem System helfen können. Es hat alle Kompetenzen, sich die Lösung selbst zu erarbeiten, auch wenn, und das ist das Dilemma, das nicht immer geschieht. Ihr wesentlicher Beitrag liegt darin, sich selbst „gut führen“ zu können – nur damit sind Sie in der Lage, gut mit Ihrem Projektteam zu kooperieren und damit einen Nährboden zu generieren, auf welchem das Team „wachsen“ kann. ½½ Systeme können nicht gezielt von Außen beeinflusst werden Projekte entwickeln ihre eigene Identität, Normen, Regeln etc., nach denen sie sich selbst wahrnehmen und Ihre Umwelt beobachten. Das Projekt kann Impulse aus der Außenwelt aufnehmen, tut dies aber immer nach den eigenen Regeln – von daher ist eine zielgerichtete Thomas Albicker ist seit jeher Veränderung von „außen“ nicht möglich, auch wenn dies fasziniert von „nicht konventionellen“ durch Change-Management-Apologeten immer wieder Management-Modellen und Methoden behauptet wird. Durch Bildung eines von Hypothesen abseits der klassischen Befehls- und gesteuerten Vorgehens können Sie Interventionen Kontrollorganisation, welche den erzeugen, die im System zu einem (gewünschten) Mensch als „Zentrum“ des Handelns Effekt führen und anhand dessen Sie durch Reflexion sehen. Die Anwendung dieser Fragestellungen beschäfti- (Retrospektiven) Ihre Hypothesen verifizieren können. Es gen ihn nicht nur bei morgendlichen Joggingrunden in der ist also systemisch gesehen gar nicht anders möglich, als schönen Landschaft des Bodensees, sondern auch in seiner über Scheitern zum Erfolg zu kommen. beruflichen Praxis als Organisationsentwickler & Projektmanager bei der SWISS International Airlines in Zürich. sybit agile Ausgabe 15 9 Ein starkes ICH für ein starkes WIR Juliane Kluge & Vincent Tietz Foto: Sybit GmbH Soft-Skills im Scrum-Team Agile Vorgehen stellen den Menschen in den Mittel- aber die Fähigkeit, den anderen wirklich zu verstehen punkt. Sie wecken das Potential, indem sie Selbst- und sich selbst klar auszudrücken. Dazu gehört, zu sich verantwortung und Kreativität fördern und fordern. und den eigenen Werten zu stehen. Wir sehen deshalb Scrum-Teams leben vom täglichen Austausch, wobei die radikale Selbstverantwortung als Grundstein für die Kommunikations-, Moderations- und Konfliktlösungs- erfolgreiche Zusammenarbeit und die Entfaltung von kompetenzen unerlässlich sind. Viel bedeutender ist Soft-Skills im Scrum-Team. 10 sybit agile Ausgabe 15 Jeder ist gefordert selbstverantwortlich agieren können und dürfen. In einem Die Uhr zeigt 9.30. Langsam erhebe ich mich aus meinem Scrum-Team spielen die sozialen Fähigkeiten eine noch grö- Stuhl und schleppe mich zum Aufgabenboard. Mein Blick ßere Rolle als in homogenen und klassisch geführten Teams. schweift über meine gelangweilten Kollegen. „Was ich ges- Interdisziplinarität und Selbstorganisation fordern von jedem tern gemacht habe, weiß ich nicht mehr so genau. Heute, mal Einzelnen ein Höchstmaß an Klarheit, Engagement und Ver- sehen. Vielleicht das hier. Mich behindert natürlich nichts.“ antwortung. Was nutzen all die Retrospektiven, wenn ich in Meine Gedanken verlieren sich wieder im nirgendwo. Der meiner Komfortzone bleibe und nur darauf warte, was mir Tester testet, der Architekt entwirft und die Entwickler ent- der Scrum Master als nächstes Spiel vorschlägt? Was nutzt wickeln. Alles geht seinen Gang – wie immer. Alles in Butter? es mir, meine Bedenken, meinen Frust oder meine Begeiste- Das Daily-Scrum bietet jedem Team die hervorragende Mög- rung zurückzuhalten, wenn ich mich in meiner Rolle als Spe- lichkeit, sich selbst zu reflektieren und bei Bedarf das eigene zialist über andere erhebe oder die Schuld anderen gebe? Vorgehen so anzupassen, dass das Sprint-Ziel erreicht wer- Passivität, fehlendes Vertrauen, Fehlerintoleranz und Frust den kann. Es ist also weder eine Plattform zur Selbstdar- schaden mir selbst und meinem Team am meisten. stellung, noch ein Statusmeeting für den Product Owner und auch kein Kaffeekränzchen. Jeder muss sich die Frage Der Weg zur radikalen Selbstverantwortung stellen, durch welche konkreten Beiträge er das Team dem Wie kann man Selbstverantwortung fördern? Die gute Sprint-Ziel näher gebracht hat und wie er oder sie es wei- Nachricht ist, dass Selbstverantwortung bereits durch das terhin dorthin unterstützen möchte und was er vom Team Scrum-Rahmenwerk vorausgesetzt wird. Das Team ist ver- braucht um seine Stärken voranzubringen. antwortlich für die Planung und Umsetzung durch selbst Die Notwendigkeit der radikalen Selbstverantwortung gewählte Aufgaben und gemeinsame Abstimmung. Das Daily-Scrum stärkt den Wissensaustausch und die Anerkennung der eigenen Leistung. Leider wird die Verantwortung Bei genauerer Betrachtung erfordert das Daily-Scrum die des Teams manchmal noch untergraben, wenn zum Beispiel tägliche Übernahme der Verantwortung für das eigene Release-Termine vom Management festgelegt oder die Handeln in Hinblick auf die Ziele der Gruppe sowie dessen Umsetzung von Features durch Architekten außerhalb des öffentliche Verpflichtung. Was zunächst bedrohlich nach Auf- Teams vordefiniert werden. Dann braucht es Klarheit und opferung klingt, ist im Detail betrachtet eher das Gegenteil Mut aller Beteiligten, um die Folgen klar zu benennen. Wenn und bewirkt eine Stärkung der eigenen Persönlichkeit und das Team nicht selbstverantwortlich agieren darf, wird es am Ende des gesamten Teams. Die radikale Selbstverantwor- beginnen, nur nach Vorschrift zu arbeiten und damit die Ver- tung ist der Schlüssel für Fokus, Mut, Offenheit, Verpflich- antwortung abzugeben – eine traurige Verschwendung des tung und Respekt – die Kernwerte von Scrum. Das bedeutet: möglichen Potentials. Der Weg zur radikalen Selbstverantwortung führt über die ½½ Ich bin freiwillig hier und leiste meinen Beitrag. ½½ Ich kenne meine Ziele und Bedürfnisse und sorge dafür. ½½ Ich bin in der Lage, meine Grenzen zu kennen, zu achten Gefühle der anderen gelassener einzuordnen und souveräner und zu verteidigen. zu handeln. Im Training der emotionalen Intelligenz kann der ½½ Ich weiß, was ich kann und was ich noch lernen muss. Umgang mit den sonst automatischen Reaktionen verän- ½½ Ich weiß, wie ich Entscheidungen treffe und gehe notwendigen Konflikten nicht aus dem Weg. emotionale Intelligenz und den achtsamen Dialog. Die emotionale Intelligenz hilft dabei, die eigenen Gefühle und die dert werden. Durch Selbstwahrnehmung spüren wir, wie der eigene Körper auf bestimmte Reize reagiert. Fängt das Herz an zu schlagen, beginnen Schweißausbrüche oder nimmt ½½ Ich nutze meine Fehler, um mich weiterzuentwickeln. ½½ Ich traue mir selbst Veränderungen zu und treibe sie Gefühle ein? Selbstregulation und Selbstführung ermöglichen voran. eine für die Situation angemessene Reaktion. Zum Beispiel Ich weiß, was ich von anderen brauche und was andere statt sich zurückzuziehen oder laut zu werden, kann man eine ½½ von mir erwarten können. die Atemfrequenz zu? Stellen sich typische Gedanken und Metaperspektive einnehmen und versuchen, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu erkennen und transparent zu machen. Notwendig wird diese Sicht vor allem deshalb, weil in der Ebenso können Blockaden identifiziert und in zielorientierte agilen Welt niemand mehr die Aufgaben und Arbeitsweise Handlungen überführt werden, zum Beispiel, um automati- diktiert. Selbstorganisation erfordert die Selbstverantwor- sche Zusagen an Stakeholder zu vermeiden, die häufig aus tung aller Beteiligten, sowie das Zugeständnis, dass alle Angst vor Konflikten und Enttäuschung gemacht werden. sybit agile Ausgabe 15 11 Der achtsame Dialog trennt zwischen Beobachtung und Interpretation und nutzt sowohl die die eigenen Gefühlsimpulse, als auch die Gefühle des Gegenübers, um in einen echten Dialog zu treten. Häufig verbergen sich hinter der reinen sachlichen Botschaft auch Emotionen oder Appelle. Für eine gute Zusammenarbeit ist es lohnenswerter, diese zu benennen und im Zweifel anzusprechen, als mit einer automatischen Interpretation aus einer Besprechung zu gehen und blind zu handeln. Auch hier hilft die Selbstwahrnehmung, die für ein „komisches Gefühl in der Magengegend“ sensibilisiert. Auch Empathie für mein Gegenüber kann trainiert werden. Zum Beispiel kann man das Daily-Scrum nutzen, um herauszufinden, was den anderen tatsächlich bewegt oder behindert. Oft fällt es schwer, den anderen zu folgen, wenn man selbst über seine Aufgaben nachdenkt. Eine bewusste, achtsame innere Vorbereitung vor dem Meeting mit der Fokussierung auf das Team und die gemeinsamen Ziele hilft dabei, während dem Daily-Scrum wirklich präsent zu sein. Unabhängig davon bleiben selbstverständlich Wertschätzung und Respekt wesentliche Voraussetzungen für einen konstruktiven Dialog. Verbesserung durch Kontinuität und Vorbild Die Grundlage für jede gute Zusammenarbeit liegt also in der radikalen Selbstverantwortung eines jeden Einzelnen. Juliane Kluge ist Diplomsoziolo- Sie erfordert die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten und gin und seit 2010 selbstständige den anderen etwas besser zuzuhören. Selbstverantwortlich Trainerin und Coach für Persönlich- handelnde Persönlichkeiten können ein selbstorganisiertes keitsentwicklung, Potentialentfaltung Team durch ihre Vorbildfunktion maßgeblich bereichern. So und Teamentwicklung. In ihre Arbeit gesehen, sind auch die Soft-Skills einem kontinuierlichen fließen sowohl die Kenntnisse ihrer Verbesserungsprozess unterworfen. Selbstverantwortung Zusatzausbildungen (Coach für Persönlichkeitsentwicklung, und achtsame Kommunikation sind von allen gefordert: vom Organisationsinterner Trainer, wingwave®-Coach, systemi- Teammitglied, vom Team, dem Produkt- und dem Organisati- scher Teamcoach) als auch die Erfahrungen aus 10 Jahren onsmanagement. Das schafft den Rahmen für eine kommu- Projektleitung ein. Seit 2015 berät Juliane Kluge die Saxonia nikative respektvolle und effiziente Zusammenarbeit. Systems AG bei der Entwicklung von Scrum-Teams. Vincent Tietz ist Entwickler, Architekt und Certified ScrumMaster® bei der Saxonia Systems AG in Dresden. Er studierte und promovierte an der TU Dresden und unterstützt heute verteilte und agile Scrum-Teams, um die Hürden der Verteilung zu überwinden. Die Erfahrungen sammelt er in Form des Konzepts für verteilte und agile Zusammenarbeit ETEO (Ein Team Ein Office) und gibt sie neben seiner Tätigkeit als Scrum Master in Form von Vorträgen und Artikeln weiter. 12 sybit agile Ausgabe 15 Foto: Sophia Lauinger, Sybit GmbH Gabriele Kottlorz Artgerechte Menschenhaltung Eine wertschätzende Provokation für lebendige Unternehmenskultur in Zeiten von 4PunktNull „Das auffälligste Kennzeichen für das Pathologische ebenso einzigartigen Unfähigkeit, ihre sozialen Prob- unserer Spezies ist der Gegensatz zwischen ihren leme zu meistern.“ (Arthur Koestler, Zivilisation in der einzigartigen technologischen Leistungen und ihrer Sackgasse) sybit agile Ausgabe 15 13 Möhrchen, Macher und Ministerin abgeht? Und gegen 20 Uhr alle beseelt nach Hause mäan- Der Dialogprozess des Arbeitsministeriums nennt sich dern, weil sie endlich mal über ihre Gefühle geredet haben? „Arbeit 4.0“ und will mit Hilfe bundesweiter Workshops und Veranstaltungen herausarbeiten, wie die Zukunft der Arbeit Kultur braucht Handwerkszeug aussehen soll. Ministerin Andrea Nahles tituliert Ihren Auf- Die geforderten Veränderungen wiegen schwer in der Tra- tritt auf der Zukunft Personal in Köln: dition von Hierarchie, Anweisung und Kontrolle. Ein Umgang „Arbeit 4.0 – der Mensch bleibt im Mittelpunkt“ Oha. Er auf Augenhöhe setzt persönliche Kompetenzen voraus, die bleibt?! Wo war er denn, der Mittelpunkt; habe ich als arbei- wir leider weder zu Hause, noch in der Schule und schon gar tender Mensch ihn über 25 Jahre lang etwa übersehen? Oder nicht im Beruf gelernt haben. Wir fangen gerade erst damit beschönigt unsere Arbeitsministerin etwa die Rolle, die der an, die Verantwortung für unsere Bedürfnisse zu überneh- Mensch in der Produktivitätsmaschinerie bisher eingenom- men. Wir können nur mit dem umgehen, was sicht- und greif- men hat? bar ist. Gerade das durfte am Arbeitsplatz nicht passieren! Da Fakt ist, dass er nun, der Mensch nämlich, viel mehr einbe- soll man ja funktionieren. Für alles andere gibt`s den Feier- zogen werden soll in Entscheidungen und Prozesse, damit abend, das Hobby, die Familie, den Psychotherapeuten. er intrinsisch angetrieben von reiner Verbundenheit mit Nun vermischt sich immer mehr Beruf mit Privat, für eine dem Unternehmen vor Leistung nur so strotzt und gar nicht Identifikation mit unserem Unternehmen brauchen wir das mehr aufhören kann, produktiv zu sein. Die Formel „Leistung Gefühl, als Ganzes gesehen zu werden und eine Stimme zu gegen Möhrchen“ ist längst passé, so hört man. Vierpunkt- haben, die gehört wird. null ist auf allen Kanälen, ob Führung, Arbeit, Kommunika- Wir sind „Herdentiere“ durch und durch. Die verkrampfte tion oder Industrie. Ich warte noch auf den Hund 4.0, der mir Trennung von Persönlichkeit und Berufsleben laugt uns aus. per App mitteilt, ob er ein Häufchen machen wird, damit ich Wir brauchen Anerkennung, Freiheit und Vertrauen. Wir brau- auch die entsprechenden Tütchen griffbereit habe ... chen gemeinsame, von Herzen geteilte Visionen und Ziele. Das Rezept für maximalmotivierte Mitarbeiter (mmM 4.0), So weit tönt es durch alle 4.0- Kanäle, ermüdend ausführlich die sich unabhängig von Arbeitszeit und –ort jederzeit voll belegt von ungezählten Studien und herunter gebetet von „einbringen“, scheint auch klar. Die Führungskraft 4.0 ist jedem Berater, der sich von McK…. und Co distanzieren will. Sinnstifter und Moderator, die Mitarbeiter bringen Kreativi- Alles Einhornkotze? tät und Lösungskompetenz eimerweise in die Wertschöpvon Respekt und Wertschätzung. Artenschutz am Arbeitsplatz – Schnattern erwünscht! Klingt schwierig. Ist es auch. Viele Unternehmen leben Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen ist vor allem 4PunktNull schon lange, reden aber nicht darüber. Einige eins: Eine große Chance. reden ununterbrochen darüber, dekorieren damit jedoch nur Diese Chance wird vielfach ergriffen, denn immer mehr die hauchdünne Oberfläche ihres personellen und persönli- Unternehmen öffnen die Büchse der Pandora und geben chen Pulverfasses. Sehr viele beschäftigen sich nur damit, ihre Kanäle frei für die Vielen, um von der Intelligenz des weil es Geld von der ESF oder dem Nahles-Ministerium gibt. Schwarms zu profitieren. Wer sollte denn die in Marmor Nimmt man dann mal so mit ... Ja klar, ein Workshop, super, gemeißelten Ansprüche mit Leben erfüllen, wenn nicht die- irgendwas bleibt ja immer hängen. jenigen, die davon direkt betroffen sind!? Absolut nicht neu ist die Erkenntnis, dass viel Unterneh- Für alle Beteiligten bricht nun Fluch und Segen gleichzeitig menskultur an der herrschenden Kommunikation abzulesen herein. Ein ohrenbetäubendes Geplapper erhebt sich und ist. Wenn die Techniker aufhören zu tratschen, wenn der übertönt mit scheinbar belanglosem Zeug die „wichtigen“ Abteilungsleiter in die Teeküche grätscht, haben Sie schon Impulse. Wer gehört wird, fühlt sich gepinselt und löst Neid verloren. Kann man noch toppen mit der Frage: „ Habt Ihr und Missgunst aus. Wer nicht gehört wird, zieht sich beleidigt nichts zu tun“?? Und zack, da haben wir die Schubladen zurück und am Ende tönen nur noch die, die schon immer von vorgestern. Unmotivierte Angestellte verbummeln die getönt haben. Das ist dann der SozialCrash 4.0! Arbeitszeit mit privatem Tratsch. Hundsgemeiner Chef ver- Wir brauchen Handwerkszeug, um mit der neu entstehenden breitet Angst und Schrecken, um seine eigene Unzuläng- Offenheit umgehen zu können. Wir brauchen ein Selbstbe- lichkeit zu kompensieren. Das ist Atari, Pacman, knackendes wusstsein, das nicht am beruflichen Erfolg hängt. Wir brau- Modem – EinsPunktNull. chen einen klaren Fokus auf eigene und gemeinsame Ziele. Ist es nun die Zukunft der Arbeit, dass der Abteilungsleiter Wir brauchen verbindliche, lebendige Werte, die uns Stabi- eine Pulle glutenfreien Sekt aufmacht und die Party richtig lität und Orientierung geben. Wir brauchen sehr viel Ver- fungskette ein, natürlich immer auf Augenhöhe und umspült 14 sybit agile Ausgabe 15 trauen, in uns und in andere. Wir brauchen die Überzeugung, dass man vielleicht unseren Vorschlag zur Werbekampagne saublöd findet und dennoch uns als Mitarbeiter und Mensch hoch schätzt. Wir brauchen die Größe, als abgewählte Führungskraft an anderer Stelle einen guten Job zu machen. Und wir brauchen vor allem das „WIR-Gefühl“, das die Wichtigkeit eines Mitarbeiters von dessen Gehaltsklasse entkoppelt. Kultur und Kirschkuchen Klingt schwierig. Ist es auch. Unmöglich ist es nicht und der Weg dahin kann durchaus Freude machen. Mit etwas Mut und gegenseitiger Unterstützung sollte es zu machen sein. Erwarten Sie keine Wunder, dann erhöht sich die Chance auf viele kleine Erfolge um ein Vielfaches. Wir haben uns auf den Weg gemacht und ganz eigene Lösungen für artgerechtes Miteinander gefunden. Ich bin eine von denen, die an manchen Tagen vor lauter Berufung die Ausgangstür nicht mehr finden, beseelt und getrieben von unserer gemeinsamen Vision von einer schönen Welt voller glücklicher Menschen ... Dann kommt meine Chefin und sagt: „Entweder schmeiße ich Dich jetzt raus oder Du musst Kirschkuchen mit mir essen.“ Da nehme ich doch – ganz klar, ich kenne ja meine Bedürfnisse nach seitenweise Buchstabensalat und Selbstfindung – den KUCHEN! Wir gehören übrigens zu denen, die das einfach so machen, weil uns die Arbeit dann viel mehr Spaß macht. Und manchmal, in kleiner Runde vor ausgewählten Artgenossen, reden wir sogar darüber. Gabriele Kottlorz ist Systemischer Coach, Mediatorin und Inspirateurin. Sie verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung im Bereich Assistenz und Office-Management. Sie war hauptsächlich in der Erwachsenenbildung tätig, unter anderem für INTEGRATA Training AG, Volkshochschule und Handwerkskammer Hannover. Als Mediatorin lädt sie ein zum “Schöner Streiten” und sorgt als GfK-Trainerin für eine verbindende Gesprächs- und Konfliktkultur in Unternehmen. Sie ist bei KCC die „WildCard“ mit Hang zu unvernünftigen Autos und utopischen Veranstaltungskonzepten. sybit agile Ausgabe 15 15 Agil, aber richtig! Dr. Ralf Klühe Foto: pixabay.com, CC0 Wie sich agile Projekte vertraglich abbilden und Schieflagen vermeiden lassen Agile Vorgehen stellen den Menschen in den Mittel- aber die Fähigkeit, den anderen wirklich zu verstehen punkt. Sie wecken das Potential, indem sie Selbst- und sich selbst klar auszudrücken. Dazu gehört, zu sich verantwortung und Kreativität fördern und fordern. und den eigenen Werten zu stehen. Wir sehen deshalb Scrum-Teams leben vom täglichen Austausch, wobei die radikale Selbstverantwortung als Grundstein für die Kommunikations-, Moderations- und Konfliktlösungs- erfolgreiche Zusammenarbeit und die Entfaltung von kompetenzen unerlässlich sind. Viel bedeutender ist Soft-Skills im Scrum-Team. 16 sybit agile Ausgabe 15 I. Einleitung Beginn des Projekts noch gar nicht beschreiben kann. Seit einigen Jahren ist die agile Softwareentwicklung ein Trend, der die IT-Landschaft zunehmend beherrscht. Kunden Doch können agile Projekte aus Sicht des Kunden durchaus und Anbieter sind bereit, festgefahrene Wege zu verlassen tückisch sein. Hat der Kunde zu Beginn des Projekts eine und sich auf eine flexiblere Arbeitsweise einzulassen. Damit nur vage Vorstellung von dem Endprodukt, kann er oft- dieses Unterfangen gelingt, ist aber eine rechtssichere Ver- mals auch die gewünschten Funktionalitäten nicht trenn- tragsgrundlage erforderlich, die die Interessen des jeweili- scharf beschreiben. Benötigt er bereits intensive Hilfe bei gen Kunden und Anbieters berücksichtigt und in ein ange- der Erstellung von User Stories, hat dies Auswirkungen auf messenes Verhältnis bringt. Termine und Kosten. Fehlt es zudem an verlässlichen Refe- II. Unterschiede zwischen klassischen und agilen Projektverträgen renzpunkten, an denen die Leistungserbringung durch den Anbieter gemessen werden kann, wird es schwierig, den Anbieter auf Mängelgewährleistung und Schadensersatz Traditionell orientieren sich klassische IT-Projekte an der so in Anspruch zu nehmen. Aus der Perspektive des Anbieters genannten „Wasserfall-Methode“. Diese Methode ist durch können indessen die Dokumentation und Abrechnung der ein lineares Vorgehen geprägt, d.h. die einzelnen Arbeits- erbrachten Leistungen zu erheblichen Problemen führen. schritte werden im Vorfeld in verschieden Phasen zusam- Die enge Zusammenarbeit zwischen den Projektpartnern mengefasst und in einer definierten Abfolge erledigt. Die schafft darüber hinaus Reibungsflächen, die zu Konflikten Ergebnisse einer früheren Projektphase, wie etwa ein Las- führen und den erfolgreichen Projektabschluss gefährden ten- oder Pflichtenheft, fließen dabei als bindende Vorgabe können. in eine nachfolgende Phase ein. Die Parteien verständigen sich also im Vorfeld auf eindeutig definierte Start- und Endpunkte sowie auf konkrete Ergebnisse. Diese Arbeitsweise IV. Vertragliche Abbildung der agilen Projektmethode ist Juristen geläufig und lässt sich in den meisten Fällen auch ohne Weiteres im Vertragswerk abbilden. 1. Agile Vorgehensweise erfordert neue Vertragsdokumente Größere Schwierigkeiten bereitet die vertragliche Abbildung Die nach einer agilen Methode geführten Projekte schei- agiler Projekte. So wird etwa bei einem Projekt, das nach der tern häufig daran, dass die Parteien ihre Zusammenarbeit Scrum-Methode durchgeführt wird, bewusst auf die oben nur unzureichend vertraglich abbilden. Sie wollen zwar agil beschriebenen Arbeitsschritte verzichtet. Stattdessen wird entwickeln, verwenden aber juristisches Werkzeug, das auf auf eine dynamische Zusammenarbeit gesetzt, bei der die eine herkömmliche Projektmethode zugeschnitten ist. Statt Vertragsparteien nicht als Besteller und Leistungserbringer konsequent nach der agilen Methode zu verfahren, verfal- auftreten, sondern eher als gleichberechtigte Partner agie- len sie in alte Denkmuster und verlangen nach im Vorfeld ren sollen. Die agile Programmierung setzt dabei auf eine bereits eindeutig spezifizierten Leistungsbeschreibungen, iterative Vorgehensweise, bei der die IT-Lösung in kleinen der darauf bezogenen Abnahme und Festpreisen für den Schritten entwickelt wird. Dies ermöglicht flexible Änderun- einheitlichen Werkerfolg. Nicht selten wird zudem noch ein gen und hilft, konfliktträchtige Change-Request-Verfahren traditionelles Vertragsmuster aus der Schublade geholt und zu vermeiden. dem Projekt zugrunde gelegt. Ein so vorbereitetes Vorhaben III. Vor- und Nachteile der agilen Projektmethode ist zum Scheitern verurteilt, bevor es begonnen hat. Deswegen sollten sich die Parteien der Tatsache bewusst Der maßgebliche Vorteil der agilen Projektmethode liegt in sein, dass sie bei agiler Software-Entwicklung nicht nur die ihrer Leichtfüßigkeit: Legen sich die Vertragsparteien nicht administrative und technische Vorgehensweise ändern müs- auf einen vorab definierten, starren Prozess zur Entwicklung sen. Vielmehr müssen sie auch die juristische Arbeitsweise eines bestimmten Projektergebnisses fest, sondern kon- an die Besonderheiten der agilen Methode anpassen und zentrieren sich stattdessen auf das sukzessiv entwickelte auf Flexibilität in der Vertragsbeziehung setzen. Statt früh- Projektergebnis und nehmen flexible Änderungen in Kauf, zeitig eine möglichst präzise Beschreibung des Endprodukts lässt sich auf diesem Wege oftmals ein besseres Endprodukt zur Grundlage der vertraglichen Leistungsbeschreibung zu erstellen. Die agile Methode eignet sich deshalb besonders machen, können sie sich beispielsweise darauf verständigen, gut bei komplexen Vorhaben, wenn der Kunde die genaue dass die Soll-Beschaffenheit des endgültigen Produkts erst Spezifizierung und die Anforderungen des Endprodukts zu im Laufe des Projekts definiert wird. Besondere Bedeutung sybit agile Ausgabe 15 17 kommt bei Scrum-Projekten der vertraglichen Abbildung und Projektpartner die vereinbarten Vorgaben während des Pro- Definition der User Stories sowie der (erfolgreichen) Absol- jekts auch tatsächlich leben. vierung der einzelnen Sprints zu. 2. Eckpunkte für vertragliche Abbildung der agilen Projektmethode In einem guten agilen Projektvertrag sollten die wesentlichen Begriffe und Prozesse der gewählten Vorgehensweise, wie etwa Product Backlog oder Sprint, möglichst präzise definiert werden. Um Streitigkeiten zu vermeiden, sollten zudem die Rollen und Verantwortungsbereiche klar verteilt und die Mitwirkungspflichten des Kunden eindeutig festgeschrieben werden. Der Anbieter darf sich nicht scheuen, dem Kunden genau definierte Verantwortlichkeiten zuzuweisen, ihn dabei aber auch nicht überfordern. Eine gewisse Flexibilität bei der Zusammensetzung der Projektteams kann vertraglich festgelegt werden und hilfreich sein. Ein häufiger Streitpunkt agiler Projekte liegt in der Vergütung, so dass gerade in dieser Hinsicht eine ausgewogene Regelung erforderlich ist. Um dem dienstvertraglichen Charakter eines agilen Projekts gerecht zu werden, sollte der Anbieter seine Leistungen im Ausgangspunkt nach Zeit- und Materialaufwand abrechnen können. Doch sollten in der Vergütungsregelung auch die Interessen des Kunden beachtet werden, etwa indem abnehmende oder steigende Gewinnmargen oder Bonus/Malus-Folgen für bestimmte Funktionalitäten oder Performance vereinbart werden. Will der Kunde mehr Kostensicherheit, kann auch die nachträgliche Vereinbarung eines Festpreises bestimmt werden. Um für den Ernstfall gewappnet zu sein, sollte der Vertrag Regelungen zum Deeskalationsverfahren enthalten. Erweist Ralf Klühe ist Partner im Stuttgarter sich die weitere Zusammenarbeit als unmöglich, sollten die Büro der auf das IT- und IP-Recht Parteien eine flexible Kündigungsoption haben. Dabei ist zu spezialisierten Kanzlei Vogel & beachten, dass der Kunde die Möglichkeit erhalten sollte, die Partner. Er berät schwerpunktmäßig bisher erzielten Projektergebnisse weiterhin nutzen zu dür- im Bereich des IT-Rechts (insbeson- fen. Um dies abzusichern, ist eine Regelung über laufende dere Erstellung und Verhandlung von Dokumentationspflichten notwendig. Software- und Projektverträgen, E-Commerce-/Online-Recht, Datenschutzrecht) sowie des Gewerblichen Rechtsschutzes V. Fazit und Wettbewerbsrechts. Agile Projektmethoden sind inzwischen ein fester Bestandteil der IT-Landschaft geworden. Um ein erfolgreiches Pro- Nach Studium und Referendariat in Konstanz sowie Pro- jekt durchzuführen, sind aber stichfeste und ausgewogene motion am ITM der Universität Münster war Herr Dr. Ralf Vertragsregelungen notwendig, die den Besonderheiten der Klühe zunächst als Legal Counsel für ein internationales IT-/ agilen Methode gerecht werden. Zentral sind dabei Vergü- TK-Unternehmen und später über sechs Jahre für eine der tungsregelungen, weil sie die richtigen Anreize setzen kön- führenden deutschen Wirtschaftskanzleien im Bereich IP-/ nen, um dem Vorhaben zum Erfolg zu verhelfen. Natürlich ist IT-Recht in Stuttgart tätig. Dr. Ralf Klühe ist Lehrbeauftragter ein gut erstellter Vertrag erst der Beginn eines erfolgreichen an der HTWG Konstanz und Mitglied des Prüfungsausschus- agilen Projekts. Mindestens genauso wichtig ist es, dass die ses Fachanwalt für IT-Recht der RAK Stuttgart. 18 sybit agile Ausgabe 15 Deshalb Foto: pixabay.com, CC0 Agil! Klaus Bucka-Lassen sybit agile Ausgabe 15 19 Die kürzeste Strecke Die schnellste Strecke Stellen Sie sich vor, Sie werden eingeladen, an einem Wett- Verändern wir die Regeln des Wettbewerbs ein wenig. Dies- bewerb teilzunehmen, bei dem es darum geht, die kürzeste mal geht es nicht darum die kürzeste Strecke zu finden, son- Strecke mit einem Auto von A nach B zurückzulegen. Sagen dern die schnellste. wir, es geht von Birmensdorf nach Männedorf (Abb. 1). Wie bereiten Sie sich auf dieses Rennen vor? Ähnlich? Ja und nein! Sie nehmen erstmal wieder die Karten von Google, Apple und Co. zur Hilfe – klar, weil es so einfach ist. Mit diesen lassen sich nämlich nicht nur die kürzesten, sondern auch die schnellsten Routen berechnen. Der Haken: je nach Tageszeit gibt Ihnen z.B. Google Maps vier verschiedene Routen als die schnellsten an (Abb. 3). Wenn Sie sich jetzt auf eine dieser Routen festlegen – wie wir es beim ersten Wettbewerb gemacht haben, dann gewinnen Sie bestenfalls mit Glück. Abbildung 1: Von Birmensdorf nach Männedorf Wie bereiten Sie sich vor, wenn Sie diesen Wettbewerb gewinnen möchten? Vermutlich schauen Sie zuerst einmal bei Google Maps vorbei. Genau wie beim Arztbesuch kann eine zweite und – da in diesem Kontext in jeder Hinsicht praktisch kostenlos – eine dritte und vierte Meinung nicht viel schaden. Entsprechend werden Bing Maps, Nokia Here und was es sonst noch an Kartenmaterial gibt, herbeigezogen. Es würde auch Sinn machen, die so gefundenen Strecken im Voraus abzufahren und zu messen, wie lange sie denn tatsächlich sind. Vielleicht findet man ja auch irgendwo eine Abkürzung, von der die digitalen Helfer nichts wussten. So oder so gewinnt jener den Wettbewerb, der den besten Abbildung 3: Die schnellsten Strecken Plan ausgearbeitet und damit die kürzeste Strecke gefunden hat (Abb. 2). Den Wettbewerb braucht man eigentlich Was tun Sie also, um Ihre Gewinnchancen zu maximieren? gar nicht mehr durchführen - der Gewinner steht schon von Sie kaufen sich ein Tom Tom und ein Garmin Navigations- Anfang an fest. gerät, Sie machen sich mit der „Traffic“ Funktion von Google Maps vertraut. Sie erkunden, welcher Radiosender die besten Verkehrsmeldungen bringt. Sie bitten einen Freund, Sie am Tag des Rennens im besten Rallye-Stil als Beifahrer zu begleiten um Ihnen ständig aktualisierte Informationen zum Verkehr zu liefern, während Sie sich auf die Straße konzentrieren. Vielleicht hört er mit Kopfhörern einen zweiten Radiokanal ab. Vielleicht platzieren Sie auch Personen an neuralgischen Verkehrspunkten und bleiben mit diesen ständig in Kontakt um möglichst aktuelle Verkehrsinformationen zu haben. Mit anderen Worten tun Sie alles, um während des Rennens auf dem Laufenden zu bleiben (Sie inspizieren das System ununterbrochen) und treffen viele Entscheidungen erst unterwegs (Sie adaptieren ihren Plan immer wieder). Abbildung 2: Die kürzeste Strecke 20 sybit agile Ausgabe 15 Foto: pixabay.com, CC0 Der feine Unterschied Die immer komplexer werdende Welt ... Während der erste Wettbewerb ein klassisches komplizier- Komplex ist ein System in dem sich Akteure in hohem Grad tes Problem darstellt, handelt es sich beim zweiten um ein gegenseitig beeinflussen. Je mehr Akteure das System hat komplexes. und je vernetzter diese sind, desto unvorhersehbarer ist das Der Unterschied: Vorausgesetzt, man hat genügend Res- System. sourcen, kann man die definitiv kürzeste Strecke im Voraus Die Welt als Ganzes wird immer komplexer – vor allem wegen berechnen. Es ist keine einfache Aufgabe – immerhin braucht der ständig zunehmenden Vernetzung die vor allem auf man präzise Informationen zum kompletten Straßennetz das Internet zurückzuführen ist (Cloud, Big Data, IoT, etc.). (Länge der Streckenabschnitte, wo darf man abbiegen und Es wirkt paradox, dass wir immer mehr Daten haben und wo nicht, Einbahnstraßen, etc.), man braucht Experten bzw. die Rechenpower exponentiell wächst, es aber gleichzeitig deren Wissen dazu, wie man die kürzeste Strecke berechnet, immer schwieriger wird die Zukunft vorherzusagen. man braucht schon bei kleineren Aufgaben leistungsfähige Generell mögen wir Menschen keine Ungewissheit. Des- Rechner und man braucht vor allem Zeit. Kompliziert ist also halb haben wir auch den Ackerbau erfunden. Wir sind heute nicht gleich einfach, aber es ist berechenbar. Das Credo lau- Experten im Bauen von Häusern, Brücken, Staudämmen, tet: Daten sammeln, analysieren, Plan ausarbeiten, Plan aus- Autos, Uhren und Raketen die zum Mond fliegen. Alles führen. Bekannt ist diese Vorgehensweise auch unter dem Dinge, die man analysieren, planen und dann durchführen Namen „Wasserfall“, weil man von der einen Phase in die kann. Komplizierte Aufgaben zu lösen ist sozusagen unsere nächste wechselt und eigentlich nie zurückgeht. Komfortzone. Selbstverständlich versuchen wir diese fast Die schnellste Strecke hingegen lässt sich nicht im Voraus schon perfektionierte Vorgehensweise wo immer möglich berechnen. Auch wenn man noch so viele Informationen anzuwenden. Nur stellt sich der Erfolg bei komplexen Pro- und Ressourcen zur Verfügung hätte. Selbst wenn man von blemen nicht gleichermaßen ein. Im Gegenteil sogar. Von jedem Autofahrer genau wüsste, wann er wo sein will und vornherein einen Plan machen und den dann auf Gedeih seinen Fahrstil kennt, jede Stau-Statistiken hat, die gesam- und Verderb durchzuziehen, ist wie die schnellste Route vor melte Rechenpower von Google, Apple, Amazon und der dem Rennen zu bestimmen und diese dann stur abzufahren NSA und zusätzlich noch „unendlich“ viel Zeit – es nützt alles – auch wenn man vor sich schon den Stau sehen kann. So nichts, man kann nicht im Vorfeld die definitiv schnellste erklären sich auch viele der massiven Fehlschläge bei gro- Strecke von A nach B berechnen, weil der Verkehr ein kom- ßen Softwareprojekten. plexes System bildet. Die beste Strategie ein solches Rennen zu gewinnen ist das zuvor erwähnte „Inspizieren & Adaptieren“ und eben das macht den Kern der Agilität aus. sybit agile Ausgabe 15 21 … und die Antwort darauf Die Entwicklung eines Softwaresystems ist schon seit längerem zu einer komplexen Angelegenheit geworden. Die Anforderungen ändern sich rasch, der Kontext – sowohl technisch als auch geschäftlich – wandelt sich häufiger und schneller als je zuvor und wir lernen laufend Neues. Alles Dinge, die man im Detail nicht vorhersagen kann, aber auch nicht ignorieren darf. Softwareprojekte haben vielmehr mit einem Rennen gemein, als mit dem Wettbewerb, die kürzeste Strecke von A nach B zu finden. Weil die Welt und die Herausforderungen, mit denen wir uns täglich konfrontiert sehen, immer komplexer werden, ist die Agilität heute in aller Munde. Agil zu sein ist die uns derzeit beste bekannte Strategie, um dieser Komplexität die Stirn zu bieten – nicht nur in der Softwareentwicklung! Agilität bedeutet, auf Veränderungen möglichst effizient und schnell reagieren zu können. Fazit Komplex ist nicht einfach nur eine Steigerung von kompliziert. Es ist eine grundlegend andere Art von Problem, deren Lösung auch nach einem grundlegend anderen Vorgehen verlangt. Das beste uns derzeit bekannte Vorgehen komplexe Herausforderungen zu meistern heißt Agilität, was so viel bedeutet wie einen kleinen Schritt machen, inspizieren Klaus Bucka-Lassen ist Gründer ob wir dem Ziel näher gekommen sind und die richtige Rich- der aragost Trifork ag, die heute tung eingeschlagen haben, um anschließend den nächsten hauptsächlich auf die Beratung und Schritt zu wagen. Schulung im Bereich der Agilen Ent- Dazu braucht es einen hohen Grad an Transparenz zum wicklungsmethoden tätig ist. Zustand des Systems und den Willen, sich nicht an einen im Nach dem 1996 abgeschlossenen Voraus gemachten Plan zu klammern. Das alles garantiert Master-Studium in Informatik hat Klaus als Software- und zwar nicht den Sieg, erhöht aber die Chancen, das Rennen Produktentwickler, Architekt, Projektleiter, Unternehmer, zu gewinnen. Referent und Coach für Firmen in der Schweiz, Dänemark, Deutschland, Australien und Kanada gearbeitet. Seit er sich bereits 1991 mit “rapid prototyping” beschäftigt hat, ist er Vorkämpfer iterativer Prozesse, die frühes und schnelles Feedback ermöglichen. Seine Passion ist Scrum. Er ist Zertifizierter Scrum Master (CSM), Product Owner (CSPO) und Scrum Professional (CSP) und führt zudem regelmässig CSM Kurse als Co-Trainer mit Jeff Sutherland durch. Klaus hat große Unternehmen in den Branchen Banking, Pharma, Telekommunikation, IT und der produzierenden Industrie geholfen, agiler zu werden. Er wird respektiert für seine Art, ehrlich und direkt zu kommunizieren und versteht es, Mitarbeiter aller Organisationsstufen für agile Vorgehen zu begeistern. In seiner Freizeit fliegt Klaus Kleinflugzeuge, fährt Motorrad oder Ski, spielt Golf oder unternimmt abenteuerliche Reisen. Die Formel 3- Lizenz ist leider schon längst abgelaufen. 22 sybit agile Ausgabe 15 Agile Breakfast In losen Abständen von rund zwei Monaten treffen sich agil Die Teilnahme ist kostenlos, die Veranstaltung wird von Interessierte der Scrum User Group Lake Constance (SUGLC) Sybit gesponsert. zum Erfahrungsaustausch. Beim „Agile Breakfast“ im Wasserturm Stromeyersdorf in Konstanz hält nach einem klei- Informationen zu den aktuellen Veranstaltungen: nen Frühstück ein Teilnehmer oder ein geladener Speaker www.sybit-agile.de/community/agile-breakfast einen Vortrag zu einem agilen Thema. Daran schließt sich eine Diskussion an (Dauer: 8.00 - 10.00 Uhr). IMPRESSUM Sybit GmbH Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Sankt-Johannis-Str. 1-5 Johannes Hartmannsgruber 78315 Radolfzell, Deutschland [email protected] Fon: +49 (0) 7732 9508-0 Fax: +49 (0) 7732 9508-111 Redaktion: E-Mail: [email protected] Stephan Strittmatter Internet: www.sybit-agile.de [email protected] Autoren-Service: Sie möchten einen Artikel in einer der folgenden Einige der verwendeten Fotos unterliegen der Creative Ausgaben beisteuern? Sprechen Sie uns an: Commons-Lizenz: Stephan Strittmatter https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode [email protected] sybit agile Ausgabe 15 23 Agile Softwareentwicklung im Fokus Agil Software zu produzieren liegt uns sehr am Herzen – unsere Erfahrungen weiter zu geben, bringt uns Freude. Wir bieten Scrum-Schulungen, Workshops zu den Themen Innovation, agile Architektur und Anforderungsmanagement sowie Coachings an. Weitere Informationen finden Sie unter www.sybit-agile.de
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