JULIAN SCHNABEL

NOVEMBER 2015
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 6
JULIAN SCHNABEL
L’âme du voyage.
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AUFTAKT
„ Als das Thema auf
Julian Schnabel kam,
war Georg Baselitz
plötzlich verschwunden.
Ein paar Minuten später
kam er zurück – einen
Katalog in der Hand.
Er hatte gemerkt, dass
mir zu Schnabel nur
Gemeinplätze einfielen“
Im Sommer vor fünf Jahren war ich
bei Georg Baselitz am Ammersee zu
Besuch, der gerade die erste Künstlerausgabe für Die Welt vorbereitete.
Wir hatten uns brandneue Arbeiten
angeschaut, hatten Weißwürste gegessen, dazu ein Helles getrunken
und saßen nun beim Kaffee. Ich weiß
nicht mehr, wie das Thema auf
Julian Schnabel kam, ich weiß nur, dass
Baselitz plötzlich verschwunden war.
Ein paar Minuten später kam er
zurück – in der Hand einen mehrbändigen Katalog der Saatchi Collection
aus den 80er-Jahren. Baselitz hatte
gemerkt, dass mir zu Schnabel wenig
mehr als Gemeinplätze einfielen
und war nun gewillt, meine Bildungslücke zu füllen. Ein Teufelskerl sei
dieser Schnabel, sagte er und blätterte
mir ein Bild nach dem anderen auf.
Baselitz, der sonst nicht berühmt
dafür ist, allzu wohlwollend über Malerkollegen zu sprechen, lobte seinen
Mut, die Sicherheit seiner Geste, die
seltene Fähigkeit, auch riesige Formate
zu beherrschen.
Ich war, wie man so schön sagt,
sofort angefixt und besorgte mir
Schnabel-Kataloge sowie seine Biografie CVJ – Nicknames of Maitre
D’s and Other Excerpts from Life, für die
ich antiquarisch 140 Dollar zahlen
musste (und die dieser Tage von Hatje
Cantz neu herausgegeben wird).
Not about Schnabel hatte einmal eine
Titelgeschichte des Magazins Artforum
geheißen und eine meiner liebsten
Small-Talk-Fragen an Künstler und
Kunsthistoriker lautete jetzt
immer öfter: „What about Schnabel?“
Da war der Chef eines der
wichtigsten deutschen Museen, der den
Fall Schnabel längst für erledigt
hielt und sich sicher war: Der kommt
niemals zurück. Da war der Großsammler, der behauptete, Schnabel sei
ein guter Regisseur – Schmetterling
und Taucher glocke und Before Night Falls
seien wunderbar, seine Gemälde
jedoch zum Davonlaufen.
Und da war die andere Fraktion.
Sir John Richardson, der inzwischen
91-jährige Picasso-Biograf, erzählte,
5
dass er erst spät in seinem Leben die
Bedeutung Schnabels erkannt habe.
So groß sei der Lärm um den jungen
Maler in den 80er-Jahren gewesen,
dass er sich bewusst ferngehalten
habe. Ein Fehler, den er heute bereue.
Der Kurator Rudi Fuchs zeigte
mir einen Essay, in dem er sich bei
Schnabel dafür entschuldigt, ihn 1982
nicht auf die Documenta eingeladen zu haben. Einen Essay, in dem
er ausführt, wie er sich über die Jahrzehnte mit dem sentimentalen Pathos
Schnabels versöhnt hatte und warum
ihn seine besten Arbeiten inzwischen
an Caravaggios Enthauptung von Johannes
dem Täufer erinnern. Albert Oehlen
sagte gar nicht viel. Dafür aber
den recht bestimmten Satz: „Julian
Schnabel ist der begnadeteste Maler
meiner Generation.“
Wir sind froh, in dieser Ausgabe
die Geschichte einer der umstrittensten Künstlerpersönlichkeiten unserer
Zeit neu erzählen zu können.
Und wir sind stolz, dass Schnabel nach
Georg Baselitz, Ellsworth Kelly,
Gerhard Richter, Neo Rauch und
Cindy Sherman nun der sechste
Künstler sein wird, der eine komplette Ausgabe unseres Mutterblattes
gestaltet. Die Welt des Julian Schnabel
erscheint am 10. Dezember und
ist – nur an diesem Tag – am Kiosk
zu kaufen.
Von wegen er kommt niemals
zurück: Schnabel war niemals weg,
nur haben wir nicht mehr richtig
hingeschaut. Dank Sir John Richardson
wissen wir immerhin: Wir waren
dabei in bester Gesellschaft.
CORNELIUS TITTEL
APÉRO
EIN KUNSTMAGAZIN
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
13
ESSAY
Ist das etwa gute Kunst?
16
NEUES, ALTES, BLAUES
Nr. 6 / November 2015
20 DICHTER DRAN
JULIAN SCHNABEL
The Migration of the Duck-Billed
Platypus to Australia, 1986, Schmutz,
Gesso (Gipsmasse), Tibetanische Tonga
auf Leinenabdeckplane, 305 × 244 cm
Dietmar Dath
„Malen ist wie Surfen.
Beides ist kein Teamsport.
Und bei beidem hat
man ständig den Thrill,
fast zu ertrinken“
— JULIAN SCHNABEL
23
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
28
BLITZSCHLAG
Günter Netzer
30 UM DIE ECKE
Brüssel
DER HERBST DES
PATRIARCHEN
JULIAN SCHNABEL,
REIZFIGUR UND LEGENDE
s. 38
PRINZESSIN
LWOFF-PARLAGHY
MULTICOLOR-CRIME
MALTE KAISER UND MILLIONÄRE. WURDE
WELTBERÜHMT. UND GRÜNDLICH VERGESSEN
IM FARBBOMBENHAGEL: AUF EINE
ZIGARETTE DANACH MIT MIET WARLOP
s. 52
s. 24
INHALT
6
Links unten: Vilma Lwoff-Parlaghy Pepi, 1901. Mitte: Julian Schnabel, 95 Reade Street, New York, 1973. Rechts unten: Miet Warlop Mystery Magnet, Performance, 2012
10
FLANIEREN MIT HERMÈS
Hermes.com
INHALT
7
ENCORE
82 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
84 BLAU KALENDER
Unsere Termine im
November
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 6 / November 2015
89 BILDNACHWEISE
90 DER AUGENBLICK
Michael Schmidt
— WOLFGANG BÜSCHER
ÜBER DEN FALL
FLORIAN KARSCH
WERTSACHEN
Was uns gefällt
s. 78
ZWISCHEN LEGO
UND LABOR
WÜRDEN SIE DIESER FRAU EIN
BILD ABKAUFEN? WIR UNBEDINGT.
AVERY SINGER IM PORTRÄT
s. 58
EXIL EINES
BOHEMIENS
KARSCH VS. BERLIN
DER LANGE SCHATTEN DER
KULTURGUTLISTE: EIN GALERIST UND
DER KAMPF UM SEINE BILDER
WIE PABLO BRONSTEIN SICH IN DER ENGLISCHEN
PROVINZ DIE WELT NEU ERFINDET
s. 66
s. 75
INHALT
8
Links unten: Florian Karsch in der Galerie Nierendorf, Berlin, Ende der 50er-Jahre. Mitte oben: Avery Singer, fotografiert von Heji Shin.
Rechts oben: Detail aus Rudolf Wacker Stillleben mit Fettpflanze, 1931. Rechts unten: Detail aus Pablo Bronsteins Salon.
„Sobald es um Kunst
geht, beschränkt
sich der Staat nicht
wie sonst darauf,
dem Wirtschaftsleben
die Regeln zu setzen
und Steuern zu
erheben. Vielmehr
wirtschaftet er
ziemlich massiv
mit. Er ist Partei“
INHALT
9
CONTRIBUTORS
Dietmar DATH
Den Autor treibt tiefe Überzeugung
an, die Welt besser zu machen, jenseits von Macht und Ruhm. Ihn
selbst und seine Texte beschleunigt
diese Überlebensnotwendigkeit,
sich nah sein zu müssen – und
damit seinen großen literarischen
und politischen Heldinnen und Helden. Seine Kritiker fürchten
sich vor ihm, weil er so gut ist, Romane, Gedichte, Theater,
Hörspiele, politische Streitschriften und Woche für Woche brillante Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
schreibt. Dabei müssten sie nur seine Zeilen offener lesen: Sie
sind ehrliche Liebe der Liebe. Am unmittelbarsten erlebt man
das in seinen Gedichten. Für DICHTER DRAN besingt er
Rita Ackermann. (Seite 20)
Heji SHIN
Die Koreanerin ist klein, aber ungeheuer zäh, ohne ihr schweres Fotografengerät verlässt sie selten das
Haus. Ihre Freunde sagen, sie ist
wie ihre Bilder: klug, sexy, sinnlich,
geheimnisvoll. Mal nah, mal distanziert, mal Spiel, mal Trieb. Für ein
Aufklärungsbuch hat sie Jugendliche gefragt, ob sie sie beim Sex
fotografieren dürfte. Mit billigen Plexischeiben fuchtelt sie vor
der Linse rum und „drugt“ so die Farbwelten ihrer Bilder oder
bleibt gleich: schwarz-weiß. Für BLAU hat sie die Künstlerin
Avery Singer in New York getroffen: In der einen Frau scheint
auch die andere auf: sinnlich, ja geheimnisvoll. (Seite 64)
Philipp DEMANDT
28. Oktober - 1. November 2015
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Selten eroberte ein Kurator so
schnell die Herzen seines Publikums. Als der Kunsthistoriker 2012
die Leitung der Alten Nationalgalerie übernahm, schwärmte nicht nur
Berlin von ihm. Immer wieder überraschte er mit Vergessenem –
hängte Caspar David Friedrich ab, holte den türkischen Maler
Osman Hamdi Bey und den Amerikaner Gari Melchers aus
dem Depot. Seine Schau zum Tierbildhauer Rembrandt Bugatti
wurde gefeiert. Dabei hat er eigentlich einen Faible für Königin
Luise. In BLAU erzählt er die Lebensgeschichte seiner neuesten
Entdeckung: Prinzessin Parlaghy. (Seite 52)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Karola Handwerker, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
Wolfgang Büscher, Diemar Dath,
Dr. Philipp Demandt, Simon Elson,
Markus Gabriel, Oliver Koerner
von Gustorf, Günter Netzer,
Ulf Poschardt, Dirk Schümer,
Wilhelm von Werthern (Übers.),
Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Vincen Beekman, Yves Borgwardt,
Lottermann and Fuentes,
Gregory Halpern, Heji Shin
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 6, November 2015
Verkaufspreis: 6,00 Euro
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Abonnement und Heftbestellung
Abonnenten-Service BLAU
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Verlag
GESCHÄFTSFÜHRER
Jan Bayer, Petra Kalb
Sales
GESCHÄFTSFÜHRER MEDIA IMPACT
Arne Bergmann
SALES MARKE
Xenia Kunow, (V. i. S. d. P. MarkenartikelAnzeigen), [email protected]
SALES KUNSTMARKT
Lea Dlugosch (V. i. S. d. P. KunstmarktAnzeigen), [email protected]
HERSTELLUNG
Olaf Hopf
DIGITALE VORSTUFE
Image- und AdMediapool
DRUCK
Firmengruppe APPL, appl druck GmbH
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 1
vom 01.01.2015. Copyright 2015,
Axel Springer Mediahouse GmbH
PAINTER’S HAND, 1975 OIL ON CANVAS 67 × 79 IN / 170.2 × 200.7 CM © THE ESTATE OF PHILIP GUSTON COURTESY THE ESTATE AND HAUSER & WIRTH
H A U S E R & W IR T H
WE ARE DELIGHTED TO ANNOUNCE THAT WE
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PARIS MARAIS
NOVEMBER – DEZEMBER 2015
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ESSAY
IST DAS
ETWA
GUTE
KUNST?
PABLO PICASSO
Gitarre, 1924
Uns wird weisgemacht,
dass die Kunst im Auge des
Betrachters liegt. Dabei
müssen dringend allgemeine
Kriterien her. Ein Plädoyer
von Markus Gabriel
Z
wei Aspekte der gegenwärtigen
Kunstkritik finden viele irritierend.
Erstens werden Werke ausgestellt
und kommentiert, die jeder von uns ohne
Mühe herstellen könnte. Zweitens wird
uns in einer eigens dafür entwickelten Prosa
der Vernebelung und Verschleierung
versichert, eigentlich sei alles Kunst, was
die Kritiker dafür halten. Kunst, so wollen
manche Kritiker von Philosophen wie
Arthur Danto und Nelson Goodman gelernt
haben, findet dann statt, wenn sich eine
hinreichend einflussreiche Menge darauf
einigt, dass Kunst stattgefunden hat. Kunst
soll also nur im Auge des Betrachters liegen.
Daraus folgt, dass es in Wirklichkeit
gar keine Kunstwerke, sondern nur Anlässe
dafür gibt, darüber zu streiten, ob irgendein Gegenstand, den jemand als Kunst
ausgibt, ausgestellt und mit einem monetär
lukrativen Tauschwert versehen werden
sollte. Daraus folgt auch, dass Kunstwerke
niemals einen Wert an sich haben. Man
kann diesem Modell zufolge nicht allen
Ernstes behaupten, Picasso sei ein besserer
Künstler als George Braque oder darauf
hinweisen, dass Rodins Skulpturen bessere
Kunst als Warhols Brillo-Boxen sind.
Man hat dies als postmoderne Beliebigkeit
bezeichnet. Die Lage ist allerdings schlimmer: Die kapitalistischen Betriebsbedingungen des Kunstmarkts haben dazu geführt,
dass die Kunst in den Augen des Betrachters
verschwunden ist. Niemand will die BrilloBoxen lange betrachten oder immer wieder
sehen. Versteht man den Gedanken,
den sie ausdrücken sollen, erübrigt sich die
materielle Existenz der Werke.
Die heute im Cyberzeitalter bisweilen
ans Lächerliche grenzende Vergänglichkeit
letztlich bedeutungsloser Werke, die hoch
im Kurs stehen, ist wohlgemerkt kein
Merkmal der modernen Kunst, gegen die
man etwa einen klassischen Geschmack
in Stellung bringen müsste. Malewitschs
Schwarzes Quadrat, die Ikone der modernen
Kunst, verändert sich auf nicht antizipierbare Weise, indem die schwarze Fläche
brüchig wird und damit Spuren des weißen
Hintergrunds freigibt. Das Werk überdauert
somit die radikale Geste der Entgegenständlichung, für die viele es halten. Das
Problem ist also nicht etwa die moderne
Kunst mit ihrer Offenheit für nicht mythoAPÉRO
13
logisch oder religiös gebundene Sujets.
Das Problem des Nihilismus ist die falsche
Meinung, es gebe in Wirklichkeit keine
Kunstwerke, sondern nur Ereignisse,
Performances, sinnlose Filmfragmente und
Farbkleckse, die durch den Zufall der
Kunstbörse als Kunst anerkannt werden.
Wir brauchen also eine neue Kunstkritik, eine, die uns wieder in Kontakt mit
den Kunstwerken selbst bringt. Ansonsten
droht die Kunst an ein Ende zu kommen.
An ihre Stelle träten dann die Betrachter,
die sich von „Kunstexperten“ einreden
lassen, irgendein Gegenstand – ein in Idaho
gefundenes Nüsschen oder ein Autoreifen
aus einer Bürgerkriegsregion – sei Kunst und
enthalte gar eine politisch brisante Botschaft.
Aber, wird man einwenden wollen,
ist denn nicht manchmal ein Kunstwerk nur
dadurch ein Kunstwerk, dass es eine
Idee ausdrückt? Conceptual Art oder etwa
Erwin Wurms Staubskulpturen sind doch
auch Kunst. Das möchte ich auch gar nicht
bestreiten. Auch wollte ich den BrilloBoxen und Suppendosen Warhols nicht den
Kunstcharakter absprechen, sondern
darauf hinaus, dass Warhols Massenwaren
schlechtere Kunst als etwa Monets
späte Gemälde aus der Seerosen-Serie sind.
Um den Gedanken zu verdeutlichen,
kann man einen berühmten Fall durchspielen: Duchamps Fontaine. Eine weit verbreitete Standarddeutung geht davon
aus, dass Duchamps Fontaine ursprünglich
lediglich ein Urinal (und damit kein
Kunstwerk) war, aber weil er es in einer Ausstellung (und damit zweckentfremdet)
zeigte, es zu Kunst wurde. Dies hat man dann
so interpretiert, dass ein- und derselbe
Gegenstand zu Kunst werden kann,
indem jemand deklariert, er sei nun Kunst,
woraufhin eine einflussreiche Gruppe
von Galeristen, Rezipienten und Kennern der
Deklaration Folge leistet. Diese Standarddeutung übersieht aber eine entscheidende
Pointe. Der Gegenstand, den Duchamp
ausstellt, ist gerade kein Urinal, sondern die
unsichtbare Idee, ein Urinal auszustellen!
Das Kunstwerk ist in diesem Fall eine Idee
– und zwar eine ausgesprochen gute und
deswegen wirkmächtige Idee, weil Duchamp
uns darauf hinweist, dass es gerade nicht
im Auge des Betrachters liegt, welche Idee
ausgestellt wird. Denn die Idee, ein Urinal
auszustellen, sieht man nicht, wenn man
das Urinal sieht. Die Idee der Fontaine ist
nicht identisch mit dem sichtbaren Urinal.
Ideen können Kunstwerke sein, wenn
sie auf eine geeignete Weise ausgestellt
werden. Worin die Bedingungen dafür
bestehen, wann eine Idee geeignet ausgestellt
wird, lässt sich nicht unabhängig vom
kunsthistorischen Kontext feststellen. Es
gibt kein ewiges Wesen der Kunst, das
geniale Künstler eingesehen haben, um aus
einer geheimen Quelle zu schöpfen.
Daraus sollte man aber nicht voreilig darauf
schließen, dass es damit in Wirklichkeit
keine Kunstwerke gibt – ein heute die
Gemüter dominierender Irrtum.
Der Konzeptkünstler Joseph Kosuth
hat eine gelungene Formel gefunden:
Kunst ist die Definition von Kunst. Damit
wollte er nicht sagen, dass es in der Kunst
immer nur darum geht, was Kunst ist,
sondern uns vielmehr darauf aufmerksam
machen, dass wir ein gegebenes Kunstwerk
verstehen müssen, um auf der Basis des
Werks die Frage zu stellen, ob es sich um ein
gelungenes Kunstwerk handelt.
anche Kunstwerke machen uns
dies leicht. Picasso ist einer der
größten Künstler aller Zeiten, weil er
unzählige Werke produziert hat, die man
nur mit äußerster sprachlicher Anstrengung
überhaupt noch kommentieren kann. Sie
sprechen für sich selbst, was man in diesen
Tagen anlässlich der umfangreichen
Ausstellung seiner Skulpturen im MoMA
in New York bewundern kann. Wer
Erfahrung im Umgang mit Kunstwerken
und im Versuch hat, sie zu interpretieren
und eine Interpretation im Gespräch mit
Andersdenkenden zu verteidigen, wird
in vielen Fällen schnell imstande sein, in
einem Museum die künstlerischen Höhepunkte zu identifizieren.
Dabei kann man sich natürlich täuschen.
Die Kunstgeschichte ist voller unentdeckter
Perlen, gerade weil es keine allgemeinen
und ewigen Spielregeln gibt, an die sich alle
Künstler in der Produktion von Kunstwerken halten. Das ist einer der Gründe,
warum das Neue, Kreative, Schöpferische
von Künstlern und ihren Rezipienten
prinzipiell geschätzt wird. Es gehört zur
Kunst, dass immer auch noch anderes
möglich ist.
M
Ein Problem ist die Vorstellung, dass
man über Kunstwerke ohnehin jeder
beliebigen Meinung sein kann, ohne sich
jemals wirklich täuschen zu können.
Man muss sich über etwas, was man
erkennen kann, auch täuschen können. Dies
ist ein allgemeines Merkmal von Erkenntnis, das die Erkenntniskritik zum Vorschein
immer auch dadurch aus, dass man sie nur
verstehen kann, wenn man in Betracht zieht,
dass sie festlegen, was die Kriterien dafür
sind, dass sie als gelungen gelten können.
Greifen wir auf unser prominentes
Beispiel zurück. In Duchamps Fontaine ist
das Urinal nur ein Teil des Kunstwerks.
Das eigentliche Kunstwerk (so die hier vorgeschlagene Deutung) ist die Idee, ein
Urinal auszustellen, die Duchamp realisiert
hat. Diese Idee kann man im kunsthistoEin Problem ist die
rischen Kontext, in dem Duchamp arbeitet,
Vorstellung, dass man über verorten und sich dabei einen Überblick
Duchamps Werk verschaffen. Es
Kunstwerke ohnehin jeder über
handelt sich eindeutig um Kunst. Dies wäre
beliebigen Meinung sein kann, nicht der Fall, wenn ich meinen linken
Schuh nähme und irgendwo im Hamburger
ohne sich jemals wirklich
Bahnhof liegen ließe, selbst wenn ich
zu täuschen
damit irgendeine Idee über Philosophen,
Schuhe und Kunstwerke ausdrücken
wollte. Der Kontext fehlte.
bringt. Wenn Kunstkritik eine Form von
Dass die allermeisten Skulpturen
Erkenntnis und nicht von Manipulation
Picassos bessere Kunstwerke als Duchamps
ist, muss sie etwas entdecken können, was
Fontaine sind, sieht man zum Beispiel daran,
andere bisher übersehen haben. Jedes
dass sie eine Vielzahl komplexer Kunstgelungene Kunstwerk fordert geradezu
ideen darstellen, indem sie sich mit Picassos
dazu auf, es zu kommentieren, seinen
Malerei und ihrer Entwicklung, mit anderen
Details auf die Schliche zu kommen und
Skulpturen und Kunstkulturen, mit Materieine kohärente Deutung vorzulegen. Dafür alien und den Bedingungen dafür auseinbraucht man Zeit und eine Wertschätzung
andersetzen, wie genau man eine individuelle,
dafür, dass Kritik Erkenntnis sein kann.
nicht wiederholbare Skulptur schaffen kann.
Damit jemand etwas erkennen und kritisch Außerdem sind sie auch noch unmittelbar
darlegen kann, worum genau es sich
schön, was keine allgemeine Bedingung für
handelt, müssen Fehlerquellen vorliegen.
gelungene Kunstwerke, aber etwas ist,
Was aber sind die Kriterien, an denen
wogegen prinzipiell nichts sprechen sollte.
wir eine gelungene Kunstkritik messen
Wir brauchen also eine neue Kunstkönnen? Das Modell, das gegen den Nihilis- kritik, die nicht mehr davon ausgeht, dass
mus spricht, gehört ins Spektrum des
sie an der Schöpfung von Kunst wesentgegenwärtigen Neuen Realismus in der
lich beteiligt ist. Die Kunst muss selbst einen
Philosophie. Dieser geht erstens davon aus, Widerstandskampf beginnen, sie muss
dass es eine Vielzahl von GegenstandsWiderstand gegen das Ende der Kunst
bereichen unabhängig davon gibt, wie wir
leisten. Dazu braucht sie neue Kunstkritiker,
uns die Wirklichkeit vorstellen, sowie
die zum Kontext der Kunst gehören und
zweitens davon, dass wir die vielen Wirkderen Aufgabe darin besteht, Kunst zu
lichkeiten, in denen wir leben, auch so
deuten und wahre Expertise zu entwickeln.
erkennen können, wie sie an sich sind. Wir
Kunst wird von Künstlern gemacht und
sind nicht prinzipiell von der Wirklichkeit
es gibt sie auch in Wirklichkeit – es kommt
abgeschirmt. Dies gilt auch für die Wirkaber darauf an, sie richtig zu deuten.
lichkeit der Kunst. Die Kriterien einer
gelungenen Interpretation eines KunstMARKUS GABRIEL, JAHRGANG 1980, IST
werks kann man nur dem Werk selber
entnehmen. Darin besteht die viel beschwo- PROFESSOR FÜR PHILOSOPHIE AN DER
UNIVERSITÄT BONN. BEI ULLSTEIN ERSCHIEN
rene Autonomie der Kunst. Kunstwerke
2013 SEIN ESSAYBAND WARUM ES DIE
zeichnen sich unter anderen Gegenständen WELT NICHT GIBT
APÉRO
14
APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
DANIEL KELLYS Londoner Friseursalon
mit Kunst von JACK STRANGE
DER GOLDENE
SCHNITT
LOUISES HAUSOLEUM
A
m Ende ihres Lebens schien es, als
wäre Louise Bourgeois untrennbar
mit ihrem Haus im New Yorker
Stadtteil Chelsea verwachsen. Über fünf
Jahrzehnte hat sie darin gelebt und gearbeitet, ihre gigantischen Spinnenskulpturen
skizziert und die kleinen Stoffpuppen
zusammengenäht. Ab
diesem Winter
können nun
Besucher nach
Anmeldung
das ehemalige
Refugium
der gebürtigen
Pariserin
besuchen. Seit
ihrem Tod im
Jahr 2010
ist es praktisch
unberührt
LOUISE BOURGEOIS Eye, 1995.
geblieben:
Oben: Louise Bourgeois in ihrem
Arbeitszimmer in New York
Kartons,
randvoll mit Erinnerungen. Notizen an der
Wand. Vollgestopfte Regale, Schubladen,
Stapel – schon zu Lebzeiten war das Haus
ein legendärer Sonntagstreffpunkt, wo
sich Künstler und Kritiker austauschten.
Bourgeois erwarb das Townhouse im
Jahr 1962 gemeinsam mit ihrem Mann, dem
Kunsthistoriker Robert Goldwater. Nach
seinem Tod 1973 verlegte sie ihr Atelier vom
Keller in die Wohnräume, und so wurde
nach und nach jeder Stock zum Kunstwerk.
Nur die obersten Zimmer blieben Goldwaters Bibliothek vorbehalten, der Bourgeois
ihre eigenen Bücher zur Seite stellte. Als
Besucher wird man sich dem Reiz dieser aufgeladenen Räume kaum entziehen können
– stehen sie doch für eine Zeit, bevor neue
Medien die Arbeit von Künstlern zunehmend auf den Desktop verlagerten. Ob die
etwas verträumte Idee von der Verschränkung von Kunst und Leben schon erledigt
ist, lässt sich noch nicht sagen. Mit diesem
Ort ist ihr aber bereits ein Denkmal gesetzt
(347 West 20th Street). MW
APÉRO
16
H
aareschneiden und dabei Kunst
betrachten? Ja, das geht gleichzeitig. Daniel Kelly war erst
Friseur, bevor er in London Kunst studierte. Nun hat er in einer ramschigen
Einkaufspassage im neuen Szeneviertel
Peckham seinen Salon DKUK eröffnet.
Zwischen afrikanischen Lebensmittelläden, Plastikkoffershops und den ersten Organic Cafés wird nun frisiert und
kuratiert. „Beides ist mir wichtig. Weil
London immer teurer wird, wollte ich
einen neuen, demokratischen Ort für
Kunst schaffen.“ Seine Kunden? Freunde
und Künstler. „Im Moment leider noch
zu wenig Leute, die nichts mit Kunst zu
tun haben.“ Weil ihm das Gespräch
darüber wichtig ist, finden Lesungen
und Diskussionen statt. Spiegel gibt es
nicht, stattdessen wird gerade ein tanzendes Haar, das der Künstler Jack
Strange über einem Ventilator mit darüber kreisender Discokugel installiert
hat, auf einen Monitor übertragen.
„Eigentlich wollte ich keine Ausstellungen mit Haaren machen. Das war
Zufall“, so Kelly. Dafür zahlt ihm der Arts
Council nun eine Förderung. GB
STREIT UM
EINE VAGINA
DIRTY CORNER, ANISH KAPOORS SKULPTUR IM
SCHLOSSPARK VON VERSAILLES HAT DEN
ÖFFENTLICHEN HASS MOBILISIERT. KUNST UND
KÜNSTLER STEHEN UNTER POLIZEISCHUTZ
Herr Kapoor, Bodyguards schützen Sie, wenn
Sie nach Frankreich kommen. Was geht
Ihnen durch den Kopf?
Kapoor: Es geht nicht nur um meine
Sicherheit. Unsere Kultur wird angegriffen.
Aber kein Intellektueller erhebt sich
in Frankreich. Es ist ein absolut einsamer
Kampf.
Ihre Skulptur erinnert an eine riesige Vagina.
Sie wurde mit antisemitischen Sprüchen
beschmiert. Sollte man sie nicht entfernen
lassen?
– Nein. Es ist schon zum zweiten Mal
passiert! Man kann doch nicht so tun,
als wäre nichts geschehen.
Sie haben selbst eine jüdische Mutter. Nun
wird die Schlossverwaltung wegen Anstiftung
zum Rassismus verklagt. Sie werden
angegriffen. Ist es nicht wichtiger, dass der
Antisemitismus aus dem Garten von
Versailles verschwindet?
– Das ist eine Umkehrung der Tatsachen!
Die Täter werden verteidigt, das Opfer
wird zum Täter. Es gibt kein Gesetz, das
vorschreibt, was Kunst darf. Die Polizei hat
keinen Verdächtigen, aber ein erzkonservativer Stadtrat zieht das Gerichtsverfahren
gegen mich in drei Tagen durch.
Was ist los in dem Land, das so stolz auf die
Kunstfreiheit als Grundgesetz war? Ist der
Hass jetzt salonfähig?
– Es ist beunruhigend und gleichzeitig
faszinierend, dass – wie schon bei Charlie
Hebdo – die Kunst, dieser unnütze Akt,
im Zentrum fundamentaler Fragen steht.
Menschen umzubringen, weil sie Karikaturen machen, ist Wahnsinn.
Können Sie sich vorstellen, warum sich die
Leute über ihr Vagina-Werk ärgern?
Ab 40 hat man
keine Lust mehr.
AUF¬HALBE¬
3ACHEN
!B¬
IM¬
(ANDEL
– Nein. Im öffentlichen Raum sollten wir
die Freiheit haben, uns kollektiv auszuprobieren. Ist das nicht erlaubt, lebt man im
Faschismus. Denken wir auch an Syrien und
den Irak. An den beständigen Hass gegen
alles, was anders ist. Das gilt auch für alle,
ANISH KAPOORS Dirty Corner in Versailles
die wir aus Europa aussperren. Was die
Flüchtlinge machen, ist Kunst. Sie sind
mutig und kreativ. Nichts ist schwieriger, als
sich neu zu erfinden. Deutschland nimmt
diese hochgradig kreativen Menschen auf.
Und deshalb sage ich voraus, dass Deutschlands Zukunft hell strahlt!
INTERVIEW: MARTINA MEISTER
Digitale
Reinkarnation
D
ie Museen drängen in den digitalen
Raum. Das ist zwar nicht ganz neu.
Doch während immer mehr Häuser
das Twittern lernen und ihre Sammlungen
online zugänglich machen, wagt sich das
Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg
noch einen Schritt weiter nach vorn. Als erstes Haus in Deutschland stellt es digitalisierte
Werke, deren Urheberrechte bereits erloschen
sind, zum Herunterladen für jegliche Art der
Nutzung zur Verfügung. Der Online-Besucher
ist also nicht länger nur Rezipient, sondern
möglicher Co-Autor des nächsten Lebens dieser Werke: färben, zerschneiden, remixen –
alles ist plötzlich erlaubt. Ob düstere Fotografien italienischer Städte aus dem 19. Jahrhundert oder expressionistische Tanzmasken
aus den Zwanzigern, fotografiert von Minya
Diez-Dührkoop, einer der ersten großen Fotografinnen: Die Welt ist groß auf www.sammlungonline.mkg-hamburg.de MW
MINYA DIEZ-DÜHRKOOP
Tanzmaske Tobbogan (Frau), 1924,
modifiziert von BLAU
ALLES IST
DURCHLEUCHTET
Ab und zu muss auch eine Mumie mal zum
Arzt. Bei der einen bröckelt es am Rumpf,
was auf Insektenbefall hindeutet. Die
andere hat ein Wadenbein gebrochen. Die
dritte wurde vor 150 Jahren aus purer
Neugier aus- und wieder eingewickelt, was
MIXMASTER ED
W
as haben eine ausgestopfte Schnee-Eule,
Verbrecherfotos und das
Bild einer Tankstelle mit der Aufschrift
Standard gemeinsam? Vielleicht nur so
viel: Sie treffen ab dem 7. November in
der Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli
in Turin aufeinander. Der Mixmaster, so
der Titel der Schau, ist Ed Ruscha. Zusammen mit dem Kurator Paolo Colombo hat
er Objekte aus verschiedenen Sammlungen
der Stadt ausgewählt, um sie mit seinen
eigenen Arbeiten zu kombinieren. Und so
lernen wir nicht nur, dass Turin ein Museum
für Radio und Fernsehen hat, eines für
Kino, für Früchte, für Anatomie und für
Kriminalanthropologie. Sondern auch,
dass Ruscha sich für kuriose Dinge begeistert, die er tatsächlich irgendwie mit seiner
eigenen Arbeit in Zusammenhang bringt.
Zum Beispiel: Telefunken-Holzradios aus
den 60er-Jahren. Schattenspielschablonen
aus dem 19. Jahrhundert. Skizzen von
Federico Fellini für unrealisierte Filme. Mit
Wachs präparierte
Äpfel, Hände,
Meeresschildkröten,
Mäuse und eben auch eine Schnee-Eule.
Sogar ein Skelett eines Kleinwüchsigen aus
dem 19. Jahrhundert ist dabei. Die Kunstwerke, die in der Ausstellung von ihm selbst
stammen, hat er aus seiner Privatsammlung
mitgebracht. „Paolo Colombo und ich
bauen hier eine ganze Scheune voller Dinge
auf, die hart aufeinanderprallen oder
einander ähneln. Die Idee ist, alles miteinander zu verrühren, wie ein Mixmaster
eben“, sagt Ed Ruscha. Der
Artissima (6. – 8. November)
verschafft er so ein schönes
Parallelprojekt. GB
natürlich auch nicht gesund sein kann.
Um Genaueres über ihre Malaisen zu
erfahren, schickt das Dresdener Albertinum
nun fünf seiner vertrockneten Gesellen
zum Röntgen ins Krankenhaus DresdenFriedrichstadt. Eine davon wird mit
der Kamera von der Konzeptkünstlerin
Rosa Barba begleitet. Schon in früheren
Recherchen zu ihrem Filmprojekt
The Hidden Conference nahm Barba
Museumsarchive ins Visier –
die Kamera schwenkte
durch Depots, in denen
Skulpturen wie Schauspieler
wirkten. Die Mumien
dienen dem Abschluss des
Projekts. Am 27. November
eröffnet das Albertinum
Rosa Barbas erste große
Einzelschau. GB
APÉRO
18
ED RUSCHA
Standard Station Study, 1986 (oben links).
Links: Schnee-Eule aus dem Museo
Franchetti del Collegio San Giuseppe,
Turin. Rechts: Fahndungsfoto
nach Alphonse Bertillon aus dem
Museo di Antropologia criminale
Cesare Lombroso, Turin
Zwei Mumien des
Dresdener Röntgenprojekts
Sanssouci, Potsdam – Pen of the Year 2015
Nach seinem Sieg im Siebenjährigen Krieg lässt Friedrich der Grosse sein grösstes und anspruchsvollstes
Bauwerk errichten: das Neue Palais von Sanssouci. Prächtige Festsäle, eindrucksvolle Galerien, ein barockes
Schlosstheater – als Hommage an diese prunkvollen Räume entstanden, macht der Pen of the Year „Sanssouci, Potsdam“
den Glanz einer grossen Epoche auf faszinierende Weise wieder fühlbar. Der platinierte Kolbenfüllfederhalter
ist auf 1 000 Exemplare limitiert, der Tintenroller auf 300 Exemplare.
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1
DICHTER DRAN
SCHMUTZKUSS
Dietmar
DATH
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf die
Bildkunst trifft? Für BLAU hören
Lyriker auf den Klang der Kunst.
Dietmar Dath, Jahrgang 1970,
hält den Schmetterling, der gar
nicht wegfliegen will.
Jede Kunst sehnt sich stets nach Hausarbeit.
Unrein ist Schönheit immer. Waschen hilft.
Leg Dampf auf jede Farbe, bis sie grau ist.
Er sagt: Mal doch den Mann, als ob er Frau ist.
Vor deinen Nabel setz den Schmetterling.
Ob er davonfliegt, weiß der weiße Bauch.
Schultern bewegen sich, die Arme auch.
So geht der Bügeljob mit Strom und Hitze.
2
So gehen Pointen, Schattenspiele, Witze.
Textil, geglättet, lehrt dich Sorgfalt neu.
Ist eine Hose eng, sind’s auch die Taschen,
Nicht zu heiß waschen!
3
Königliche,
Trag das Shirt. Bleib treu.
Inspiriert von
Rita Ackermann
RITA ACKERMANN, She Was Always Diligent Girl I,
1995, Kreide, Kohle auf Papier, 112 × 77 cm
APÉRO
20
TO BREAK THE RULES,
YOU MUST FIRST MASTER
THEM.
UM REGELN BRECHEN ZU KÖNNEN, MUSS MAN SIE
ZUERST MEISTERN.
DAS VALLÉE DE JOUX: SEIT JAHRTAUSENDEN WURDE
DIESES TAL IM SCHWEIZER JURAGEBIRGE VON
SEINEM RAUEN UND UNERBITTLICHEN KLIMA
GEPRÄGT. SEIT 1875 IST ES DIE HEIMAT VON
AUDEMARS PIGUET, IM DORF LE BRASSUS. DIE
ERSTEN UHRMACHER LEBTEN HIER IM EINKLANG MIT
DEM RHYTHMUS DER NATUR UND STREBTEN
DANACH, DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS
DURCH IHRE KOMPLEXEN MECHANISCHEN
MEISTERWERKE ZU ENTSCHLÜSSELN. DIESER
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APÉRO
22
O-TON
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
KRIEGER AUS DER ZUKUNFT
Daniel HUG
über die COFA Contemporary
In Köln eröffnen wir am 19. November die COFA Contemporary. Ja, noch eine Kunstmesse! Aber nur mit 32 Galerien und alle aus dem Rheinland.
Jeder Stand ist gleich groß. Es
wird eine konzentrierte Messe
parallel zur klassischen COFA.
Natürlich wird es Überschneidungen mit der Art Cologne
im April geben. Aber weil der
Platz auf der COFA demokratisch verteilt ist, entsteht eine
andere Atmosphäre. Auch,
weil wir acht Projekträume
dazwischenstreuen, die keine
Miete zahlen. Bruch & Dallas
aus Köln stellen eine Bank auf,
als Treffpunkt für alle Künstler,
die dort bereits eine Schau
hatten. Der freie Kunstverein
kjubh bietet Editionen von Gert
und Uwe Tobias oder Cosima
von Bonin an. Und die Künstlerinitiative New Bretagne aus
Essen zeigt Werke unbekannter Künstler, die Mitglieder der
Gruppe
gekauft,
geliehen
oder gefunden haben.
Keine
Konkurrenz
zur Art
Cologne.
Aber eine
Stärkung für
NRW!
Auf dem Zenit der Ölkrise 1973 zeigte sich
der superschnelle Countach von Lamborghini
wie ein Kind
der Sonne
DER ERSTE PROTOTYP DES LAMBORGHINI COUNTACH, 1971
D
as Leben ist grotesk,
warum sollten es die
Dinge um einen herum
nicht auch sein? So dachte
Traktorhersteller Ferruccio
Lamborghini, als er 1962
beschloss, unglaubliche Sportwagen zu bauen. Warum?
Weil er sich als Kunde vom
damals schon legendären Enzo
Ferrari ein wenig abgesnobt
fühlte und weil Lamborghini
auf inspirierende Art und Weise
größenwahnsinnig war. Der im
Sternzeichen des Stier geborene
Norditaliener startete seine
Himmelfahrtsexkursion mit
einem Zwölfzylinder und
taumelte in einen manieristischen Wahnsinn, der mit
dem Countach in einer
Idealform der Übertreibung, des haltlosen
Futurismus und der
selbstironischen Koketterie zu sich selbst kam.
Countach ist
piemontesischer Dialekt
und wird herausgeschrien, wenn etwas
„non plus ultra“ oder
Edition des kjubh Kunstvereins:
HANS-JÖRG MAYER Love Song,
2012
„superkrass“ ist. Drunter wollte
es der Traktormann nicht
machen. Und weil er auch sonst
gern pokerte, musste er Anfang
der 70er-Jahre zuerst seine
Landwirtschaftssparte verkaufen,
dann auch Teile seiner
Angeber-Herzensangelegenheit.
Er hatte sich überschätzt.
Aber der Wahnsinn des
Selfmademan hatte im Countach
ein flottes Denkmal erhalten.
Heroisch war nicht nur die
kühne Keilform, sondern auch
der Zeitpunkt der Premiere.
Auf dem Genfer Auto-Salon
1973, direkt auf dem Zenit der
Ölkrise, stand der Countach
wie ein Kind der Sonne, ganz
in einem metallischen
Gelb lackiert, zwischen all der
Konfektionsware der Konkurrenz. Hatte der elegante Miura
noch den Schmelz der 60erJahre, war der Countach endlich
jener Krieger, denn sich der
Stierfanatiker Lamborghini stets
wünschte: einen Krieger aus
der Zukunft.
Die Fahrleistungen des
Countach waren spektakulär.
APÉRO
23
Er sollte von Anbeginn zumindest auf dem Papier
300 km/h schnell sein. Wenige
mutige Piloten wagten sich
mit dem Keil in den Grenzbereich, schon der Miura war
jenseits der 220 km/h ein
Russisches Roulette.
Einst auch auf dem
Gebrauchtwagenmarkt verspottet, ist der Countach heute
im Vintage-Handel ein Bluechip.
Das hat auch mit seiner
kulturellen Valorisierung zu tun.
In dem grandios sinnlosen
Raser-Epos Cannonball wird
dem Countach, wüst mit Flügel
verwuchert, in der Eingangsszene ein exzentrisches Denkmal
gesetzt. Verglichen mit dem
vulgären Musclecar der Polizisten erscheint der Botschafter
europäischer Autohöchstkultur
erhaben und obszön zu gleich:
Wer Countach fährt, kann auch
nackt durch die Fußgängerzone
schlendern. Der Keil bringt
den Schock des Kriegerischen
in friedlich dekadente Zeiten.
ULF POSCHARDT
PORTRÄT
WIE WAR ICH?
Eine Beichte des Vaters wirft MIET WARLOP aus ihrem
Mädchenleben. Quentin Tarantino und Thomas Hirschhorn
treiben sie künstlerisch an. Heute gehören die
Performances der belgischen Künstlerin zu den verwirrendsten
Spektakeln zeitgenössischer Kunst
APÉRO
24
E
ine Café-Terrasse in der
portugiesischen Stadt Porto.
Kellner in weiß-goldenen
Uniformen, Mittagsgeschäft.
Ein regenfeuchter, tropfender
Schirm. Unter dem Schirm die
Künstlerin Miet Warlop. Schwarz
gekleidet, Sneakers, den Kopf
auf die Hände gestützt. Gleich
um die Ecke liegt das städtische
Theater Rivoli, in dem sie gestern ihr Erfolgsstück Mystery
Magnet gezeigt hat und es heute
Abend noch einmal zeigen wird.
Ein knallbuntes Bilder-Spektakel, heißt es, ein farbenfroher
Flow, bei dem Miet und fünf
weitere Performer aus einer weißen Wand explodieren. So ungefähr? Miet verzieht den Mund,
freundlich, nicht ganz zufrieden
mit der Beschreibung.
Dass wir uns in Porto verabredet haben, ist Zufall. Mystery
Magnet wurde seit der Premiere
2012 fast 100-mal überall in
MIET WARLOP
Europa aufgeführt und 2014
zum Stückemarkt des Theatertreffens in Berlin eingeladen,
danach in Singapur gezeigt. An
der Universität in Gent zur bildenden Künstlerin ausgebildet,
hat die Belgierin bereits mit ihrer
Abschlussarbeit 2004 Performance-Theater gemacht: Huilend
Hert/Aangeschoten Wild, in einem
riesigen Raum unter Billardlampen platzierte Darsteller, ein
Tableau vivant, ein lebendes Bild.
Solche Lebendbilder sind ein
Leitmotiv ihrer Arbeit, die visuellen Elemente transformieren
sich ständig. Nichts ist, wie es
scheint. Farbe wird zu Blut,
Stoffe sind Eingeweide, Bilder
werden Theater, das Begehren
verwandelt sich in einen Menschen und wieder zurück. Man
kann das kunstkritisch einordnen, Performance und Theater
unterscheiden, Geschlechterkritik aufzeigen, die visual culture
abklopfen. Oder?
Miet Warlop wiegt den auf
die Hände gestützten Kopf. Sie
weiß, dass sie beobachtet wird.
Das stört sie aber nicht. Was sie
manchmal stört, sind Begriffe.
Und doch nochmal zurück zu
Feminismus, Theater, Gender …
Ein Kellner bringt Mittagessen.
Vielleicht ist es ihrer gut gelaunten
Müdigkeit geschuldet – oder doch
eher der Abneigung gegen sich
wiederholende Fragen? Jedenfalls
zerreißt Miet ohne Vorwarnung
das vorsichtige Band des Kennenlernens. „Als ich 18 wurde, hat
mein Vater mir erzählt, dass er
eigentlich auf Männer steht, was
meine Mutter natürlich schon
wusste. Das war der Moment,
in dem ich bewusst angefangen
habe, Dinge und Menschen zu
hinterfragen. Was ich damals
erlebt habe, ist stärker als das,
was ich mit dem Wort Gender
verbinde.“ Papas Beichte kippte
das tragende Familiengebilde,
stellte das Selbstverständnis auf
den Kopf. Man darf das so vorsichtig formulieren, da Miet das
nicht nur als Realitätszerstörung,
sondern auch als Geburtsstunde
ihrer Kunst begreift.
So wird man erwachsen –
und Miet ist so Künstlerin geworden, irgendwie. Ein paar Jahre
später begeht ihr älterer Bruder
Selbstmord. Der Tod sei tragisch
genug, an Miet nagt allerdings die
Frage: „Warum hat er mich nicht
eingeweiht, obwohl wir uns so
nahestanden?“ Sie schweigt. Und
dann relativiert sie, was sie gerade
erzählt hat: „Man soll jetzt nicht
glauben, dass ich Kunst mache,
APÉRO
25
AUFTAKTSEITE UND OBEN: MYSTERY MAGNET, 2012,
PERFORMANCE
weil meine Familie so ist, wie sie
ist. Wenn man spricht, wird es
immer einseitig. Worte erzwingen
eine Festlegung.“ Trotzdem redet
sie gerne, mit tiefer, rauchiger
Stimme, von eckigen Gesten
begleitet. Sie zappelt, aber sie zappelt kontrolliert, sie steht seit Jahren auf der Bühne, sie weiß, was
ihr Körper tut. Sie wird gerne
angeschaut, sie wird schnell sauer,
sie lacht weniger, als man vermuten würde. „Ich bin kein Mädchen
mehr, das musste ich erst mal verarbeiten“, sagt die heute 37-Jährige. Damit beschäftigt sie sich in
ihrer jüngsten Performance, der
Solo-Show Dragging the Bone.
Sie hat schon viel gemacht,
ist keine Anfängerin mehr, aber
noch nicht so bekannt, dass alle
Geschichten schon erzählt, alle
Bezüge genannt wären. Zumal sie
auch selbst dafür sorgt, dass man
sie nicht perfekt einordnen kann.
Das ist weder Disco
noch Achterbahn,
sondern ein Alptraum
Sie hat beispielsweise vom illustrativ-witzigen Künstler Erwin
Wurm und vom politisch-intellektuellen Thomas Hirschhorn
gelernt. Ja, das geht …
Wer oberflächlich zu Mystery
Magnet recherchiert, erwartet ein
farbenfrohes Gag-Spektakel,
„Disneyland auf Acid“ oder
„Piff-Paff-Puff“, wie ein Theaterkritiker 2014 zum Anlass der
Stückemarkt-Aufführung titelte.
Tatsächlich gibt es jede Menge
Farbe und Witz, man kann die
Performance technoid oder
partymäßig nennen, sie beginnt
mit einem anschwellenden heart
beat und einer unsichtbaren quakenden Stimme, die sich ganz
offensichtlich Helium reingezogen hat. Man hört sogar noch
den Heliumballon furzen. Das
Publikum ist jung, da freut sich
DRAGGING THE BONE, 2014, PERFORMANCE
die alte Theaterinstitution. Aber
Mystery Magnet ist weder Disco
noch Achterbahn, sondern ein
Albtraum, in dem man – kreisch,
blutspritz – kurz mal mit den
Fingern an die Wand getackert,
überfahren, aufgeschlitzt wird.
Diese Drastik ist Teil unserer
visuellen Kultur, Stichwort
Tarantino. Wichtiger noch: Miet
hat das Stück entwickelt, als sie
vor einigen Jahren in Berlin lebte,
kaum Anschluss an die Kunstszene fand und in einer übergriffigen Beziehung feststeckte.
„Was die Zuschauer an
Mystery Magnet fesselt, sind nicht
die sichtbaren Bilder, sondern
die Energien, die unsichtbar bleiben.“ Das betont Miet immer
wieder. Aber was ist diese
unsichtbare Energie? Eine Logik
der Grausamkeit vielleicht. Sie ist
dem ganzen Stück, sie ist der weißen, zaubertricksenden Horrorwand eingebaut.
Der fette Mann, der zu
Anfang auf der Bühne sitzt, zettelt das Grauen an, indem er ein
an grünen Luftballons schwebendes Mädchen mit einem
Luftballon fesselt. Oder wird der
Mann von dem dumpfen Mechanismus der Wand gelenkt? Das
Vertraute trägt nicht, dafür
schützt plötzlich das Seltsame.
Der Mann, der einzige in dieser
Show, der ein Gesicht hat, steckt
mit dem Kopf zuvorderst in der
bedrohlichen Wand, als die
Handlung brutal wird. Er muss
das nicht mit ansehen. Die anderen Darsteller verstecken ihr
Gesicht hinter Haaren, hinter riesigen bunten Perücken. Sie entpersönlichen, entmenschlichen –
aber schützen auch: Als Miet
durch die Wand kracht, passt die
pinkfarbene Perücke auf ihr
Gesicht auf.
Am Ende der Show, nachdem zombiehafte Trockenmasken durch Mark und Bein röcheln,
bleibt auf dem Bühnenbodenschlachtfeld ein riesiges abstraktes
Gemälde zurück und die Performer fangen nach der Verbeugung
das Aufräumen an. Das Schlachtfeld wird zum dreidimensionalen
Gemälde, das Gemälde wird aufgeräumt. Transformation.
Hinterher in der Garderobe
zischen die adrenalingekitzelten
Performer das erste Bier,
duschen, kratzen die Farbe unter
den Nägeln heraus. In jeder Garderobe dieser Welt gibt es den
typischen „Und, wie war ich“Moment. „Und?“, fragt Miet, im
mintgrünen Bademantel, zerlaufene Schminke, Zigarette. Auf
die Antwort hin, dass das doch
eine sehr grausame Angelegenheit sei, was sie da auf die Bühne
APÉRO
26
gebracht habe, beschwichtigt sie
sofort. „Ach Quatsch“, sagt sie.
„Let’s have dinner.“
Dass sie ihre lebendigen Bilder im Theater präsentiert, allermeist ein staatlich geförderter
Schutzraum, der zu den größten
Errungenschaften der Kultur
zählen mag, gleichzeitig aber
auch etwas Verschnarchtes hat,
ist eher Zufall. Für ihre
Abschlussarbeit Huilend Hert hat
sie keinen Kunst-, sondern einen
Theaterpreis bekommen. Deshalb hat sie sich in diese Richtung orientiert. Sie sieht das
Ganze pragmatisch, konzipiert
ihre Stücke in einem großen Atelier in Belgien wie eine bildende
Künstlerin, führt sie auf wie eine
Performerin, wird aber wie eine
Autorin oder Regisseurin bezahlt.
Bei Miet geht es um Handlung, aber mehr noch um Bilder.
Tableaux vivants eben, die auch in
Kunstgalerien passen. Bezeichnend, dass ihr aktuelles Dragging
the Bone unter anderem vom Pariser Centre Pompidou und vom
Hebbel am Ufer-Theater in Berlin koproduziert wird. Trotzdem: Theatrale Institutionen
haben sich bislang eher für Miets
Materialschlachten geeignet als
etwa Museen.
Bei Dragging the Bone, ein
monochromer, minimalistischer
Gegenentwurf zu Mystery Magnet,
bei dem jede Menge trockener
Gips durch die Luft staubt, war
die Zusammenarbeit mit dem
Centre Pompidou nicht immer
unproblematisch. Warum? „Die
hatten Angst, dass der Staub in
die Lüftung gelangt und sich auf
den anderen Kunstwerken verteilt“, sagt sie und ist in Gedanken schon woanders. „And now
for something completely different“, wie es bei Monty Python
heißt. „Ich suche dringend einen
Manager! Kennst du jemanden?“
TEXT: SIMON ELSON
Julian Schnabel
Jack Climbed up the Beanstalk to the Sky of Illimitableness
Where Everything Went Backwards.
APÉRO
27
October 19 —November 14, 2015
ALMINE RECH GALLERY PARIS
BLITZSCHLAG
FUSSBALL IST
NICHT DIE
GRÖSSTE KUNST
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern.
Günter Netzer über den einzigen
Fotografen,
ch habe mich schon immer
den er nicht
von meinem Bauchgefühl
leiten lassen. Fast scheint es
für einen
mir, als sei der Verlauf meines
Lebens fremdbestimmt gewePaparazzo hält
sen. Anders sind mir die Dinge
I
schlichtweg nicht erklärbar, die
ich erlebt habe. Erst in der
Rückschau fügt sich nun alles
ineinander.
In den 60er-Jahren hatte
ich das erste Mal Kontakt
zur Kunst. Ich sah Werke von
A. R. Penck und Sigmar Polke
in der Wohnung von Michael
Werner. Damals war ich noch
professioneller Fußballspieler
und wollte mich von nichts
ablenken lassen. Und so kam
es, dass Sigmar Polke irgend-
wann über mich sagte: Das ist
doch der, der die ganze Zeit nur
Coca-Cola trinkt.
Meine Frau aber war der
Kunst schon damals zugetan.
Ich bewundere sie für diese
Begeisterungsfähigkeit – bis
heute. Einer jener Künstler,
die meine Frau schon seit vielen
Jahren intensiv begleitet, ist
Andreas Gursky. Ich selbst hatte
immer ein entschieden gespaltenes Verhältnis zu Fotografen
ANDREAS GURSKY Rückblick, 2015
GÜNTER NETZER im Museum Frieder Burda,
fotografiert von LOTTERMANN AND FUENTES
und kannte sie vor allem als
Paparazzi, von denen ich der
Meinung war, sie wären stets zur
falschen Zeit am falschen Ort.
Von Gursky jedoch wurde mir
erzählt, er wäre leidenschaftlicher Fußballfan, was natürlich
nur meine Zustimmung finden
konnte und ihn mir gleich
sympathisch machte. Über Rolf
Sachs lernten wir uns persönlich
kennen und sind uns in vielen
Gesprächen nahe gekommen.
Heute hat der Fußball in
meinem Leben an Bedeutung
verloren. Und so überrascht es
nicht, dass mich die Kunstbegeisterung erst jetzt so richtig
packt: vor einem Bild wie
Rückblick von Andreas Gursky.
Er hat mich früh gefragt, was
ich von der Idee eines großen
Kanzlerbildes halten würde.
Diese Männer und eine Frau,
die Großes für unser Volk
APÉRO
28
geleistet haben, aus derart ungewohnter Perspektive zu
porträtieren, überzeugt sofort.
Gurskys Bild ist so außergewöhnlich komponiert, dass
ich schon fast nicht mehr von
einer Fotografie sprechen
möchte. Wenn ich auf diese vier
Köpfe von Gerhard Schröder,
Helmut Schmidt, Angela Merkel
und Helmut Kohl blicke, sehe
ich ein zeithistorisches Stück
gemalter Fotografie, das meine
Frau wohl zu Recht an Barnett
Newman erinnert.
Ich habe nie behauptet, die
Werke, die mich faszinieren,
wirklich zu verstehen und ich
bin klug genug, dies in Zukunft
nicht zu tun. Aber ich habe
Respekt vor dem, was Künstler
leisten und erschaffen. Ich zähle
das Werk von Andreas Gursky
ohne jede Einschränkung zum
Größten in der Kunst.
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APÉRO
29
UM DIE ECKE
PETIT SABLON
BRÜSSEL
Jede Stadt hat ihre
Mikrokosmen, wir stellen
sie vor. In Brüssel geraten wir
in einen Friseursalon für Prinzessinnen,
erfahren von schrägen Bastel-Vorlieben
und neuen weißen Zellen
D
ie Herbstsonne gießt ihr warmes Licht
auf den Square du Petit Sablon. Friedlich sieht er aus, der kleine Platz mit
den geputzten mittelalterlichen Häusern,
eine Oase mitten in der Altstadt von Brüssel.
Ja, Brüssel: diese zerrupfte EU-Stadt, von
der man kein inneres Bild zeichnen kann. Die
eigentlich keiner so richtig kennt. Den meisten fällt dazu nur Lobbyismus und Manneken Pis ein, vielleicht noch Schokolade und
Comics. Dabei ist Brüssel ständig in Bewegung. Voller Widersprüche und Seltsamkeiten. Es ist die zentralste und internationalste
Stadt Europas – in kaum zwei Stunden ist
man in Paris, London, Amsterdam, Köln.
Jeder hier spricht mehrere Sprachen. Die
Straßen tragen zwei Namen, einen flämischen und einen französischen. Es gibt
schroffe, abrupt auftauchende Neubauten,
Resultate der „Bruxellisation“, mit der sich
die Stadt in ihre EU-Rolle warf und ganze
Altbauzeilen plattmachte, so dass sie nun zerwürfelt aussieht. Doch Brüssel ist auch traditionsbewusst. Es gibt viel adliges Geld. Aber
auch Migranten, die nicht aus der EU kommen. Vor allem um den Bahnhof herum. Am
Petit Sablon, oder auch: „Kleine Zavel“, ist
die Welt in Ordnung.
APÉRO
30
Wer sich umsieht zwischen den prächtigen, aber auch sehr verschlossenen Fassaden,
erinnert sich vielleicht, dass hier früher alles
voll war mit Händlern für Kunst aus Afrika
und Antiquitäten. Heute sind die meisten
verschwunden. Heute hat Brüssel einen
Zulauf von Künstlern und Galerien, bei dem
Berlin nicht mehr mithalten kann. Die meisten liegen südlich vom Sablon, in einer edlen
Wohngegend – Xavier Hufkens und Almine
Rech sind dort die Platzhirsche. Und hier?
Hinter dem kleinen Schaufenster eines
Backsteinhauses entdecke ich ausgestopfte
Papageien, mit Holzklötzchen gefüllte Toten-
köpfe, Halskrausen unter
Glasglocken, als wäre das die
Dachkammer aus der Unendlichen Geschichte. Ein Herr mit
schwarzem Schnauzbart und
Pullover lässt mich herein.
Er nickt gemütlich, die Hände in den
Taschen, sein Name ist Jean-Pierre Laurent.
Er kennt die staunenden Gesichter von Touristen, die vom berühmten Antikenflohmarkt
am Grand Sablon kommen, von Filmausstattern und treuen Liebhabern seiner, wie er es
nennt, „Antiquitäten“. Ganze Sammlungen
von Schmetterlingen und Korallen kauft er
und kombiniert sie gemeinsam mit seiner
Frau zu surrealen Gebilden. Eigentlich sei er
Industriemodellbauer, sagt Monsieur Laurent. Zur Erklärung holt er von hinten ein
Foto, das irgendeine Anlage zeigt, rote Leitungen ziehen sich daran wie Nervenbahnen
empor. Der Beruf sei heute überflüssig. Nun
setze er keine Rohre mehr zusammen, sondern Antiquitäten.
Dagegen erstrahlt im Nachbarhaus ein
Fenster in gleißendem Weiß, am Boden eine
große Muschel auf Rädern. Es ist der neue,
bereits zweite Raum der Londoner Galerie
MOT International in Brüssel. Sie vermischt
80er-Neoexpressionismus von Helmut
Middendorf mit der angesagten Videokünstlerin Laure Prouvost. Nach Brüssel kam sie,
weil die Mieten sogar in der Altstadt
bezahlbar sind – und wegen der vielen Sammler. Von den niedrigen Steuern für Reiche
werden sie auch
aus Frankreich
angelockt.
„Jean-Luc
au Sablon“ lese
ich nebenan auf
einem Schild aus
Silber. Wer ist
dieser Mann, der
den Namen seines Standortes
trägt? Eine rundliche Frau im
Blümchenkleid
reißt die Tür auf. „Sie haben jetzt einen Termin zum Färben, stimmt’s? Kommen Sie,
kommen Sie!“ Sie winkt hinein in den Friseursalon, der aussieht wie die Edelgarderobe einer Diva aus Kolonialzeiten. Auf
einem Tisch liegt eine Kollektion aus Ringen
und Armreifen: goldene Fassungen mit großen, bunt schimmernden Steinen – JeanLucs Eigenkreation. Daneben eine Vitrine
mit Vintage-Schmuck von Chanel. Und dann
die Friseursessel: mit Leopardenmuster
bezogen. Einer steht wie ein Thron im Separee. „Unsere VIP-Lounge“, erklärt ein Mann,
es ist Jean-Luc Lorenzetti. „Dort werden die
Damen aus dem Königshaus frisiert.“ Wer
genau, verrät er nicht. Diskretion gehört zum
Geschäft. Ich stelle mir eine Prinzessin unter
der Trockenhaube vor.
Die Rue aux Laines ist eine vornehme
Straße. Im Eckhaus liegt die Galerie Patrick
APÉRO
31
DIE BEWEGTE STADT
BEI JEAN-PIERRE LAURENT HEISSEN
SCHMETTERLINGE ANTIQUITÄTEN
(GANZ LINKS), ERIC GILLIS (MITTE)
VERKAUFT JAMES ENSOR
HINTER EDELFASSADEN. BARBARA
GLADSTONE BILDET DIE SPEERSPITZE DER NEUEN GALERIEN UND
RESIDIERT AM EGMONTPARK
Derom, eine der wichtigsten
Adressen für Symbolismus und
Nachkriegsmoderne. Sie residiert
seit 1986 am Petit Sablon. Gegenüber ist letztes Jahr Eric Gillis
eingezogen. Eine junge Frau mit
langen dunkelroten Haaren fängt
fröhlich an zu erzählen, was,
sagen wir mal, in einer New Yorker Galerie undenkbar wäre, wenn man eindeutig nichts kaufen will. Ein Eames-Stuhl
vor buntem Jugendstilfenster, eingefasst von
hohen Bücherregalen, der Blick geht in den
Garten. An den Wänden ein Cézanne-artiges
Stillleben von James Ensor und düstere Tintenzeichnungen von Léon Spilliaert, dem
belgischen Symbolisten. Alles wirkt konzentriert. Wie finden die Kunden hierher? „Die
Straße ist ruhiger, seit die meisten Antiquitätenhändler fort sind – die Leute kauften
plötzlich lieber Kunst statt Silberbesteck.
Nun ziehen die Galerien her.“
Den Trend hat Barbara Gladstone
gesetzt. Die Dependance der New Yorker
Großgalerie liegt auf der anderen Seite des
kleinen Egmontparks. Zwischen Bronzestatuen und uralten Bäumen sitzen Büromenschen beim Lunch auf der Orangerieterrasse.
Dahinter erhebt sich ein Wolkenkratzer.
KUNST IST DIE NEUE KOLONIE
AM SQUARE DU PETIT SABLON HAT
DIE LONDONER GALERIE MOT
INTERNATIONAL (RECHTS) GERADE
IHREN ZWEITEN RAUM IN BRÜSSEL
ERÖFFNET. NEBENAN FRISIERT
JEAN-LUC LORENZETTI BELGISCHE
PRINZESSINNEN IM SEPAREE (LINKS).
CHRISTINE DE SCHAETZEN (RECHTS
UNTEN) STREBT IM AUKTIONSHAUS
LEMPERTZ DAS GESCHÄFT MIT DER
ZUKUNFT AN
In die elegante Stadtvilla der Galerie
trete ich über Bodenmosaiken ein. Mit den
lackierten Holztreppen ist sie das Gegenteil
der Kühlschrankarchitektur, wie man sie aus
Chelsea kennt. Barbara Gladstone, eine der
wichtigsten Galeristinnen überhaupt, ist
berühmt für ihr knallhartes Kalkül, aber auch
für ihren scharfen Blick. Früh vertrat sie Kai
Althoff oder Anish Kapoor, als der noch keinen Kitsch produzierte. Seit die Brüsseler
Räume 2008 eröffneten, reist die Galeristin
zu jeder Ausstellung an, dann wohnt sie im
obersten Stock. Warum Brüssel und warum
ausgerechnet hier? Eine Mitarbeiterin sagt:
„Brüssel liegt superzentral. Unsere Künstler
waren hier noch nicht vertreten. Die belgischen Sammler sind kenntnisreich, gehen
nicht mit jedem Trend. Die Lage ist perfekt.
Alle großen Modemarken liegen um die
Ecke, das Auktionshaus Lempertz nebenan.“
In der schmucken Art-Nouveau-Villa
aus dem Jahr 1901 sitzt Christine de Schaetzen
hinter einem raumfüllenden Schreibtisch. Er
ist mit rotem Filz bedeckt, Kataloge stapeln
sich darauf. „Vor einem Jahr wurde alles
denkmalgerecht renoviert“, erklärt die Direktorin im schmalen kurzen Kleid. An ihren
Ohren und Händen blitzen Steine. Sie wirkt
sehr aufrecht. „Nun sind wir die Vitrine
unseres Haupthauses in Köln.“ Lempertz
sitzt seit 1985 in Brüssel. Jedes Jahr gibt es
drei Auktionen, zwei für Afrikanische und
nun auch eine für Zeitgenössische Kunst.
Das Geschäft läuft gut – vielleicht bald besser als in Deutschland, wo das geplante Kulturgutschutzgesetz den Handel schon jetzt
ins Ausland treibt. Wir nehmen eine knarzende Treppe ins Kellerdepot. Am Boden ist
eine Holzkonstruktion ausgepackt, darauf
hocken affenähnliche Figuren mit Haarbüscheln. Die Kunsthistorikerin wiegt den
Kopf, das sei wohl aus dem südostasiatischen
Raum. Tribal Art ist nicht ihr Fachgebiet, sie
blickt lieber in die Zukunft.
Die Avantgarde findet allerdings woanders statt: Im Blickfeld des klassizistischen
Monstrums von Justizpalast steht ein elegantes Haus mit Säulen. Früher wurden hier
Gesetzesbücher gedruckt und verkauft. Seit
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letztem Jahr ist es Symbol für die
neue Brüsseler Kunstszene. In
jedem der drei Stockwerke sitzt
mindestens eine Galerie – im
Vorderhaus die großen Namen
Micheline Szwajcer und Jan Mot,
der in den ehemaligen Buchladen eingezogen ist. Über samtbezogene Stufen schleicht
man in einen Raum, wo die alten Regalwände bis unter die Decke reichen. Gerade
ist alles dunkel, es läuft ein stiller Film der
Niederländerin Manon de Boer. Im Hinterhaus, wo früher die Druckwerkstätten lagen,
führen schmale Stahltreppen zu den jüngeren Kollegen. Bei Patrick Waldburger glänzt
schwarzmetallisch ein alter Lastenaufzug in
der Ecke, auf rohen Dielen sprießt eine
Parklandschaft von Xu Zhen, „dem ersten
chinesischen Konzeptkünstler“, wie der
Galerist erzählt. Da treibt ein Windstoß
Herbstblätter am Fenster vorbei. Golden
leuchten sie auf – und verschwinden.
TEXT: GESINE BORCHERDT
FOTOS: VINCEN BEEKMAN
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
WIR VERBINDEN FOTOGRAFIE MIT
700 JAHREN KUNSTGESCHICHTE.
Mit der DZ BANK Kunstsammlung, der größten Sammlung ihrer Art für zeitgenössische Fotokunst, machen wir Kunst seit über 20 Jahren
für alle erlebbar – mit Ausstellungen in unserem ART FOYER und durch die langjährige, erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Städel
Museum, der ältesten Museumsstiftung Deutschlands mit Werken aus 700 Jahren europäischer Kunstgeschichte. Wir freuen uns, dem
Städel in diesem Jahr als Hauptsponsor einer Jubiläumsausstellung zu seinem 200-jährigen Bestehen gratulieren zu dürfen.
Mehr unter
» www.dzbank.de
Die Uffizien sind eine ganz
eigene Kategorie. Es ist eines der
berühmtesten und ältesten
Museen der Welt.
– Ja, seit dem 18. Jahrhundert
haben hier einige der bedeutendsten italienischen Gelehrten
als Chef amtiert. Die allermeisten kamen direkt aus der
Toskana, also nicht einmal
Römer oder Neapolitaner wollte
man in den Uffizien haben.
Wenn ich nun im November als
erster Ausländer überhaupt
dieses Amt antrete, dann kann
man sich vorstellen, dass
viele Italiener meine Arbeit sehr
kritisch beäugen.
INTERVIEW
EIN DEUTSCHER
FÜR ITALIEN
EIKE
SCHMIDT,
der neue
Direktor der
Uffizien,
verrät BLAU,
was er am
schönsten
Arbeitsplatz
der Welt
vorhat
Herr Schmidt, mit Ihrer Ernennung zum neuen Direktor der
Uffizien sind auch noch andere
Ausländer auf wichtige Museums-posten in Italien berufen
worden, allein drei deutsche und
zwei österreichische Kollegen.
Erleben wir da eine Invasion
ausländischer Experten ins
Mutterland der Kunst?
– So würde ich es nicht sehen.
Es sind auch vier Italiener
dabei, die vorher im Ausland
Karriere gemacht haben.
Das ist für mich das eigentliche
Signal: In Italien bekommt
man nicht mehr nach langem
Warten in den Institutionen
einen Chefposten, sondern wenn
jemand sich die Sporen auf
dem internationalen Markt
verdient hat.
Aber Florenz ist kein Neuland
für Sie?
– Nein, ich habe von 1994 bis
2001 in Florenz gelebt, erst
als Stipendiat, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Kunsthistorischen Institut. Ich
bin mit einer Italienerin verheiratet, spreche die Sprache.
Und ich kenne sehr wohl die
typische Mentalität der Florentiner. Mit ihrem Sarkasmus
sind sie mindestens so direkt
und scharfzüngig wie die Leute
in Berlin oder New York.
Was wollen Sie anders machen
als ihre Vorgänger?
– Vor allem möchte ich die
Technikbegeisterung aus Amerika in Italien nutzbar machen.
Wir haben am Museum in
Minneapolis vor sechs Jahren
die Besucher mit einem Begleitprogramm auf dem iPad
ausgestattet. Videos, Computeranimationen gehören sowieso
dazu. Das ist jetzt schon fast
wieder veraltet, jetzt können sich
die Besucher ihre Infos per
App aufs Smartphone laden.
sich der Interessierte auf Schildern über die Werke informiert, oft hängen die Beschriftungen tief, sind schwer
lesbar und richten sich eher
an Experten, die gerade eine
Examensarbeit über den
Künstler schreiben. Das geht
so nicht mehr.
Es gab viel Kritik an den neuen
Sälen der Uffizien, die beim
Umbau jetzt nach und nach
eröffnet werden.
– Man monierte die bunte
Farbgebung, die Enge.
An der Enge der historischen
Räume kann man wenig
ändern. Und ich weiß, wie
passioniert der bisherige
Direktor Antonio Natali – ich
schätze und bewundere
ihn sehr – an der Auswahl der
Farben gearbeitet hat. Der
Trend zu den bunten Wänden
fing im Louvre der 80er-Jahre
an, und er passt eigentlich
gut zu den Uffizien, denn diese
Tonalität stammt aus dem
18. Jahrhundert – also aus der
Zeit, als die Sammlung zuerst
als Museum dem Publikum
geöffnet wurde. Ich will da
jedenfalls flexibel sein und nicht
dogmatisch. So etwas sollte
man von Fall zu Fall neu entscheiden, wenn jetzt beim
Ausbau neue Säle dazukommen.
Die Uffizien sind ja nicht nur das
meistbesuchte Museum in Italien,
sondern im Verhältnis zur
Grundfläche auch das vollste
Museum der Welt …
– Daran kann man sehr wohl
etwas ändern. Bisher müssen
die fast zwei Millionen Besucher
pro Jahr von der Schlange an
einer Eingangskasse auf einem
festen Parcours durch die
rund 50 Säle hindurch. Von der
Das gibt es in Italien so noch nicht? vorgegebenen Marschroute
– Nein, kann man nicht gerade
können auch die Leute nicht
sagen. Hier erwartet man, dass
abweichen, die eigentlich genug
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ENT WURF: R AHLWESPIE TZ ABB.: STUDIE FÜR BILD 25.08.2015
GALERIE BÄRBEL GRÄSSLIN Schäfergasse 46 B, 60313 Frankfurt am Main
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gesehen haben, die müde sind
und nur noch den Ausgang
suchen. Diese Gruppen laufen
dann noch kilometerweit
durch Säle, in denen sie nur die
anderen Besucher stören.
Was kann man gegen den
kunsthistorischen Massentourismus tun?
– Wir haben in den Uffizien
zwei Hauptflügel und können
hier schon mal die Massen
trennen und auf zwei unterschiedlichen Parcours durchs
Haus leiten. Und selbst da
könnte man noch über Nebenausgänge und Treppen Leute
wieder ableiten und Wahlmöglichkeiten schaffen. Erfahrungsgemäß ist es jetzt schon
in den letzten Sälen viel leerer,
während die einzigartige Malerei
des Mittelalters und der Frührenaissance immer überfüllt
ist, weil sich am Anfang die
Gruppen stauen.
„Wir benötigen keine
Neubauten und
Werbung. Die
Uffizien kennt jeder“
Kunstwerk ist, sich alle durch
einen Flaschenhals drängen
müssen. Es geht in Florenz
nicht wie beim viel größeren
Louvre, wo die Massen sternförmig ausschwärmen können.
Doch wir dürfen den Besuchern
ruhig eine größere Freiheit
geben. Ich bin überzeugt, wenn
wir jetzt mit den Architekten
sprechen und das Museum
anders begehbar machen, haben
wir das größte Problem beseitigt. Wieso auch müssen immer
endlose Schlangen draußen
stehen und potenzielle Besucher
abschrecken, wenn wir
das anders regeln können?
Viele italienische Kritiker haben
geunkt, dass mit einem jungen
Direktor aus dem Ausland jetzt
das schrankenlose Sponsoring
in den Uffizien losgeht …
– Bestimmt nicht. Man sollte
da behutsam vorgehen. Was
würde es denn nutzen, wenn wir
jetzt irgendeinen Multinational
als neuen Großsponsor vorstellen und damit die lokalen
Spender und Gönner in den
Schatten stellen? Das lokale
und regionale Umfeld in der
Toskana muss jeder Direktor
sehr vorsichtig
pflegen. Und die
Räume der Uffizien,
die von den
Besuchern schwer
beansprucht sind,
kann ich keineswegs
nach Belieben abends
für Partys und
Empfänge vermieten.
Aber die italienische
Politik, allen voran
Premierminister
Renzi, der aus Florenz stammt,
erwartet mehr Einnahmen
aus Marketing und Sponsoring.
– Wir haben da wunderbare
Möglichkeiten mit dem riesigen
Palazzo Pitti auf der anderen
Der neue Herr über den Florentiner Bilderschatz:
Eike Schmidt, geboren 1968 in Freiburg
Sie wollen also in den Uffizien
Bypässe legen?
– Wenn Sie so wollen. Ich sehe
jedenfalls nicht ein, warum
in diesem hochsensiblen Bau,
der selber ein historisches
Arnoseite, der samt den
Boboli-Gärten jetzt mit den
Uffizien unter meiner Leitung
vereinigt wird. Da gibt es
herrliche Säle, die höchstens
einmal für Sonderausstellungen
genutzt werden, Theater,
Gartenflächen. In diesem noblen
Ambiente haben die toskanischen Modeschöpfer in den
50er-Jahren ihre Catwalks aufgebaut. Damals spielte Florenz
weltweit eine Vorreiterrolle im
Public-Private-Partnership.
Im Palazzo Pitti ist Florenz als
Stil- und Modemetropole
etabliert worden. Wenn ich an
diese Tradition anknüpfen
kann, dann ist das nicht nur
einträglich, sondern brach
liegende Räumlichkeiten werden
wieder mit Leben erfüllt.
Bisher haben alle Direktoren
die Uffizien auch für Ausstellungen genutzt – bis hin zu
Gegenwartskunst.
– Das soll auch so bleiben.
Zudem haben wir die größte
Galerie von Künstlerselbstporträts weltweit. Die werden
an den Uffizien seit dem
17. Jahrhundert gesammelt.
Diese Sammlung wächst
weiter mit bedeutenden Erwerbungen der Gegenwartskunst.
Zuletzt sind noch Werke von
Bill Viola und Vanessa Beecroft
dazugekommen. So etwas
müssen wir sichtbar machen.
Digitalzeitalter müssen sensible
Gemälde nicht so oft reisen;
die kann sich jeder auf dem
Computer anschauen. Darum
werden wir auch die digitale
Präsentation ausbauen.
Wie waren denn so die Reaktionen in Ihrem Umfeld nach
der Ernennung?
– In den italienischen Medien
gab es zum Teil sehr kritische
Stimmen gerade in den sehr
linken und den sehr rechten
Publikationen. Kann das ein
Ausländer überhaupt? Muss
es unbedingt ein Deutscher sein,
wenn die Deutschen sonst in
Europa immer mehr das Sagen
haben? Bei so viel Zurückhaltung war es dann sehr schön,
dass mir auch italienische
Kollegen, Kunsthistoriker,
aufrichtig zum neuen Posten
gratuliert haben.
Keine Befürchtungen vor der
wachsenden Deutschfeindlichkeit, die sich zuletzt bei der
Eurokrise in Italien breitmachte?
– Überhaupt nicht. Davon
ist in Florenz und in meinem
Umkreis nichts zu spüren.
Als ich jetzt in Florenz war,
haben mich sogar Italiener
auf der Piazza della Signoria
erkannt und angesprochen:
„Sie sind doch der künftige
Direktor der Uffizien aus
Germania?“ Und augenscheinlich waren sie sehr zufrieden.
Und für all das brauchen Sie
Das hat mich dann doch
nicht den praktischen Neubau
gefreut. Vielleicht machen sich
der Uffizien zwischen Autobahn ja auch in Italien immer mehr
und Flughafen, wie ihn italieni- Leute klar, dass eine Institution
sche Kunsthistoriker provokant
wie die Uffizien über das Land,
gefordert hatten?
ja über Europa hinausstrahlt.
– Definitiv nicht. Wir benötigen Und dass die Mehrzahl der
keine Neubauten und auch
Besucher längst nicht mehr aus
keine aufwendige Werbung
Italien kommt. Warum also
im Ausland mit Sonderschauen, der Direktor?
wie das weniger bekannte
Sammlungen machen. Die
INTERVIEW: DIRK SCHÜMER
Uffizien kennt jeder. Im
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2.
Julian Schnabel, 1981
in seinem Atelier neben The Mutant King,
fotografiert von Hans Namuth
Julian
SCHNABEL
Kein zweiter Künstler wurde in den 80er-Jahren so verehrt und
gehasst wie er. Und keiner hatte mehr Selbstvertrauen: Julian
Schnabel verglich sich selbst mit Picasso und schrieb mit
36 Jahren seine Autobiografie. Dann kamen die Neunziger
und plötzlich stand er für alles, was man am vergangenen
Jahrzehnt schon immer nicht gemocht haben wollte. Im
tiefsten Karriereloch erfand er sich neu – als Regisseur.
Vierzig Jahre nach seinen ersten Arbeiten schaut
Schnabel jetzt auf ein Lebenswerk zurück, das
eine ganze Generation neuer Maler inspiriert.
Und das trotzdem noch immer auf seine
Wiederentdeckung wartet. Ein Besuch
beim berühmtesten unbekannten
Künstler der Welt.
Von Cornelius Tittel
JANE BIRKIN #2
1990, Öl, Gesso (Gipsmasse) auf
Segeltuch, 488 × 793 cm
I
mmerhin, der Maler und der Autor dieser
Zeilen haben etwas gemeinsam. Beide
haben Plattfüße. Doch während es der
Autor seit Grundschultagen mit Einlagen
probiert, weiß der Maler bis heute nicht, was
ein orthopädischer Schuster ist. Er geht seinen Weg, ohne sich abzurollen, meist in ausgetretenen Vans mit offenen Schnürsenkeln,
was umso erstaunlicher ist, als er nicht nur
sein eigenes Gewicht, sondern auch das der
Kunstgeschichte auf seinen Füßen trägt.
An diesem Spätsommertag in den
Hamptons, ganz oben in Montauk, wo auch
Warhols Sommerhaus steht und die Wellen
hoch genug zum Surfen sind, hat Julian
Schnabel sie bislang geschont. Mittags hat er
im Liegen gesprochen, im Schatten neben seinem Open-Air-Studio, das an einen SquashPlatz erinnert und über ein Sprungbrett mit
dem tiefer gelegenen Pool verbunden ist.
Nachmittags dann im Wasser, vor und zurück
und von zwei Kirschbäumen geschützt, die
auch dann Schatten warfen, als man kurz
nicht sicher war, ob der Künstler weint oder
sich nur die Augen reibt.
Und dann vorbei an einer großen Holzskulptur, auf der Idiota steht, der Gang zu
seinem Haus. Wie aus einer Edgar-AllanPoe-Geschichte ragt es schwarz und hölzern
aus den Dünen. Schnabel nimmt die Stufen
zur Veranda wie einer der Bären, die zuletzt
in den 30er-Jahren hier gesichtet wurden,
und denen man sich, so tapsig sie wirken
mochten, niemals in den Weg gestellt hätte.
Die Möwen kreisen, das Meer rauscht,
die Abendsonne scheint. Vielleicht ist es jetzt
an der Zeit, die Geduld des Malers anzutesten. Kritiker hat er genug, aber was entgegnet er denen, die behaupten, einen nicht
unerheblichen Teil seines Werkes habe er
sich bei Cy Twombly abgeschaut?
Julian Schnabel zögert nicht. „Es ist
immer ein Geben und Nehmen“, sagt er. „Cy
kannte offensichtlich Jack the Bellboy, ein frühes Bild von mir. 25 Jahre später hat er einen
ganzen Zyklus gemacht, der mein Motiv wieder aufnimmt. Es sind die Lepanto-Bilder, die
heute in München hängen.“ Und als würde
er Zweifel bei seinem Gegenüber spüren,
hebelt er sich aus seinem verwitterten Gartensessel und sagt: „Komm.“
Dann steht man da, in seinem Wohnzimmer, und sieht zwei wunderschöne Twomblys.
Von Angesicht zu Angesicht hängen sie und
die Textfragmente auf beiden beginnen mit
denselben Worten: „To Julian“.
Ein paar Jahre vor Cys Tod sei er in Italien gewesen, erzählt er, ganz in der Nähe
seines Hauses. Spontan sei er hingefahren,
ohne sich groß anzumelden. Cy sei nicht da
JACK THE BELLBOY / A SEASON IN HELL
1975, verschiedene Stoffe, RhoplexTM (Acrylbinder),
Öl, Gips, Drahtgitter auf Leinwand, 183 × 122 cm
gewesen, aber ein Assistent habe ihn hereingelassen. „Ich bin im Haus herumgelaufen,
habe in jedes Zimmer geschaut. Meine Bilder, unser Tausch, waren im Schlafzimmer.
Sie dort zu sehen, hat mich tief gerührt.“
Draußen dämmert es. Und hier drinnen, auf
dem windschiefen Couchtisch zwischen den
Twomblys liegt ein zerbeultes, sonnengebleichtes Taschenbuch. Es ist Der Herbst des
Patriarchen von Gabriel García Màrquez.
DIE KUNSTWELT
FORDERT DEMUT
Der Mann der jetzt zum Abendessen ruft,
man darf das ruhig so hinschreiben, war einmal der berühmteste Maler der Welt. Andy
Warhol ließ sich von ihm porträtieren,
Bernard Picasso tauschte ein Bild seines
Großvaters gegen studiofrische Ware. Und
warum auch nicht? Hatte Schnabel nicht
gerade eben erst einer Reporterin den schönen Satz diktiert: „I am as close to Picasso as
you’re going to get in this fucking life“? So
allgegenwärtig war er in den 80er-Jahren,
dass das Magazin Artforum eine Coverstory
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mit dem Titel Not about Julian Schnabel veröffentlichte, in der es am Ende natürlich doch
wieder um Julian Schnabel ging.
Dann kam der Kunstmarktcrash von
1990 und plötzlich stand Julian Schnabel stellvertretend für alles, was man an den 80erJahren schon immer nicht gemocht haben
wollte – für große Egos und noch größere
Gesten, für finanzielle Exzesse, für einen
Geniekult, der jetzt, im Rückblick, so démodé
wirkte wie die Armani-Anzüge von Richard
Gere in American Gigolo. Der amerikanische
Groß-Kritiker Robert Hughes erwählte
Schnabel zu seinem bevorzugten Prügelknaben, seine deutsche Kollegin Isabelle Graw
erkannte den „Erzfeind“ in ihm. Der Diskurs
um Geschlechteridentitäten oder zum Ende
der Autorenschaft hatte für Schnabel keine
Verwendung – und wenn doch, dann nur als
Antithese zu allem, was man eben so diskutierte. So nachhaltig verhasst war er, dass das
Whitney Museum, das ihm noch 1988 eine
Soloschau ausrichtete, 15 Jahre später ein
geplantes Geschenk von Leonard Lauder
ablehnte: Bones and Trumpets Rubbing Against
Each Other Towards Infinity, eines seiner wichtigen frühen Scherbenbilder.
Nicht, dass man sich um Schnabel
allzu große Sorgen hätte machen müssen.
Einige der reichsten Sammler der Welt, von
Stavros Niarchos bis Peter Brant, hielten
ihrem Freund die Treue. Seine Häuser blieben groß, die Bilder wurden noch größer.
Nur, dass sich jetzt keine Museumsdirektoren mehr meldeten. „Nimm Nicholas
Serota“, sagt Schnabel heute. „Er hat mich
zu A New Spirit in Painting eingeladen, hat
mit mir eine große Einzelausstellung in der
Whitechapel Gallery gemacht. Und von
einem Tag auf den anderen meldet er sich
nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, ob er
überhaupt weiß, was ich in den letzten 25
Jahren gemacht habe.“
Es beginnt der zweite Akt seiner Karriere. Schnabel hört auf, exklusiv mit Galerien
zu arbeiten und wird sein eigener Händler.
Langsam, aber sicher verschwindet er aus
den Seiten der Kunstzeitschriften, bleibt für
Gesellschaftsmagazine aber Celebrity genug,
um fast jeden seiner Schritte zu begleiten.
Dass er nebenbei fünf Kinofilme dreht, erst
Basquiat und später dann Schmetterling und
Taucherglocke, für den er den Regiepreis in
Cannes erhält, ist seiner Credibility als Maler
CIRCUMNAVIGATING THE SEA OF SHIT
1979, Öl, Teller, metallene Seifenschale, Spachtelmasse auf Holz, 244 × 244 × 31 cm
ebenso wenig zuträglich wie die KomplettGestaltung des Gramercy Park Hotels oder
der Bau seines gigantischen New Yorker Privathauses, eines pinkfarbenen Palazzos im
venezianischen Stil.
Die Kunstwelt, das weiß Schnabel, fordert Demut, wenn schon nicht in Geldfragen
oder zwischenmenschlichen Dingen, so
doch wenigstens der Kunstform gegenüber.
„Ich bin Maler“, sagt er. Und: „Ich hatte nie
die Absicht, davon abzulenken, was ich am
besten kann. I just happened to be alive.“
Also, noch einmal auf Los, zurück auf
die Liege im Schatten, wo das Gespräch
begann. Julian Schnabel wird am 26. Oktober
1951 in New York City geboren. Sein Vater
Jack, der als 12-Jähriger alleine aus der Tschechoslowakei in die USA gekommen war, ist
Fleischgroßhändler, seine Mutter Esta studiert am jüdischen theologischen Seminar.
Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen ist ein Museumsbesuch mit seiner Mutter, der vor einem Rembrandt endet. „Das
Bild war mit Samtkordeln abgesperrt, und
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ich weiß noch, wie golden es geleuchtet hat,
wie magisch es aussah. Es war, als hätte ich
den brennenden Busch gesehen.“ Auch an
die Zeichnungen einer Klassenkameradin
namens Fran Jetter erinnert er sich, als sei es
gestern gewesen. „Wir waren in der dritten
Klasse und ihre Zeichnungen waren so viel
delikater als meine. Meine waren sehr rau.
Und ich weiß noch, ich hatte dieses Gefühl,
dass sie die Anerkennung bekam, die mir
zugestanden hätte.“ Als Schnabel 15 ist, ziehen seine Eltern mit ihm nach Texas, wo sein
Schon die Wahl seiner
Maluntergründe sorgt für
Rekordausschläge auf
der Pathos-Skala. The Edge
of Victory entsteht auf
dem Bodenbelag des BoxGyms, in dem Mike Tyson
trainiert hat. Das Bild
ist mit dem Schweiß und
Blut ungezählter Boxer
getränkt – und eben mit
dem des jüngsten
Weltmeisters aller Zeiten
THE EDGE OF VICTORY
1987, Gesso (Gipsmasse), Gaffer-Tape, Schweiß,
Blut, Boxringboden, 345 × 488 cm
Vater an der mexikanischen Grenze in den
Großhandel mit Second-Hand-Bekleidung
einsteigt. Wenn man ihn fragt, was ihn in dieser Zeit in Texas besonders geprägt habe,
sagt er nur: „Die Weite. Die Größe. In Texas
beginnt man, in anderen Dimensionen zu
denken. Als ich wieder nach Brooklyn kam
und mein Elternhaus sah, kam es mir wie
eine Puppenstube vor.“
Schnabel beginnt, in Houston Kunst zu
studieren und bewirbt sich 1973 für ein Stipendium des Whitney Museums. „Ich habe
meine Dias zwischen zwei Sandwich-Scheiben gepackt und hingeschickt. Ein dummer
Trick, aber er hat funktioniert.“ Zurück in
New York stellt das Whitney ihm ein kleines
Atelier und organisiert für ihn und die anderen Stipendiaten Studiobesuche bei Künstlern wie Donald Judd, John Chamberlain und
Richard Artschwager.
Schnabel ist 21 Jahre alt und wird der
jüngste Stammgast in Max’s Kansas City,
einem legendären Künstlerrestaurant, in
dem er meist umsonst essen darf, von Willem de Kooning bis Carl Andre alle kennenlernt und mit Jeff Koons einen weiteren
ebenso jungen wie unbekannten Künstler
einführt. „Niemand hat damals gemalt –
außer Bill de Kooning. Ich erinnere mich an
einen Abend, an dem Richard Serra mich
nach Hause gefahren hat. Er wollte wissen,
was genau ich mache und ich erzählte ihm
von meinen Bildern und fragte ihn, ob er sie
sehen wolle. Er sagte nein – Brice Marden
und Ellsworth Kelly seien die einzigen
Maler, die er toleriere.“
Ob er schon früh Visionen zukünftiger
Größe hatte? „Überhaupt nicht“, sagt Julian
Schnabel. „Obwohl ich natürlich gesehen
habe, dass meine Sachen besser sind als das
meiste, was in den New Yorker Museen und
Galerien ausgestellt wurde. Das war offensichtlich.“
Vorerst bleibt diese Erkenntnis sein Privileg. Versuche, eine Galerieausstellung zu
bekommen, scheitern, dafür macht er mit
seinen deutschen Freunden Sigmar Polke
und Blinky Palermo einen Roadtrip in seinem alten Dodge nach Philadelphia, wo sie
sich gemeinsam Marcel Duchamps Installation Das große Glas anschauen. Nachdem
Schnabel die Arbeit an einer Art ProtoBasquiat beendet, der wenig mehr als ein
Pferd, eine Krone und daneben das Wort
„Hawk“ zeigt, beschließt er, seine Freundin
in Texas abzuholen und Urlaub in Mexiko zu
machen. Erst zwei Jahre später, in denen er
in Houston ein leer stehendes Ladenlokal
bezieht und Jack the Bellboy malt, kehrt Julian
Schnabel nach New York zurück.
Abends jobbt er als Koch in Mickey
Ruskins Ocean Club, nachts malt er erst bei
seinem Freund Ross Bleckner, der in Europa
weilt, dann in einem ungenutzten Teil des
Ateliers von Susan Ensley, der Lebensgefährtin des Künstlers Gordon Matta-Clark. Der
Julian Schnabels Eltern Jack und Esta, Palm Beach 1990
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sieht Schnabels Bilder und überredet seine
Galeristin Holly Solomon, den jungen Maler
zu besuchen, was ihm seine erste Gruppenausstellung einbringt – und wenig später ein
Angebot von Mary Boone, die ihm noch vor
Eröffnung seiner ersten Solo-Schau ein englisches Sammlerpaar namens Charles und
Doris Saatchi vorbeischickt.
Jetzt geht alles sehr schnell. So schnell,
dass Julian Schnabel mit seiner zweiten Schau
bei Mary Boone, er ist gerade 28 Jahre alt
geworden, zum gefeiertsten jungen Maler der
USA avanciert. Keiner stillt den plötzlichen
Hunger nach Bildern, der nach einem Jahrzehnt Minimal, Post-Minimal und Konzeptkunst plötzlich von New York bis Köln ausbricht, wie er. So schnell ist auch er selbst, wie
er weniger atemlos als tatsächlich mit längstem Atem Stile wechselt, Maluntergründe
und Techniken, dass man vielleicht erst heute
im Rückblick erkennen kann, wie groß sein
Beitrag zur jüngsten Kunstgeschichte ist.
Er malt Heilige und Idioten, ein Portrait
of God genauso wie The Unexpected Death of
Blinky Palermo in the Tropics, er bestreicht
Untergründe mit schnell trocknendem Gips,
schneidet Löcher in die Leinwände, malt auf
Scherben-Reliefs, schmutzige Truckplanen
und sonnengegerbte Segel, auf Teppiche und
Türen. Und je länger man sich heute dieses
40 Jahre umfassende Werk anschaut, desto
unwahrscheinlicher klingt es, dass man im
Jahre 2015 von der Frieze in London zurückkehrt, ohne auch nur einen Schnabel gesehen
zu haben – dafür aber mindestens zehn zeitgenössische Marktlieblinge, die ihm mehr als
nur einen Drink schulden.
Da ist Oscar Murillo, der bei David
Zwirner ausstellt und auf zusammengenähtem Sackleinen Bilder malt, bei denen man
nur das Wort „Yoga“ ersetzen müsste, und
man hätte einen eher schwachen Schnabel
aus den späten Achtzigern. Da ist Sterling
Ruby, der sich vom Meister (und dem Bild,
dass auf dem Cover dieser Ausgabe zu sehen
ist) ganz offensichtlich zu einer Serie inspirieren ließ. Da ist Joe Bradley, der seine ebenfalls
zusammengenähten Leinwände dem Schmutz
des eigenen Studios aussetzt und Fußabdrücke integriert, wie es Schnabel schon vor 40
Jahren gemacht hat. Und da ist Sergej Jensen,
der bis vor Kurzem wie Schnabel Stockflecken oder die Nähte seiner Textilcollagen
zum Bildprogramm erhoben hat.
HURRICANE BOB (DIE EIGER NORTWAND)
1991, Öl, Gesso (Gipsmasse) auf Abdeckplane, 457 × 457 cm
EL ESPONTANEO (FOR ABÉLARDO MARTINEZ)
1990, Öl, Fahne auf weißer Abdeckplane, 671 × 671 cm
Julian Schnabel verlagert das Gespräch
jetzt in seinen Pool und bittet seinen alten
Freund Herbie Fletcher dazu, einen ehemaligen Profi-Surfer, der, wie fast jedes Jahr,
Urlaub bei ihm macht. Kennengelernt haben
sie sich vor 1968 am Strand von Padre Island,
Texas – Schnabel war 16, Herbie drei Jahre
älter und schon damals der weit bessere Surfer. „Aber Julian“, sagt Herbie Fletcher und
pfeift durch die Zähne, „der Junge kannte
keine Angst.“
Oscar Murillo, Joe Bradley – Schnabels
Freund gesteht, noch nie von ihnen gehört
zu haben, während der Maler jetzt mit der
flachen Hand aufs Wasser schlägt „Ich
versuche, es nicht persönlich zu nehmen“,
sagt er. „Aber als mir neulich einer in der
Gagosian Galerie erklären wollte, wie Rudolf
Stingel die Malerei neu erfindet, indem er
seine Blattgold-Leinwände auf dem Studioboden liegen lässt, bis der Dreck und die
Spuren der Besucher das spätere Motiv bilden, da bin ich richtig sauer geworden.“
Natürlich kann er Stingel toppen – und
hat es längst getan. Anfang der Neunziger
lässt er seinen Freund Christopher Walken
auf seinen am Boden liegenden Leinwänden
tanzen. Schnabel befestigt Leinwände an sei-
nem Pick-up und schleift sie auf dem Montauk Highway hinter sich her. Es entstehen
Werke wie Two Days Later, auf denen dort,
wo die zusammengefaltete Leinwand der
Straße ausgesetzt ist, geisterhafte Spuren entstehen, die an Altmeister-Zeichnungen erinnern. Dazu kommen die Abdrücke von in
Farbe getränkten Tischdecken, die Schnabel
schließlich gegen die Leinwand schleudert.
Es sind Bilder wie Grabtücher, die, selbst
wenn man weiß, wie sie entstanden sind,
nichts von ihrer Aura verlieren.
BEI KNAPP FÜNF METERN
BEGINNT DER HIMMEL
Immer wieder schafft es Schnabel, nicht nur
formal einen Schritt weiterzugehen – die
Wahl seiner Malgründe ermöglichen ihm
auch Rekordausschläge auf der nach oben
offenen Pathos-Skala. 1987 etwa lässt er seinen Freund, den Maler James Nares in einem
seiner New Yorker Studios arbeiten. Als
Nares eines Abends am legendären Gramercy
Boxing Gym vorbeiläuft, weiß er sofort, wie
er sich bei seinem Gastgeber bedanken kann.
Das Gym, in dem Mike Tyson für seine größten Kämpfe trainiert hat, wird renoviert und
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Nares sieht, wie Bauarbeiter säckeweiße
Schutt auf die Straße tragen. „James hat mir
die mit Tape geflickten Bodenbeläge der
Boxringe ins Studio geschleppt. Mein
Geschenk für dich, hat er gesagt.“ Julian
Schnabel macht daraus drei gigantische,
ebenso atemberaubende wie komplett ironiefreie Gemälde: Muhammad Ali, Descent from the
Cross und The Edge of Victory. Alle sind sie mit
dem Schweiß und Blut ungezählter, längst
vergessener Boxer getränkt – und eben mit
dem des jüngsten Schwergewichtsweltmeisters aller Zeiten.
Überhaupt: die Größe. Keiner seiner
Kritiker, der die schiere Quadratmeterzahl
der Bilder nicht als Symptom begreifen
würde, keiner, der ihm nicht längst chronischen Größenwahn attestiert hätte. „Vielleicht“, sagt er, „war ich zu unbescheiden,
vielleicht habe ich Sachen gesagt, die ich
nicht hätte sagen sollen. Aber soll ich deshalb
kleinere Bilder malen?“ Schnabel erzählt, wie
er nach Ellora in Indien gereist sei, wo die
Menschen ihre Tempel aus dem Felsen
gehauen hätten. Sie haben dort eine menschliche Größe – und eine himmlische. „Die
himmlische“ sagt er, „beginnt bei knapp fünf
Metern. Wir selbst sind vielleicht 1,80 Meter
CASPAR DAVID FRIEDRICH
Abend, 1824, Öl auf Karton, 20 × 28 cm
groß und dann schauen wir hoch. Ab dieser berichten. „In London“, sagt er „hat mich
Ist das, was ihn antreibt, UnsterblichHöhe scheint es, als würde der Himmel neulich ein Taxifahrer gefragt, ob ich der keit? „Ich glaube, der Grund für fast alles,
beginnen. Fünf mal fünf Meter ist also eine Vater von Vito Schnabel sei.“
was ich mache, ist Liebe“, sagt er. „Am
ziemlich ideale Größe für ein Bild.“
Dann klingelt das Telefon und Laurie Anfang habe ich Bilder gemalt und mir vorWoher er das Selbstvertrauen nimmt, Anderson ist dran, die Witwe von Lou Reed. gestellt, dass meine Mutter mich noch mehr
sich immer wieder diesen Formaten auszulie- Sie ist aufgebracht, weil sie in einem dieser in lieben würde, wenn sie sähe, wie gut sie sind,
fern? Julian Schnabel und Herbie Fletcher New York gerade schwer angesagten Sauer- wie gut ich male. Später war ich in diese Frau
machen jetzt den toten Mann. Der eine auch stofftanks gewesen sei und Platzangst verliebt, doch sie lebte mit einem anderen
mit weit über 60 noch mit eindrucksvollem bekommen und daraufhin immer wieder den Mann in Paris. Ich begann, ihren Namen
Sixpack, der andere mit einem Bauch, auf Notrufknopf gedrückt und gegen den Tank Olatz auf jedes meiner Bilder zu malen, ich
dem man sich einen Fluss hinabtreiben ließe. getrommelt habe, doch niemand sei gekom- machte eine ganze Ausstellung damit. Drei
„Als Surfer“, sagt Julian Schnabel, „bist du men. Gott sei Dank habe sie ihr Telefon Jahre später haben wir geheiratet. Oder mein
Wellen gewöhnt, die weit größer sind als du. dabeigehabt, mit dem sie die Feuerwehr Freund, der Sänger Antonio Molina, der
Du musst dich entscheiden, ob du sie reiten gerufen habe, die sie dann schließlich befreit seine Stimme verlor. Ich machte diese Bilder
kannst.“ Surfen und Malen hätten viel habe. Und die Frau von diesem Sauerstoff- und auf jedes schrieb ich ‚the voice of Antogemeinsam. Beides sei kein Teamsport. Und dings habe doch tatsächlich behauptet, sie nio Molina‘, als könnte ich ihr so weiter einen
bei beidem hätte man ständig den Thrill, fast habe nichts gehört. „Laurie, hör zu“, sagt Raum geben.“ Es ist noch nicht lange her,
zu ertrinken. Und doch gäbe es einen Unter- Schnabel – ruhig, beruhigend, aber doch sagt er, da sei sein Freund Philip Seymour
schied: Es sei viel einfacher, über das Surfen auch so, als würde er keine Widerrede dul- Hoffman gestorben, einfach weil er ein paar
zu reden als über das Malen.
den. „Du kommst morgen hier raus. Hier falsche Entscheidungen getroffen habe. „An
Ob er es trotzdem probieren will? Julian brauchst du keinen Sauerstofftank. Du weißt, dem Abend zerriss ich diese Abdeckplane
Schnabel, der einst ein 14 Meter hohes Bild dass ich immer ein Bett für dich habe.“
von einem Straßenverkaufsstand in vier Teile
namens Ahab gemalt hat, liegt immer noch
und machte vier Gemälde für Phil. Für wen
BLINKY PALERMO
auf dem Rücken, füllt seine Backen und lässt
habe ich sie gemacht? Wollte ich seine Frau
UND DIE LIEBE
jetzt eine Fontäne hochsprudeln. „Du kannst
wissen lassen, dass ich ihn liebe? Wollte ich
über alles andere auf der Welt besser sprePhil sagen, dass ich ihn liebe, obwohl er tot
chen als darüber, warum du malst“, sagt er. Später sitzen wir im Kaminzimmer, umgeben ist, und so weiter mit ihm kommunizieren?
„Weil das, was du tust, so offensichtlich von Joseph Beuys, Sigmar Polke und dem Wollte ich mir selbst sagen, dass ich ihn liebe?
absurd ist. Das Einzige, was wichtig ist, ist letzten Bild, das Blinky Palermo vor seinem Oder wollte ich, dass ein Publikum diese
die Wahrheit; die Authentizität des Zeichens, Tod gemalt hat. Blinky Palermos Freundin Liebe fühlt und irgendwohin mitnimmt? Was
das gleich auf der Leinwand erscheinen wird. hat es ihm 1977 verkauft. Was denkt er, wenn auch immer der Grund war, es hatte mit
Wenn du unsicher und verwirrt bist, ist es er es sieht? „Ich denke daran, dass wir nicht Liebe zu tun.“
die Hölle. Aber wenn du dieses Zeichen fin- wissen können, wann es zu Ende ist. Und
Als Julian Schnabel mir das Gästezimdest, wenn es dort vor dir erscheint, dann ist daran, dass das, was wir hinterlassen, für sich mer zeigt, sehe ich im Treppenhaus ein Bild.
stehen muss, wenn wir nicht mehr da sind.“ Darauf hat er Harz zerfließen lassen und
alles gut.“
Abends dann, beim Essen
Regardes mes pieds plats geschriemit Herbie Fletcher und Schnaben – schaut auf meine platten
bels Freundin Tatiana, einer CelFüße. „Ein fantastisches Bild“,
listin, die den Tag genutzt hat,
sage ich noch. „Ich weiß“, sagt
um für ein anstehendes Konzert
Julian Schnabel. „Cy hat es
zu üben, geht es dann nur noch
geliebt.“
um Wellen. Es geht um die besten Surfplätze der Welt, um die
Vorfreude auf die hurricane
season, die bald beginnt. Und es
geht um Söhne. Fletcher erzählt
von seinem Sohn Christian, der
AM 10. DEZEMBER ERSCHEINT
zu einem der 50 besten Surfer
DIE WELT DES JULIAN SCHNABEL,
aller Zeiten gewählt wurde, und
EINE KOMPLETT VOM KÜNSTLER
Schnabel von Vito, der längst
GESTALTETE AUSGABE DER
TAGESZEITUNG DIE WELT.
berühmter sei als er selbst, seitDIE GALERIE ALMINE RECH,
UNTITLED (SURFER), 2008, Tintenstrahldruck, Gesso (Gipsmasse),
dem die internationalen KlatschPARIS, ZEIGT NOCH BIS ZUM
Tinte auf Polyester, 269 × 416 cm. Vorherige Doppelseite links: UNTITLED, 2015,
zeitschriften wöchentlich über
14. NOVEMBER NEUE UND
Sprayfarbe, Gesso (Gipsmasse) auf einem Stück Stoff, 290 × 239 cm.
ALTE ARBEITEN SCHNABELS
seine Beziehung zu Heidi Klum
Rechts: TWO DAYS LATER, 1990, Öl, Schmutz auf Abdeckplane, 244 × 193 cm
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50
Julian Schnabel,
fotografiert von Gregory Halpern,
Montauk, September 2015
CASPAR DAVID FRIEDRICH
Abend, 1824, Öl auf Karton, 20 × 28 cm
Die Prinzessin
PARLAGHY
Zeitungsbericht im Hempstead Sentinel 1911: Der amerikanische Bürgerkriegs-Exgeneral Daniel E. Sickles schenkt
Vilma Parlaghy ein Löwenbaby. Sie nennt es Goldfleck und nimmt es mit in ihre Menagerie im Plaza Hotel in
New York (unten), in dem sie selbst ein 14-Zimmer-Apartement bewohnt. Mitte und rechts: Vilma Parlaghy und ihre
berühmten Modelle: der amerikanische Stahltycoon Andrew Carnegie (oben), Otto Fürst von Bismarck (Mitte),
Ilya Graf Tolstoi (unten) und Helmuth Graf von Moltke (rechts)
REVUE
52
Als Vilma Parlaghy 1883
von München nach
Berlin zieht, ist sie eine
unbekannte Künstlerin,
die behauptet, Lenbachs
Meisterschülerin zu sein.
Wenig später heißt sie
Prinzessin Lwoff-Parlaghy,
stürzt Kaiser Wilhelm II.
in einen Skandal und
porträtiert die mächtigsten
Männer der Welt.
Philipp Demandt über eine
Malerin, die auf dem
Höhepunkt ihrer Karriere
nebst Bär, Krokodilen und
Löwe eine 14-Zimmer-Suite
im New Yorker Plaza
bewohnt – und die doch
völlig vergessen stirbt
W
o beginnen, in Budapest, München
oder Berlin? In einem feudalen
Anwesen an der französischen
Riviera oder doch im Plaza Hotel, New York?
Wie erzählt man die Geschichte der Vilma
Parlaghy oder Prinzessin Lwoff-Parlaghy, wie
sie sich selbst nannte? Quellen gibt es kaum.
Legenden umso mehr, selbst gestrickte. Von
einer Malerin, die einen eigenen Presseattaché
beschäftigte und wie keine Künstlerin zuvor
die Klaviatur der öffentlichen Inszenierung
beherrschte. Eine Malerfürstin, die diesseits
wie jenseits des Atlantiks die Kunstwelt
ebenso in Atem hielt wie die Klatschpresse,
die Kaiser und Könige, Heerführer und
Nobelpreisträger porträtierte, die als
„berühmteste Porträtmalerin der Welt“ zur
Millionärin wurde – und heute völlig vergessen ist, auch und nicht zuletzt, weil sie ihr
größtes Kunstwerk mit ins Grab genommen
hat: sich selbst.
Beginnen wir also auf einem Friedhof.
dem Hartsdale Pet Cemetery in Westchester
County, New York. Zwischen Hunden und
Katzen ruht hier ein Tier, das für gewöhnlich
nicht zu den Kuscheltieren der oberen Zehntausend in Manhattan zählt: ein Löwe. Der
Grabstein nennt seinen Namen: Goldfleck.
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53
Ein schöner junger Löwe sei hier begraben,
steht dort in Stein gemeißelt, zutiefst betrauert von Prinzessin Vilma Lwoff-Parlaghy.
New York 1912.
Goldflecks Leben war kurz. Geboren in
einem Zirkus, hatte er die Aufmerksamkeit
einer Frau erregt, die in New York im Jahr
1908 wie ein Filmstar empfangen wurde.
Nicht nur die aufwendig livrierte Entourage
und die 50 Schrankkoffer waren es, die Prinzessin Lwoff-Parlaghys Eintritt in die Staaten
zu einem öffentlichen Ereignis machte, sondern auch ihre mitgebrachte Menagerie: ein
Zwergspitz, eine Angorakatze, ein Meer-
Modell und Förderer von Vilma Parlaghy: Wilhelm II.
Rechts: Das sogenannte Blaue Porträt des Erfinders Nikola Tesla aus dem Jahr 1913
schweinchen, eine Eule, ein Ibis, ein kleiner
Bär namens Teddy und zwei Krokodile. Ziel
hätte das Waldorf-Astoria sein sollen, doch
sah sich die Hotelleitung nicht imstande,
Vilmas Zoo ein Obdach zu gewähren.
o zog die Reisegruppe ins Plaza, wo
man Parlaghy samt Gefolge in einer
14-Zimmer-Suite räumlich und auch
geistlich – es gab eine Privatkapelle – angemessen unterbringen konnte. Verliebt in den
jungen Löwen hatte sich die Prinzessin im
Frühling 1911, als sie ihn in der Barnum &
Baily Menagerie am Madison Square Garden
sah und sogleich erwerben wollte. Der Zirkus
aber dachte nicht daran, den Löwen zu ver-
S
kaufen. Was dann geschah, folgt jenem Muster, das fundamental für den Werdegang der
Künstlerin geworden war, die früh erfahren
hatte, dass es mit Talenten nicht allein getan
war, wenn man als Frau zu ihrer Zeit nach
oben wollte. Die Prinzessin wandte sich an
einen Mann von Macht und Einfluss, der ihr
schon Modell gesessen hatte. General Daniel
Sickles, ein hochbetagter Held der Schlacht
von Gettysburg, trat nun seinerseits als Interessent an die Zirkusdirektion heran, die
nicht wagte, ihm den Löwen zu verweigern.
Und so zog der Löwe unter großem Presseecho in das Plaza-Hotel, nachdem er mit
Champagner getauft worden war. Doch nur
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ein Jahr später war Goldfleck bereits eingegangen. Nach einer formalen Totenwache
fuhr seine Besitzerin mit dem Taxi zum
Hartsdale-Tierfriedhof, begleitet von sechs
Autos voller Trauernder, die meisten davon
Angestellte auf der payroll der Parlaghy.
Kehren wir zurück über den Atlantik
und erzählen die Geschichte der Prinzessin
von Anfang an: die Geschichte einer Frau,
deren große künstlerische Begabung nur noch
von ihrer unschlagbaren sozialen Intelligenz
übertroffen wurde, und die gewillt war, in
einer Männerwelt ihr eigener
Herr zu bleiben. Wie man sich
heute sicher ist, kam Vilma
Parlaghy 1863 im ungarischen
Hajdúdorog zur Welt, sie
selbst gab 1867 als Geburtsjahr an, aber es kursieren auch
die Jahre 1868 oder sogar
1873 – Vilma wurde immer
jünger. Nach ersten künstlerischen Gehversuchen noch in
Budapest wurde gegen 1886
die Begegnung mit Franz von
Lenbach zum Erweckungserlebnis, für beide, glaubt man Parlaghy: „Du
wirst keinen anderen Lehrer außer mir haben,
ebenso wie ich niemals eine andere Schülerin
als dich haben werde.“ So gebar gleichsam das
„erste Gebot“ die Malergöttin, die später
behauptete, niemals Schülerin von Lenbach
gewesen zu sein.
Schon das erste Bild, mit dem die junge
Künstlerin an die Öffentlichkeit trat, verriet
eine Strategie, auf die viele Künstler setzten
und die noch heute funktioniert: Man malt
einen berühmten Mann, einen umstrittenen
idealerweise. Parlaghy wählte Lajos Kossuth,
Ungarns Kämpfer für die Unabhängigkeit,
den sie in seinem italienischen Exil besuchte.
Erfolgreich stellte sie das Bildnis im privaten
Rahmen aus, nachdem es in Österreich als
politisch unerwünscht zurückgewiesen worden war.
Nach einer Kurzehe mit dem Juristen
Karl Krüger firmierte die Malerin ab 1899
durch Hochzeit mit einem Fürsten Lwoff als
Prinzessin Lwoff-Parlaghy. Den Titel behielt
sie nebst Apanage und Stadtpalais in Nizza,
nachdem sie sich vom Fürsten 1903 schon
wieder scheiden ließ. Später folgte die Verbindung mit einem Dänen, der Vater ihres
einzigen Kindes wurde.
Salonausstellung anno 1895 in ihrem Atelier Unter den Linden: die malende Prinzessin (Mitte), umringt von malenden Männern
Als ihr der Kaiser persönlich
die Medaille der Großen
Berliner Kunstausstellung
verleiht, hat sie ein Leitmotiv für ihr Leben. Den
Neid, die höchste Form
der Anerkennung
Wohl 1887 war Parlaghy von München nach
Berlin gezogen, wo sie 1890 auf der Großen
Berliner Kunstausstellung eine Kleine Goldene Medaille für das Porträt von Ludwig
Windthorst, des prominenten Reichstagsabgeordneten, erhielt. Doch schon im Jahr darauf wurde sie zum Stadtgespräch durch
einen Eklat, der sich um das Porträt eines
herausragenden Mannes drehte. Keinen
Geringeren als Generalfeldmarschall Helmuth
von Moltke, den Helden der Reichseinigung
von 1871, hatte Parlaghy vor die Staffelei
bekommen. Das Ergebnis reichte sie beim
Komitee der Internationalen Kunstausstellung des Vereins Berliner Künstler ein, doch
wurde das Gemälde ausjuriert.
Empört machte die Künstlerin die
Zurückweisung öffentlich. Laut Parlaghy
habe von Moltke selbst bezeugt, niemals besser dargestellt worden zu sein als vom
„modernen van Dyck“, wie er die Künstlerin
pries. So drang die Geschichte an das Ohr
des jungen Kaisers. Entrüstet über die
Ablehnung des Heldenbildes ließ Wilhelm II.
das Werk erwerben und befahl die Aufstellung im Ehrensaal der Ausstellung: ein offener Affront gegenüber der Künstlerschaft.
Fortan schwebte Parlaghys Genius über
Feindesland, was ihr wenig auszumachen
schien, denn sie wusste den mächtigsten
Mann im Staate hinter sich. Und mehr als
das: Wilhelm II., Kaiser eines Reiches, das
Frauen das Studium der Malerei an der Akademie versagte, ließ sich zum Beweise seiner
Unabhängigkeit gleich mehrfach porträtieren: von einer Frau, von Vilma Parlaghy.
1894 erschienen drei Gemälde der
Künstlerin auf der Großen Berliner Kunstausstellung, darunter auch ein Bildnis Kaiser
Wilhelms, das wiederum im Ehrensaal platziert wurde. Als es um die Verleihung der
wichtigsten Medaille ging, schlug die Jury den
Architekten des Reichstags Paul Wallot vor.
Der Kaiser aber wollte es anders und
erkannte die Medaille Parlaghy zu, die gar
nicht vorgeschlagen worden war. Zudem ließ
man sich mit der Bekanntgabe viel Zeit.
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55
Unterdessen aber hatte Parlaghy längst ein
Glückwunschschreiben des Kulturministers
erhalten und – wie nicht anders zu erwarten – sogleich öffentlich gemacht. Die Presse
schäumte über die „eines Künstlers nicht
würdige“ Eigenreklame und die dahinterstehenden Seilschaften. Wie ungezählte männliche Kollegen zuvor hatte sich die kluge
Malerin die allerhöchste Protektion verschafft. Und sie hatte für ihr Leben nun ein
Leitmotiv: den Neid, diese höchste Form der
Anerkennung, die man nicht geschenkt
bekommt, sondern sich erkämpfen muss, wie
Parlaghy oft betonte.
ls Richard Wrede und Hans von
Reinfels 1897 in ihrem Sammelband
Das geistige Berlin einen Überblick
über die Künstlerschaft Berlins edierten,
beklagten sie im Vorwort noch die Unwilligkeit vieler großer Geister, an diesem Kompendium mitzuwirken. Während viele Künstler keine oder nur sehr knappe Daten lieferten, schrieb Parlaghy einen Roman, der im
Lexikon acht Seiten Platz benötigte. So
erfuhren die Leser vom Werden eines Wunderkindes, das als Zehnjährige die Akademie
in Budapest besuchte, als Zwölfjährige von
Publikum wie Presse bejubelt worden war
(als Konzertpianistin), schließlich Tizian
A
kopierte und bereits mit 15 Jahren selbstversorgend war, nach München zu Lenbach
fuhr, der unverzüglich ihr Talent erkannte,
aber ihr nichts mehr beibringen konnte, worauf sie später nach Berlin gelangte, um die
Stadt im Triumphzug einzunehmen, von
25.000 Dollar verlangte
sie für ein Porträt –
mehr als das Lebensgehalt
eines Arbeiters
Kaiser und Hof auf Händen getragen, doch
stets von Missgunst sekundiert. „Während
des verflossenen Sommers unternahm die
Künstlerin eine Reise nach Amerika, allerdings mehr von dem Wunsche nach einer längeren Seereise als vom Verlangen nach business
getrieben“, endete die Selbstbetrachtung.
„Die ihr zu Teil gewordene Aufnahme lässt
aber vermuthen, dass Vilma Parlaghy das Feld
ihrer künstlerischen Thätigkeit auch noch
über das große Wasser hin ausdehnen wird.“
Und in der Tat: Nachdem sie die gesamte
politische Elite bis hin zu Bismarck porträtiert
und der Kaiser ihre Ausstellung mit 104
Gemälden in ihrem Privathaus Unter den Linden eröffnet hatte, schiffte sich Parlaghy nach
New York ein. Und dort konnte von no business
nun wirklich keine Rede sein. Kein Geringerer
als Andrew Carnegie, der „reichste Mann der
Welt“, sollte ihr dafür den Weg bereiten. Wohl
schon beim ersten Aufenthalt in den USA
1896 hatte Parlaghy den Stahltycoon gemalt,
der ihr den Rat gegeben haben soll, alle
berühmten Männer des Landes in Bildern
festzuhalten. Hilfreich dabei war, dass ihre
Bewunderer in Empfehlungsschreiben an die
High Society nicht davor zurückschreckten,
sie als „greatest living portrait painter either in
Europe or America“ zu bezeichnen. Wie
konnte das passieren?
Halten wir also inne und sprechen über
etwas, das angesichts der bunten Lebensgeschichte fast unterzugehen droht: über ihre
Malerei. Je nach Möglichkeit skizzierte die
Künstlerin ihr Gegenüber zunächst nur auf
Papier, malte jedoch auch ohne Umwege in Öl
auf Leinwand. Erfolgreiche Porträts wiederholte sie gelegentlich für ihren eigenen Salon.
Effektvoll treten in ihren Bildern Kopf und
Hände in den Vordergrund, meist bleibt der
Bildgrund dunkel. Auch die skizzenhafte, kalkuliert unfertige Pinselführung, die Lenbachs
Bilder so alt und neu, lebendig und genialisch
wirken ließ, zeigt sich bei Parlaghy oft. Zeitgenossen verglichen sie mit Frans Hals und
Rembrandt, die sie anfangs auch kopierte,
doch vermied sie jene immer gleiche rembrandteske Bräune, die Lenbach nicht ganz
unumstritten zur Erfolgsmasche gemacht
hatte. „Jedenfalls kann Vilma Parlaghy für sich
den Ruhm in Anspruch nehmen, kein malendes Frauenzimmer, sondern ein berufener
Bildnismaler – und nur dem Geschlechte nach
ein weiblicher – zu sein“, hatte 1889 die
Kunstkritik resümiert. Interessant, dass auch
unlängst eine Kennerin der Zeit Parlaghys
Malstil „männlich“ nannte.
Nicht weniger entschieden männlich
waren ihre Preise. Summen von bis zu
25.000 Dollar sind für ihre Werke kolportiert, mehr als das Doppelte des Lebenslohnes eines Arbeiters zu jener Zeit. Schließlich
zahlte man nicht nur für sein Porträt allein,
sondern auch für dessen extravagante Entstehungsatmosphäre. So empfing Parlaghy
ihre Modelle im Plaza auf einem Teppich,
den ihr der Schah von Persien geschenkt
haben soll, in einem Thronsaal, wo man sich
zum Malen auf einem Sessel niederließ, der
angeblich Katharina von Medici gehört
hatte. Auch die Präsentation der Resultate
folgte einer ausgefeilten Dramaturgie.
Höhepunkt war offenbar die Ausstellung des
Blue Portrait, das sie von Nikola Tesla gefertigt hatte, dem exzentrischen Erfinder, der
das Publikum mit der Vorführung von
blauen Blitzen fesselte. Auf seine Anweisung hin installierte sie in ihrem Atelier ein
blaues Licht für die Modellsitzung und präsentierte das Ergebnis später in einem ebensolchen magischen Schein.
it Kriegsausbruch sank Parlaghys
Stern rasant. Kurz bevor die Nachfrage nach teuren Bildnissen der
als deutsch verdächtigten Prinzessin
schwand, überhob sie sich offenkundig mit
dem Kauf eines riesenhaften Anwesens im
Staat New York, nachdem sie 1909 bereits
das luxuriöse Chateau St. Jean auf Cap Ferrat
erworben hatte. Nun wurden die Suiten
immer enger, die Unterkünfte günstiger und
der Privatzoo kleiner, doch fand Parlaghy
schließlich einen Helfer, den Diamanten-
M
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56
händler Ludwig Nissen, der sich vom Tellerwäscher zum Millionär emporgearbeitet
hatte. Nissen war bereit, in Verbindlichkeiten
einzutreten und Parlaghy Geld zu leihen, die
1916 schon wieder an der Upper East Side
lebte und 1921 in ein Queen-Anne-StyleTownhouse überwechselte. Und eben dort
begann im Spätsommer 1923 der letzte Akt
der großen Oper, in der Parlaghy Komponistin, Librettistin und zugleich die Primadonna
war – der Showdown eines Lebens, dessen
Epochalität die Tagespresse in epischer
Breite auszuschmücken wusste.
„Der Tod und das Gesetz lieferten sich
einen düsteren Wettlauf, um zu sehen, wer
zuerst die einstmals glühende Lebenskraft
der Prinzessin Lwoff-Parlaghy vernichten
konnte“, schrieb der Brooklyn Daily Eagle,
und ließ um das Krankenbett der vereinsamten Gesellschaftslöwin die Riege aller gekrönten oder ungekrönten Häupter wiederauferstehen, die sich einst vor ihrer Staffelei versammelt hatten: das ganze alte Europa, das
mit Parlaghy gleichsam zum zweiten Male
unterging. Vor dem Haus der Künstlerin
indessen versammelte sich die Polizei. Diamentenhändler Nissen, bei dem Parlaghy mit
einer Viertelmillion Dollar in der Kreide
stand, war der Geduldsfaden gerissen.
In diesem bedrängtesten Augenblick
ihres Lebens, als keine Kunst und auch kein
Kaiser ihr mehr helfen konnten, begab sich
Vilma Lwoff-Parlaghy in Gottes Hand. Am
28. August 1923 starb sie an Diabetes in
einem Bett, das Marie Antoinette gehört
haben soll. Bei ihr waren nur noch ihr Arzt,
eine Kammerzofe und ihr Attaché, der
immense 500 Dollar im Monat verdiente –
und seit zehn Jahren kein Gehalt mehr
bekommen hatte. Wie eine Königin, mit
Staatsrobe und Diadem, legte man sie in den
Sarg, dem nur noch eine Handvoll Freunde
folgte. „Ihre Durchlaucht, Prinzessin LwoffParlaghy starb, wie sie gelebt hatte“, schrieb
der Morning Telegraph, „als ein Mysterium“.
Schnell senkte sich der Schleier des Vergessens über Leben und Werk. Nur einmal
noch, fast ein Jahrhundert später und am anderen Ende der Welt, blitzte etwas vom vergangenen Ruhm der Malerfürstin auf: Als 2009 die
internationale Gemeinschaft der Physiker den
Atem anhielt bei der Nachricht, dass das längst
verschollene Blue Portrait von Tesla wieder
aufgefunden worden war. Das berühmte
Die Prinzessin im Atelier und ihr Hofstaat an Bildern
Gemälde des bis heute kultisch verehrten
Pioniers der Elektrotechnik (der unlängst
einer Elektroautomarke seinen Namen gegeben hat) fand sich in einem Bilderschrank –
in Husum in Nordfriesland. Ludwig Nissen,
Parlaghys größter Gläubiger, hatte es auf
deren Nachlassauktion erworben und zusammen mit einer umfangreichen Kunstsammlung seiner Geburtsstadt Husum vermacht.
Ein Leben wie das von Vilma LwoffParlaghy hat jeden Epilog verdient. Zumindest einen davon kann der Autor dieser Zeilen liefern: Nachdem ich 2012 die Leitung der
Alten Nationalgalerie übernehmen durfte,
sah ich im Depot ein Bildnis Kaiser Wilhelms
II., das mir unbekannt war und nie im Haus
gehangen hatte. Nicht minder unbekannt war
mir der Name des Künstlers, der sich (ungewöhnlich genug für ein Kaiserbild) als der
einer Künstlerin entpuppte: Vilma Parlaghy.
Allein der fremdartige Klang des Namens ließ
mich aufhorchen. Und als mir eine Kollegin
mit besorgter Miene zuraunte, die Künstlerin
sei „böse“ gewesen und habe sich „an den
Kaiser rangemacht“, war klar: Dem war nachzugehen – was nicht einfach war, denn
moderne Literatur über Parlaghy fand sich
kaum. Martin Stather und Cornelius Steckner
seien genannt, Miriam Reinhardt und Peggy
Gavan für Hinweise bedankt. Aus dem Dunkel des Depots herausgebracht, hängt Parlaghys Bildnis Kaiser Wilhelms nun seit 2014 in
REVUE
57
der Schausammlung der Nationalgalerie.
Nicht, weil es das Kunstwerk einer Frau ist.
Oder skandalumwittert. Sondern nur aus
einem Grund: weil es ein gutes Bild ist.
Gemalt von einer im wahrsten Sinn unfassbaren Künstlerpersönlichkeit, in deren
Geschichte sich die Wechselfälle eines Jahrhunderts spiegeln wie auf einem klaren Wasser, über das Parlaghy sicher segelte, manche
Welle machte und schlussendlich darin versank. Wenn sich ein Mann über das Mittelmaß erhebe, ernte er Neid, soll Bismarck zu
ihr gesagt haben, eine Frau dagegen Brutalität. Im Tempel auf der Museumsinsel, so viel
ist sicher, fände sich Vilma Parlaghy selbst am
rechten Platz.
AVERY
SINGER
ZWISCHEN
LEGO
UND
LABOR
FOTO: HEJI SHIN
REVUE
58
MIT NUR 28 JAHREN
UND EINER
HANDVOLL AUSSTELLUNGEN
IST AVERY SINGER
ZUR GEFEIERTESTEN MALERIN
DER POST-DIGITALGENERATION
GEWORDEN. DIE
FRAGE IST JETZT:
WIRD SIE BLEIBEN?
VON OLIVER
KOERNER
VON GUSTORF
ch nehme noch einen Schluck Cola Light
aus dem Marmeladenglas, das aussieht,
als käme es geradewegs aus der Speisekammer einer Farmerin in Maine. Es ist ein
ungewöhnlich warmer Herbsttag in New
York, Columbus Day. Um uns herum, in
einem Café in der Lower East Side, Studenten und junge Familien, Mütter in digital
bedruckten Leggings, bärtige Väter, die an
Transformer-artigen Kinderwagen rütteln.
Es ist einer dieser Orte, in denen die
Hamburger etwas kleiner sind, die Pommes
dafür aber in rustikalen Pergamenttütchen
serviert werden. Klingeltöne mit Harfen
und Zimbeln wehen durch die Luft,
vermischen sich mit dem Geräusch von
Sirenen. Ich habe Jetlag.
Avery Singer auch. Gestern Abend ist
sie aus Los Angeles zurückgekehrt, wo
im Hammer Museum ihre Solo-Schau mit
neuen Arbeiten eröffnet wurde. Jetzt sitzen
wir hier in der typischen, etwas peinlichen
Interview-Position: Journalist und Künstlerin, zwischen uns Kaffeetassen und das
Diktiergerät. Singer hat viele dieser ganz
alltäglichen Situationen aus der Kunstwelt
gemalt – Studiobesuche, Happenings,
Performances, Partys. Sie könnte sich auch
diese Szene vornehmen. Wären wir jetzt
in der grauen Welt ihrer Airbrush-Gemälde,
die auf Vorlagen basieren, die sie mit
der 3-D-Software SketchUp am Computer
generiert, würden wir uns in diese
merkwürdig kubistischen Kastenkörper
verwandeln, die aussehen wie aus dem 80erJahre-Dire-Straits-Video Money for Nothing.
Wir hätten keine Augen. Averys Haare
würden wie überdimensionierte Sägespäne
von ihrem Kopf hängen. Wir und die
anderen Gäste wären aus geometrischen
Modulen zusammengesteckt, mehr oder
minder nackt, glatt, konturlos. Das Café und
die ganze Welt wären eine Bühne, auf
die ein diffuses Licht fällt.
Singers retro-futuristische Gemälde
könnten ebenso Parodien auf den russischen
Konstruktivismus, die Avantgarden des
20. Jahrhunderts oder auch superdigitalisierte, posthumane Utopien sein. Auf jeden
Fall sind sie hermetisch – wie in Sartres
I
UNTITLED, 2015, ACRYL AUF LEINWAND,
203 × 229 CM. AUFTAKTSEITE: HEIDILAND, 2014,
ACRYL AUF LEINWAND, 197 × 155 CM
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60
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Geschlossener Gesellschaft. Sie gleichen einer
zeitlosen Kunsthölle zwischen Lego und
Labor, in der der Baukasten der Moderne
und Postmoderne in immer neuen stereotypen Kombinationen zusammengesteckt
wird. Falls sie damit einer aussterbenden
Kunstwelt einen Spiegel vorhalten wollte,
ist ihr das gelungen.
enn die Szene hat in ihn hineingeschaut und sich auf der Stelle in
diese dystopische Reflexion verliebt.
Wie man hört, stalken Museumsleute,
Kuratoren, Sammler und Galeristen Singer
geradezu, um mit ihr zu arbeiten. Dabei
ist sie gerade 28 Jahre alt und hatte ihre erste
Einzelausstellung vor weniger als drei
Jahren. Nur wenige Monate nach ihrer ersten
Schau in der Galerie Kraupa-Tuskany
Zeidler beim Gallery Weekend 2013 in
Berlin nahm sie als eine der wenigen
Malerei-Positionen an der Ausstellung
Speculations on Anonymous Materials im
Kasseler Fridericianum teil. 2014 folgte ihre
Einzelausstellung in der Züricher Kunsthalle, 2015 die Biennale in Lyon, dann die
unter anderem von Ryan Trecartin
kuratierte Triennale im New Yorker New
Museum. Und nun die Solo-Ausstellung
im Hammer Museum.
In Jogginghosen und T-Shirt scheint
sie von diesem schnellen Ruhm allerdings
ziemlich unbeeindruckt – ein echter
Underdog. Auf Fotos wirkt sie ein bisschen
gothic, ein bisschen melancholisch, wie
die kleine Schwester aus der TV-Serie Girls.
Tatsächlich aber ist sie groß gewachsen,
fast schlaksig, alles andere als mädchenhaft.
Ihre Stimme ist erstaunlich tief. Wenn
sie lacht, hört sich das an, als würde dem
Imperator aus Star Wars etwas Luft aus
den Lungen entweichen.
Singer, die als Tochter eines Künstlerehepaares in Tribeca groß wurde und heute
um die Ecke in der Lower East Side lebt,
erzählt, dass sie nach dem Studium an der
Cooper Union das Abschlussstudium
an einer Graduate School nicht bezahlen
konnte. Sie jobbte, fand in der Bronx ein
heruntergekommenes Studio, das sie über
sieben Monate renovierte. Hier begann
sie ohne eine genaue Vorstellung, was sie
tun wollte, zu arbeiten und zu wohnen,
ohne Geld, ohne viele Kontakte, aber auch
ohne jede Ablenkung. Ihr Material waren
D
REVUE
63
UNTITLED, 2015,
ACRYL AUF LEINWAND, 152 × 195 CM
ganz offensichtlich simuliert ist. Und sie
konstruiert noch etwas ganz anderes –
zynisch überspitzte, romantische Vorstellungen eines bohemehaften Künstlerdaseins,
das scheinbar Lichtjahre von der Realität
und den Produktionsbedingungen ihrer
eigenen Kunst entfernt ist.
Die Happenings mit Blockflötenspielerinnen und Studioszenen, in denen
Zitate von Schlüsselwerken wie Duchamps
Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 (1912)
oder Naum Gabos Konstruktiver Kopf (1915)
auftauchen, wirken wie ein fremdes
Marionettentheater, in dem alle sexistischen
und genialischen Klischees, die poetischen
Verklärungen der Moderne, die Hippievisionen vergangener Generationen durchgespielt werden. Aber auch ganz zeit„Man sieht zu, wie die
gemäße Phänomene: Städel-Studenten, die
Club Berghain gehen, oder wie
Zeichnung entsteht. Das ist inbeiden
dem Techno-Babe auf Heidiland (2014)
der Punkt, an dem sie gut
die Infantilisierung von Frauenrollen.
Distanz, die Singer zu diesen Mythen
wird. Kunst fängt an, wenn Die
und Motiven aufbaut, ist vor allem eine
die Sprache Urlaub nimmt“ formale. Als sie von einer Freundin gebeten
wird, für eine Gruppenausstellung in
an Kunst arbeitet. Ich komme in diesen men- einem Projektraum ein Poster anzufertigen,
talen Zustand, in dem ich absolut gerne
das „richtig grafisch“ aussehen soll,
bin und den ich am Computer nie erreiche. besinnt sie sich auf ihr Airbrush-Gerät.
Nach Stunden des Zeichnens macht
Der Effekt ist noch kühler, unpersönlicher
man einfach die Sachen und sieht zu, wie die und bestimmt von da an ihre Malerei.
Zeichnung entsteht. Das ist der Punkt,
„Die Leinwand wird nicht berührt“,
an dem sie richtig gut wird. Kunst fängt an, sagt Singers Galerist Amadeo Kraupawenn die Sprache Urlaub nimmt.“
Tuskany zu ihrer Arbeit, „Spray Painting
Am Anfang bearbeitete Avery Singer
heißt wirkliche Distanz. Zum alten Künstihre Clip-Art-Motive zunächst mit Photolerbild gehört die gestische Berührung,
shop und zeichnete sie dann wieder mit der dieser fast erotische Akt des Aufbringens
Hand auf Papier ab. Sie ging damals
der Farbe. Eine solche innige Interaktion
schon so vor wie heute auf ihren Gemälden. mit der Leinwand findet bei Avery nicht
Akkurat klebte sie die Handzeichnungen
statt.“ Das Papier ersetzt Singer durch die
mit Klebeband ab, um grafische Linien,
Leinwand, die sie wieder und wieder
helle und dunkle Flächen zu definieren. Ein grundiert und abschleift, um eine ultraglatte
ungeheuer aufwendiger Prozess. Doch
Fläche zu erzeugen. Die Gemälde, die
das Ergebnis befriedigte sie nicht. Schließlich jetzt entstehen, sind noch viel mehr Hybride
kommen ihr die Bilder in den Sinn, die sie
zwischen digitaler Zeichnung, Handschon seit Jahren mit dem 3-D-Programm
zeichnung und Malerei. „Ihre Malerei wirkt
SketchUp gemacht hat – einer Software zur klassisch, tatsächlich ist sie aber sehr
Erstellung von dreidimensionalen Modelradikal“, sagt die Kuratorin Susanne Pfeffer:
len, die im Kunstbetrieb gerne dafür
„Im Hinblick auf die Ausstellung
genutzt wird, um Messestände und Ausstel- Speculations on Anonymous Materials war für
lungen zu planen.
mich interessant, dass viele Prozesse bei den
Singer erzeugt mit ihr eine merkwürdig teilnehmenden Künstlern technisch perfekt
zweidimensionale, flache Architektur aus
ausgeformt sind und der HerstellungsObjekten und Körpern, in der die Tiefe
prozess nicht mehr sichtbar und damit nicht
nur das Papier und die Stifte, die sie von der
Kunsthochschule mitgebracht hatte, für
mehr reichte es nicht. „Ich fing einfach an
zu zeichnen, verwendete Sachen, die ich am
Computer gemacht hatte. Das war wirklich
meine einzige Idee, die einzige Möglichkeit,
eine Art Konzept für meine Ideen zu
entwickeln.“ Als Grundlage dienten ihr ClipArt-Motive – der rechtefreie Deko-Schrott
aus dem Internet, die comic-artigen
Bildchen, mit denen man Grußkarten oder
Desktops verziert.
as Zeichnen und Arbeiten an ihren
Gemälden ist für sie jedoch eine
völlig andere Arbeitsweise. „Es hat
nichts Analytisches. Ich kann dieses Gefühl
gar nicht beschreiben, wenn man körperlich
D
REVUE
64
mehr nachvollziehbar ist. Doch in dem
Moment, in dem Hände ins Spiel kamen
und gemalt wurde, wie etwa bei Pamela
Rosenkranz, ergab sich ein Gegensatz – es
wurde gestisch gemalt. Die malerische
Geste steht für den Maler an sich. Bei Avery
verschwindet sie komplett.“
Dass Singer 2012 entdeckt wird,
ist beinahe Zufall. „Mein Freund Daniel
Keller, der auch bei Kraupa-Tuskany
Zeidler ist, und ich folgten uns schon lange
auf Facebook. Ich postete Bilder von
meinen neuen Arbeiten, einfach weil ich
mitteilen wollte, woran ich arbeite. Er
mochte die Sachen und sagte, er würde sie
der Galerie zeigen. Sie schickten tatsächlich eine E-Mail und dann kam es zum
ersten Studiobesuch in meinem Leben.“
Paradoxerweise heißt das Gemälde, das
Singer gerade fertiggestellt hatte und für
den Besuch aufgehängt hat, Studio Visit.
„Dieses Bild war eine Fantasie darüber, wie
sich so etwas abspielen würde. Ich wollte
es realistisch darstellen. Ich dachte an dieses
verschwitzte, ungemütliche Ambiente,
an peinliche Momente. Ich liebe diese Sachen
und noch niemand hatte das in einem
Bild zusammengebracht.“
ls die Galeristen eintreffen,
befinden sie sich plötzlich in einer
surrealen Lage, wie KraupaTuskany erzählt: „Meine Frau und ich saßen
vor dem Bild und natürlich wurde
auf einmal klar, dass die Situation sich
hier quasi umgedreht hatte. Avery gab uns
Texte zu lesen, fiktive press releases, die
sie damals geschrieben hatte, die nichts mit
ihrer Arbeit zu tun hatten, aber viel mit
dem Denken, der Strategie in ihrer Arbeit.
Wir fühlten uns ertappt in dieser Hierarchie
der Studio Visits und mussten dann ins
Gespräch einsteigen.“
Tatsächlich gleichen Singers makelund gesichtslose Gemälde Meta-Konversationen darüber, wie man malt, Kunst
macht, lebt, wie man verführt oder verführt
wird. „Die Glätte ist die Signatur der
Gegenwart“, schreibt der Berliner Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han in
seinem viel diskutierten Buch Die Errettung
des Schönen. Das Glatte, etwa des iPhones
oder einer Jeff-Koons-Skulptur verkörpere
einen allgemeinen gesellschaftlichen
Imperativ – den der Positivgesellschaft, die
A
anschmiegsam und widerstandslos konsumiert. Und
genau diese Glätte fasziniert
auch die Künstler der PostInternet-Generation, die ihre
Werke ganz unromantisch
in den Warenkreislauf des
Kunstmarktes einspeisen.
So ist es auch kein Zufall,
dass immer mehr Produkte
der Post-Internet-Art mit
High-tech-Unternehmen der
Luxus- oder Unterhaltungsindustrie produziert werden.
Auch die distanzierte Glätte
von Avery Singers Gemälden
könnte in dieses Schema
passen. Doch ist diese Glätte
genauso doppelbödig und
ironisch konnotiert, wie es die
Figuren und Situationen auf
ihren Bildern sind.
ine Art Studienausstellung nennt sie ihre aktuelle Schau im Hammer
Museum, in der sie erstmals
Farbe einsetzt. Die transparenten, hellblau fluoreszierenden Gitter, die roten Formen,
die aus Maschinenkörpern
herausleuchten, wirken wie
Elemente in nachträglich
eingefärbten Schwarz-WeißFilmen: „Ich dachte an Filme
aus den Fünfzigern, auf gewisse Weise
etwas sehr Romantisches.“ Immer wieder
ahmt Singer kinematografische Mittel
nach, die sie wie eine Regisseurin einsetzt,
um psychologisch aufgeladene Szenen
zu gestalten. Da sind die wie durch einen
Fettfilter gefilmten, verschwimmenden
Außenränder, die als dramatischer Effekt in
Melodrameneingesetzt werden – etwa,
wenn sich eine Person erinnert, träumt oder
das Bewusstsein verliert.
In der Oberfläche konserviert liegen
bei Singer das verhallte Pathos und die
gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts –
aber auch die ganze Peinlichkeit, Tragikomik und Hysterie dieses Scheiterns. Die
mühsam per Hand hergestellte Glätte
ihrer vermeintlich „digitalen“ Bilder ist
ebenso verwegen wie die waghalsigen
Konstruktionen in ihren Bildern. Singer
E
THE STUDIO VISIT, 2012, ACRYL AUF LEINWAND, 244 × 183 CM
entwickelt aus dieser Gebrochenheit eine
neue progressive Malerei.Doch die ist bei
aller Experimentierlust kaum optimistisch.
Als Singer von einem Besuch im
Getty Museum in Los Angeles erzählt und
von der Sammlung der Impressionisten
schwärmt, frage ich sie, ob sie angesichts
der technologischen Umwälzungen
des digitalen Zeitalters nicht eine ähnliche
Begeisterung für den Fortschritt fühlt,
wie sie die Künstler des 19. Jahrhunderts
angesichts von Beschleunigung und
technischem Fortschritt empfanden. Sie
denkt kurz nach, dann kommt wieder
dieses leise Lachen. „Der Kapitalismus verändert ständig alles um uns herum und
produziert ständig neue Dinge, die uns dazu
verführen, andere Dinge zu wollen.
Unsere visuelle Kultur transformiert sich
ständig. Aber unser Denken hat sich
REVUE
65
nicht geändert, wir ändern uns nicht. Als
ich den ersten Band von Marx’ Kapital las, in
dem er die kapitalistische Gesellschaft
beschreibt, kam es mir vor, als habe sich rein
gar nichts verändert. Die Wirtschaft,
die Zirkulation, der Profit – alles ist genau
dasselbe, seit er dieses Buch geschrieben hat.“
Mir geht für einen Augenblick dieses
Singer-artige Bild durch den Kopf: Wir
sitzen wieder in dem bühnenartigen Café,
dieser abstrakten platonischen Höhle. Alles
wird zu reiner Form, unser Körper zu
Geometrie. Die Klingeltöne, unsere Worte,
fallen wie ein ornamentaler Schatten über
uns – ein sprachloses, gitterartiges Geflecht,
in das manchmal Zahlen oder Fragmente
von Buchstaben eingearbeitet sind.
AVERY SINGER, BIS 17. JANUAR 2016,
HAMMER MUSEUM, LOS ANGELES
REVUE
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EXIL EINES BOHEMIENS
TEXT: BRIAN DILLON
ÜBERSETZUNG: WILHELM VON WERTHERN
FOTOS: NICK BALLON
PABLO BRONSTEIN liebt die Kulisse, in seiner Kunst und
in seinem Haus in der Grafschaft Kent. Dorthin flüchtet er vor der
Welt der klaren Linien. Uns hat er seine Wunderkammer geöffnet
REVUE
67
Als junger
Künstler sah
sich Bronstein
in der Tradition
wenig angesagter „camp
rebels“. Schon
damals hatte er
das Gefühl,
„nichts mit
irgendjemand
anderem
gemein zu
haben“
B
ei klarer Sicht kann man von Deal,
früher einmal ein kleiner Fischerei- und
Handelshafen am östlichen Rand
der Grafschaft Kent, die französische Küste
sehen. Ein Rest eigenwilliges England
wohnt noch in diesen Orten, die an die
Träume der englischen Boheme vom
Kontinent erinnern. Deal war eine Enklave
für Theaterleute und wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zur
Wochenendzuflucht, beliebt bei schwulen
Schauspielern, Regisseuren und Designern
aus der Hauptstadt.
Im Zentrum des Städtchens besitzt der
Künstler Pablo Bronstein seit 2011 ein
Haus. Ganz in seiner Nähe wohnte einmal
Charles Hawtrey, ein homosexueller
Komödiendarsteller. Bronstein bewundert,
was er die „historische Tuntigkeit“ von
Deal nennt. Womit er auch das Erbe des
Ästhetizismus meint, das er hier spürt.
Antiker Glamour, das Spiel mit Kitsch,
Fragen zu Politik und Wirtschaft – alle
die Aspekte von Bronsteins künstlerischer
Arbeit finden hier ihr Echo, in diesem
kleinen Knotenpunkt britischer Seemacht,
in dem er sich zu leben entschlossen hat.
Bekannt geworden ist Bronstein mit
skurrilen Zeichnungen. Daneben gibt es
aber auch Installationen, Skulpturen und
Performances in seinem Werk. Nicht selten
fallen an seinen Projekten überbordende
Strukturen auf: öffentliche Toiletten, die wie
Grotten oder Mausoleen aussehen, palladianische Villen, die er in grellen Primärfarben angemalt hat, riesige, an totalitäre
Architektur erinnernde Klötze mit kleinen,
nur aus der Luft sichtbaren Innenhöfen.
Bronstein stammt aus Argentinien, wo
er 1977 geboren wurde. Seine Familie zog
nach England, als er noch ein kleines Kind
war. Im heruntergekommenen Londoner
Vorort Neasden, wo die Familie wohnte,
schwelgte er in Erinnerungen an das Haus
seiner Großmutter in Buenos Aires mit
seinen luftigen Salons im französischen Stil
des 18. Jahrhunderts. Er begann, imaginäre
Gebäude und aufwendige Interieurs zu
zeichnen; mit 16 dekorierte er sein Zimmer
im Stil eines barocken Palazzos. Ein paar
Monate studierte er Architektur, dann
wechselte er an die Kunstakademie. Schon
damals hatte er das Gefühl, „nichts mit
irgendjemand anderem gemein zu haben“.
PABLO BRONSTEIN
THE BIRTH OF THE SKYSCRAPER FROM
BOTANICAL ARCHITECTURE, 2015
REVUE
68
Bronstein-Barock: das „Chinesische Zimmer“, dekoriert mit Möbelfundstücken aus dem 18. Jahrhundert
A
Kein Stift, der gedankenlos
herumläge: das Recherchezimmer
des Künstlers
ls junger Künstler sah sich Bronstein
in der Tradition wenig angesagter
„camp rebels“, zu denen er den Maler
Rex Whistler mit seinen schwächlich
wirkenden Figuren in allegorischen Landschaften rechnet oder Eugene Berman,
dessen Gothicized Surrealism in Ruinen-Szenerien schwelgt. Auch gibt es in Bronsteins
Werk deutliche Verweise auf eine bestimmte
Richtung des englischen Films, bei dem
sich zeitgenössische Kunst und Design mit
einem historischen Narrativ überschneiden –
insbesondere im Werk von Derek Jarman
und Peter Greenaway. Mit anderen Worten:
Bronsteins Kunst bezieht sich auf Formen
der internationalen Avantgarde, die er
mit dem Geist des englischen Ästhetizismus
REVUE
69
auflädt. In einer Zeit, in der sich die Kunstszene mehr nach den klaren Linien der
Moderne des letzten Jahrhunderts sehnt,
wirken seine kunsthistorischen Eklektizismen fremd und faszinierend zugleich.
Am leichtesten versteht man
Bronsteins verrätselte Kunst, wenn man
ihn in seinem Haus besucht, das um
1670 gebaut wurde. Der Künstler und sein
Partner, der Journalist und Dichter Leo
Boix, schwelgen hier in Wohnwelten des
17. und 18. Jahrhunderts und reichern
sie mit allerlei Skurrilitäten an. So hängt im
Vorderzimmer ein holländisches Gemälde
aus dem frühen 16. Jahrhundert, auf
dem der unbekannte Dargestellte schwarz
gekleidet ist und seine Hand auf einem
Jedem Zauber wohnt ein Schwindel inne: Cupido reitet auf einem bulligen Panther und würdigt die Vase, die so tut, als wäre sie aus dem fernen China,
keines Blickes. Sie entstand aber im 17. Jahrhundert in Holland (links). Eine von Bronstein im Stil des 18. Jahrhunderts entworfene Vitrine mit antiken Silberarbeiten (rechts).
Rechts unten: Pablo Bronstein und Leo Boix tafeln unterm Kugel-Kerzenleuchter
großen Schädel ruht. Wenn man genauer
hinsieht, wird es allerdings kompliziert.
Dann leuchtet unter der schwarzen Farbe
verschnörkeltes Brokat hervor. Anscheinend
trug dieser Trübsal blasende Herr zuvor
einmal ein ziemlich prächtiges Gewand.
Oben im Arbeitszimmer nimmt
Bronstein eine Keramik in die Hand. Eine
Großkatze mit merkwürdigen Schlappohren, auf der sich eine Putte im Rodeostil
festhält. Das wirkt so kurios wie der fette,
gekreuzigte Christus, den ein Maler aus
den Niederlanden auf eine Teekanne
gemalt hat. Das seltsame Stück gehört zum
Inventar des „Chinesischen Salons“,
wo es viel Platz für die Exotika aus dem
18. Jahrhundert gibt: siamesische Zwillinge
aus Porzellan, Frösche in einer Grotte,
Fayencen, verziert mit westlichen Herrschaften in chinesischen Kostümen.
Fehlt noch der Sekretär aus dem 17. Jahrhundert, der wie ein barocker Palast
REVUE
70
gestaltet ist. In ihm scheint sich der ganze
komplexe Stilmix des Hauses zu verkörpern. Zugleich steht er da wie ein Zeichen
für Bronsteins Kunst. Einer Kunst, die
irgendwo zwischen gelehrter Präzision,
Schwindel und Rätsel schwebt. Manchmal
sind selbst für den Künstler die Unterschiede nicht so ganz klar. Im Treppenhaus
zeigt er auf ein niederländisches Möbelstück. „Merkwürdig, ich krieg einfach nicht
heraus, was es ist.“
Sein Werk schwebt
zwischen gelehrter
Präzision, Schwindel
und Rätsel. Manchmal sind selbst für
den Künstler die
Unterschiede nicht
so ganz klar
PABLO BRONSTEIN
HOUSE OF A WASHERWOMAN, 2014
Albers
Awe
Baumeister
Becher
Cragg
Dix
Ernst
Francis
Fußmann
Graubner
Hartung
Hesse
Jawlensky
Katz
Kirchner
Kneffel
Knoebel
Kollwitz
Lehmpfuhl
Liebermann
Macke
Marini
Mataré
Modersohn-Becker
Münter
Nauen
Nolde
Pechstein
Picasso
Piene
Poliakoff
Purrmann
Richter
Rohlfs
Schleime
Sintenis
Tappert
Ury
Winter
Zeniuk
MEISTERWERKE
JAHRE
40
− 27
September
− 23
Januar 2016
Otto Piene
Ohne Titel, 1963/64
Öl, Acryl und
Rauch auf Leinwand
40 x 50 cm
GALERIE LUDORFF
Königsallee 22 D-40212 Düsseldorf Germany
T +49-211-326566 F +49-211-323589
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Alexej von Jawlensky, „Landschaft mit Bäumen“. 1909
Öl auf Karton. 50 × 54 cm. Jawlensky 272. Schätzpreis EUR 350.000–450.000
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in Berlin
25.–28. November 2015
Fasanenstraße 25, 10719 Berlin
grisebach.com
-KEINE73
ENCORE
74
ENCORE
DER FALL KARSCH —
—
WERTSACHEN — AU KT IO NE N
GR AND PRIX — BL AU K ALENDER
— DER AUGENBLICK
DAS UNSAUBERE
SPIEL DES
STAATS
Was uns mit dem
Kulturschutzgesetz
blüht, zeigt der Fall
Florian Karsch:
Als der Galerist eine
Schenkung zurückzieht, verbietet ihm
Berlin die Ausfuhr.
Die Chronologie
eines erbitterten
Streits
I
n der Debatte um das neue Kulturschutzgesetz kann der Eindruck entstehen, ausschließlich die angestrebte
neue Rechtslage stifte Streit zwischen Kunsthandel und Staat. Streit aber gab es auch
zuvor, was kein Wunder ist, geht es doch
um enorme Werte und Renommee und
zugleich um ein knappes Gut: alte Kunst.
Sie weckte immer schon Begehrlichkeiten.
Doch bislang wurde die Macht der Kulturgutschutzliste kaum angewendet. Das soll
mit dem geplanten Gesetz anders werden.
Ein Beispiel für einen Blick in die Zukunft
ist das seit zehn Jahren andauernde Ringen
Erst kurz vor seinem Tod geschah ihm endlich Recht: Die West-Berliner Institution Florian Karsch
malt sich selbst in der Galerie Nierendorf, um 1995
der Berliner Galerie Nierendorf mit dem
Berliner Senat.
Nierendorf ist eine Berliner Institution,
geboren in Köln. Dort eröffnen die Brüder
Karl und Josef Nierendorf 1920 eine
Galerie für moderne Kunst ihrer Zeit: Dix,
Grosz, Heckel, Klee, Kandinsky, Otto
Mueller. Das Geschäft läuft so gut, dass Karl
Nierendorf schon drei Jahre später nach
Berlin expandiert. Seine Galerie wird zum
Spiegel des Jahrhunderts. Die 20er-Jahre
bringen Erfolge und Geldsorgen, Künstlerfreunde und Liebesturbulenzen, die düsteren Dreißiger politische Pressionen und
ENCORE
75
Beschlagnahmungen „entarteter“ Werke.
Nach dem Krieg ersteht die Galerie wieder
auf, nun unter Florian Karsch, der sie erfolgreich weiterführt und eine bekannte Gestalt
der West-Berliner Jahrzehnte wird. Heute ist
Nierendorf eines der ersten – und wenigen –
Kunsthandelshäuser für die klassische
Moderne, die Berlin noch hat.
Den alternden Florian Karsch treibt
die Sorge um, wie es dereinst weitergehen
solle mit seinem Lebenswerk. Seine Frau
Inge und er sind kinderlos, aber da ist dieser
junge Mann. Eingewandert aus der Türkei,
kam er als Passepartout-Zuschneider 1973
zu den Karschs, fand rasch ins Galeriegeschäft hinein und mehr als das – er
wurde ein Teil der Familie. Florian Karsch
adoptiert ihn 1994 und macht ihn zu
seinem Erben.
Und noch ein Problem bereitet ihm
Sorge. „Wenn ich morgen sterbe, bist
du pleite“, habe Karsch 1994 zu ihm gesagt,
erzählt Ergün Özdemir-Karsch, sein
Adoptivsohn. „Ich hätte Unsummen Erbschaftssteuer zahlen müssen, das hätte das
Ende der Galerie bedeutet.“ Florian Karsch
hatte eine Idee. „Wir schenken“, gibt sein
Adoptivsohn ihn wieder, „dem Land Berlin
die Hälfte unserer Bilder im Wert von
gut 50 Millionen Mark.“ Das tut er 1995 in
einem notariellen Vertrag. So hoffte der
Galerist die gewaltige Erbschaftssteuer zu
vermeiden und die Zukunft seiner Galerie
zu sichern. „Florian wollte nicht, dass sein
Lebenswerk nach seinem Tod in irgendeinem Keller verschwindet.“
Karsch räumte der landeseigenen
Berlinischen Galerie das Recht ein, die Hälfte
seines Kunstbestandes, gemessen an
dessen Wert, frei auszuwählen. Das seien
etwa 1.000 Blätter gewesen, sagt sein
Adoptivsohn, darunter das gesamte grafische
Werk von Otto Dix, das allein schon aus
rund 500 Blättern besteht. Groß beraten
lassen habe sich Florian Karsch bei diesem
Vertrag mit dem damaligen Berliner
Kultursenator Roloff-Momin nicht. Es ist
der Stil eines Mannes aus der Kunstwelt,
in der das Geschäftliche nicht bloß kühles
Kalkül ist, sondern eng verwoben mit
Künstlerfreundschaften, Kunstleidenschaften, Verkäufen beim Essen und Abreden
per Handschlag. Später, sagt Ergün ÖzdemirKarsch, habe man den Schenkungsvertrag
einem Steuerberater gezeigt. „Der war
entsetzt. ‚Um Gottes Willen, Herr Karsch,
was haben Sie da unterschrieben!‘ “
arsch kommt dem Staat weit entgegen.
Obwohl die Schenkung laut Vertrag
erst nach seinem Tod vollzogen werden
soll, bietet er der Berlinischen Galerie an,
das Riesengeschenk gleich an sich zu
nehmen – und die sagt nicht nein. So gehen
die Bilder fort. In diese Lage hinein kracht
eine Steuerprüfung. Ihr Resultat: Nierendorf
wird eine Steuernachzahlung in Höhe von
20 Millionen Mark auferlegt. Karsch sieht
sich genötigt, seine Schenkung zu wieder-
K
GEORGE GROSZ
Belebte Straßenszene, um 1918, Tuschfeder, 56 × 38 cm
rufen. Das Land Berlin sieht das nicht
ein und besteht auf Vertragserfüllung. Die
Prozesse, die nun folgen, füllen viele
Aktenordner der Galerie und sie kosten
weiteres Geld.
DIE NUTZNIESSER DER SCHENKUNG
ALS GUTACHTER IN EIGENER SACHE
„Die andere Hälfte des Kunstbestandes, der
uns nach der Schenkung verblieben war,
haben wir damals unter Wert an Kollegen
verkauft“, sagt Özdemir-Karsch.
Hier nun kommt der Kulturschutz ins
Spiel und naturgemäß ist die Bewertung
dessen, was jetzt geschieht, heftig umstritten.
Aus Sicht der Galerie war die Sache so:
„Als wir auf Aufhebung der Schenkung
klagten, erklärte man die wichtigsten Bilder
aus der Schenkung zum nationalen
Kulturgut.“ Will sagen: Wenn wir die Bilder,
jedenfalls die wirklich wertvollen, nicht
geschenkt bekommen, dann setzen wir sie
auf die Kulturgutliste, dann dürfen sie
nicht ins Ausland verkauft werden, dann
sinkt ihr Preis, dann ergibt sich vielleicht
Gelegenheit, sie preiswert zu kaufen. So
weit die Interpretation der Galerie.
Tatsache ist, während er auf Rückgabe
seiner Bilder klagt, bekommt Florian
ENCORE
76
OTTO MUELLER
Zwischen Bäumen stehendes Mädchen/Stehender
Mädchenakt im Walde, um 1925,
Aquarell und Farbkreiden, 69 × 52 cm
Karsch Post vom Berliner Senat. Im März
2006 zeigt man ihm an, ein Verfahren zur
Eintragung von sieben der strittigen Bilder
ins Verzeichnis national wertvoller Kulturgüter werde nun eröffnet. Es geht um drei
Werke von George Grosz, eines von
Hannah Höch, eines von Otto Mueller und
zwei von Ernst Ludwig Kirchner.
Ebenfalls im März 2006 erstellen
Mitarbeiter der Berlinischen Galerie – also
des Nutznießers der Schenkung – für
das Land Berlin Stellungnahmen zu den
strittigen Werken. Die Frage ist: Wäre
ein Verkauf jener sieben Bilder ins Ausland
ein wesentlicher Verlust für das deutsche
Kulturgut? Die Gutachten bejahen das.
Die Galerie Nierendorf widerspricht.
Woraufhin der Berliner Senat die Berlinische
Galerie erneut um eine Stellungnahme
bittet – und diese ihre vorherigen Gutachten
bekräftigt. Im Oktober 2006 tagt Berlins
Sachverständigen-Ausschuss für Kulturgut
in der Causa Nierendorf und stimmt
„mehrheitlich“ der Einschätzung der sieben
Bilder als national wertvolle Kulturgüter
zu. Was den Preis der Bilder drückt, da sie
nur mehr auf dem deutschen Markt
verkauft werden dürfen.
Das Berliner Verwaltungsgericht, das
den Streit schließlich entscheidet, rekapituliert ihn noch einmal Punkt für Punkt in
der Umstand, dass die Werke angesichts
der aus dem Kulturschutzgesetz folgenden
Ausfuhrerschwernis für andere Erwerber
weniger attraktiv wurden, nicht ungelegen
gekommen sein.“ Nicht ungelegen
gekommen – muss man mehr sagen?
Doch weiter. Das Land Berlin
bestreitet jeden Zusammenhang zwischen
seinem Kulturschutzverfahren für die
sieben Karsch-Bilder und dem Appetit
seines Landesmuseums auf ebendiese
Bilder: „Die Behauptung ist nicht zutreffend.
Die Einleitung des Verfahrens zur EintraERNST LUDWIG KIRCHNER
Tanzende nackte Mädchen, um 1910, Deckfarbe
gung in das Verzeichnis national wertvollen
und Feder, 46 × 52 cm
Kulturgutes erfolgte am 28.03.2006. Zu
diesem Zeitpunkt befanden sich die Werke
seinem Urteil vom 22. Januar 2015. Was die
nicht mehr als Leihgaben in der BerliniBewertung der sieben Bilder angeht, gibt
schen Galerie. Der Abzug der Leihgaben
das Urteil der Galerie Nierendorf weitgeerfolgte, nachdem Herr Karsch das in
HANNAH HÖCH
hend Recht: Mit einer Ausnahme (George
einem notariellen Vertrag aus dem Jahr
Ertüchtigung, 1925, Collage, 28 × 19 cm
Grosz: Brillantenschieber im Café Kaiserhof)
1995 enthaltene Schenkungsangebot im
nimmt es die Bilder von der Kulturgutliste.
Jahr 2002 widerrufen hatte.“
Das Gericht hat ein eigenes Gutachten
Das stimmt soweit. Was aber die
Verdacht der Galerie Nierendorf, der Senat
eingeholt, das den Gutachten der BerliniSenatskanzlei unerwähnt lässt, ist der jahrehabe parteiisch gutachten lassen, um billiger lange Kampf um die Bilder, der auf
schen Galerie überwiegend widerspricht.
u der dahinterstehenden Frage äußert an die Bilder zu kommen, schließt sich dem
Karschs Widerruf seiner Schenkung im
sich das Gericht nicht: Ist es nicht
aber nicht an. Zweifel bleiben aber auch im Jahre 2002 folgte. Erst 2010 entschied
anrüchig, wenn dasselbe LandesUrteil. Die Richter schreiben hinein, dass
das Berliner Kammergericht zu seinen
museum, das beschenkt werden sollte, in
„Zweifel an der (vollständigen) UnparteiGunsten. Florian Karsch erhielt seine Bilder
einer für den Wert dieser Bilder so elemen- lichkeit nicht ausgeräumt werden konnten.“ zurück. Anfang Oktober dieses Jahres
taren Frage als Gutachter auftritt? Sind
Was jedoch schwerer wiegt und am
ist er im Alter von 90 Jahren verstorben. Es
hier nicht Gutachter und Nutznießer des
Ende wirklich zählt, ist dies: Das Gericht
war sehr wohl so, dass sein Kampf um
Gutachtens identisch? Wie kann es da
bestellt ein eigenes Gutachten zu den sieben seine Bilder mit dem Berliner Senat und
unparteiisch zugehen? Und was sagt der
strittigen Bildern und traut diesem mehr
der Versuch des Senats, die Bilder unter
Berliner Senat dazu?
als den Gutachten der Berlinischen Galerie. Kulturschutz zu stellen, parallel liefen.
Die Senatskanzlei erklärt auf Anfrage
„Äußerungen von interessierter Seite“
Es ist kein schlichtes Schwarz-Weiß
von Blau: „Der Direktor der Berlinischen
nennt sie die Galerie Nierendorf – zitiert
Bild, das sich hier bietet – hier der herzensGalerie, Dr. Thomas Köhler, war zum Zeitaus dem Urteil des Verwaltungsgerichts.
gute Kunsthändler, dort der kunstgierige
punkt der Beschlussfassung des SachverMan muss sich in diesen 26-Seiten-Text
Staat. Was aber der Fall Karsch zeigt, ist
ständigenausschusses am 20.10.2006 nicht
hineinlesen, um zu erkennen, dass juristidies: In kaum einem anderen WirtschaftsMitglied oder stellvertretendes Mitglied
sche Prosa durchaus Spielraum bietet für
zweig ist der Staat so sehr aktiver Player
des Sachverständigenausschusses. Herr Dr.
sprachliche Feinheit und Süffisanz.
wie im Kunsthandel. Sobald es um Kunst
Köhler hat als stellvertretendes Mitglied
Da steht der kraftvoll urteilende Satz:
geht, beschränkt sich der Staat nicht wie
erst an der Sitzung des Sachverständigenaus- „Zureichende Anhaltspunkte dafür, dass
gemeinhin sonst darauf, dem Wirtschaftsschusses am 18.05.2011 teilgenommen.
die Verfahrenseinleitung – wie der Kläger
leben die Regeln zu setzen und Steuern
In dieser Sitzung hat der Ausschuss keinen
meint – in Wahrheit einzig darauf zielte,
zu erheben. Vielmehr wirtschaftet er
Beschluss über die Eintragung gefasst,
den Verkaufswert der Kunstwerke zu min- ziemlich massiv mit. Er ist Partei. Und diese
sondern lediglich auf das bereits vorliegende dern, um so einen Erwerb durch das Land
Konstellation – Mitbewerber auf dem
Votum vom 20.10.2006 verwiesen.“
Berlin zu erleichtern, sind nicht ersichtlich.“ Kunstmarkt zu sein und zugleich diesen zu
Weiter verweist die Senatskanzlei auf
Will sagen, der Galerist Florian Karsch
regulieren – ist systemisch anfällig für
das genannte Urteil des Verwaltungsgeunterstellt dem Land Berlin eine böswillige allerlei unschöne Aktionen.
richts – darin würden beim Senat „keine
Absicht, die so nicht beweisbar ist. Dann
Verfahrensfehler beanstandet“. Das stimmt. aber der nächste Satz: „Zwar mag dem am
Zwar referiert das Urteil ausgiebig den
Erwerb der Werke interessierten Beklagten TEXT: WOLFGANG BÜSCHER
Z
ENCORE
77
WERT
SACHEN
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DER FALL KARSCH
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GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBL ICK
Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
UMARMUNGSAKT
Die Dokumentation ihrer New Yorker Freundeswelt war Nan Goldin, Jahrgang
1953, Instrument der Selbstvergewisserung. Darin pulsierte die Angst, ohne
diese Erinnerungen nicht sein zu können. Ihre Wirklichkeit ist hart: Sterbende,
Geschlagene, Zugedröhnte. Meist schaut man müden Lebensgeistern in die
Augen. Dieses seltene Motiv ist zurückhaltender – und doch wird auch hier ein
Raum für die Fantasie gelassen: Ein kraftvoller Männerarm greift fest um
die Taille der Frau, die struppigen Haare verdecken, was wir uns nun vorstellen
müssen: einen innigen Kuss, eine aggressive
Fotografie und Fotobücher
Umarmung? The Hug, NYC, von 1980, abgezogen
2. Dezember bei
2007, ist auf 4.000 Euro geschätzt. SWKA
Bassenge in Berlin
MANN UND
FRAU
Meister von Hoo und
seine Schüler
Klassische Moderne
Der Maler Rudolf Wacker (1893–1939)
24.
bis
26. November bei
war selbst ein großer Kakteenzüchter.
im
Kinsky
in Wien
Der Eros seiner Leidenschaft
sticht nicht gleich ins Auge. Dabei ist die
Symbolik ganz klar: Stachel = Mann. Rundung = Frau.
Stillleben mit Fettpflanze hat der Bregenzer sein Bild genannt.
Herz-Ass-Spielkarte, Preisschild und rosa Jugendstil-Teppich
ergänzen die charakteristische Symbolik der Neuen Sachlichkeit
(Taxe 100.000–200.000 Euro). GB
Er ist einer der großen Buchmaler
des Spätmittelalters. Seinen Notnamen Meister von Hoo erhielt er
von einem Stundenbuch, das Mitte
des 15. Jahrhunderts für Thomas
Lord Hoo, Kanzler der Normandie,
entstand und heute in der Dubliner
Royal Academy bewahrt wird. Seine
Bilderfindungsgabe hat der international tätige Künstler weitergegeben: Jetzt wird ein Pariser Stundenbuch versteigert, dessen zwölf große
Miniaturen im Stil des Meisters
gemalt sind. Im Marienoffizium des
Gebetskalenders finden sich Szenen
der Verkündigung, der Darbringung
im Tempel oder der Flucht. Über
das Brevier der Bußpsalmen wacht
König David (Taxe 100.000 Euro). WOE
ENCORE
78
Wertvolle Bücher
23. und 24. November bei
Ketterer in Hamburg
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
www.cofacontemporary.de
AUKTIONEN
3. – 5. NOV.
DOROTHEUM IN WIEN Kunstgewerbe, Design und Grafik
4./5. NOV.
SOTHEBY’S IN NEW YORK Alfred Taubman: Masterworks
5./6. NOV.
SOTHEBY’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne
9N
9.
NOV.
OV.
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Die neue Plattform
für zeitgenössische Kunst
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CHRISTIE’S
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YORK
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Sa
0 C
0th
Century
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A
10./11. NOV. CHRISTIE’S IN NEW YORK Gegenwartskunst
11./12. NOV.
SOTHEBY’S IN NEW YORK Gegenwartskunst
12./13. NOV. CHRISTIE’S IN NEW YORK Moderne und Impressionismus
13. NOV.
KARL & FABER IN MÜNCHEN Alte Meister und 19. Jh.
13./14. NOV. VAN HAM IN KÖLN Alte Kunst und Europäisches Kunstgewerbe
12. – 14. NOV. LEMPERTZ IN KÖLN Alte Kunst und Kunstgewerbe, Gemälde und
Zeichnungen des 19. Jahrhunderts
18. NOV.
KOLLER IN ZÜRICH Asiatica
18. NOV.
NAGEL IN STUTTGART Moderne und Gegenwartskunst
20. NOV.
KETTERER IN MÜNCHEN Alte Meister und 19. JJahrhundert
21.1. NO
2
NOV.
V
PIN – BE
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BENEFIZAUKTION,
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PINAKOTHEK
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MÜNCHEN
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Gegenwartskunst
Gegen
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23. NOV.
HASSFURTHER IN WIEN Alte Meister und Moderne Kunst
23./24.
23
2
3./24
24
4. NOV. KE
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KETTERER
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HAMBURG
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Wertvolle
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Bücher
ücher
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24./25. NOV. SOTHEBY’S IN LONDON Sammlung Bernheimer
24. NOV.
BASSENGE IN BERLIN Bücher, Graphik und Autographen
24./25. NOV. HAUSWEDELL & NOLTE IN HAMBURG
Galerien · Galleries:
Klaus Benden, Köln | Clement & Schneider,
Bonn | Conrads, Düsseldorf | Cosar HMT,
Düsseldorf | Philine Cremer, Düsseldorf | Drei,
Köln | Fiebach,Minninger, Köln | Julia Garnatz,
Köln | Hammelehle und Ahrens, Köln | Heinz
Holtmann, Köln | Natalia Hug, Köln | Martin
Kudlek, Köln | Löhrl, Mönchengladbach |
Markus Lüttgen, Köln | Martinetz, Köln | Mirko
Mayer, Köln | Nagel Draxler, Köln, Berlin |
Priska Pasquer, Köln | Rupert Pfab, Düsseldorf
| Berthold Pott, Köln | Thomas Rehbein, Köln
| Petra Rinck, Düsseldorf | Philipp von Rosen,
Köln | Ruttkowski 68, Köln | Scharmann &
Laskowski, Köln | Brigitte Schenk, Köln |
Schönewald, Düsseldorf | Setareh Gallery,
Düsseldorf | Sies + Höke, Düsseldorf | TZR
Kai Brückner, Düsseldorf | Van der Grinten,
Köln | VAN HORN, Düsseldorf
Bücher und Autographen
24.. – 26
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Gegenwartskunst,
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Antiquitäten,
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Jugendstil
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Design
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25. – 27. NOV. FISCHER IN LUZERN Kunst und Antiquitäten
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5. – 28
28. N
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Gegenwartskunst,
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Fotografi
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Orangerie
ranger
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ger
26. NOV.
Projekträume · Non-Profit Spaces:
Belle Air / New Bretagne, Essen | Bruch
& Dallas, Köln | CAPRI, Düsseldorf |
Jagla Ausstellungsraum, Köln | Kjubh
Ausstellungsraum, Köln | Melange, Köln |
Simultanhalle, Köln | SSZ Sued, Köln
VAN HAM IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst
27./28. NOV. LEMPERTZ IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst, Fotografie
27./28. NOV. STAHL IN HAMBURG
Kunst und Antiquitäten
28. NOV.
NEUMEISTER IN MÜNCHEN Sonderauktion in Bernried,
expressionistische Druckgraphik aus dem Nachlass Buchheim
2 D
2.
DEZ.
E .
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BASSENGE
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BERLIN
ERL
RLIN Fotografie undd Fo
F
Fotobücher
tobücher
Halle · Hall 11.2, Koelnmesse
MOSCHEEN
UND RUINEN
Zypern ist seit 1974 eine geteilte Insel.
Der griechische Süden ist nach
vielen Kriegen christlich-orthodox, der
türkische Norden muslimisch. Die
Berliner Fotografin Johanna Diehl, der
die Pinakothek der Moderne in
München zurzeit eine Ausstellung widmet, reiste 2008 mit ihrer analogen
Kamera in das gebeutelte Land
– auf der Suche nach den Ruinen,
die nach dem historischen Exodus
PIN – Benefizauktion
von Christen und Muslimen
21. November
zurückblieben. Im Süden fand sie
Pinakothek in München
leerstehende, verfallene Moscheen.
Im Norden wurden die Kirchen
als islamische Gebetsräume genutzt. Johanna Diehl zeigt, wie sehr sich
die Religionen und ihre Rituale ähneln, mit ihren Predigt-Kanzeln und
strengen Regeln. Der Freundeskreis der Pinakothek der Moderne versteigert
in seiner schon traditionellen Benefizauktion für das Museum eines ihrer
besten Motive: Melanarga/Adaçay, Cyprus (North) aus dem Jahr 2009 für
geschätzte 8.000 Euro. SWKA
Gefangene im
Raum
Ausgewählte Werke
26. November bei
Villa Grisebach
in Berlin
—
DER FALL KARSCH
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GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBL ICK
ANGST ESSEN
POP-ART
AUF
In der Berlinischen Galerie würde er sich
ausnehmend gut machen: der Kopf von
Hans Uhlmann (1900–1975). Als ausgebildeter Maschinenbauer entsprach Uhlmann
dem Bild des Künstlers als hochsensibler
Gegenwartskunst
Lichtensteins Nurse mit dem
Techniker, wie ihn die Bildhauer Naum
9. November bei
Monroe-Mund entstand in
Gabo und Antoine Pevsner 1920 in ihrem
Christie’s
den frühen 60er-Jahren, als der
Realistischen Manifest beschrieben hatten.
in New York
Künstler seine Motive aus
Ein Künstler, der jedem
Comic-Heften nahm und die amerikanische Illustrier„Ding sein eigenes Wesensbild“
te Life ihn „den schlechtesten Maler in den Vereinigten
verleiht, Skulptur nicht
Staaten“ nannte. Damals zog die Beleidigung noch.
als plastische Anordnung von
Inzwischen weiß man, wie sehr der Maler seine
Massen versteht, sondern
Vorlagen veränderte. Die Pop-Art-Ikone hat einmal
als Konstruktion von Räumen.
dem legendären Sammler Leon Kraushar gehört,
Uhlmann musste 1933 mit sehr
bevor sie zu Karl Ströher kam. Da sie später nicht zum
wenig Raum auskommen: Er
Aufgebot gehörte, das der Wella-Unternehmer dem
wurde von der Gestapo verhaftet,
Frankfurter MMK als Gründungsgeschenk vermachte,
weil er antifaschistische Flugblätter
ging der Siegeszug weiter: 1989 reiste sie zu
verteilt hatte. In Gefangenschaft führte er
Tagebuch, zeichnete und entwarf Skulpturen Peter Brant in die USA, 1995 erwarb sie der aktuelle
Besitzer für rund 1,6 Millionen Dollar. Wenn man
aus Draht und Blech, die er nach seiner
an Lichtensteins etwa gleichaltrige Picasso-Adaption
Entlassung umsetzte. So auch seine Kopfdenkt, die 56 Millionen einbrachte, ist der NurseSkulpturen aus verzinntem Eisenblech von
Rekord programmiert (Taxe 80 Millionen Euro). HJM
1936 (Taxe 100.000–150.000 Euro). WOE
ENCORE
80
Jankel Adler
André Bauchant
Bertozzi e Casoni
Georges Braque
GL Brierley
Giorgio de Chirico
George Condo
Lovis Corinth
Walter Dahn
Nicolas Henry Jeaurat de Bertry
Léon de Smet
Jiří Georg Dokoupil
Matthias Dornfeld
James Ensor
Jean Fautrier
Marianna Gartner
Bruno Goller
Jenna Gribbon
Julius Grünewald
Heinrich Hoerle
Leiko Ikemura
Alexej Jawlensky
Alexander Kanoldt
Michael Kirkham
Wolfe von Lenkiewicz
Joseph Mangold
Louyse Moillon
Sabine Moritz
Mariele Neudecker
David Nicholson
Pablo Picasso
Till Rabus
Anton Räderscheidt
Odilon Redon
Théodule-Augustin Ribot
Wilhelm Schnarrenberger
Georg Scholz
Kurt Schwitters
Jean-Nicolas Spayemant
Félix Vallotton
Stillleben
gestern und heute
27. November 2015 bis 9. Januar 2016
Andy Warhol
Cologne Fine Art
Royce Weatherly
18. bis 22. November 2015
Galerie Michael Haas
Niebuhrstraße 5, 10629 Berlin
t + 49-30-88 92 91 0
Alexej Jawlensky, Stillleben mit Gockel, 1910, Öl auf Karton, 53,5 × 49,8 cm
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DER FALL KARSCH
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GRAND PRIX
SCHNELLKUNST
Die Sammler zieht
es dahin, wo das
schnelle Geld
unstkaufen heißt, sich auf Entdeckungsreise begeben. Doch wer früher in Berlin-Mitte
durch Hinterhöfe auf den Spuren junger Kunst wandelte, findet heute eine Luxus-Shopist. Und die
pingmeile vor. Fast könnte man meinen, Galerien wie neugerriemschneider und
Eigen + Art in Berlin hätten das geahnt, als sie einfach in ihren alten Räumen sitzen blieben.
Galeristen Viele ihrer Kollegen flüchteten vor Coffeeshops und Touristenströmen in Richtung Westen – die Sammler sollten weiterhin den rauen Charme der Straße spüren, für den die Stadt international gefeiert wurde.
jagen
Doch unterdessen veränderte sich Mitte. Heute sitzen hier Start-ups wie Rocket Internet, Modelabel
wie A.P.C., das Soho House, das Grill Royal. Große Entscheidungen fallen im Radius des Regierungshinterher viertels. Wenn das Geld nach Berlin kommt, wird es zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz
FOLGT MAN DIESEM
ZEICHEN, VERPASST MAN
DAS ZENTRUM NIE
K
ausgegeben. Dieser Ort passt zu einer neuen Generation an Kunstkäufern: Sie ist jung, effizient, online.
Und hat keine Zeit zum Schlendern: Wer gewohnt ist, sehr schnell sehr viel Geld zu investieren, will
nicht lange laufen oder Taxi fahren, sich nicht die Concept Stores in den entlegenen Stadtteilen zusammensuchen. Und so ist es nur konsequent, wenn eine Galerie wie Gerhardsen Gerner, die hochpreisige
Künstler wie Julian Opie und Carroll Dunham vertritt, nun von einem abgelegenen S-Bahnbogen
zurück in die alte Mitte geht – in die ehemaligen Räume von Esther Schipper, die in den 90ern den
Mythos von Mitte mitformte. Schon letztes Jahr tat die Galerie Neu diesen Schritt, als sie in derselben
Straße ein Trafohaus zwischen Plattenbauten bezog. Ihre alten Räume waren keinen Kilometer entfernt – doch nun ist es auch zu Sprüth Magers und Johnen nur noch ein Katzensprung. Geschäftsleute
sind oft nur für einen Tag in der Stadt. Um ihrer Effizienz entgegenzukommen, muss eine Galerie ins
historische Zentrum der Stadt – sofern sie es sich leisten kann. Man kennt das aus anderen Metropolen:
Im Marais in Paris oder Mayfair in London, wo Gagosian gerade seine zweite Adresse im Ballungsraum
der Blue-Chip-Galerien und Modemarken eröffnet hat, verlieren Investoren keine Zeit. In Berlin-Mitte
fühlt sich die Zentralisierung weniger gravitätisch an, aber sie funktioniert genauso: Die Geschwindigkeit, die Hedge-Fonds-Manager und Internetmillionäre in ihrem Business an den Tag legen, spiegelt
sich im schnellen Konsum von Kunst. Längst werden die meisten Werke online gekauft – aus Räumen
mit exorbitanten Mietpreisen heraus bieten die Galerien ihre Ware fast nur noch über JPEGs oder auf
Messen an, die der Netzwerkstecker zur globalen Geschäftswelt sind. Doch was passiert mit der Kunst,
wenn es mit dem Effizienzdenken immer so weitergeht? Ganz einfach: Dann wird auch die Stadtmitte
zu weit weg sein. Geschäfte werden nur noch an Privatflughäfen gemacht. Gagosian und Thaddaeus
Ropac haben schon vor drei Jahren in Paris ihre Räume dorthin verlagert. Vielleicht wird Tegel 2017
nicht schließen. Residieren dann in den Gates die Galerien?
GESINE BORCHERDT
ENCORE
82
Herbstauktionen 2015
12./13. Nov. Schmuck und Kunstgewerbe
14. Nov.
Alte Kunst und 19. Jahrhundert
27./28. Nov. Moderne Kunst, Photographie, Zeitgenössische Kunst
4./5. Dez.
Asiatische Kunst und The Kolodotschko Collection of Netsuke IV
Günther Uecker. Wald. 1992. Äste, Nägel, Asche, Leim und Kohle auf Holz, ca. 240 x 200 cm. Auktion 28. Nov.
Neumarkt 3 50667 Köln T 0221-92 57 290 Poststraße 22 10178 Berlin T 030-27 87 60 80
München 089-98 10 77 67 Zürich 044-422 19 11 Brüssel 02-514 05 86 [email protected] www.lempertz.com
DÜRER & KENTRIDGE
KULTURFORUM
BERLIN
20.11.2015 – 06.03.2016
BLAU
K ALENDER
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GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBL ICK
Unsere TERMINE im November
HITO STEYERL
Reina Sofia, Madrid
11.11.2015 – 21.03.2016
ALBRECHT DÜRER
Die Buße des
Hl. Johannes Chrysostomus,
um 1496
lustige Avatare aus
dem Nichts auftauchen, um sie kurz
darauf wieder ins
Nichts zu verabschieden. Analoge
Spielszenen und
digitale Bildbearbeitung fließen ineinan-
Zimmeruhr mit
Schäferpaar, Paris
1745–1750
GEFÄHRLICHE
LIEBSCHAFTEN
LIEBIEGHAUS FRANKFURT
04.11.2015 – 28.03.2016
Als 1715 der Tod des alten Sonnenkönigs verkündet
wird, hat längst das ganze System begonnen zu
sterben. Nur die Kunst dieser welken höfischen Welt
gönnt sich einen letzten Neubeginn. Und so zwängt
HITO STEYERL How not to be seen: A Fucking
sich das Rokoko zwischen den Barock und die Jahre
Didactic Educational .MOV File, 2013
der Revolution. Auf den großen Leinwänden verblassen die Götter. Alltägliche Figuren drängen in
der. Wir fragen uns:
die 1966 in München
die Motivwelten hinein und mit ihnen ein neues
Was ist real? Und was
geborene Künstlerin
Verständnis von Zärtlichkeit, Erotik und Frivolität.
nur Schein? Dasein
zu den wichtigsten
Ein Zeitalter denkt über die Liebe nach. Das Liebiegund Verschwinden,
Protagonistinnen des
haus stemmt mit über 80 bedeutenden Werken
das hat bei Steyerl
Genres. In Deutschvon Étienne-Maurice Falconet (1716–1791) oder
auch eine politische
land hat sie ihren
Johann Joachim Kändler (1706–1775) ein gewaltiges
Qualität, etwa wenn
Durchbruch erst in
Fa ltfächer m
diesem Jahr gefeiert – sie sich mit
it ga Rokoko-Tableau aus Skulpturen, Gemälden,
la n
Wirtschaftsmit ihrem Beitrag im
ten Grafiken sowie Kunsthandwerk.
Sz
problemen
Deutschen Pavillon
en
en Angesichts der friedlichen Bilderwelt
befasst oder
auf der Biennale von
erscheint es seltsam und logisch
sich über die
Venedig. Nun ist
zugleich, dass auf die Zeit
Macht der
Steyerl im Museo
Algorithmen
Reina Sofia in Madrid
entfesselter individueller
lustig macht.
zu sehen. In ihren
Gefühlswelten ein kollektives
Bei Hito Steyerls
Videos holt Steyerl
Wüten folgen wird. Noch
Filmen gerät man
alte Soul-Songs aus
aber wiegt man sich
unwillkürlich in
den Untiefen von
in Sicherheit: zarte LiebYoutube, collagiert ein einen Sog. Kunst
kosungen und intime
und Wirklichkeit
dadaistisches,
verschwimmen – und
computergeneriertes
Blicke. Der letzte Reigen
Design dazu und lässt wir sind mittendrin. woe
dieser Zeit. MW
,u
m
0
176
Noch einmal das ganze DürerABC. Von den apokalyptischen
Reitern über die Melencolia bis
zum famosen Rhinocerus. Das
Berliner Kupferstichkabinett
besitzt all die berühmten Blätter,
was allein schon Grund zum
Ausstellungsbesuch ist. Aber
der Reiz liegt in der Gegenüberstellung mit dem eher verschwiegenen, im Ton gedämpften Werk des südafrikanischen
Zeichners William Kentridge,
dessen Graphic Novels von Exil,
Vereinsamung, Gefangenschaft
in alten Riten handeln und
immer wieder Themen aus der
Problemgeschichte des Landes
aufgreifen. So erinnert die
Lithografie Treason Trial an eine
Prozess-Serie der frühen
60er-Jahre, bei der eine Gruppe
Apartheid-Gegner wegen
Landesverrats angeklagt und
später freigesprochen wurden.
Demgegenüber nimmt sich
einer wie Dürer, dem es
sichtlich um Publikumserfolg
zu tun war, wie ein Antipode
aus. Was die Grafiker über die
Jahrhunderte verbindet, ist
die suggestive Schwarz-WeißSprache, die beide gleich gut
beherrschen. MÜ
Kann Medienkunst
intelligent sein und
witzig zugleich? So,
dass man nicht gleich
wieder aufstehen und
weiterlaufen will? Hito
Steyerls Arbeiten
halten einen fest.
International gehört
ENCORE
84
ANTON
CORBIJN
C/O Berlin, BERLIN
07.11.2015 – 31.01.2016
OLAF METZEL
Links: Mao IV (das
Rote Buch), 2014.
Rechts: lo cambio,
2010
OLAF
METZEL
Neues Museum NÜRNBERG
13.11.2015 – 14.02.2016
ANTON CORBIJN Nina Hagen und Ari Up, Malibu 1990
Avantgarde funktioniert manchmal sehr schlicht. Man tut
einfach: das Gegenteil der Masse. Meist ist es nicht neu,
aber anders. In Zeiten von großem Bombast und SpektakelDebatten hat Anton Corbijn in den 80er-Jahren genau
diese Anleitung befolgt. Während alle anderen bunt und
schrill waren, suchte er die Wahrheit mit der Kamera.
Und er untermauerte seinen Willen mit markanten Sprüchen:
„I was always looking for inner beauty and struggle.“
Künstlerprosa? Corbijn traute sich in ein Metier, dass die
Öberfläche zur Haupttanzfläche erklärt: die Musikindustrie.
Körnigkeit, Unschärfe und harte Kontraste, ja in Licht,
Schatten und hartem Schwarz-Weiß: So zeigte er Nina
Hagen, die Rolling Stones, U2, Nirvana, Tom Waits, REM,
Metallica, Depeche Mode oder auch Herbert Grönemeyer.
Ob diese Melancholie nur auch wieder eine Form der
Pose ist, das kann der Besucher im C/O Berlin entscheiden.
Der Ort für Fotografie im Amerika Haus am Zoo zeigte
Teile seiner Arbeiten schon 2005, doch nun gibt es einen
besonderen Anlass: Zum 60. Geburtstag von Corbijn
versammelt man 600 Fotografien, Filme und
Memorabilia. Die zweiteilige Ausstellung
zeigt sein gesamtes Werk der vergangenen 40 Jahre und seine Arbeiten
aus der Musikwelt – darunter noch
nie veröffentlichte Aufnahmen, die
Corbijn selbst seine „verlorenen
Bilder“ nennt. swka
ENCORE
85
Olaf Metzel ist auf Krawall
gebürstet. Seit den frühen
80er-Jahren gilt der Berliner
Bildhauer, Jahrgang 1952,
als Störenfried der saturierten
Gesellschaft – als einer, der
sich einmischt, kommentiert,
provoziert. Doch geht das heute
überhaupt noch? 1987 stapelte
er auf dem Ku’damm rot-weiße
Absperrgitter und Einkaufswagen aufeinander: Eine Art
Tatlin’scher Turm als Mahnmal
der Spießergesellschaft, den
die Anwohner sofort wieder
weghaben wollten. Heute
steht das „Randale-Denkmal“
befriedet zwischen irgendwelchen Bürotürmen. Später nahm
Metzel die Schwaben aufs
Korn, indem er den Stuttgarter
Kunstverein mit dem Wort
Stammheim verzierte. Und 2007
stellte er ein nacktes Bronzemädchen mit Kopftuch in Wien
auf. Er verlieh ihm den kalauernden Titel Turkish Delight – die
Skulptur wurde fast augenblicklich zerstört und entfernt.
Ad-hoc-Provokation klappt
also nach wie vor. Seine Retrospektive hat Metzel nun Deutsche
Kiste genannt. Titel der neuesten
Arbeit darin: dermaßen regiert
zu werden. Mal sehen, wer sich
diesmal von ihm
ärgern lässt. gb
OLAF
METZEL
Deutsche Kiste,
1997
15
29–01
OCTOBER NOVEMBER
21st International Contemporary Art Fair
www.kunstzuerich.ch
KETUTA ALEXIMESKHISHVILI
—
DER FALL KARSCH
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U K TI O N EN
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WERTSACHEN
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AU K ALENDE
GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBL ICK
KÖLNISCHER KUNSTVEREIN
15.11. – 20.12.2015
GEORGES PIERRE Letztes Jahr in
Marienbad, 1960. Mitte: FORT Match, 2015
LETZTES JAHR
IN MARIENBAD
Kunsthalle BREMEN
14.11.2015 – 13.03.2016
„Im Sommer 1929 hat
es über eine Woche
gefroren“ – Klaviersolo.
„Gefiederte Flügel
wie Schwäne“ – Klaviersolo. Diese kryptischen Satzfetzen sind
aus Alain Resnais’
Film Letztes Jahr in
Marienbad aus dem
Jahr 1961, für den
Chanel die Kostüme
entwarf und bei dem
Schlöndorff Assistent
war. Das Werk ist
die Ikone der Moderne
im Kino, in dem sich
Menschen im barocken
Grand Hotel treffen
und ein Mann seine
große Liebe wiedererkennt – sie aber
erinnert sich nicht. Die
Bremer Kunsthalle
nähert sich dem
rätselhaften Film aus
der Perspektive der
Kunst, zu der
er zweifellos
selbst gehört. Vom
formalen
Barock über
die mental
strapaziöse
Irritation des
Zuschauers bis hin
zum Bildaufbau – all
das wurde nicht nur
Nachfolgern zur
Inspiration, wie David
Claerbouts Bordeaux
Piece von 2004,
sondern entsprang
auch künstlerischen
Einflüssen wie den
Bildern von Giorgio
de Chirico. Eine lange
überfällige Schau,
denn sie tritt unter
anderem dem
Irrglauben entgegen,
dass es für gute
Kunst reicht, das
eigene Medium zu
thematisieren.
Marienbad ist aber
gerade keine leere
Hommage an die
Kunstform Film als
solche – und darin
zum Vorbild geworden. SWKA
GIORGIO DE CHIRICO
Piazza d’Italia con statua
Fotografie muss nicht immer
glatt sein. Wir leben zwar im
Digitalzeitalter und man rechnet
in diesem Genre schon fast
mit nichts anderem mehr als
mit cleanen, werbemäßigen
Oberflächen. Doch es gibt
Ausnahmen. Wenn Ketuta
Alexi-Meskhishvili (geb. 1979)
Blumen oder Tapetenmuster
ablichtet, hat das nur auf den
ersten Blick mit Dekoration
und Design zu tun. Die in
Berlin lebende Georgierin, die
in New York bei Stephen Shore
studierte, baut in ihre Kompositionen haptische Brüche ein:
KETUTA ALEXI-MESKHISHVILI
Blumen, 2013
Kratzer, Fingerabdrücke, Risse
oder Sonnenstrahlen lassen
die Motive ins Unklare driften.
Heraus kommt eine süßlichseltsame Bildwelt, die an die
morbide Schönheit des georgischen Filmemachers Sergei
Paradschanow erinnert: Die
Farbe des Granatapfels aus dem
Jahr 1968, in dem parareligiöse
Rituale zu erotischen Tableaux
vivants verschmelzen, bildet
so etwas wie das Hintergrundrauschen ihres Werks. Der
Kölnische Kunstverein widmet
Alexi-Meskhishvili nun die
erste institutionelle Einzelschau
in Deutschland. GB
ENCORE
86
CATHY WILKES,
Installationsansicht, LENTOS Kunstmuseum Linz, 2015
CATHY WILKES
MUSEUM ABTEIBERG
MÖNCHENGLADBACH
08.11.2015 – 14.02.2016
Man steht mitten auf einer Bühne:
Kinderfiguren beugen sich über ein
Waschbassin und tauchen sanft ihre Hände
ein. Laufen hintereinander im Kreis. Warten
bei einem Mann mit Gipskopf, der sich
über einer Bierflasche krümmt. Weiß, zart
und in fragile Lumpen gehüllt, wirken
die Puppen der in Glasgow lebenden
Künstlerin Cathy Wilkes (geb. 1966) wie
Schlafwandler aus einer vergangenen
Zeit: ärmlich, traurig, geisterhaft. Es sind
Szenen voller Melancholie, die vom
Verschwinden erzählen. Schon eine
Figur reicht aus, um den Raum in eine
Metapher von Leben und Tod zu
verwandeln. Ähnlich ist es mit ihren
kleinformatigen Gemälden, die wie
Kondensate dieser Szenen wirken.
Berühmt wurde Wilkes mit Schaufensterpuppen: Verdreht und entblößt
lehnen sie als postapokalyptische
Statuen am Rollband einer Supermarktkasse, sitzen auf einer Kloschüssel davor, den Kopf mit Schwesternhaube, Teetasse und Hufeisen
behängt. Der Turner-Preis, den Wilkes
2008 dafür erhielt, hat sie nicht zum
Superstar gemacht. Sie produziert nur
wenig, stellt selten aus. Nun ist in
Mönchengladbach ihre erste Retrospektive zu sehen. gb
Detail einer Installation
im LENTOS Kunstmuseum Linz 2015
r.
DER ÖLE*
IN FRANKREICH
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Bernard Aubertin (*1934). Objekt mit Nägeln und Acryl auf Holz. 1970. 40 x 40 cm. Signiert.
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Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts
Moderne und Zeitgenössische Kunst
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BILDNACHWEISE
Nr. 6 / November 2015
TITEL: Courtesy and © Julian Schnabel. EDITORIAL:
S. 5: Foto: Yves Borgwardt für BLAU. INHALT: S. 6 l.:
Museumsverbund Nordfriesland. Foto: Sönke Ehlert/
Nordseemuseum Nissenhaus Husum. S. 6 M.: Courtesy
Julian Schnabel. Foto: Paul Seward. S. 6 r.: Courtesy
Miet Warlop. S. 8 l.: Courtesy Galerie Nierendorf,
Berlin. S. 8 M.: Foto: Heji Shin für BLAU. S. 8 r. o.: Courtesy Im Kinsky. S. 8 u.: Foto: Nick Ballon. CONTRIBUTORS: S. 10 o.: Foto: laif. ESSAY: S. 13: Musée national
Picasso-Paris. © Estate of Pablo Picasso. APÉRO: S. 16
l.: Courtesy Galerie Elizabeth Royer, Paris. © The Easton Foundation. Foto: Jean-Francois Jaussaud. S. 16 M:
Courtesy Galerie Elizabeth Royer, Paris. Foto: JeanFrancois Jaussaud. S. 16 r.: Courtesy of DKUK. S. 17:
Foto: dpa Picture Alliance. S. 18 l.: Foto: Museum für
Kunst und Gewerbe Hamburg. ©BLAU. S. 18 r. o.:
Courtesy of Ed Ruscha. S. 18 Mitte l. : Courtesy Museo
Franchetti del Collegio San Giuseppe, Turin. S. 18 M. r.:
Courtesy Archivio del Museo Antropologica criminale
„Cesare Lombroso”, Università di Torino. S. 18 r. u.:
Courtesy Skulpturensammlung Dresden. DICHTER
DRAN: S. 20: © Rita Ackermann. Courtesy the artist
and Hauser & Wirth. O-TON: S. 23 l. o.: Foto: ddp. S. 23
l. u.: Courtesy kjubh e.V. DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT: S. 23 r.: Courtesy Lamborghini.
MIET WARLOP: S. 24: Foto: Jose Caldeira. S. 25 r. : 1. v.
o., 3. v. o.: Fotos: Reinout Hiel, 2.v. o.: Foto: Jose Caldeira.
S. 26: Foto: Reinout Hiel. BLITZSCHLAG: S. 28 l. u.:
Courtesy Sprüth Magers. S. 28 r. o.: Foto: Lottermann
and Fuentes für BLAU. UM DIE ECKE BRÜSSEL:
S. 30 bis S. 32: Fotos: Vincen Beekman für BLAU.
INTERVIEW EIKE SCHMIDT: S. 34: Foto Getty Images S. 36: Foto: Imago Sportfotodienst. JULIAN
SCHNABEL: S. 38/39: Foto: Hans Namuth. Courtesy
Center of Creative Photography, University of Arizona.
© 1991 Hans Namuth Estate. S. 40/41, S. 42, S. 43,
S. 44/45, S. 47, S. 48, S. 49, S. 50: Courtesy and © Julian
Schnabel. S. 46: Courtesy Julian Schnabel. Foto: Sante
d’Orazio. S. 51: Foto: Gregory Halpern für BLAU.
PRINZESSIN VILMA LWOFF-PARLAGHY: S. 52 r. o.:
Foto: ddp Images. S. 52 r. u.: Foto Getty Images. S. 53,
S. 54 r. : Courtesy Museumsverbund Nordfriesland. Fotos: Sönke Ehlert/ NordseeMuseum Nissenhaus Husum. S. 54 l.: Courtesy Alte Nationalgalerie/Foto: smb/
J.P.Anders. AVERY SINGER: S. 58 : Foto: Heji Shin für
BLAU. S. 59: Courtesy the artist and Kraupa-Tuskany
Zeidler, Berlin. Foto: Jörg Lohse. S. 60/61, S. 62/63:
Courtesy the artist and Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin.
Foto: Thomas Mueller. S. 65: Courtesy the artist and
Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin. Foto: Roman März.
PABLO BRONSTEIN: S. 66, S. 67, S. 68/69 u., S. 69,
S. 70, S. 71 u.: Fotos: Nick Ballon. © 2015 T Style Magazine. S. 68 o., S. 71 o.: Courtesy Herald St, London and
Franco Noero, Turin. FLORIAN KARSCH: S. 75 bis 77:
Courtesy Galerie Nierendorf, Berlin. WERTSACHEN:
S. 78 l.: Courtesy im Kinsky. S. 78 r. o.: Courtesy Bassenge.
S. 78 r. u.: Courtesy Ketterer. S. 80 l. o.: Courtesy Johanna Diehl, Galerie Fiebach Minninger, Köln und Ga-
89
lerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt am Main © Johanna
Diehl. S. 80 l. u.: Courtesy Villa Grisebach. S. 80 r.:
Courtesy Christie’s. KOLUMNE: S. 82: Foto: Thommy
Weiss/Pixelio. KALENDER: S. 84 l.: ©bpk/Staatliche
Museen zu Berlin Kupferstichkabinett/Volker-H.
Schneider. S. 84 M.: Courtesy of the artist and Andrew
Kreps Gallery, New York. S. 84 r. o.: Foto: Les Arts
Décoratifs/Cyrille Bernard. S. 84 r. u.: © Historisches
Museum Frankfurt. Foto: Horst Ziegenfusz. S. 85 l.: ©
Anton Corbijn. S. 85 r. o.: Courtesy the artist and Wentrup, Berlin. Fotos: Leonie Felle. S. 85 r. u.: Foto: Jens
Ziehe. S. 86 l. o.: © Georges Pierre/Laurence Pierre–de
Geyer. Foto: Österreichisches Filmmuseum, Wien. S. 86
l. u.: Foto: Musée d’Art Moderne/Roger-Viollet. S. 86 M.:
Courtesy the artist and Micky Schubert, Berlin. S. 86 r.
o.: Courtesy of the artist, Xavier Hufkens, Brussels and
The Modern Institute/Toby Webster Ltd. Glasgow.
Foto: Reinhard Haider. DER AUGENBLICK:
© Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv
Michael Schmidt/Courtesy Galerie Nordenhake
Berlin/Stockholm
VG Bild-Kunst Bonn 2015
Louise Bourgeois, Giorgio de Chirico, George Grosz,
Andreas Gursky, Hannah Höch, Anish Kapoor, Roy
Lichtenstein, Olaf Metzel, Pablo Picasso, Julian Schnabel,
Hans Uhlmann
E VON BL AU
DIE NÄCHSTE AUSGAB MBER 2015
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IN DER WELT
EL
ZEITSCHRIFTENHAND
DER AUGENBLICK
IM FROSTKLEID
Ein fotografisches Still und
seine Vorläufer
MICHAEL SCHMIDT
o.T., aus der Serie Lebensmittel, 2006 – 2010, C-Print, 56 × 82 cm
A
ls die deutsche Grenze
sich öffnete, wunderten
sich viele Ostdeutsche
und fanden es (mit Nina Hagen)
„ganz schön bunt hier“.
Tatsächlich aber waren wir im
Westen keineswegs mit
Okra, Limetten, Rucola, Kiwi,
Avocados und Papayas groß
geworden. Das alles war erst in
den 80er-Jahren zu uns gekommen und der Markt wächst
immer noch – bis in exotische
Nischen.
Diese Papaya wurde wohl
im Zwischenlager porträtiert.
Auf den ersten Blick glaubt
man, sie habe sich zum Schutz
gegen die eigene Verderblich-keit ein Frostkleid angelegt.
Verkniffen schaut sie vom
Stielende her ihrem Schicksal,
verzehrt zu werden, entgegen.
Ohne Schwestern, ganz allein in
Styropolis, erwartet sie die wie
auch immer flüchtige Würdigung ihrer gelbgrünen Einzigartigkeit. Luxus hat seinen Preis.
Auf den zweiten Blick
sieht man etwas Vertrautes,
nämlich das Stillleben. „StilLeben“ sagen manche, weil sie
glauben, die kontemplative
Betrachtung des Unbelebten sei
eine Frage des Stils. Da gibt
es die üppigen, gedeckten Tische
der Holländer, das Spargelbündel bei Manet und die abgehobenen Äpfel Cézannes – aber
all das noch irgendwie zwischen
Markt und Küche. Bei den
Fotografen war es Edward
ENCORE
90
Weston, der Mitte der 20erJahre in seinem kalifornischen
Hüttenatelier die Paprika
so lange betrachtete, bis sie
sich aufs Fleischlichste in Pose
warf und rief: Nimm mich,
nimm mich!
Beim Stillleben knüpft
Michael Schmidt an, wenn er
den Apfel, die Mango, den Kohl
und die Papaya kühl bestaunt:
Farbe und Form. Man liegt wohl
nicht ganz falsch, wenn man
annimmt, dass ihn die Entzauberung der Ware im Warenverkehr beschäftigt hat. Anders
als sein englischer Kollege
Martin Parr war Schmidt aber
nicht geneigt, die Ekelgrenze
zu überschreiten, was mit einem
Blitzlicht auf das Profane
leicht zu haben ist. Lebensmittel
heißt, ganz furchtbar nüchtern,
das letzte Projekt einer bemerkenswerten fotografischen
Karriere, deren Ziel es war, das
Dokumentarische immer
wieder bildlich aufzuladen, also
der Klischeebildung zu entziehen. Es ging Schmidt, der im
vergangenen Jahr verstorben
ist, nicht um das, was man schon
weiß. So etwas wie ein mittleres
Grausen beim Betrachter war
dem Fotografen gerade recht.
ULF ERDMANN ZIEGLER
DER SCHRIFTSTELLER IST ZU GAST
IN BERLIN. MICHAEL SCHMIDTS
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David Ostrowski, F (2012), 2010, Öl, Lack, Holz, Wolle auf Leinwand, 200 x 150 cm, € 60.000 – 80.000, Auktion 25. November
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