Die Ziege - Sybit Agile

Agile Softwareentwicklung im Fokus
Die Ziege
und das Agile Manifesto 2.0
Thomas van Aken Seite 3
Der systemische Ansatz
Thomas Albicker Seite 7
Juliane Kluge & Vincent Tietz Seite 10
Ein starkes ICH
für ein starkes WIR
Artgerechte
Menschenhaltung
Gabriele Kottlorz Seite 13
Dr. Ralf Klühe Seite 16
Agil,
aber richtig!
Deshalb Agil!
Klaus Bucka-Lassen Seite 19
Ausgabe 15
sybit-agile.de
Agile
!
and beyond
Grundsolide und knallhart recherchiert: hier ist die
Sybit Agile, begleitend zur Agile Bodensee Konferenz 2015. Ganz dem agilen Gedankengut verhaftet, haben wir der diesjährigen #abkon natürlich
auch wieder eine Vision, ein Motto mitgegeben. Mit
dem Konferenzthema „Agile and beyond!“ schauen
wir dieses Jahr schonungslos über den agilen
Tellerrand.
Zuerst lassen wir es uns jedoch nicht nehmen,
einen Pflock für die ewig Skeptischen einzuhauen. Auch wenn für Sie die Routenführung für
eine Fahrt von Birmensdorf nach Männedorf nicht
lebenswichtig ist, lesen Sie den Artikel von Klaus
Bucka-Lassen! Auch scheinbar einfache Dinge können sich auswachsen und es ist gut, darauf eine
Antwort zu haben.
Mich schreckt das Adjektiv „systemisch“ immer
etwas ab – da wird es komplex und ich verliere
leicht den Faden. Nicht so beim Artikel von Thomas
Albicker, er begründet darin die Praktiken, die wir
bei der Durchführung agiler Projekte kennen und
schätzen gelernt haben.
Aber wir wollten nicht nur in den Niederungen der
Projektrealität verweilen, das „beyond“ beschäftigt
uns auch. Hier konnten wir gleich zwei Autorinnen
gewinnen, die uns zwischenmenschliche Aspekte
näher bringen. Die Befähigung des Teams ist in der
agilen Softwareentwicklung ein zentraler Punkt.
Doch wie bekommen wir die Ansprüche des Einzelnen und gleichzeitig die Forderung nach einem gut
funktionierenden, eigenverantwortlichen Team unter
einen Hut? Juliane Kluge und Vincent Tietz liefern in
ihrem Artikel „Ein starkes ICH für ein starkes WIR –
Soft-Skills im Scrum-Team“ wichtige Gedanken dazu.
2
sybit agile Ausgabe 15
Und auch fürs Management (eine unterrepräsentierte Spezies im agilen Kontext?) gibt es was auf
die Augen: Gabriele Kottlorz zeigt uns ihren Weg
zur „Artgerechten Menschenhaltung“ auf – es geht
um intrinsische und/oder maximalmotivierte Mitarbeiter, die eimerweise die Wertschöpfungskette
anreichern – lesen!
An einem ganz anderen Ende (oder eher am
Anfang) zieht Dr. Ralf Klühe. Er ist Rechtsanwalt
und beschäftigt sich mit der Problematik „Wie sich
agile Projekte vertraglich abbilden und Schieflagen
vermeiden lassen“. Wie hält man die Flexibilität
agiler Projekte vertraglich fest, wie sieht die Vergütung aus, wie verhält man sich bei Eskalationen?
Dr. Klühe liefert wichtige Eckpunkte eines agilen
Vertrags.
Last but noch least zeigt uns Thomas van Aken in
seinem Artikel „Die Ziege und das Agile Manifesto
2.0“ auf, wie der richtige Umgang mit Ziegen das
„Next Bench Syndrome“ lindern kann. Die Devise:
Ohne Kunden-, Nutzer- und Marktorientierung hilft
der schönste agile Softwareentwicklungsprozess
nix.
Viel Spaß beim Lesen und vielleicht sehen wir uns
am 1.10.2015 auf der 4. Agile Bodensee Konferenz
in Konstanz – ich freue mich drauf.
Johannes Hartmannsgruber
Die Ziege
Thomas van Aken
Foto: pixabay.com, CC0
und das Agile Manifesto 2.0
Das Motto der diesjährigen Agile Bodensee Konferenz
dann so an wie post Agile zu sein, wie manche von sich
lautet „Agile and beyond“. Bewusst wollen wir mit die-
behaupten? Umgekehrt hat man manchmal den Ein-
sem Motto den Blick über den agilen Tellerrand wagen.
druck, für Agilisten darf es ausschließlich agile Metho-
Doch relativ schnell stellen sich beim Lesen dieses Mot-
den geben, denn drumherum ist nur finstere, veraltete
tos einige Fragen. Wenn zum Beispiel ein Wesenszug
und unproduktive Ödnis. Doch wie kann das Agile agil
des Agilen ist, sich ständig zu hinterfragen und wei-
sein, wenn es sich nicht auf der Meta-Ebene weiterent-
terzuentwickeln (inspect and adapt), kann man dann
wickelt? Sind wir Agilen nicht dazu verpflichtet, konti-
überhaupt beyond Agile sein? Wenn doch, fühlt sich das
nuierlich über den Tellerrand zu schauen?
sybit agile Ausgabe 15
3
Die Bedeutung des Wortes „Agile“
5. die konkreten Aufgabenstellungen oft nicht ausreichend
Bevor man sich all diesen Fragen nähert, ist zunächst einmal
hinterfragt. Das heißt, bei der Schaffung von Lösungen
zu klären, was Agile überhaupt ist. Laut Dictionary.com [1] gibt
ist häufig weder der Bedarf beim Anwender noch die
es für das englische Adjektiv „agile“ drei Grundbedeutungen:
damit verbundene Positionierung der Lösung am Markt
ausreichend geklärt. Und noch viel schlimmer wird es,
1. Flink und gut koordiniert in der Bewegung.
wenn
2. Aktiv, lebendig.
3. Gekennzeichnet durch die Eigenschaft, schnell zu denken.
6. beide Aspekte das Software-Engineering-Team
überhaupt nicht interessiert.
In unserem Kontext steckt hinter dem Wort „Agile“ ursprünglich ausschließlich die „agile Softwareentwicklung“, welche
Zusammengefasst kann man sagen, dass Software-
eine Software-Engineering-Philosophie ist und aus Werten
ingenieure stark im technischen Lösungsraum sind, die agi-
(dem agilen Manifest), den zugehörigen Prinzipien sowie
len von ihnen ganz besonders. Doch der Problemraum, in dem
konkreten agilen Methoden besteht. Auf der Ebene der
versucht wird, die richtigen Fragen und Annahmen über die
Methoden gibt es z.B. mit Scrum oder Kanban diverse Fra-
Anwender und deren Bedürfnisse sowie den Markt zu stel-
meworks, die ein bestimmtes Methoden-Set und die damit
len, wird zu selten strukturiert angegangen (siehe Abbildung
verbundenen Rollen und Prozesse beschreiben .
1). Im Agilen ist dies oft sogar verstärkt, versucht man doch
[2]
die Phase bis zum Entwicklungsstart so kurz und schlank wie
Der „Engineering-Tunnelblick“
möglich zu halten.
Die große Stärke des agilen Software-Engineering-Ansatzes
ist auch gleichzeitig seine größte Schwäche: Der Fokus liegt
The New New Product Development Game
auf der technischen Erstellung und der zeitnahen Lieferung,
Dabei waren Hirotaka Takeuichi und Ikujiro Nonaka zwei der
dem „Machen“, der jeweiligen Software. Die gestiegene Zahl
geistigen Väter des Agilen bereits 1986 vom Grundverständ-
der Projekte, die wirklich am Ende liefern, gibt dem Agilen
nis her aus meiner Sicht weiter: In ihrem seinerzeit bahnbre-
daher per se Recht. Nun, vielleicht nicht immer.
chenden Artikel „The New New Product Development Game“
Denn der Engineering-Ansatz fokussiert das Finden hoch-
[3]
qualitativer Antworten auf konkrete Aufgabenstellungen –
für Scrum. In dem von ihnen postulierten ganzheitlichen
mit drei gravierenden Problemen:
Ansatz gehören auch Vertriebler, Marktexperten und Desig-
4. Qualität wird oft als technische Qualität verstanden
ner zum crossfunktionalen Team. Darüber hinaus erwähnen
und nicht als Qualität der Nutzungserfahrung des
Anwenders. Darüber hinaus werden
Product
Idea
Empathise
liefern sie nicht nur mit ihrer Rugby-Metapher den Namen
sie Fokusgruppen-Interviews und quantitativ Marktanalysen
als Instrumente der Produktentwicklung und unterstreichen damit die Wichtigkeit der Marktorientierung solcher
Define
Problem Space
Ideate
Prototype
Test
Delivery
MVP
Solution Space
Abbildung 1: Im „Doppeldiamant“ des Design-Thinking gibt es den Problemraum und den Lösungsraum. Im ersten Raum geht es nur um die Sorgen
und Nöte, sprich den Bedarf der Anwender und des Marktes. Erst im Lösungsraum geht es um konkrete Anforderungen und User Experience Design
sowie deren Verprobung. In beiden Räumen versucht man zunächst, eine großer Vielfalt an Standpunkten zu berücksichtigen (divergent), um sie im
zweiten Schritt auf die wesentlichen Aspekte zu verdichten (convergent) [6].
4
sybit agile Ausgabe 15
Teams. Als Beispiel führen sie die Firma Hewlett-Packard
nicht nur für den Einzelnen ist sie unerlässlich. Eine gute
an, die bereits damals die Transition „from a company run
Team-Vision, die Sinn stiftet und inspiriert, ist die Basis für
by engineers for engineers to one with stronger marketing
den Zusammenhalt im Team. Wichtig ist, dass eine solche
focus“ anstrebte.
Vision eine Herausforderung für alle darstellt und Ehrgeiz
All dies postulieren Takeuchi und Nonaka um das soge-
weckt. Für mich absolut schlüssig, diesen Wert ganz nach
nannte „Next Bench Syndrome“ zu bekämpfen – ein Produkt-
vorne zu stellen.
Design-Ansatz, bei dem der Büronachbar gefragt wird, wel-
Disziplin und Agile sind zwei Begriffe, die von Außenste-
che Eigenschaften er an dem neuen Produkt denn gerne
henden gerne ohne Zusammenhang gesehen werden. Der
sehen möge. Ihnen kommt das bekannt vor? 30 Jahre ist die-
geneigte und mit agilen Praktiken versierte Leser lächelt an
ser Artikel nun fast alt und immer noch top aktuell.
dieser Stelle wissend. Denn selbstorganisierte Teams, die
Die Ziege richtig kraulen
den Regeln folgen, die sie sich selbst auferlegt haben, arbeiten definitiv effizienter. Für mich ist es eine klare praktische
Nun gibt es mittlerweile Ansätze wie das Lean Startup, die
Erfahrung, dass agiles Arbeiten entgegen der landläufigen
das Lernen über unsere Kunden und über unseren Markt wie-
Meinung den Beteiligten ein hohes Maß an Selbstdisziplin
der in den Fokus stellen. Kent Beck, einer der Mitunterzeich-
abverlangt und dies auch dem Endergebnis gut tut.
ner des Agile Manifesto, hat das anlässlich eines Vortrags
auf der Startup Lessons Learned Conference 2010 mit dem
Validated Learning
Kraulen seiner Ziegen verglichen . Er hat festgestellt, dass
Laufende Software einer vollständigen Projektdokumen-
es bei ihnen spezielle Punkte gibt, die sie besonders gerne
tation voranzustellen war 2001 ein großer und wichtiger
gekrault bekommen. Er nennt diese Punkte „itchy spots“.
Schritt. Doch sie ist niemals ein Selbstzweck! Eine Ziege zu
Der Erfolg des Kraulens liegt also nach wie vor auch in einer
kraulen, die gerade weder in der Stimmung ist, noch einen
guten Kraultechnik (Software Engineering), aber vor allem
„itchy spot“ hat, ist einfach „pointless“. So eingängig das
daran, die richtigen Stellen zu finden. Unsere Herausforde-
klingt, so oft fangen wir Softwareentwickler schon an zu
rung als Software-Produzenten ist es also, diese itchy spots
kraulen, bevor sich überhaupt irgendjemand Gedanken über
unserer Kunden zu entdecken.
einen möglichen Bedarf gemacht hat. Es gilt, unsere Annah-
[4]
Das Agile Manifesto 2.0
men über Bedürfnisse und gewünschte Nutzererfahrungen
so schnell und so günstig wie möglich zu validieren (das
Vor dem Hintergrund seiner Ziegen und des Lean Start-up
heißt zu messen), um daraus zu lernen. Und das bedeutet
hat Kent Beck eine Erweiterung des Agile Manifesto
oft, dass wir dies ohne ein Stück Software tun können, nein
vorgeschlagen:
in vielen Fällen sogar sollten. So können wir den Vorteil
von Menschen gegenüber Ziegen knallhart ausnutzen und
Team vision and discipline over individuals and inter-
mit ihnen sprechen und z.B. Nutzererfahrungen mit bereits
actions (or processes and tools)
bestehenden Angeboten abfragen. Validated Learning zielt
Validated learning over working software (or compre-
also auf die Frage ab, wie ich möglichst sicherstelle, dass ich
hensive documentation)
mit meinem Vorhaben echte Mehrwerte generiere.
Customer discovery over customer collaboration (or
experiment
contract negotiation)
Initiating change over responding to change (or following a plan)
Aus seiner Sicht war das Agile Manifesto im Jahr 2001 ein
großer Schritt nach vorne, doch es gilt, diese Wertepaare für
build
measure
Lean Startups zu erweitern. Aber passt die Erweiterung nicht
auch generell für andere agile Organisationen? Ich denke
schon, daher nenne ich es auch völlig vermessen das „Agile
Manifesto 2.0“. Gehen wir die Paare im Einzelnen durch:
Team vision and discipline
Die Team-Vision ist die Motivation der Team-Mitglieder, für
learn
ein bestehendes Vorhaben morgens aufzustehen. Doch
Abbildung 2: „build-measure-learn“ – Der Lean Startup-Prozess
sybit agile Ausgabe 15
5
Customer discovery
Fazit
Hier kommt eine Neuigkeit: Startups haben anfangs keine
Sicher ist für mich, dass der Blick der reinen agilen Soft-
Kunden, sie müssen erst welche finden. Klingt einfach, ist
wareentwicklung zu eng gefasst ist. Die Kunden-, Nut-
es aber nicht. Für sie ist es unerlässlich zu verstehen, ob es
zer- und Marktsicht muss stärker in den Werten, Prinzipien,
da draußen Menschen mit Bedürfnissen gibt, die sie zu ihren
Methoden und Prozessen verankert werden. Ansätze wie
Kunden machen können. Übertragen auf andere Organisatio-
Lean Startup sind daher aus meiner Sicht wichtige Weiter-
nen heißt dies, dass eine enge Zusammenarbeit mit Kunden
entwicklungen. Und ja, sie sind „beyond Agile“. In dem Sinne,
zwar ein wichtiger Faktor ist, es aber darüber hinausgehen
dass sie zwar über die agile Softwareentwicklung hinausge-
muss: Wir sollten unsere Kunden (im B2B-Umfeld auch die
hen, sie aber nicht hinter sich lassen. Agile Entwicklung wird
Kunden unserer Kunden) und ihre Bedürfnisse wirklich ver-
immer ein Kernbestandteil bleiben. Denn am Ende muss es
stehen und sie aktiv erkunden. Oftmals kennen sie diese
immer noch einen geben, der die Ziege ordentlich krault.
selber nicht. Und manchmal braucht es hierzu gar nicht den
Build-Measure-Learn-Zyklus des Lean Startup (siehe Abbildung 2), manchmal genügt einfach der Dreiklang Assumpti-
[ 1 ]
http://dictionary.reference.com/browse/agile
on-Ask-Learn (User Interviews) oder Assumption-Read-Learn
[ 2 ]
Im Wikipedia-Artikel werden diese Frameworks einfach nur „agile
Prozesse“ genannt.
Trickkiste [5]. Grundsätzlich gilt an dieser Stelle im übertrage-
[ 3 ]
https://hbr.org/1986/01/he-new-new-product-development-game
nen Sinne der Leitsatz „go past your next bench colleague
[ 4 ]
Vortrag auf der Startup Lessons Learned Conference 2010:
https://www.youtube.com/watch?v=d4qldY0g_dI
[ 5 ]
Siehe http://uxmastery.com/resources/tools/
[ 6 ]
Siehe http://www.designcouncil.org.uk/news-opinion/
design-process-what-double-diamond
(Markt- und Zielgruppenanalysen) aus der User Experience
and get out of the building!”. Denn nur dort trifft man die
Leute, die die wirklich relevanten Informationen über Bedarf
und Mehrwert Ihres Vorhabens bereithalten.
Initiating Change
Auch hier muss man den Zeitpunkt des Agile Manifesto mitbedenken. In 2001 war es anscheinend immer noch bahnbrechend zu sagen, dass „plan the work, work the plan“ überholt
ist. Die Bereitschaft, Änderungen auf dem Weg mit aufzunehmen ist ja auch ein hoher Wert an sich und auch heute
noch eine Herausforderung für viele Organisationen. Doch
Agile und Lean Startup bringen beide mit sich, den Wandel
bewusst zu provozieren. Denn wie doof sind wir denn, wenn
wir das, was wir auf dem Weg lernen, nicht aktiv in den Plan
mit aufnehmen?
Thomas van Aken ist seit mehr als
15 Jahren in der Softwareentwicklung
unterwegs. Dabei hat er unter anderem als Entwickler, Produkt-, Projektund Programm-Manager die verschiedensten Aufgabenfelder bearbeitet.
Seit 2008 wendet Thomas agile Methoden an – von Anfang
an auch in Zusammenarbeit mit Designern und Konzeptern.
Seit 2012 begleitet er als Agile Coach bei der Sybit GmbH
Teams in Kundenprojekten und gibt Schulungen zu den
Themen Scrum, Kanban, agiles Anforderungsmanagement
und Lean UX.
6
sybit agile Ausgabe 15
Foto: pixabay.com, CC0
Der
systemische
Ansatz
Thomas Albicker
und wie wir damit (IT) Projekte
erfolgreicher machen
Zugegeben – es ist ein wenig unkonventionell auf einer
Der erste Schiedsrichter sagt:
IT-dominierten agilen Konferenz das Wort „systemisch”
„Wenn ein Spieler ein Foul macht, dann pfeife ich!“
auf die Agenda zu setzten. Systemisch im Kontext eines
IT-Schwerpunkts hört sich initial wahrscheinlich etwas
Der zweite Schiedsrichter meint:
fremd an.
„Wenn ich ein Foul sehe, dann pfeife ich!“
Was war denn Ihre erste Assoziation mit dem Wort „sys-
Der dritte Schiedsrichter entgegnet:
temisch“? Welche Erfahrungen haben sie damit, welche
„Bei mir ist es erst dann ein Foul, wenn ich pfeife!“
Theorien kennen Sie bereits? Was haben Systeme für
eine Bedeutung in Ihrem Alltag, sei es im privaten oder
Für den Begriff des „systemischen Projektmanage-
im beruflichen Kontext? Welche Bilder haben Ihre neu-
ments“ kann ich Ihnen leider keine DIN-zertifizierte
ronalen Netze in Ihrem Gehirn Ihnen geliefert?
Definition liefern – er wird, und das ist richtig so – von
jedem Benutzer sehr individuell interpretiert. Denn
Bevor dieser Text den Zusammenhang zwischen Sys-
eine der wichtigsten systemischen Kernaussagen lau-
temtheorie und Projekten näher aufzeigt, lade ich Sie
tet: Es gibt keine objektive – d.h. vom Beobachter unab-
ein, folgenden Dialog zwischen drei Schiedsrichtern zu
hängige – Wirklichkeit.
beizuwohnen
[1]
. Wer von den dreien hat recht?
sybit agile Ausgabe 15
7
Wahrscheinlich klingt dies in unserer „Input/Output“ (I/O)
Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Als Systeme gelten in der
getriebenen Denklogik, – welche bei gleichem Input immer
steuerbar. Wir stehen ständig in
Theorie „abgegrenzte,
den gleichen Output „annimmt“ – erstmal seltsam. Um dies
Kontakt mit anderen „Systemen“;
funktionale Einheiten,
zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der Herkunft
sei dies in unserer eigenen Firma,
die aus Elementen
dieses konstruktivistischen Gedankens befassen. Bekannte
beim Kunden, mit unserem Lie-
bestehen, die
Vertreter dieser Theorie waren Paul Watzlawick, Jean Piaget
feranten oder zu Hause bei der
miteinander in
und Niklas Luhmann (Soziologie) bzw. Humberto Maturana
Familie. Der Nicht-Kausalität die-
Wechselwirkungen sind“
und Francisco Varela im Bereich der Neurobiologie und Kog-
ser fundamentalen, gegenseiti-
nitionswissenschaften. Ihre Erkenntnisse lassen sich kurz
gen Wechselbeziehung schenkt
Übertragen auf unsere
wie folgt zusammenfassen: Die Perspektive und das Beob-
der systemische Blickwinkel ein
Projektrealität können
achtungsraster einer Person bestimmen dessen Wahrneh-
besonderes Augenmerk.
wir Firmen, Abteilungen,
Projektteams …. – und
mung der Wirklichkeit. Jeder von uns konstruiert fortlaufend
aktiv seine eigene individuelle Realität (Humberto Maturana,
In einer stark vernetzten Welt
damit schlussendlich
2002).
des 21. Jahrhunderts kommen wir
jeden einzelne Menschen
Dieses sich ständig neu organisierende Raster der Bewer-
daher nicht mehr umhin, Projekte,
– als soziales System
tung und Wahrnehmung ist das Ergebnis unserer Prägung
mit denen wir komplizierte und
betrachten.
bedingt durch: Sozialisation, Freunde, Familie, Bekannte,
komplexe Probleme lösen wollen,
Arbeitskollegen und allgemeine Lebenserfahrungen. Dar-
„systemisch“ zu betrachten.
aus haben sich in unseren neuronalen Netzen des Gehirns
lohnt sich daher, einen kurzen
bestimme Haltungen, Glaubenssätze und Grundannahmen
Blick auf einige wenige zentrale Kernaussagen zu werfen,
festgesetzt, die schlussendlich unsere Gedanken, unsere
um damit ihre (agile) Projektmanagement-Philosophie wei-
Wahrnehmung und damit unser Handeln massiv beeinflus-
ter anreichern zu können:
Es
sen und für einen „Außenstehenden“ verschlossen sind.
½½
Die Systemtheorie, auf welcher u.a. die ersten agilen Sche-
Systeme überleben nur dadurch, dass sie sich von der
Umwelt abgrenzen
mata aus den 50er Jahren basieren, stellt daher unser tra-
Schaffen Sie in Ihren Projekten eine „Projektidentität“.
ditionell geprägtes, kausal-mechanistisches „I/O-Weltbild“
Die Mission, Ziele müssen für jeden „Sinn“ ergeben
radikal in Frage. Systemtheoretisch gesehen sind wir auf-
– dies ist mehr als die bloße Postulierung von
grund der oben beschriebenen, komplexen Vergangen-
Mission und Zielen. Lassen sie eine konstruktive
heitsabhängigkeit der eigenen individuellen Realität analy-
Auseinandersetzung über Sinn / (Un)sinn des Projekts
tisch unbestimmbar und damit nicht im Sinne geradliniger
zu, um den Blick für das „große“ Ganze zu ermöglichen.
Systemisches Weltbild [2]
Mechanistisches Weltbild
Systemisches Weltbild
½½
Objektivität, eine Wahrheit, unveränderliche Gesetze
½½
Wirklichkeitskonstruktion, viele «Wahrheiten», Thesen
½½
richtig – falsch, schuldig – unschuldig
½½
Kontextabhängigkeit, Nützlichkeit, Anschlussfähigkeit
½½
(Fremd-)Steuerung
½½
Selbststeuerung und –organisation
½½
lineare Kausalketten
½½
vielfältige Wechselwirkungen, Feedbackschleifen
½½
messbarer, fixer Unterschied
½½
sich unterscheiden, verändern
½½
linearer Fortschritt, ändern
½½
Entwicklung, ändern und bewahren
½½
formale Logik, Widerspruchsfreiheit, Ausschluss
½½
Integration von Widersprüchen, Einbeziehung
½½
harte Fakten, rationale Beziehungen
½½
Integration von harten und weichen Faktoren
½½
Rollen: Macher, Führende und Geführte, Manipulation
½½
Rollen: Impulsgeber, Gärtner
½½
Methoden: Instruktion, Anordnung, Befehl, Lernen durch
½½
Befähiger, Entwicklungshelfer, Coach
½½
Methoden: Zuhören, Fragen, Dialog, Diskussion, Reflexion,
Versuch und Irrtum
Lernen des Lernens
Schaffen sie (kleine) Artefakte, welche das Projektteam
nach „außen“ abgrenzen und ihnen einen eigenen
„Spirit“ verleihen. Dies beinhalte auch, dass jede Form
der „Ausgrenzung“ von Zugehörigen nicht toleriert wird.
½½
Kommen wir zu unserem Beispiel der drei Schiedsrichter
in der Konstanzer Kneipe zurück. Was können wir von den
beschriebenen Prinzipien lernen? Was können wir systemisch gesehen zur Frage „Wer hat recht“ ableiten?
Systeme bilden sich, um Komplexität der Umwelt zu
Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesem kleinen „Ausschnitt“ ein
reduzieren
wenig neugierig auf die Sichtweisen des systemischen Pro-
Dies schaffen Systeme nur dann, wenn durch
jektmanagements machen. Vielleicht sagen Sie auch: Das ist
Kommunikation ein Austausch von Informationen
ja eigentlich nichts Neues. Dem möchte ich zustimmen – die
zustande kommt, der dem menschlichen Bedürfnis
„Grundlagen“ sind mehrere Jahrzehnte alt, die agilen Modelle
nach Ordnung und Orientierung nachkommt. Das
haben viele dieser Prinzipien genutzt. Die Frage darf den-
Projekt für die Teilnehmer einen adäquaten Umgang
noch erlaubt sein: Warum ist das „daily business“ in vielen
mit allen Informationen der Projektumwelt finden.
Organisationen noch das pure Gegenteil?
Achten sie insbesondere auf klare Funktionen und
½½
Rollen, einen wahrhaft respektvollen Umgang und die
Ich freue mich auf einen regen Austausch mit Ihnen während
Gleichwürdigkeit eines jeden Projektmitglieds.
und nach der Konferenz.
Systeme haben die Eigenschaft, sich aus sich selbst
[ 1 ]
Quelle: Vortrag Universität Zürich, Beate Kuhnt
heraus immer wieder neu hervorzubringen
[ 2 ]
Quelle: Königswieser / Hillenbrand, Systemische Organisationsberatung, 2011
Gerade in dieser – veränderten – Geisteshaltung des
konstruktivistisch/systemischen Weltbildes (siehe
Tabelle) liegt der Schlüssel zu noch erfolgreicheren
Projekten. Fragen Sie sich immer, wie Sie dem System
helfen können. Es hat alle Kompetenzen, sich die
Lösung selbst zu erarbeiten, auch wenn, und das ist das
Dilemma, das nicht immer geschieht. Ihr wesentlicher
Beitrag liegt darin, sich selbst „gut führen“ zu
können – nur damit sind Sie in der Lage, gut mit Ihrem
Projektteam zu kooperieren und damit einen Nährboden
zu generieren, auf welchem das Team „wachsen“ kann.
½½
Systeme können nicht gezielt von Außen beeinflusst
werden
Projekte entwickeln ihre eigene Identität, Normen,
Regeln etc., nach denen sie sich selbst wahrnehmen und
Ihre Umwelt beobachten. Das Projekt kann Impulse aus
der Außenwelt aufnehmen, tut dies aber immer nach
den eigenen Regeln – von daher ist eine zielgerichtete
Thomas Albicker ist seit jeher
Veränderung von „außen“ nicht möglich, auch wenn dies
fasziniert von „nicht konventionellen“
durch Change-Management-Apologeten immer wieder
Management-Modellen und Methoden
behauptet wird. Durch Bildung eines von Hypothesen
abseits der klassischen Befehls- und
gesteuerten Vorgehens können Sie Interventionen
Kontrollorganisation, welche den
erzeugen, die im System zu einem (gewünschten)
Mensch als „Zentrum“ des Handelns
Effekt führen und anhand dessen Sie durch Reflexion
sehen. Die Anwendung dieser Fragestellungen beschäfti-
(Retrospektiven) Ihre Hypothesen verifizieren können. Es
gen ihn nicht nur bei morgendlichen Joggingrunden in der
ist also systemisch gesehen gar nicht anders möglich, als
schönen Landschaft des Bodensees, sondern auch in seiner
über Scheitern zum Erfolg zu kommen.
beruflichen Praxis als Organisationsentwickler & Projektmanager bei der SWISS International Airlines in Zürich.
sybit agile Ausgabe 15
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Ein starkes ICH
für ein
starkes WIR
Juliane Kluge & Vincent Tietz
Foto: Sybit GmbH
Soft-Skills im Scrum-Team
Agile Vorgehen stellen den Menschen in den Mittel-
aber die Fähigkeit, den anderen wirklich zu verstehen
punkt. Sie wecken das Potential, indem sie Selbst-
und sich selbst klar auszudrücken. Dazu gehört, zu sich
verantwortung und Kreativität fördern und fordern.
und den eigenen Werten zu stehen. Wir sehen deshalb
Scrum-Teams leben vom täglichen Austausch, wobei
die radikale Selbstverantwortung als Grundstein für die
Kommunikations-, Moderations- und Konfliktlösungs-
erfolgreiche Zusammenarbeit und die Entfaltung von
kompetenzen unerlässlich sind. Viel bedeutender ist
Soft-Skills im Scrum-Team.
10
sybit agile Ausgabe 15
Jeder ist gefordert
selbstverantwortlich agieren können und dürfen. In einem
Die Uhr zeigt 9.30. Langsam erhebe ich mich aus meinem
Scrum-Team spielen die sozialen Fähigkeiten eine noch grö-
Stuhl und schleppe mich zum Aufgabenboard. Mein Blick
ßere Rolle als in homogenen und klassisch geführten Teams.
schweift über meine gelangweilten Kollegen. „Was ich ges-
Interdisziplinarität und Selbstorganisation fordern von jedem
tern gemacht habe, weiß ich nicht mehr so genau. Heute, mal
Einzelnen ein Höchstmaß an Klarheit, Engagement und Ver-
sehen. Vielleicht das hier. Mich behindert natürlich nichts.“
antwortung. Was nutzen all die Retrospektiven, wenn ich in
Meine Gedanken verlieren sich wieder im nirgendwo. Der
meiner Komfortzone bleibe und nur darauf warte, was mir
Tester testet, der Architekt entwirft und die Entwickler ent-
der Scrum Master als nächstes Spiel vorschlägt? Was nutzt
wickeln. Alles geht seinen Gang – wie immer. Alles in Butter?
es mir, meine Bedenken, meinen Frust oder meine Begeiste-
Das Daily-Scrum bietet jedem Team die hervorragende Mög-
rung zurückzuhalten, wenn ich mich in meiner Rolle als Spe-
lichkeit, sich selbst zu reflektieren und bei Bedarf das eigene
zialist über andere erhebe oder die Schuld anderen gebe?
Vorgehen so anzupassen, dass das Sprint-Ziel erreicht wer-
Passivität, fehlendes Vertrauen, Fehlerintoleranz und Frust
den kann. Es ist also weder eine Plattform zur Selbstdar-
schaden mir selbst und meinem Team am meisten.
stellung, noch ein Statusmeeting für den Product Owner
und auch kein Kaffeekränzchen. Jeder muss sich die Frage
Der Weg zur radikalen Selbstverantwortung
stellen, durch welche konkreten Beiträge er das Team dem
Wie kann man Selbstverantwortung fördern? Die gute
Sprint-Ziel näher gebracht hat und wie er oder sie es wei-
Nachricht ist, dass Selbstverantwortung bereits durch das
terhin dorthin unterstützen möchte und was er vom Team
Scrum-Rahmenwerk vorausgesetzt wird. Das Team ist ver-
braucht um seine Stärken voranzubringen.
antwortlich für die Planung und Umsetzung durch selbst
Die Notwendigkeit der radikalen
Selbstverantwortung
gewählte Aufgaben und gemeinsame Abstimmung. Das
Daily-Scrum stärkt den Wissensaustausch und die Anerkennung der eigenen Leistung. Leider wird die Verantwortung
Bei genauerer Betrachtung erfordert das Daily-Scrum die
des Teams manchmal noch untergraben, wenn zum Beispiel
tägliche Übernahme der Verantwortung für das eigene
Release-Termine vom Management festgelegt oder die
Handeln in Hinblick auf die Ziele der Gruppe sowie dessen
Umsetzung von Features durch Architekten außerhalb des
öffentliche Verpflichtung. Was zunächst bedrohlich nach Auf-
Teams vordefiniert werden. Dann braucht es Klarheit und
opferung klingt, ist im Detail betrachtet eher das Gegenteil
Mut aller Beteiligten, um die Folgen klar zu benennen. Wenn
und bewirkt eine Stärkung der eigenen Persönlichkeit und
das Team nicht selbstverantwortlich agieren darf, wird es
am Ende des gesamten Teams. Die radikale Selbstverantwor-
beginnen, nur nach Vorschrift zu arbeiten und damit die Ver-
tung ist der Schlüssel für Fokus, Mut, Offenheit, Verpflich-
antwortung abzugeben – eine traurige Verschwendung des
tung und Respekt – die Kernwerte von Scrum. Das bedeutet:
möglichen Potentials.
Der Weg zur radikalen Selbstverantwortung führt über die
½½
Ich bin freiwillig hier und leiste meinen Beitrag.
½½
Ich kenne meine Ziele und Bedürfnisse und sorge dafür.
½½
Ich bin in der Lage, meine Grenzen zu kennen, zu achten
Gefühle der anderen gelassener einzuordnen und souveräner
und zu verteidigen.
zu handeln. Im Training der emotionalen Intelligenz kann der
½½
Ich weiß, was ich kann und was ich noch lernen muss.
Umgang mit den sonst automatischen Reaktionen verän-
½½
Ich weiß, wie ich Entscheidungen treffe und gehe
notwendigen Konflikten nicht aus dem Weg.
emotionale Intelligenz und den achtsamen Dialog. Die emotionale Intelligenz hilft dabei, die eigenen Gefühle und die
dert werden. Durch Selbstwahrnehmung spüren wir, wie der
eigene Körper auf bestimmte Reize reagiert. Fängt das Herz
an zu schlagen, beginnen Schweißausbrüche oder nimmt
½½
Ich nutze meine Fehler, um mich weiterzuentwickeln.
½½
Ich traue mir selbst Veränderungen zu und treibe sie
Gefühle ein? Selbstregulation und Selbstführung ermöglichen
voran.
eine für die Situation angemessene Reaktion. Zum Beispiel
Ich weiß, was ich von anderen brauche und was andere
statt sich zurückzuziehen oder laut zu werden, kann man eine
½½
von mir erwarten können.
die Atemfrequenz zu? Stellen sich typische Gedanken und
Metaperspektive einnehmen und versuchen, die Bedürfnisse
aller Beteiligten zu erkennen und transparent zu machen.
Notwendig wird diese Sicht vor allem deshalb, weil in der
Ebenso können Blockaden identifiziert und in zielorientierte
agilen Welt niemand mehr die Aufgaben und Arbeitsweise
Handlungen überführt werden, zum Beispiel, um automati-
diktiert. Selbstorganisation erfordert die Selbstverantwor-
sche Zusagen an Stakeholder zu vermeiden, die häufig aus
tung aller Beteiligten, sowie das Zugeständnis, dass alle
Angst vor Konflikten und Enttäuschung gemacht werden.
sybit agile Ausgabe 15
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Der achtsame Dialog trennt zwischen Beobachtung und
Interpretation und nutzt sowohl die die eigenen Gefühlsimpulse, als auch die Gefühle des Gegenübers, um in einen echten Dialog zu treten. Häufig verbergen sich hinter der reinen
sachlichen Botschaft auch Emotionen oder Appelle. Für eine
gute Zusammenarbeit ist es lohnenswerter, diese zu benennen und im Zweifel anzusprechen, als mit einer automatischen Interpretation aus einer Besprechung zu gehen und
blind zu handeln. Auch hier hilft die Selbstwahrnehmung,
die für ein „komisches Gefühl in der Magengegend“ sensibilisiert. Auch Empathie für mein Gegenüber kann trainiert
werden. Zum Beispiel kann man das Daily-Scrum nutzen, um
herauszufinden, was den anderen tatsächlich bewegt oder
behindert. Oft fällt es schwer, den anderen zu folgen, wenn
man selbst über seine Aufgaben nachdenkt. Eine bewusste,
achtsame innere Vorbereitung vor dem Meeting mit der
Fokussierung auf das Team und die gemeinsamen Ziele hilft
dabei, während dem Daily-Scrum wirklich präsent zu sein.
Unabhängig davon bleiben selbstverständlich Wertschätzung und Respekt wesentliche Voraussetzungen für einen
konstruktiven Dialog.
Verbesserung durch Kontinuität und
Vorbild
Die Grundlage für jede gute Zusammenarbeit liegt also in
der radikalen Selbstverantwortung eines jeden Einzelnen.
Juliane Kluge ist Diplomsoziolo-
Sie erfordert die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten und
gin und seit 2010 selbstständige
den anderen etwas besser zuzuhören. Selbstverantwortlich
Trainerin und Coach für Persönlich-
handelnde Persönlichkeiten können ein selbstorganisiertes
keitsentwicklung, Potentialentfaltung
Team durch ihre Vorbildfunktion maßgeblich bereichern. So
und Teamentwicklung. In ihre Arbeit
gesehen, sind auch die Soft-Skills einem kontinuierlichen
fließen sowohl die Kenntnisse ihrer
Verbesserungsprozess unterworfen. Selbstverantwortung
Zusatzausbildungen (Coach für Persönlichkeitsentwicklung,
und achtsame Kommunikation sind von allen gefordert: vom
Organisationsinterner Trainer, wingwave®-Coach, systemi-
Teammitglied, vom Team, dem Produkt- und dem Organisati-
scher Teamcoach) als auch die Erfahrungen aus 10 Jahren
onsmanagement. Das schafft den Rahmen für eine kommu-
Projektleitung ein. Seit 2015 berät Juliane Kluge die Saxonia
nikative respektvolle und effiziente Zusammenarbeit.
Systems AG bei der Entwicklung von Scrum-Teams.
Vincent Tietz ist Entwickler, Architekt und Certified ScrumMaster® bei
der Saxonia Systems AG in Dresden.
Er studierte und promovierte an der
TU Dresden und unterstützt heute
verteilte und agile Scrum-Teams, um
die Hürden der Verteilung zu überwinden. Die Erfahrungen
sammelt er in Form des Konzepts für verteilte und agile
Zusammenarbeit ETEO (Ein Team Ein Office) und gibt sie
neben seiner Tätigkeit als Scrum Master in Form von Vorträgen und Artikeln weiter.
12
sybit agile Ausgabe 15
Foto: Sophia Lauinger, Sybit GmbH
Gabriele Kottlorz
Artgerechte
Menschenhaltung
Eine wertschätzende Provokation für lebendige
Unternehmenskultur in Zeiten von 4PunktNull
„Das auffälligste Kennzeichen für das Pathologische
ebenso einzigartigen Unfähigkeit, ihre sozialen Prob-
unserer Spezies ist der Gegensatz zwischen ihren
leme zu meistern.“ (Arthur Koestler, Zivilisation in der
einzigartigen technologischen Leistungen und ihrer
Sackgasse)
sybit agile Ausgabe 15
13
Möhrchen, Macher und Ministerin
abgeht? Und gegen 20 Uhr alle beseelt nach Hause mäan-
Der Dialogprozess des Arbeitsministeriums nennt sich
dern, weil sie endlich mal über ihre Gefühle geredet haben?
„Arbeit 4.0“ und will mit Hilfe bundesweiter Workshops und
Veranstaltungen herausarbeiten, wie die Zukunft der Arbeit
Kultur braucht Handwerkszeug
aussehen soll. Ministerin Andrea Nahles tituliert Ihren Auf-
Die geforderten Veränderungen wiegen schwer in der Tra-
tritt auf der Zukunft Personal in Köln:
dition von Hierarchie, Anweisung und Kontrolle. Ein Umgang
„Arbeit 4.0 – der Mensch bleibt im Mittelpunkt“ Oha. Er
auf Augenhöhe setzt persönliche Kompetenzen voraus, die
bleibt?! Wo war er denn, der Mittelpunkt; habe ich als arbei-
wir leider weder zu Hause, noch in der Schule und schon gar
tender Mensch ihn über 25 Jahre lang etwa übersehen? Oder
nicht im Beruf gelernt haben. Wir fangen gerade erst damit
beschönigt unsere Arbeitsministerin etwa die Rolle, die der
an, die Verantwortung für unsere Bedürfnisse zu überneh-
Mensch in der Produktivitätsmaschinerie bisher eingenom-
men. Wir können nur mit dem umgehen, was sicht- und greif-
men hat?
bar ist. Gerade das durfte am Arbeitsplatz nicht passieren! Da
Fakt ist, dass er nun, der Mensch nämlich, viel mehr einbe-
soll man ja funktionieren. Für alles andere gibt`s den Feier-
zogen werden soll in Entscheidungen und Prozesse, damit
abend, das Hobby, die Familie, den Psychotherapeuten.
er intrinsisch angetrieben von reiner Verbundenheit mit
Nun vermischt sich immer mehr Beruf mit Privat, für eine
dem Unternehmen vor Leistung nur so strotzt und gar nicht
Identifikation mit unserem Unternehmen brauchen wir das
mehr aufhören kann, produktiv zu sein. Die Formel „Leistung
Gefühl, als Ganzes gesehen zu werden und eine Stimme zu
gegen Möhrchen“ ist längst passé, so hört man. Vierpunkt-
haben, die gehört wird.
null ist auf allen Kanälen, ob Führung, Arbeit, Kommunika-
Wir sind „Herdentiere“ durch und durch. Die verkrampfte
tion oder Industrie. Ich warte noch auf den Hund 4.0, der mir
Trennung von Persönlichkeit und Berufsleben laugt uns aus.
per App mitteilt, ob er ein Häufchen machen wird, damit ich
Wir brauchen Anerkennung, Freiheit und Vertrauen. Wir brau-
auch die entsprechenden Tütchen griffbereit habe ...
chen gemeinsame, von Herzen geteilte Visionen und Ziele.
Das Rezept für maximalmotivierte Mitarbeiter (mmM 4.0),
So weit tönt es durch alle 4.0- Kanäle, ermüdend ausführlich
die sich unabhängig von Arbeitszeit und –ort jederzeit voll
belegt von ungezählten Studien und herunter gebetet von
„einbringen“, scheint auch klar. Die Führungskraft 4.0 ist
jedem Berater, der sich von McK…. und Co distanzieren will.
Sinnstifter und Moderator, die Mitarbeiter bringen Kreativi-
Alles Einhornkotze?
tät und Lösungskompetenz eimerweise in die Wertschöpvon Respekt und Wertschätzung.
Artenschutz am Arbeitsplatz – Schnattern
erwünscht!
Klingt schwierig. Ist es auch. Viele Unternehmen leben
Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen ist vor allem
4PunktNull schon lange, reden aber nicht darüber. Einige
eins: Eine große Chance.
reden ununterbrochen darüber, dekorieren damit jedoch nur
Diese Chance wird vielfach ergriffen, denn immer mehr
die hauchdünne Oberfläche ihres personellen und persönli-
Unternehmen öffnen die Büchse der Pandora und geben
chen Pulverfasses. Sehr viele beschäftigen sich nur damit,
ihre Kanäle frei für die Vielen, um von der Intelligenz des
weil es Geld von der ESF oder dem Nahles-Ministerium gibt.
Schwarms zu profitieren. Wer sollte denn die in Marmor
Nimmt man dann mal so mit ... Ja klar, ein Workshop, super,
gemeißelten Ansprüche mit Leben erfüllen, wenn nicht die-
irgendwas bleibt ja immer hängen.
jenigen, die davon direkt betroffen sind!?
Absolut nicht neu ist die Erkenntnis, dass viel Unterneh-
Für alle Beteiligten bricht nun Fluch und Segen gleichzeitig
menskultur an der herrschenden Kommunikation abzulesen
herein. Ein ohrenbetäubendes Geplapper erhebt sich und
ist. Wenn die Techniker aufhören zu tratschen, wenn der
übertönt mit scheinbar belanglosem Zeug die „wichtigen“
Abteilungsleiter in die Teeküche grätscht, haben Sie schon
Impulse. Wer gehört wird, fühlt sich gepinselt und löst Neid
verloren. Kann man noch toppen mit der Frage: „ Habt Ihr
und Missgunst aus. Wer nicht gehört wird, zieht sich beleidigt
nichts zu tun“?? Und zack, da haben wir die Schubladen
zurück und am Ende tönen nur noch die, die schon immer
von vorgestern. Unmotivierte Angestellte verbummeln die
getönt haben. Das ist dann der SozialCrash 4.0!
Arbeitszeit mit privatem Tratsch. Hundsgemeiner Chef ver-
Wir brauchen Handwerkszeug, um mit der neu entstehenden
breitet Angst und Schrecken, um seine eigene Unzuläng-
Offenheit umgehen zu können. Wir brauchen ein Selbstbe-
lichkeit zu kompensieren. Das ist Atari, Pacman, knackendes
wusstsein, das nicht am beruflichen Erfolg hängt. Wir brau-
Modem – EinsPunktNull.
chen einen klaren Fokus auf eigene und gemeinsame Ziele.
Ist es nun die Zukunft der Arbeit, dass der Abteilungsleiter
Wir brauchen verbindliche, lebendige Werte, die uns Stabi-
eine Pulle glutenfreien Sekt aufmacht und die Party richtig
lität und Orientierung geben. Wir brauchen sehr viel Ver-
fungskette ein, natürlich immer auf Augenhöhe und umspült
14
sybit agile Ausgabe 15
trauen, in uns und in andere. Wir brauchen die Überzeugung,
dass man vielleicht unseren Vorschlag zur Werbekampagne
saublöd findet und dennoch uns als Mitarbeiter und Mensch
hoch schätzt. Wir brauchen die Größe, als abgewählte Führungskraft an anderer Stelle einen guten Job zu machen. Und
wir brauchen vor allem das „WIR-Gefühl“, das die Wichtigkeit
eines Mitarbeiters von dessen Gehaltsklasse entkoppelt.
Kultur und Kirschkuchen
Klingt schwierig. Ist es auch. Unmöglich ist es nicht und der
Weg dahin kann durchaus Freude machen. Mit etwas Mut
und gegenseitiger Unterstützung sollte es zu machen sein.
Erwarten Sie keine Wunder, dann erhöht sich die Chance auf
viele kleine Erfolge um ein Vielfaches.
Wir haben uns auf den Weg gemacht und ganz eigene Lösungen für artgerechtes Miteinander gefunden. Ich bin eine
von denen, die an manchen Tagen vor lauter Berufung die
Ausgangstür nicht mehr finden, beseelt und getrieben von
unserer gemeinsamen Vision von einer schönen Welt voller glücklicher Menschen ... Dann kommt meine Chefin und
sagt: „Entweder schmeiße ich Dich jetzt raus oder Du musst
Kirschkuchen mit mir essen.“
Da nehme ich doch – ganz klar, ich kenne ja meine Bedürfnisse nach seitenweise Buchstabensalat und Selbstfindung
– den KUCHEN!
Wir gehören übrigens zu denen, die das einfach so machen,
weil uns die Arbeit dann viel mehr Spaß macht. Und manchmal, in kleiner Runde vor ausgewählten Artgenossen, reden
wir sogar darüber.
Gabriele Kottlorz ist Systemischer
Coach, Mediatorin und Inspirateurin.
Sie verfügt über mehr als 20 Jahre
Berufserfahrung im Bereich Assistenz
und Office-Management. Sie war
hauptsächlich in der Erwachsenenbildung tätig, unter anderem für INTEGRATA Training AG,
Volkshochschule und Handwerkskammer Hannover.
Als Mediatorin lädt sie ein zum “Schöner Streiten” und sorgt
als GfK-Trainerin für eine verbindende Gesprächs- und
Konfliktkultur in Unternehmen. Sie ist bei KCC die „WildCard“ mit Hang zu unvernünftigen Autos und utopischen
Veranstaltungskonzepten.
sybit agile Ausgabe 15
15
Agil,
aber richtig!
Dr. Ralf Klühe
Foto: pixabay.com, CC0
Wie sich agile Projekte vertraglich abbilden
und Schieflagen vermeiden lassen
Agile Vorgehen stellen den Menschen in den Mittel-
aber die Fähigkeit, den anderen wirklich zu verstehen
punkt. Sie wecken das Potential, indem sie Selbst-
und sich selbst klar auszudrücken. Dazu gehört, zu sich
verantwortung und Kreativität fördern und fordern.
und den eigenen Werten zu stehen. Wir sehen deshalb
Scrum-Teams leben vom täglichen Austausch, wobei
die radikale Selbstverantwortung als Grundstein für die
Kommunikations-, Moderations- und Konfliktlösungs-
erfolgreiche Zusammenarbeit und die Entfaltung von
kompetenzen unerlässlich sind. Viel bedeutender ist
Soft-Skills im Scrum-Team.
16
sybit agile Ausgabe 15
I. Einleitung
Beginn des Projekts noch gar nicht beschreiben kann.
Seit einigen Jahren ist die agile Softwareentwicklung ein
Trend, der die IT-Landschaft zunehmend beherrscht. Kunden
Doch können agile Projekte aus Sicht des Kunden durchaus
und Anbieter sind bereit, festgefahrene Wege zu verlassen
tückisch sein. Hat der Kunde zu Beginn des Projekts eine
und sich auf eine flexiblere Arbeitsweise einzulassen. Damit
nur vage Vorstellung von dem Endprodukt, kann er oft-
dieses Unterfangen gelingt, ist aber eine rechtssichere Ver-
mals auch die gewünschten Funktionalitäten nicht trenn-
tragsgrundlage erforderlich, die die Interessen des jeweili-
scharf beschreiben. Benötigt er bereits intensive Hilfe bei
gen Kunden und Anbieters berücksichtigt und in ein ange-
der Erstellung von User Stories, hat dies Auswirkungen auf
messenes Verhältnis bringt.
Termine und Kosten. Fehlt es zudem an verlässlichen Refe-
II. Unterschiede zwischen klassischen und
agilen Projektverträgen
renzpunkten, an denen die Leistungserbringung durch den
Anbieter gemessen werden kann, wird es schwierig, den
Anbieter auf Mängelgewährleistung und Schadensersatz
Traditionell orientieren sich klassische IT-Projekte an der so
in Anspruch zu nehmen. Aus der Perspektive des Anbieters
genannten „Wasserfall-Methode“. Diese Methode ist durch
können indessen die Dokumentation und Abrechnung der
ein lineares Vorgehen geprägt, d.h. die einzelnen Arbeits-
erbrachten Leistungen zu erheblichen Problemen führen.
schritte werden im Vorfeld in verschieden Phasen zusam-
Die enge Zusammenarbeit zwischen den Projektpartnern
mengefasst und in einer definierten Abfolge erledigt. Die
schafft darüber hinaus Reibungsflächen, die zu Konflikten
Ergebnisse einer früheren Projektphase, wie etwa ein Las-
führen und den erfolgreichen Projektabschluss gefährden
ten- oder Pflichtenheft, fließen dabei als bindende Vorgabe
können.
in eine nachfolgende Phase ein. Die Parteien verständigen
sich also im Vorfeld auf eindeutig definierte Start- und Endpunkte sowie auf konkrete Ergebnisse. Diese Arbeitsweise
IV. Vertragliche Abbildung der agilen
Projektmethode
ist Juristen geläufig und lässt sich in den meisten Fällen auch
ohne Weiteres im Vertragswerk abbilden.
1. Agile Vorgehensweise erfordert neue
Vertragsdokumente
Größere Schwierigkeiten bereitet die vertragliche Abbildung
Die nach einer agilen Methode geführten Projekte schei-
agiler Projekte. So wird etwa bei einem Projekt, das nach der
tern häufig daran, dass die Parteien ihre Zusammenarbeit
Scrum-Methode durchgeführt wird, bewusst auf die oben
nur unzureichend vertraglich abbilden. Sie wollen zwar agil
beschriebenen Arbeitsschritte verzichtet. Stattdessen wird
entwickeln, verwenden aber juristisches Werkzeug, das auf
auf eine dynamische Zusammenarbeit gesetzt, bei der die
eine herkömmliche Projektmethode zugeschnitten ist. Statt
Vertragsparteien nicht als Besteller und Leistungserbringer
konsequent nach der agilen Methode zu verfahren, verfal-
auftreten, sondern eher als gleichberechtigte Partner agie-
len sie in alte Denkmuster und verlangen nach im Vorfeld
ren sollen. Die agile Programmierung setzt dabei auf eine
bereits eindeutig spezifizierten Leistungsbeschreibungen,
iterative Vorgehensweise, bei der die IT-Lösung in kleinen
der darauf bezogenen Abnahme und Festpreisen für den
Schritten entwickelt wird. Dies ermöglicht flexible Änderun-
einheitlichen Werkerfolg. Nicht selten wird zudem noch ein
gen und hilft, konfliktträchtige Change-Request-Verfahren
traditionelles Vertragsmuster aus der Schublade geholt und
zu vermeiden.
dem Projekt zugrunde gelegt. Ein so vorbereitetes Vorhaben
III. Vor- und Nachteile der agilen
Projektmethode
ist zum Scheitern verurteilt, bevor es begonnen hat.
Deswegen sollten sich die Parteien der Tatsache bewusst
Der maßgebliche Vorteil der agilen Projektmethode liegt in
sein, dass sie bei agiler Software-Entwicklung nicht nur die
ihrer Leichtfüßigkeit: Legen sich die Vertragsparteien nicht
administrative und technische Vorgehensweise ändern müs-
auf einen vorab definierten, starren Prozess zur Entwicklung
sen. Vielmehr müssen sie auch die juristische Arbeitsweise
eines bestimmten Projektergebnisses fest, sondern kon-
an die Besonderheiten der agilen Methode anpassen und
zentrieren sich stattdessen auf das sukzessiv entwickelte
auf Flexibilität in der Vertragsbeziehung setzen. Statt früh-
Projektergebnis und nehmen flexible Änderungen in Kauf,
zeitig eine möglichst präzise Beschreibung des Endprodukts
lässt sich auf diesem Wege oftmals ein besseres Endprodukt
zur Grundlage der vertraglichen Leistungsbeschreibung zu
erstellen. Die agile Methode eignet sich deshalb besonders
machen, können sie sich beispielsweise darauf verständigen,
gut bei komplexen Vorhaben, wenn der Kunde die genaue
dass die Soll-Beschaffenheit des endgültigen Produkts erst
Spezifizierung und die Anforderungen des Endprodukts zu
im Laufe des Projekts definiert wird. Besondere Bedeutung
sybit agile Ausgabe 15
17
kommt bei Scrum-Projekten der vertraglichen Abbildung und
Projektpartner die vereinbarten Vorgaben während des Pro-
Definition der User Stories sowie der (erfolgreichen) Absol-
jekts auch tatsächlich leben.
vierung der einzelnen Sprints zu.
2. Eckpunkte für vertragliche Abbildung der agilen
Projektmethode
In einem guten agilen Projektvertrag sollten die wesentlichen Begriffe und Prozesse der gewählten Vorgehensweise,
wie etwa Product Backlog oder Sprint, möglichst präzise
definiert werden. Um Streitigkeiten zu vermeiden, sollten
zudem die Rollen und Verantwortungsbereiche klar verteilt
und die Mitwirkungspflichten des Kunden eindeutig festgeschrieben werden. Der Anbieter darf sich nicht scheuen, dem
Kunden genau definierte Verantwortlichkeiten zuzuweisen,
ihn dabei aber auch nicht überfordern. Eine gewisse Flexibilität bei der Zusammensetzung der Projektteams kann vertraglich festgelegt werden und hilfreich sein.
Ein häufiger Streitpunkt agiler Projekte liegt in der Vergütung, so dass gerade in dieser Hinsicht eine ausgewogene
Regelung erforderlich ist. Um dem dienstvertraglichen Charakter eines agilen Projekts gerecht zu werden, sollte der
Anbieter seine Leistungen im Ausgangspunkt nach Zeit- und
Materialaufwand abrechnen können. Doch sollten in der Vergütungsregelung auch die Interessen des Kunden beachtet
werden, etwa indem abnehmende oder steigende Gewinnmargen oder Bonus/Malus-Folgen für bestimmte Funktionalitäten oder Performance vereinbart werden. Will der Kunde
mehr Kostensicherheit, kann auch die nachträgliche Vereinbarung eines Festpreises bestimmt werden.
Um für den Ernstfall gewappnet zu sein, sollte der Vertrag
Regelungen zum Deeskalationsverfahren enthalten. Erweist
Ralf Klühe ist Partner im Stuttgarter
sich die weitere Zusammenarbeit als unmöglich, sollten die
Büro der auf das IT- und IP-Recht
Parteien eine flexible Kündigungsoption haben. Dabei ist zu
spezialisierten Kanzlei Vogel &
beachten, dass der Kunde die Möglichkeit erhalten sollte, die
Partner. Er berät schwerpunktmäßig
bisher erzielten Projektergebnisse weiterhin nutzen zu dür-
im Bereich des IT-Rechts (insbeson-
fen. Um dies abzusichern, ist eine Regelung über laufende
dere Erstellung und Verhandlung von
Dokumentationspflichten notwendig.
Software- und Projektverträgen, E-Commerce-/Online-Recht,
Datenschutzrecht) sowie des Gewerblichen Rechtsschutzes
V. Fazit
und Wettbewerbsrechts.
Agile Projektmethoden sind inzwischen ein fester Bestandteil der IT-Landschaft geworden. Um ein erfolgreiches Pro-
Nach Studium und Referendariat in Konstanz sowie Pro-
jekt durchzuführen, sind aber stichfeste und ausgewogene
motion am ITM der Universität Münster war Herr Dr. Ralf
Vertragsregelungen notwendig, die den Besonderheiten der
Klühe zunächst als Legal Counsel für ein internationales IT-/
agilen Methode gerecht werden. Zentral sind dabei Vergü-
TK-Unternehmen und später über sechs Jahre für eine der
tungsregelungen, weil sie die richtigen Anreize setzen kön-
führenden deutschen Wirtschaftskanzleien im Bereich IP-/
nen, um dem Vorhaben zum Erfolg zu verhelfen. Natürlich ist
IT-Recht in Stuttgart tätig. Dr. Ralf Klühe ist Lehrbeauftragter
ein gut erstellter Vertrag erst der Beginn eines erfolgreichen
an der HTWG Konstanz und Mitglied des Prüfungsausschus-
agilen Projekts. Mindestens genauso wichtig ist es, dass die
ses Fachanwalt für IT-Recht der RAK Stuttgart.
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sybit agile Ausgabe 15
Deshalb
Foto: pixabay.com, CC0
Agil!
Klaus
Bucka-Lassen
sybit agile Ausgabe 15
19
Die kürzeste Strecke
Die schnellste Strecke
Stellen Sie sich vor, Sie werden eingeladen, an einem Wett-
Verändern wir die Regeln des Wettbewerbs ein wenig. Dies-
bewerb teilzunehmen, bei dem es darum geht, die kürzeste
mal geht es nicht darum die kürzeste Strecke zu finden, son-
Strecke mit einem Auto von A nach B zurückzulegen. Sagen
dern die schnellste.
wir, es geht von Birmensdorf nach Männedorf (Abb. 1).
Wie bereiten Sie sich auf dieses Rennen vor?
Ähnlich? Ja und nein! Sie nehmen erstmal wieder die Karten
von Google, Apple und Co. zur Hilfe – klar, weil es so einfach
ist. Mit diesen lassen sich nämlich nicht nur die kürzesten,
sondern auch die schnellsten Routen berechnen. Der Haken:
je nach Tageszeit gibt Ihnen z.B. Google Maps vier verschiedene Routen als die schnellsten an (Abb. 3). Wenn Sie sich
jetzt auf eine dieser Routen festlegen – wie wir es beim ersten Wettbewerb gemacht haben, dann gewinnen Sie bestenfalls mit Glück.
Abbildung 1: Von Birmensdorf nach Männedorf
Wie bereiten Sie sich vor, wenn Sie diesen Wettbewerb
gewinnen möchten?
Vermutlich schauen Sie zuerst einmal bei Google Maps vorbei. Genau wie beim Arztbesuch kann eine zweite und – da in
diesem Kontext in jeder Hinsicht praktisch kostenlos – eine
dritte und vierte Meinung nicht viel schaden. Entsprechend
werden Bing Maps, Nokia Here und was es sonst noch an
Kartenmaterial gibt, herbeigezogen. Es würde auch Sinn
machen, die so gefundenen Strecken im Voraus abzufahren
und zu messen, wie lange sie denn tatsächlich sind. Vielleicht findet man ja auch irgendwo eine Abkürzung, von der
die digitalen Helfer nichts wussten.
So oder so gewinnt jener den Wettbewerb, der den besten
Abbildung 3: Die schnellsten Strecken
Plan ausgearbeitet und damit die kürzeste Strecke gefunden hat (Abb. 2). Den Wettbewerb braucht man eigentlich
Was tun Sie also, um Ihre Gewinnchancen zu maximieren?
gar nicht mehr durchführen - der Gewinner steht schon von
Sie kaufen sich ein Tom Tom und ein Garmin Navigations-
Anfang an fest.
gerät, Sie machen sich mit der „Traffic“ Funktion von Google
Maps vertraut. Sie erkunden, welcher Radiosender die besten Verkehrsmeldungen bringt. Sie bitten einen Freund, Sie
am Tag des Rennens im besten Rallye-Stil als Beifahrer zu
begleiten um Ihnen ständig aktualisierte Informationen zum
Verkehr zu liefern, während Sie sich auf die Straße konzentrieren. Vielleicht hört er mit Kopfhörern einen zweiten Radiokanal ab. Vielleicht platzieren Sie auch Personen an neuralgischen Verkehrspunkten und bleiben mit diesen ständig
in Kontakt um möglichst aktuelle Verkehrsinformationen zu
haben. Mit anderen Worten tun Sie alles, um während des
Rennens auf dem Laufenden zu bleiben (Sie inspizieren das
System ununterbrochen) und treffen viele Entscheidungen
erst unterwegs (Sie adaptieren ihren Plan immer wieder).
Abbildung 2: Die kürzeste Strecke
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sybit agile Ausgabe 15
Foto: pixabay.com, CC0
Der feine Unterschied
Die immer komplexer werdende Welt ...
Während der erste Wettbewerb ein klassisches komplizier-
Komplex ist ein System in dem sich Akteure in hohem Grad
tes Problem darstellt, handelt es sich beim zweiten um ein
gegenseitig beeinflussen. Je mehr Akteure das System hat
komplexes.
und je vernetzter diese sind, desto unvorhersehbarer ist das
Der Unterschied: Vorausgesetzt, man hat genügend Res-
System.
sourcen, kann man die definitiv kürzeste Strecke im Voraus
Die Welt als Ganzes wird immer komplexer – vor allem wegen
berechnen. Es ist keine einfache Aufgabe – immerhin braucht
der ständig zunehmenden Vernetzung die vor allem auf
man präzise Informationen zum kompletten Straßennetz
das Internet zurückzuführen ist (Cloud, Big Data, IoT, etc.).
(Länge der Streckenabschnitte, wo darf man abbiegen und
Es wirkt paradox, dass wir immer mehr Daten haben und
wo nicht, Einbahnstraßen, etc.), man braucht Experten bzw.
die Rechenpower exponentiell wächst, es aber gleichzeitig
deren Wissen dazu, wie man die kürzeste Strecke berechnet,
immer schwieriger wird die Zukunft vorherzusagen.
man braucht schon bei kleineren Aufgaben leistungsfähige
Generell mögen wir Menschen keine Ungewissheit. Des-
Rechner und man braucht vor allem Zeit. Kompliziert ist also
halb haben wir auch den Ackerbau erfunden. Wir sind heute
nicht gleich einfach, aber es ist berechenbar. Das Credo lau-
Experten im Bauen von Häusern, Brücken, Staudämmen,
tet: Daten sammeln, analysieren, Plan ausarbeiten, Plan aus-
Autos, Uhren und Raketen die zum Mond fliegen. Alles
führen. Bekannt ist diese Vorgehensweise auch unter dem
Dinge, die man analysieren, planen und dann durchführen
Namen „Wasserfall“, weil man von der einen Phase in die
kann. Komplizierte Aufgaben zu lösen ist sozusagen unsere
nächste wechselt und eigentlich nie zurückgeht.
Komfortzone. Selbstverständlich versuchen wir diese fast
Die schnellste Strecke hingegen lässt sich nicht im Voraus
schon perfektionierte Vorgehensweise wo immer möglich
berechnen. Auch wenn man noch so viele Informationen
anzuwenden. Nur stellt sich der Erfolg bei komplexen Pro-
und Ressourcen zur Verfügung hätte. Selbst wenn man von
blemen nicht gleichermaßen ein. Im Gegenteil sogar. Von
jedem Autofahrer genau wüsste, wann er wo sein will und
vornherein einen Plan machen und den dann auf Gedeih
seinen Fahrstil kennt, jede Stau-Statistiken hat, die gesam-
und Verderb durchzuziehen, ist wie die schnellste Route vor
melte Rechenpower von Google, Apple, Amazon und der
dem Rennen zu bestimmen und diese dann stur abzufahren
NSA und zusätzlich noch „unendlich“ viel Zeit – es nützt alles
– auch wenn man vor sich schon den Stau sehen kann. So
nichts, man kann nicht im Vorfeld die definitiv schnellste
erklären sich auch viele der massiven Fehlschläge bei gro-
Strecke von A nach B berechnen, weil der Verkehr ein kom-
ßen Softwareprojekten.
plexes System bildet.
Die beste Strategie ein solches Rennen zu gewinnen ist das
zuvor erwähnte „Inspizieren & Adaptieren“ und eben das
macht den Kern der Agilität aus.
sybit agile Ausgabe 15
21
… und die Antwort darauf
Die Entwicklung eines Softwaresystems ist schon seit längerem zu einer komplexen Angelegenheit geworden. Die Anforderungen ändern sich rasch, der Kontext – sowohl technisch
als auch geschäftlich – wandelt sich häufiger und schneller
als je zuvor und wir lernen laufend Neues. Alles Dinge, die
man im Detail nicht vorhersagen kann, aber auch nicht ignorieren darf. Softwareprojekte haben vielmehr mit einem Rennen gemein, als mit dem Wettbewerb, die kürzeste Strecke
von A nach B zu finden.
Weil die Welt und die Herausforderungen, mit denen wir uns
täglich konfrontiert sehen, immer komplexer werden, ist die
Agilität heute in aller Munde. Agil zu sein ist die uns derzeit
beste bekannte Strategie, um dieser Komplexität die Stirn
zu bieten – nicht nur in der Softwareentwicklung! Agilität
bedeutet, auf Veränderungen möglichst effizient und schnell
reagieren zu können.
Fazit
Komplex ist nicht einfach nur eine Steigerung von kompliziert. Es ist eine grundlegend andere Art von Problem, deren
Lösung auch nach einem grundlegend anderen Vorgehen
verlangt. Das beste uns derzeit bekannte Vorgehen komplexe Herausforderungen zu meistern heißt Agilität, was so
viel bedeutet wie einen kleinen Schritt machen, inspizieren
Klaus Bucka-Lassen ist Gründer
ob wir dem Ziel näher gekommen sind und die richtige Rich-
der aragost Trifork ag, die heute
tung eingeschlagen haben, um anschließend den nächsten
hauptsächlich auf die Beratung und
Schritt zu wagen.
Schulung im Bereich der Agilen Ent-
Dazu braucht es einen hohen Grad an Transparenz zum
wicklungsmethoden tätig ist.
Zustand des Systems und den Willen, sich nicht an einen im
Nach dem 1996 abgeschlossenen
Voraus gemachten Plan zu klammern. Das alles garantiert
Master-Studium in Informatik hat Klaus als Software- und
zwar nicht den Sieg, erhöht aber die Chancen, das Rennen
Produktentwickler, Architekt, Projektleiter, Unternehmer,
zu gewinnen.
Referent und Coach für Firmen in der Schweiz, Dänemark,
Deutschland, Australien und Kanada gearbeitet.
Seit er sich bereits 1991 mit “rapid prototyping” beschäftigt
hat, ist er Vorkämpfer iterativer Prozesse, die frühes und
schnelles Feedback ermöglichen.
Seine Passion ist Scrum. Er ist Zertifizierter Scrum Master
(CSM), Product Owner (CSPO) und Scrum Professional (CSP)
und führt zudem regelmässig CSM Kurse als Co-Trainer mit
Jeff Sutherland durch.
Klaus hat große Unternehmen in den Branchen Banking,
Pharma, Telekommunikation, IT und der produzierenden
Industrie geholfen, agiler zu werden. Er wird respektiert für
seine Art, ehrlich und direkt zu kommunizieren und versteht
es, Mitarbeiter aller Organisationsstufen für agile Vorgehen
zu begeistern.
In seiner Freizeit fliegt Klaus Kleinflugzeuge, fährt Motorrad
oder Ski, spielt Golf oder unternimmt abenteuerliche Reisen.
Die Formel 3- Lizenz ist leider schon längst abgelaufen.
22
sybit agile Ausgabe 15
Agile Breakfast
In losen Abständen von rund zwei Monaten treffen sich agil
Die Teilnahme ist kostenlos, die Veranstaltung wird von
Interessierte der Scrum User Group Lake Constance (SUGLC)
Sybit gesponsert.
zum Erfahrungsaustausch. Beim „Agile Breakfast“ im Wasserturm Stromeyersdorf in Konstanz hält nach einem klei-
Informationen zu den aktuellen Veranstaltungen:
nen Frühstück ein Teilnehmer oder ein geladener Speaker
www.sybit-agile.de/community/agile-breakfast
einen Vortrag zu einem agilen Thema. Daran schließt sich
eine Diskussion an (Dauer: 8.00 - 10.00 Uhr).
IMPRESSUM
Sybit GmbH
Chefredaktion (V.i.S.d.P.):
Sankt-Johannis-Str. 1-5
Johannes Hartmannsgruber
78315 Radolfzell, Deutschland
[email protected]
Fon: +49 (0) 7732 9508-0
Fax: +49 (0) 7732 9508-111
Redaktion:
E-Mail: [email protected]
Stephan Strittmatter
Internet: www.sybit-agile.de
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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode
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sybit agile Ausgabe 15
23
Agile Softwareentwicklung im Fokus
Agil Software zu produzieren liegt uns sehr
am Herzen – unsere Erfahrungen weiter zu
geben, bringt uns Freude.
Wir bieten Scrum-Schulungen, Workshops
zu den Themen Innovation, agile Architektur und Anforderungsmanagement sowie
Coachings an.
Weitere Informationen finden Sie unter
www.sybit-agile.de