NOVEMBER 2015 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 6 JULIAN SCHNABEL L’âme du voyage. Entdecken Sie mehr. -KEINE2 -KEINE3 Porsche empfiehlt und Mehr unter www.porsche.de oder Tel. 0800 3560 - 911, Fax - 912 (gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz). Echte Gefühle erkennt man daran, dass man ihnen nicht widerstehen kann. Die neue Cayman Black Edition. Große Gefühle. Große Begehrlichkeit. Das exklusiv zusammengestellte Ausstattungspaket ist so stilsicher wie attraktiv: 20-Zoll Carrera Classic Räder, SportDesign Lenkrad und Sportsitze mit geprägtem Porsche Wappen auf den Kopfstützen. Mehr unwiderstehliche Argumente unter www.porsche.de/Cayman-BlackEdition Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 11,8–10,9 · außerorts 6,4–6,2 · kombiniert 8,4–7,9; CO2-Emissionen 195–183 g/km AUFTAKT „ Als das Thema auf Julian Schnabel kam, war Georg Baselitz plötzlich verschwunden. Ein paar Minuten später kam er zurück – einen Katalog in der Hand. Er hatte gemerkt, dass mir zu Schnabel nur Gemeinplätze einfielen“ Im Sommer vor fünf Jahren war ich bei Georg Baselitz am Ammersee zu Besuch, der gerade die erste Künstlerausgabe für Die Welt vorbereitete. Wir hatten uns brandneue Arbeiten angeschaut, hatten Weißwürste gegessen, dazu ein Helles getrunken und saßen nun beim Kaffee. Ich weiß nicht mehr, wie das Thema auf Julian Schnabel kam, ich weiß nur, dass Baselitz plötzlich verschwunden war. Ein paar Minuten später kam er zurück – in der Hand einen mehrbändigen Katalog der Saatchi Collection aus den 80er-Jahren. Baselitz hatte gemerkt, dass mir zu Schnabel wenig mehr als Gemeinplätze einfielen und war nun gewillt, meine Bildungslücke zu füllen. Ein Teufelskerl sei dieser Schnabel, sagte er und blätterte mir ein Bild nach dem anderen auf. Baselitz, der sonst nicht berühmt dafür ist, allzu wohlwollend über Malerkollegen zu sprechen, lobte seinen Mut, die Sicherheit seiner Geste, die seltene Fähigkeit, auch riesige Formate zu beherrschen. Ich war, wie man so schön sagt, sofort angefixt und besorgte mir Schnabel-Kataloge sowie seine Biografie CVJ – Nicknames of Maitre D’s and Other Excerpts from Life, für die ich antiquarisch 140 Dollar zahlen musste (und die dieser Tage von Hatje Cantz neu herausgegeben wird). Not about Schnabel hatte einmal eine Titelgeschichte des Magazins Artforum geheißen und eine meiner liebsten Small-Talk-Fragen an Künstler und Kunsthistoriker lautete jetzt immer öfter: „What about Schnabel?“ Da war der Chef eines der wichtigsten deutschen Museen, der den Fall Schnabel längst für erledigt hielt und sich sicher war: Der kommt niemals zurück. Da war der Großsammler, der behauptete, Schnabel sei ein guter Regisseur – Schmetterling und Taucher glocke und Before Night Falls seien wunderbar, seine Gemälde jedoch zum Davonlaufen. Und da war die andere Fraktion. Sir John Richardson, der inzwischen 91-jährige Picasso-Biograf, erzählte, 5 dass er erst spät in seinem Leben die Bedeutung Schnabels erkannt habe. So groß sei der Lärm um den jungen Maler in den 80er-Jahren gewesen, dass er sich bewusst ferngehalten habe. Ein Fehler, den er heute bereue. Der Kurator Rudi Fuchs zeigte mir einen Essay, in dem er sich bei Schnabel dafür entschuldigt, ihn 1982 nicht auf die Documenta eingeladen zu haben. Einen Essay, in dem er ausführt, wie er sich über die Jahrzehnte mit dem sentimentalen Pathos Schnabels versöhnt hatte und warum ihn seine besten Arbeiten inzwischen an Caravaggios Enthauptung von Johannes dem Täufer erinnern. Albert Oehlen sagte gar nicht viel. Dafür aber den recht bestimmten Satz: „Julian Schnabel ist der begnadeteste Maler meiner Generation.“ Wir sind froh, in dieser Ausgabe die Geschichte einer der umstrittensten Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit neu erzählen zu können. Und wir sind stolz, dass Schnabel nach Georg Baselitz, Ellsworth Kelly, Gerhard Richter, Neo Rauch und Cindy Sherman nun der sechste Künstler sein wird, der eine komplette Ausgabe unseres Mutterblattes gestaltet. Die Welt des Julian Schnabel erscheint am 10. Dezember und ist – nur an diesem Tag – am Kiosk zu kaufen. Von wegen er kommt niemals zurück: Schnabel war niemals weg, nur haben wir nicht mehr richtig hingeschaut. Dank Sir John Richardson wissen wir immerhin: Wir waren dabei in bester Gesellschaft. CORNELIUS TITTEL APÉRO EIN KUNSTMAGAZIN CONTRIBUTORS / IMPRESSUM 13 ESSAY Ist das etwa gute Kunst? 16 NEUES, ALTES, BLAUES Nr. 6 / November 2015 20 DICHTER DRAN JULIAN SCHNABEL The Migration of the Duck-Billed Platypus to Australia, 1986, Schmutz, Gesso (Gipsmasse), Tibetanische Tonga auf Leinenabdeckplane, 305 × 244 cm Dietmar Dath „Malen ist wie Surfen. Beides ist kein Teamsport. Und bei beidem hat man ständig den Thrill, fast zu ertrinken“ — JULIAN SCHNABEL 23 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT 28 BLITZSCHLAG Günter Netzer 30 UM DIE ECKE Brüssel DER HERBST DES PATRIARCHEN JULIAN SCHNABEL, REIZFIGUR UND LEGENDE s. 38 PRINZESSIN LWOFF-PARLAGHY MULTICOLOR-CRIME MALTE KAISER UND MILLIONÄRE. WURDE WELTBERÜHMT. UND GRÜNDLICH VERGESSEN IM FARBBOMBENHAGEL: AUF EINE ZIGARETTE DANACH MIT MIET WARLOP s. 52 s. 24 INHALT 6 Links unten: Vilma Lwoff-Parlaghy Pepi, 1901. Mitte: Julian Schnabel, 95 Reade Street, New York, 1973. Rechts unten: Miet Warlop Mystery Magnet, Performance, 2012 10 FLANIEREN MIT HERMÈS Hermes.com INHALT 7 ENCORE 82 GRAND PRIX Die Kunstmarkt-Kolumne 84 BLAU KALENDER Unsere Termine im November EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 6 / November 2015 89 BILDNACHWEISE 90 DER AUGENBLICK Michael Schmidt — WOLFGANG BÜSCHER ÜBER DEN FALL FLORIAN KARSCH WERTSACHEN Was uns gefällt s. 78 ZWISCHEN LEGO UND LABOR WÜRDEN SIE DIESER FRAU EIN BILD ABKAUFEN? WIR UNBEDINGT. AVERY SINGER IM PORTRÄT s. 58 EXIL EINES BOHEMIENS KARSCH VS. BERLIN DER LANGE SCHATTEN DER KULTURGUTLISTE: EIN GALERIST UND DER KAMPF UM SEINE BILDER WIE PABLO BRONSTEIN SICH IN DER ENGLISCHEN PROVINZ DIE WELT NEU ERFINDET s. 66 s. 75 INHALT 8 Links unten: Florian Karsch in der Galerie Nierendorf, Berlin, Ende der 50er-Jahre. Mitte oben: Avery Singer, fotografiert von Heji Shin. Rechts oben: Detail aus Rudolf Wacker Stillleben mit Fettpflanze, 1931. Rechts unten: Detail aus Pablo Bronsteins Salon. „Sobald es um Kunst geht, beschränkt sich der Staat nicht wie sonst darauf, dem Wirtschaftsleben die Regeln zu setzen und Steuern zu erheben. Vielmehr wirtschaftet er ziemlich massiv mit. Er ist Partei“ INHALT 9 CONTRIBUTORS Dietmar DATH Den Autor treibt tiefe Überzeugung an, die Welt besser zu machen, jenseits von Macht und Ruhm. Ihn selbst und seine Texte beschleunigt diese Überlebensnotwendigkeit, sich nah sein zu müssen – und damit seinen großen literarischen und politischen Heldinnen und Helden. Seine Kritiker fürchten sich vor ihm, weil er so gut ist, Romane, Gedichte, Theater, Hörspiele, politische Streitschriften und Woche für Woche brillante Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt. Dabei müssten sie nur seine Zeilen offener lesen: Sie sind ehrliche Liebe der Liebe. Am unmittelbarsten erlebt man das in seinen Gedichten. Für DICHTER DRAN besingt er Rita Ackermann. (Seite 20) Heji SHIN Die Koreanerin ist klein, aber ungeheuer zäh, ohne ihr schweres Fotografengerät verlässt sie selten das Haus. Ihre Freunde sagen, sie ist wie ihre Bilder: klug, sexy, sinnlich, geheimnisvoll. Mal nah, mal distanziert, mal Spiel, mal Trieb. Für ein Aufklärungsbuch hat sie Jugendliche gefragt, ob sie sie beim Sex fotografieren dürfte. Mit billigen Plexischeiben fuchtelt sie vor der Linse rum und „drugt“ so die Farbwelten ihrer Bilder oder bleibt gleich: schwarz-weiß. Für BLAU hat sie die Künstlerin Avery Singer in New York getroffen: In der einen Frau scheint auch die andere auf: sinnlich, ja geheimnisvoll. (Seite 64) Philipp DEMANDT 28. Oktober - 1. November 2015 in der Residenz München www.munichhighlights.com Selten eroberte ein Kurator so schnell die Herzen seines Publikums. Als der Kunsthistoriker 2012 die Leitung der Alten Nationalgalerie übernahm, schwärmte nicht nur Berlin von ihm. Immer wieder überraschte er mit Vergessenem – hängte Caspar David Friedrich ab, holte den türkischen Maler Osman Hamdi Bey und den Amerikaner Gari Melchers aus dem Depot. Seine Schau zum Tierbildhauer Rembrandt Bugatti wurde gefeiert. Dabei hat er eigentlich einen Faible für Königin Luise. In BLAU erzählt er die Lebensgeschichte seiner neuesten Entdeckung: Prinzessin Parlaghy. (Seite 52) IMPRESSUM Redaktion CHEFREDAKTEUR Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.) MANAGING EDITOR Helen Speitler STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich ART DIRECTION Mike Meiré Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Marie Wocher TEXTCHEF Hans-Joachim Müller BILDREDAKTION Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg REDAKTION Gesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoffmans (NRW) SCHLUSSREDAKTION Karola Handwerker, Max G. Okupski REDAKTIONSASSISTENZ Manuel Wischnewski Autoren dieser Ausgabe Wolfgang Büscher, Diemar Dath, Dr. Philipp Demandt, Simon Elson, Markus Gabriel, Oliver Koerner von Gustorf, Günter Netzer, Ulf Poschardt, Dirk Schümer, Wilhelm von Werthern (Übers.), Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler Fotografen dieser Ausgabe Vincen Beekman, Yves Borgwardt, Lottermann and Fuentes, Gregory Halpern, Heji Shin Sitz der Redaktion BLAU Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188–400 redaktion@blau–magazin.de BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222 Nr. 6, November 2015 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt. Abonnement und Heftbestellung Abonnenten-Service BLAU Postfach 10 03 31 20002 Hamburg +49 40 46860 5237 [email protected] Verlag GESCHÄFTSFÜHRER Jan Bayer, Petra Kalb Sales GESCHÄFTSFÜHRER MEDIA IMPACT Arne Bergmann SALES MARKE Xenia Kunow, (V. i. S. d. P. 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Erstens werden Werke ausgestellt und kommentiert, die jeder von uns ohne Mühe herstellen könnte. Zweitens wird uns in einer eigens dafür entwickelten Prosa der Vernebelung und Verschleierung versichert, eigentlich sei alles Kunst, was die Kritiker dafür halten. Kunst, so wollen manche Kritiker von Philosophen wie Arthur Danto und Nelson Goodman gelernt haben, findet dann statt, wenn sich eine hinreichend einflussreiche Menge darauf einigt, dass Kunst stattgefunden hat. Kunst soll also nur im Auge des Betrachters liegen. Daraus folgt, dass es in Wirklichkeit gar keine Kunstwerke, sondern nur Anlässe dafür gibt, darüber zu streiten, ob irgendein Gegenstand, den jemand als Kunst ausgibt, ausgestellt und mit einem monetär lukrativen Tauschwert versehen werden sollte. Daraus folgt auch, dass Kunstwerke niemals einen Wert an sich haben. Man kann diesem Modell zufolge nicht allen Ernstes behaupten, Picasso sei ein besserer Künstler als George Braque oder darauf hinweisen, dass Rodins Skulpturen bessere Kunst als Warhols Brillo-Boxen sind. Man hat dies als postmoderne Beliebigkeit bezeichnet. Die Lage ist allerdings schlimmer: Die kapitalistischen Betriebsbedingungen des Kunstmarkts haben dazu geführt, dass die Kunst in den Augen des Betrachters verschwunden ist. Niemand will die BrilloBoxen lange betrachten oder immer wieder sehen. Versteht man den Gedanken, den sie ausdrücken sollen, erübrigt sich die materielle Existenz der Werke. Die heute im Cyberzeitalter bisweilen ans Lächerliche grenzende Vergänglichkeit letztlich bedeutungsloser Werke, die hoch im Kurs stehen, ist wohlgemerkt kein Merkmal der modernen Kunst, gegen die man etwa einen klassischen Geschmack in Stellung bringen müsste. Malewitschs Schwarzes Quadrat, die Ikone der modernen Kunst, verändert sich auf nicht antizipierbare Weise, indem die schwarze Fläche brüchig wird und damit Spuren des weißen Hintergrunds freigibt. Das Werk überdauert somit die radikale Geste der Entgegenständlichung, für die viele es halten. Das Problem ist also nicht etwa die moderne Kunst mit ihrer Offenheit für nicht mythoAPÉRO 13 logisch oder religiös gebundene Sujets. Das Problem des Nihilismus ist die falsche Meinung, es gebe in Wirklichkeit keine Kunstwerke, sondern nur Ereignisse, Performances, sinnlose Filmfragmente und Farbkleckse, die durch den Zufall der Kunstbörse als Kunst anerkannt werden. Wir brauchen also eine neue Kunstkritik, eine, die uns wieder in Kontakt mit den Kunstwerken selbst bringt. Ansonsten droht die Kunst an ein Ende zu kommen. An ihre Stelle träten dann die Betrachter, die sich von „Kunstexperten“ einreden lassen, irgendein Gegenstand – ein in Idaho gefundenes Nüsschen oder ein Autoreifen aus einer Bürgerkriegsregion – sei Kunst und enthalte gar eine politisch brisante Botschaft. Aber, wird man einwenden wollen, ist denn nicht manchmal ein Kunstwerk nur dadurch ein Kunstwerk, dass es eine Idee ausdrückt? Conceptual Art oder etwa Erwin Wurms Staubskulpturen sind doch auch Kunst. Das möchte ich auch gar nicht bestreiten. Auch wollte ich den BrilloBoxen und Suppendosen Warhols nicht den Kunstcharakter absprechen, sondern darauf hinaus, dass Warhols Massenwaren schlechtere Kunst als etwa Monets späte Gemälde aus der Seerosen-Serie sind. Um den Gedanken zu verdeutlichen, kann man einen berühmten Fall durchspielen: Duchamps Fontaine. Eine weit verbreitete Standarddeutung geht davon aus, dass Duchamps Fontaine ursprünglich lediglich ein Urinal (und damit kein Kunstwerk) war, aber weil er es in einer Ausstellung (und damit zweckentfremdet) zeigte, es zu Kunst wurde. Dies hat man dann so interpretiert, dass ein- und derselbe Gegenstand zu Kunst werden kann, indem jemand deklariert, er sei nun Kunst, woraufhin eine einflussreiche Gruppe von Galeristen, Rezipienten und Kennern der Deklaration Folge leistet. Diese Standarddeutung übersieht aber eine entscheidende Pointe. Der Gegenstand, den Duchamp ausstellt, ist gerade kein Urinal, sondern die unsichtbare Idee, ein Urinal auszustellen! Das Kunstwerk ist in diesem Fall eine Idee – und zwar eine ausgesprochen gute und deswegen wirkmächtige Idee, weil Duchamp uns darauf hinweist, dass es gerade nicht im Auge des Betrachters liegt, welche Idee ausgestellt wird. Denn die Idee, ein Urinal auszustellen, sieht man nicht, wenn man das Urinal sieht. Die Idee der Fontaine ist nicht identisch mit dem sichtbaren Urinal. Ideen können Kunstwerke sein, wenn sie auf eine geeignete Weise ausgestellt werden. Worin die Bedingungen dafür bestehen, wann eine Idee geeignet ausgestellt wird, lässt sich nicht unabhängig vom kunsthistorischen Kontext feststellen. Es gibt kein ewiges Wesen der Kunst, das geniale Künstler eingesehen haben, um aus einer geheimen Quelle zu schöpfen. Daraus sollte man aber nicht voreilig darauf schließen, dass es damit in Wirklichkeit keine Kunstwerke gibt – ein heute die Gemüter dominierender Irrtum. Der Konzeptkünstler Joseph Kosuth hat eine gelungene Formel gefunden: Kunst ist die Definition von Kunst. Damit wollte er nicht sagen, dass es in der Kunst immer nur darum geht, was Kunst ist, sondern uns vielmehr darauf aufmerksam machen, dass wir ein gegebenes Kunstwerk verstehen müssen, um auf der Basis des Werks die Frage zu stellen, ob es sich um ein gelungenes Kunstwerk handelt. anche Kunstwerke machen uns dies leicht. Picasso ist einer der größten Künstler aller Zeiten, weil er unzählige Werke produziert hat, die man nur mit äußerster sprachlicher Anstrengung überhaupt noch kommentieren kann. Sie sprechen für sich selbst, was man in diesen Tagen anlässlich der umfangreichen Ausstellung seiner Skulpturen im MoMA in New York bewundern kann. Wer Erfahrung im Umgang mit Kunstwerken und im Versuch hat, sie zu interpretieren und eine Interpretation im Gespräch mit Andersdenkenden zu verteidigen, wird in vielen Fällen schnell imstande sein, in einem Museum die künstlerischen Höhepunkte zu identifizieren. Dabei kann man sich natürlich täuschen. Die Kunstgeschichte ist voller unentdeckter Perlen, gerade weil es keine allgemeinen und ewigen Spielregeln gibt, an die sich alle Künstler in der Produktion von Kunstwerken halten. Das ist einer der Gründe, warum das Neue, Kreative, Schöpferische von Künstlern und ihren Rezipienten prinzipiell geschätzt wird. Es gehört zur Kunst, dass immer auch noch anderes möglich ist. M Ein Problem ist die Vorstellung, dass man über Kunstwerke ohnehin jeder beliebigen Meinung sein kann, ohne sich jemals wirklich täuschen zu können. Man muss sich über etwas, was man erkennen kann, auch täuschen können. Dies ist ein allgemeines Merkmal von Erkenntnis, das die Erkenntniskritik zum Vorschein immer auch dadurch aus, dass man sie nur verstehen kann, wenn man in Betracht zieht, dass sie festlegen, was die Kriterien dafür sind, dass sie als gelungen gelten können. Greifen wir auf unser prominentes Beispiel zurück. In Duchamps Fontaine ist das Urinal nur ein Teil des Kunstwerks. Das eigentliche Kunstwerk (so die hier vorgeschlagene Deutung) ist die Idee, ein Urinal auszustellen, die Duchamp realisiert hat. Diese Idee kann man im kunsthistoEin Problem ist die rischen Kontext, in dem Duchamp arbeitet, Vorstellung, dass man über verorten und sich dabei einen Überblick Duchamps Werk verschaffen. Es Kunstwerke ohnehin jeder über handelt sich eindeutig um Kunst. Dies wäre beliebigen Meinung sein kann, nicht der Fall, wenn ich meinen linken Schuh nähme und irgendwo im Hamburger ohne sich jemals wirklich Bahnhof liegen ließe, selbst wenn ich zu täuschen damit irgendeine Idee über Philosophen, Schuhe und Kunstwerke ausdrücken wollte. Der Kontext fehlte. bringt. Wenn Kunstkritik eine Form von Dass die allermeisten Skulpturen Erkenntnis und nicht von Manipulation Picassos bessere Kunstwerke als Duchamps ist, muss sie etwas entdecken können, was Fontaine sind, sieht man zum Beispiel daran, andere bisher übersehen haben. Jedes dass sie eine Vielzahl komplexer Kunstgelungene Kunstwerk fordert geradezu ideen darstellen, indem sie sich mit Picassos dazu auf, es zu kommentieren, seinen Malerei und ihrer Entwicklung, mit anderen Details auf die Schliche zu kommen und Skulpturen und Kunstkulturen, mit Materieine kohärente Deutung vorzulegen. Dafür alien und den Bedingungen dafür auseinbraucht man Zeit und eine Wertschätzung andersetzen, wie genau man eine individuelle, dafür, dass Kritik Erkenntnis sein kann. nicht wiederholbare Skulptur schaffen kann. Damit jemand etwas erkennen und kritisch Außerdem sind sie auch noch unmittelbar darlegen kann, worum genau es sich schön, was keine allgemeine Bedingung für handelt, müssen Fehlerquellen vorliegen. gelungene Kunstwerke, aber etwas ist, Was aber sind die Kriterien, an denen wogegen prinzipiell nichts sprechen sollte. wir eine gelungene Kunstkritik messen Wir brauchen also eine neue Kunstkönnen? Das Modell, das gegen den Nihilis- kritik, die nicht mehr davon ausgeht, dass mus spricht, gehört ins Spektrum des sie an der Schöpfung von Kunst wesentgegenwärtigen Neuen Realismus in der lich beteiligt ist. Die Kunst muss selbst einen Philosophie. Dieser geht erstens davon aus, Widerstandskampf beginnen, sie muss dass es eine Vielzahl von GegenstandsWiderstand gegen das Ende der Kunst bereichen unabhängig davon gibt, wie wir leisten. Dazu braucht sie neue Kunstkritiker, uns die Wirklichkeit vorstellen, sowie die zum Kontext der Kunst gehören und zweitens davon, dass wir die vielen Wirkderen Aufgabe darin besteht, Kunst zu lichkeiten, in denen wir leben, auch so deuten und wahre Expertise zu entwickeln. erkennen können, wie sie an sich sind. Wir Kunst wird von Künstlern gemacht und sind nicht prinzipiell von der Wirklichkeit es gibt sie auch in Wirklichkeit – es kommt abgeschirmt. Dies gilt auch für die Wirkaber darauf an, sie richtig zu deuten. lichkeit der Kunst. Die Kriterien einer gelungenen Interpretation eines KunstMARKUS GABRIEL, JAHRGANG 1980, IST werks kann man nur dem Werk selber entnehmen. Darin besteht die viel beschwo- PROFESSOR FÜR PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT BONN. BEI ULLSTEIN ERSCHIEN rene Autonomie der Kunst. Kunstwerke 2013 SEIN ESSAYBAND WARUM ES DIE zeichnen sich unter anderen Gegenständen WELT NICHT GIBT APÉRO 14 APÉRO NEUES, ALTES, BLAUES DANIEL KELLYS Londoner Friseursalon mit Kunst von JACK STRANGE DER GOLDENE SCHNITT LOUISES HAUSOLEUM A m Ende ihres Lebens schien es, als wäre Louise Bourgeois untrennbar mit ihrem Haus im New Yorker Stadtteil Chelsea verwachsen. Über fünf Jahrzehnte hat sie darin gelebt und gearbeitet, ihre gigantischen Spinnenskulpturen skizziert und die kleinen Stoffpuppen zusammengenäht. Ab diesem Winter können nun Besucher nach Anmeldung das ehemalige Refugium der gebürtigen Pariserin besuchen. Seit ihrem Tod im Jahr 2010 ist es praktisch unberührt LOUISE BOURGEOIS Eye, 1995. geblieben: Oben: Louise Bourgeois in ihrem Arbeitszimmer in New York Kartons, randvoll mit Erinnerungen. Notizen an der Wand. Vollgestopfte Regale, Schubladen, Stapel – schon zu Lebzeiten war das Haus ein legendärer Sonntagstreffpunkt, wo sich Künstler und Kritiker austauschten. Bourgeois erwarb das Townhouse im Jahr 1962 gemeinsam mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker Robert Goldwater. Nach seinem Tod 1973 verlegte sie ihr Atelier vom Keller in die Wohnräume, und so wurde nach und nach jeder Stock zum Kunstwerk. Nur die obersten Zimmer blieben Goldwaters Bibliothek vorbehalten, der Bourgeois ihre eigenen Bücher zur Seite stellte. Als Besucher wird man sich dem Reiz dieser aufgeladenen Räume kaum entziehen können – stehen sie doch für eine Zeit, bevor neue Medien die Arbeit von Künstlern zunehmend auf den Desktop verlagerten. Ob die etwas verträumte Idee von der Verschränkung von Kunst und Leben schon erledigt ist, lässt sich noch nicht sagen. Mit diesem Ort ist ihr aber bereits ein Denkmal gesetzt (347 West 20th Street). MW APÉRO 16 H aareschneiden und dabei Kunst betrachten? Ja, das geht gleichzeitig. Daniel Kelly war erst Friseur, bevor er in London Kunst studierte. Nun hat er in einer ramschigen Einkaufspassage im neuen Szeneviertel Peckham seinen Salon DKUK eröffnet. Zwischen afrikanischen Lebensmittelläden, Plastikkoffershops und den ersten Organic Cafés wird nun frisiert und kuratiert. „Beides ist mir wichtig. Weil London immer teurer wird, wollte ich einen neuen, demokratischen Ort für Kunst schaffen.“ Seine Kunden? Freunde und Künstler. „Im Moment leider noch zu wenig Leute, die nichts mit Kunst zu tun haben.“ Weil ihm das Gespräch darüber wichtig ist, finden Lesungen und Diskussionen statt. Spiegel gibt es nicht, stattdessen wird gerade ein tanzendes Haar, das der Künstler Jack Strange über einem Ventilator mit darüber kreisender Discokugel installiert hat, auf einen Monitor übertragen. „Eigentlich wollte ich keine Ausstellungen mit Haaren machen. Das war Zufall“, so Kelly. Dafür zahlt ihm der Arts Council nun eine Förderung. GB STREIT UM EINE VAGINA DIRTY CORNER, ANISH KAPOORS SKULPTUR IM SCHLOSSPARK VON VERSAILLES HAT DEN ÖFFENTLICHEN HASS MOBILISIERT. KUNST UND KÜNSTLER STEHEN UNTER POLIZEISCHUTZ Herr Kapoor, Bodyguards schützen Sie, wenn Sie nach Frankreich kommen. Was geht Ihnen durch den Kopf? Kapoor: Es geht nicht nur um meine Sicherheit. Unsere Kultur wird angegriffen. Aber kein Intellektueller erhebt sich in Frankreich. Es ist ein absolut einsamer Kampf. Ihre Skulptur erinnert an eine riesige Vagina. Sie wurde mit antisemitischen Sprüchen beschmiert. Sollte man sie nicht entfernen lassen? – Nein. Es ist schon zum zweiten Mal passiert! Man kann doch nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Sie haben selbst eine jüdische Mutter. Nun wird die Schlossverwaltung wegen Anstiftung zum Rassismus verklagt. Sie werden angegriffen. Ist es nicht wichtiger, dass der Antisemitismus aus dem Garten von Versailles verschwindet? – Das ist eine Umkehrung der Tatsachen! Die Täter werden verteidigt, das Opfer wird zum Täter. Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, was Kunst darf. Die Polizei hat keinen Verdächtigen, aber ein erzkonservativer Stadtrat zieht das Gerichtsverfahren gegen mich in drei Tagen durch. Was ist los in dem Land, das so stolz auf die Kunstfreiheit als Grundgesetz war? Ist der Hass jetzt salonfähig? – Es ist beunruhigend und gleichzeitig faszinierend, dass – wie schon bei Charlie Hebdo – die Kunst, dieser unnütze Akt, im Zentrum fundamentaler Fragen steht. Menschen umzubringen, weil sie Karikaturen machen, ist Wahnsinn. Können Sie sich vorstellen, warum sich die Leute über ihr Vagina-Werk ärgern? Ab 40 hat man keine Lust mehr. AUF¬HALBE¬ 3ACHEN !B¬ IM¬ (ANDEL – Nein. Im öffentlichen Raum sollten wir die Freiheit haben, uns kollektiv auszuprobieren. Ist das nicht erlaubt, lebt man im Faschismus. Denken wir auch an Syrien und den Irak. An den beständigen Hass gegen alles, was anders ist. Das gilt auch für alle, ANISH KAPOORS Dirty Corner in Versailles die wir aus Europa aussperren. Was die Flüchtlinge machen, ist Kunst. Sie sind mutig und kreativ. Nichts ist schwieriger, als sich neu zu erfinden. Deutschland nimmt diese hochgradig kreativen Menschen auf. Und deshalb sage ich voraus, dass Deutschlands Zukunft hell strahlt! INTERVIEW: MARTINA MEISTER Digitale Reinkarnation D ie Museen drängen in den digitalen Raum. Das ist zwar nicht ganz neu. Doch während immer mehr Häuser das Twittern lernen und ihre Sammlungen online zugänglich machen, wagt sich das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg noch einen Schritt weiter nach vorn. Als erstes Haus in Deutschland stellt es digitalisierte Werke, deren Urheberrechte bereits erloschen sind, zum Herunterladen für jegliche Art der Nutzung zur Verfügung. Der Online-Besucher ist also nicht länger nur Rezipient, sondern möglicher Co-Autor des nächsten Lebens dieser Werke: färben, zerschneiden, remixen – alles ist plötzlich erlaubt. Ob düstere Fotografien italienischer Städte aus dem 19. Jahrhundert oder expressionistische Tanzmasken aus den Zwanzigern, fotografiert von Minya Diez-Dührkoop, einer der ersten großen Fotografinnen: Die Welt ist groß auf www.sammlungonline.mkg-hamburg.de MW MINYA DIEZ-DÜHRKOOP Tanzmaske Tobbogan (Frau), 1924, modifiziert von BLAU ALLES IST DURCHLEUCHTET Ab und zu muss auch eine Mumie mal zum Arzt. Bei der einen bröckelt es am Rumpf, was auf Insektenbefall hindeutet. Die andere hat ein Wadenbein gebrochen. Die dritte wurde vor 150 Jahren aus purer Neugier aus- und wieder eingewickelt, was MIXMASTER ED W as haben eine ausgestopfte Schnee-Eule, Verbrecherfotos und das Bild einer Tankstelle mit der Aufschrift Standard gemeinsam? Vielleicht nur so viel: Sie treffen ab dem 7. November in der Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli in Turin aufeinander. Der Mixmaster, so der Titel der Schau, ist Ed Ruscha. Zusammen mit dem Kurator Paolo Colombo hat er Objekte aus verschiedenen Sammlungen der Stadt ausgewählt, um sie mit seinen eigenen Arbeiten zu kombinieren. Und so lernen wir nicht nur, dass Turin ein Museum für Radio und Fernsehen hat, eines für Kino, für Früchte, für Anatomie und für Kriminalanthropologie. Sondern auch, dass Ruscha sich für kuriose Dinge begeistert, die er tatsächlich irgendwie mit seiner eigenen Arbeit in Zusammenhang bringt. Zum Beispiel: Telefunken-Holzradios aus den 60er-Jahren. Schattenspielschablonen aus dem 19. Jahrhundert. Skizzen von Federico Fellini für unrealisierte Filme. Mit Wachs präparierte Äpfel, Hände, Meeresschildkröten, Mäuse und eben auch eine Schnee-Eule. Sogar ein Skelett eines Kleinwüchsigen aus dem 19. Jahrhundert ist dabei. Die Kunstwerke, die in der Ausstellung von ihm selbst stammen, hat er aus seiner Privatsammlung mitgebracht. „Paolo Colombo und ich bauen hier eine ganze Scheune voller Dinge auf, die hart aufeinanderprallen oder einander ähneln. Die Idee ist, alles miteinander zu verrühren, wie ein Mixmaster eben“, sagt Ed Ruscha. Der Artissima (6. – 8. November) verschafft er so ein schönes Parallelprojekt. GB natürlich auch nicht gesund sein kann. Um Genaueres über ihre Malaisen zu erfahren, schickt das Dresdener Albertinum nun fünf seiner vertrockneten Gesellen zum Röntgen ins Krankenhaus DresdenFriedrichstadt. Eine davon wird mit der Kamera von der Konzeptkünstlerin Rosa Barba begleitet. Schon in früheren Recherchen zu ihrem Filmprojekt The Hidden Conference nahm Barba Museumsarchive ins Visier – die Kamera schwenkte durch Depots, in denen Skulpturen wie Schauspieler wirkten. Die Mumien dienen dem Abschluss des Projekts. Am 27. November eröffnet das Albertinum Rosa Barbas erste große Einzelschau. GB APÉRO 18 ED RUSCHA Standard Station Study, 1986 (oben links). Links: Schnee-Eule aus dem Museo Franchetti del Collegio San Giuseppe, Turin. Rechts: Fahndungsfoto nach Alphonse Bertillon aus dem Museo di Antropologia criminale Cesare Lombroso, Turin Zwei Mumien des Dresdener Röntgenprojekts Sanssouci, Potsdam – Pen of the Year 2015 Nach seinem Sieg im Siebenjährigen Krieg lässt Friedrich der Grosse sein grösstes und anspruchsvollstes Bauwerk errichten: das Neue Palais von Sanssouci. Prächtige Festsäle, eindrucksvolle Galerien, ein barockes Schlosstheater – als Hommage an diese prunkvollen Räume entstanden, macht der Pen of the Year „Sanssouci, Potsdam“ den Glanz einer grossen Epoche auf faszinierende Weise wieder fühlbar. Der platinierte Kolbenfüllfederhalter ist auf 1 000 Exemplare limitiert, der Tintenroller auf 300 Exemplare. Handmade in Germany. Erhältlich in unseren Boutiquen in Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt sowie im gut sortierten Fachhandel. www.Graf-von-Faber-Castell.com 1 DICHTER DRAN SCHMUTZKUSS Dietmar DATH Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst trifft? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Dietmar Dath, Jahrgang 1970, hält den Schmetterling, der gar nicht wegfliegen will. Jede Kunst sehnt sich stets nach Hausarbeit. Unrein ist Schönheit immer. Waschen hilft. Leg Dampf auf jede Farbe, bis sie grau ist. Er sagt: Mal doch den Mann, als ob er Frau ist. Vor deinen Nabel setz den Schmetterling. Ob er davonfliegt, weiß der weiße Bauch. Schultern bewegen sich, die Arme auch. So geht der Bügeljob mit Strom und Hitze. 2 So gehen Pointen, Schattenspiele, Witze. Textil, geglättet, lehrt dich Sorgfalt neu. Ist eine Hose eng, sind’s auch die Taschen, Nicht zu heiß waschen! 3 Königliche, Trag das Shirt. Bleib treu. Inspiriert von Rita Ackermann RITA ACKERMANN, She Was Always Diligent Girl I, 1995, Kreide, Kohle auf Papier, 112 × 77 cm APÉRO 20 TO BREAK THE RULES, YOU MUST FIRST MASTER THEM. UM REGELN BRECHEN ZU KÖNNEN, MUSS MAN SIE ZUERST MEISTERN. DAS VALLÉE DE JOUX: SEIT JAHRTAUSENDEN WURDE DIESES TAL IM SCHWEIZER JURAGEBIRGE VON SEINEM RAUEN UND UNERBITTLICHEN KLIMA GEPRÄGT. SEIT 1875 IST ES DIE HEIMAT VON AUDEMARS PIGUET, IM DORF LE BRASSUS. DIE ERSTEN UHRMACHER LEBTEN HIER IM EINKLANG MIT DEM RHYTHMUS DER NATUR UND STREBTEN DANACH, DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS DURCH IHRE KOMPLEXEN MECHANISCHEN MEISTERWERKE ZU ENTSCHLÜSSELN. DIESER PIONIERGEIST INSPIRIERT UNS AUCH HEUTE NOCH, DIE REGELN DER FEINEN UHRMACHERKUNST STETS ZU HINTERFRAGEN. ROYAL OAK EWIGER KALENDER EDELSTAHL. NOVEMBER 7, 2015 TO JANUARY 23, 2016 GERWALD ROCKENSCHAUB MAAG AREAL NOVEMBER 21, 2015 TO JANUARY 23, 2016 VERNE DAWSON LÖWENBRÄU AREAL FEBRUARY 20 TO APRIL 30, 2016 ANGELA BULLOCH LÖWENBRÄU AREAL GALERIE EVA PRESENHUBER MAAG AREAL ZAHNRADSTR. 21, CH-8005 ZURICH TEL: +41 (0) 43 444 70 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60 OPENING HOURS: TUE-FRI 10-6, SAT 11-5 LÖWENBRÄU AREAL LIMMATSTR. 270, CH-8005 ZURICH TEL: +41 (0) 44 515 78 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60 OPENING HOURS: TUE-FRI 11-6, SAT 11-5 WWW.PRESENHUBER.COM APÉRO 22 O-TON DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT KRIEGER AUS DER ZUKUNFT Daniel HUG über die COFA Contemporary In Köln eröffnen wir am 19. November die COFA Contemporary. Ja, noch eine Kunstmesse! Aber nur mit 32 Galerien und alle aus dem Rheinland. Jeder Stand ist gleich groß. Es wird eine konzentrierte Messe parallel zur klassischen COFA. Natürlich wird es Überschneidungen mit der Art Cologne im April geben. Aber weil der Platz auf der COFA demokratisch verteilt ist, entsteht eine andere Atmosphäre. Auch, weil wir acht Projekträume dazwischenstreuen, die keine Miete zahlen. Bruch & Dallas aus Köln stellen eine Bank auf, als Treffpunkt für alle Künstler, die dort bereits eine Schau hatten. Der freie Kunstverein kjubh bietet Editionen von Gert und Uwe Tobias oder Cosima von Bonin an. Und die Künstlerinitiative New Bretagne aus Essen zeigt Werke unbekannter Künstler, die Mitglieder der Gruppe gekauft, geliehen oder gefunden haben. Keine Konkurrenz zur Art Cologne. Aber eine Stärkung für NRW! Auf dem Zenit der Ölkrise 1973 zeigte sich der superschnelle Countach von Lamborghini wie ein Kind der Sonne DER ERSTE PROTOTYP DES LAMBORGHINI COUNTACH, 1971 D as Leben ist grotesk, warum sollten es die Dinge um einen herum nicht auch sein? So dachte Traktorhersteller Ferruccio Lamborghini, als er 1962 beschloss, unglaubliche Sportwagen zu bauen. Warum? Weil er sich als Kunde vom damals schon legendären Enzo Ferrari ein wenig abgesnobt fühlte und weil Lamborghini auf inspirierende Art und Weise größenwahnsinnig war. Der im Sternzeichen des Stier geborene Norditaliener startete seine Himmelfahrtsexkursion mit einem Zwölfzylinder und taumelte in einen manieristischen Wahnsinn, der mit dem Countach in einer Idealform der Übertreibung, des haltlosen Futurismus und der selbstironischen Koketterie zu sich selbst kam. Countach ist piemontesischer Dialekt und wird herausgeschrien, wenn etwas „non plus ultra“ oder Edition des kjubh Kunstvereins: HANS-JÖRG MAYER Love Song, 2012 „superkrass“ ist. Drunter wollte es der Traktormann nicht machen. Und weil er auch sonst gern pokerte, musste er Anfang der 70er-Jahre zuerst seine Landwirtschaftssparte verkaufen, dann auch Teile seiner Angeber-Herzensangelegenheit. Er hatte sich überschätzt. Aber der Wahnsinn des Selfmademan hatte im Countach ein flottes Denkmal erhalten. Heroisch war nicht nur die kühne Keilform, sondern auch der Zeitpunkt der Premiere. Auf dem Genfer Auto-Salon 1973, direkt auf dem Zenit der Ölkrise, stand der Countach wie ein Kind der Sonne, ganz in einem metallischen Gelb lackiert, zwischen all der Konfektionsware der Konkurrenz. Hatte der elegante Miura noch den Schmelz der 60erJahre, war der Countach endlich jener Krieger, denn sich der Stierfanatiker Lamborghini stets wünschte: einen Krieger aus der Zukunft. Die Fahrleistungen des Countach waren spektakulär. APÉRO 23 Er sollte von Anbeginn zumindest auf dem Papier 300 km/h schnell sein. Wenige mutige Piloten wagten sich mit dem Keil in den Grenzbereich, schon der Miura war jenseits der 220 km/h ein Russisches Roulette. Einst auch auf dem Gebrauchtwagenmarkt verspottet, ist der Countach heute im Vintage-Handel ein Bluechip. Das hat auch mit seiner kulturellen Valorisierung zu tun. In dem grandios sinnlosen Raser-Epos Cannonball wird dem Countach, wüst mit Flügel verwuchert, in der Eingangsszene ein exzentrisches Denkmal gesetzt. Verglichen mit dem vulgären Musclecar der Polizisten erscheint der Botschafter europäischer Autohöchstkultur erhaben und obszön zu gleich: Wer Countach fährt, kann auch nackt durch die Fußgängerzone schlendern. Der Keil bringt den Schock des Kriegerischen in friedlich dekadente Zeiten. ULF POSCHARDT PORTRÄT WIE WAR ICH? Eine Beichte des Vaters wirft MIET WARLOP aus ihrem Mädchenleben. Quentin Tarantino und Thomas Hirschhorn treiben sie künstlerisch an. Heute gehören die Performances der belgischen Künstlerin zu den verwirrendsten Spektakeln zeitgenössischer Kunst APÉRO 24 E ine Café-Terrasse in der portugiesischen Stadt Porto. Kellner in weiß-goldenen Uniformen, Mittagsgeschäft. Ein regenfeuchter, tropfender Schirm. Unter dem Schirm die Künstlerin Miet Warlop. Schwarz gekleidet, Sneakers, den Kopf auf die Hände gestützt. Gleich um die Ecke liegt das städtische Theater Rivoli, in dem sie gestern ihr Erfolgsstück Mystery Magnet gezeigt hat und es heute Abend noch einmal zeigen wird. Ein knallbuntes Bilder-Spektakel, heißt es, ein farbenfroher Flow, bei dem Miet und fünf weitere Performer aus einer weißen Wand explodieren. So ungefähr? Miet verzieht den Mund, freundlich, nicht ganz zufrieden mit der Beschreibung. Dass wir uns in Porto verabredet haben, ist Zufall. Mystery Magnet wurde seit der Premiere 2012 fast 100-mal überall in MIET WARLOP Europa aufgeführt und 2014 zum Stückemarkt des Theatertreffens in Berlin eingeladen, danach in Singapur gezeigt. An der Universität in Gent zur bildenden Künstlerin ausgebildet, hat die Belgierin bereits mit ihrer Abschlussarbeit 2004 Performance-Theater gemacht: Huilend Hert/Aangeschoten Wild, in einem riesigen Raum unter Billardlampen platzierte Darsteller, ein Tableau vivant, ein lebendes Bild. Solche Lebendbilder sind ein Leitmotiv ihrer Arbeit, die visuellen Elemente transformieren sich ständig. Nichts ist, wie es scheint. Farbe wird zu Blut, Stoffe sind Eingeweide, Bilder werden Theater, das Begehren verwandelt sich in einen Menschen und wieder zurück. Man kann das kunstkritisch einordnen, Performance und Theater unterscheiden, Geschlechterkritik aufzeigen, die visual culture abklopfen. Oder? Miet Warlop wiegt den auf die Hände gestützten Kopf. Sie weiß, dass sie beobachtet wird. Das stört sie aber nicht. Was sie manchmal stört, sind Begriffe. Und doch nochmal zurück zu Feminismus, Theater, Gender … Ein Kellner bringt Mittagessen. Vielleicht ist es ihrer gut gelaunten Müdigkeit geschuldet – oder doch eher der Abneigung gegen sich wiederholende Fragen? Jedenfalls zerreißt Miet ohne Vorwarnung das vorsichtige Band des Kennenlernens. „Als ich 18 wurde, hat mein Vater mir erzählt, dass er eigentlich auf Männer steht, was meine Mutter natürlich schon wusste. Das war der Moment, in dem ich bewusst angefangen habe, Dinge und Menschen zu hinterfragen. Was ich damals erlebt habe, ist stärker als das, was ich mit dem Wort Gender verbinde.“ Papas Beichte kippte das tragende Familiengebilde, stellte das Selbstverständnis auf den Kopf. Man darf das so vorsichtig formulieren, da Miet das nicht nur als Realitätszerstörung, sondern auch als Geburtsstunde ihrer Kunst begreift. So wird man erwachsen – und Miet ist so Künstlerin geworden, irgendwie. Ein paar Jahre später begeht ihr älterer Bruder Selbstmord. Der Tod sei tragisch genug, an Miet nagt allerdings die Frage: „Warum hat er mich nicht eingeweiht, obwohl wir uns so nahestanden?“ Sie schweigt. Und dann relativiert sie, was sie gerade erzählt hat: „Man soll jetzt nicht glauben, dass ich Kunst mache, APÉRO 25 AUFTAKTSEITE UND OBEN: MYSTERY MAGNET, 2012, PERFORMANCE weil meine Familie so ist, wie sie ist. Wenn man spricht, wird es immer einseitig. Worte erzwingen eine Festlegung.“ Trotzdem redet sie gerne, mit tiefer, rauchiger Stimme, von eckigen Gesten begleitet. Sie zappelt, aber sie zappelt kontrolliert, sie steht seit Jahren auf der Bühne, sie weiß, was ihr Körper tut. Sie wird gerne angeschaut, sie wird schnell sauer, sie lacht weniger, als man vermuten würde. „Ich bin kein Mädchen mehr, das musste ich erst mal verarbeiten“, sagt die heute 37-Jährige. Damit beschäftigt sie sich in ihrer jüngsten Performance, der Solo-Show Dragging the Bone. Sie hat schon viel gemacht, ist keine Anfängerin mehr, aber noch nicht so bekannt, dass alle Geschichten schon erzählt, alle Bezüge genannt wären. Zumal sie auch selbst dafür sorgt, dass man sie nicht perfekt einordnen kann. Das ist weder Disco noch Achterbahn, sondern ein Alptraum Sie hat beispielsweise vom illustrativ-witzigen Künstler Erwin Wurm und vom politisch-intellektuellen Thomas Hirschhorn gelernt. Ja, das geht … Wer oberflächlich zu Mystery Magnet recherchiert, erwartet ein farbenfrohes Gag-Spektakel, „Disneyland auf Acid“ oder „Piff-Paff-Puff“, wie ein Theaterkritiker 2014 zum Anlass der Stückemarkt-Aufführung titelte. Tatsächlich gibt es jede Menge Farbe und Witz, man kann die Performance technoid oder partymäßig nennen, sie beginnt mit einem anschwellenden heart beat und einer unsichtbaren quakenden Stimme, die sich ganz offensichtlich Helium reingezogen hat. Man hört sogar noch den Heliumballon furzen. Das Publikum ist jung, da freut sich DRAGGING THE BONE, 2014, PERFORMANCE die alte Theaterinstitution. Aber Mystery Magnet ist weder Disco noch Achterbahn, sondern ein Albtraum, in dem man – kreisch, blutspritz – kurz mal mit den Fingern an die Wand getackert, überfahren, aufgeschlitzt wird. Diese Drastik ist Teil unserer visuellen Kultur, Stichwort Tarantino. Wichtiger noch: Miet hat das Stück entwickelt, als sie vor einigen Jahren in Berlin lebte, kaum Anschluss an die Kunstszene fand und in einer übergriffigen Beziehung feststeckte. „Was die Zuschauer an Mystery Magnet fesselt, sind nicht die sichtbaren Bilder, sondern die Energien, die unsichtbar bleiben.“ Das betont Miet immer wieder. Aber was ist diese unsichtbare Energie? Eine Logik der Grausamkeit vielleicht. Sie ist dem ganzen Stück, sie ist der weißen, zaubertricksenden Horrorwand eingebaut. Der fette Mann, der zu Anfang auf der Bühne sitzt, zettelt das Grauen an, indem er ein an grünen Luftballons schwebendes Mädchen mit einem Luftballon fesselt. Oder wird der Mann von dem dumpfen Mechanismus der Wand gelenkt? Das Vertraute trägt nicht, dafür schützt plötzlich das Seltsame. Der Mann, der einzige in dieser Show, der ein Gesicht hat, steckt mit dem Kopf zuvorderst in der bedrohlichen Wand, als die Handlung brutal wird. Er muss das nicht mit ansehen. Die anderen Darsteller verstecken ihr Gesicht hinter Haaren, hinter riesigen bunten Perücken. Sie entpersönlichen, entmenschlichen – aber schützen auch: Als Miet durch die Wand kracht, passt die pinkfarbene Perücke auf ihr Gesicht auf. Am Ende der Show, nachdem zombiehafte Trockenmasken durch Mark und Bein röcheln, bleibt auf dem Bühnenbodenschlachtfeld ein riesiges abstraktes Gemälde zurück und die Performer fangen nach der Verbeugung das Aufräumen an. Das Schlachtfeld wird zum dreidimensionalen Gemälde, das Gemälde wird aufgeräumt. Transformation. Hinterher in der Garderobe zischen die adrenalingekitzelten Performer das erste Bier, duschen, kratzen die Farbe unter den Nägeln heraus. In jeder Garderobe dieser Welt gibt es den typischen „Und, wie war ich“Moment. „Und?“, fragt Miet, im mintgrünen Bademantel, zerlaufene Schminke, Zigarette. Auf die Antwort hin, dass das doch eine sehr grausame Angelegenheit sei, was sie da auf die Bühne APÉRO 26 gebracht habe, beschwichtigt sie sofort. „Ach Quatsch“, sagt sie. „Let’s have dinner.“ Dass sie ihre lebendigen Bilder im Theater präsentiert, allermeist ein staatlich geförderter Schutzraum, der zu den größten Errungenschaften der Kultur zählen mag, gleichzeitig aber auch etwas Verschnarchtes hat, ist eher Zufall. Für ihre Abschlussarbeit Huilend Hert hat sie keinen Kunst-, sondern einen Theaterpreis bekommen. Deshalb hat sie sich in diese Richtung orientiert. Sie sieht das Ganze pragmatisch, konzipiert ihre Stücke in einem großen Atelier in Belgien wie eine bildende Künstlerin, führt sie auf wie eine Performerin, wird aber wie eine Autorin oder Regisseurin bezahlt. Bei Miet geht es um Handlung, aber mehr noch um Bilder. Tableaux vivants eben, die auch in Kunstgalerien passen. Bezeichnend, dass ihr aktuelles Dragging the Bone unter anderem vom Pariser Centre Pompidou und vom Hebbel am Ufer-Theater in Berlin koproduziert wird. Trotzdem: Theatrale Institutionen haben sich bislang eher für Miets Materialschlachten geeignet als etwa Museen. Bei Dragging the Bone, ein monochromer, minimalistischer Gegenentwurf zu Mystery Magnet, bei dem jede Menge trockener Gips durch die Luft staubt, war die Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou nicht immer unproblematisch. Warum? „Die hatten Angst, dass der Staub in die Lüftung gelangt und sich auf den anderen Kunstwerken verteilt“, sagt sie und ist in Gedanken schon woanders. „And now for something completely different“, wie es bei Monty Python heißt. „Ich suche dringend einen Manager! Kennst du jemanden?“ TEXT: SIMON ELSON Julian Schnabel Jack Climbed up the Beanstalk to the Sky of Illimitableness Where Everything Went Backwards. APÉRO 27 October 19 —November 14, 2015 ALMINE RECH GALLERY PARIS BLITZSCHLAG FUSSBALL IST NICHT DIE GRÖSSTE KUNST Es ist ein Augenblick der Gewissheit: Dieses Kunstwerk trifft mich im Kern. Günter Netzer über den einzigen Fotografen, ch habe mich schon immer den er nicht von meinem Bauchgefühl leiten lassen. Fast scheint es für einen mir, als sei der Verlauf meines Lebens fremdbestimmt gewePaparazzo hält sen. Anders sind mir die Dinge I schlichtweg nicht erklärbar, die ich erlebt habe. Erst in der Rückschau fügt sich nun alles ineinander. In den 60er-Jahren hatte ich das erste Mal Kontakt zur Kunst. Ich sah Werke von A. R. Penck und Sigmar Polke in der Wohnung von Michael Werner. Damals war ich noch professioneller Fußballspieler und wollte mich von nichts ablenken lassen. Und so kam es, dass Sigmar Polke irgend- wann über mich sagte: Das ist doch der, der die ganze Zeit nur Coca-Cola trinkt. Meine Frau aber war der Kunst schon damals zugetan. Ich bewundere sie für diese Begeisterungsfähigkeit – bis heute. Einer jener Künstler, die meine Frau schon seit vielen Jahren intensiv begleitet, ist Andreas Gursky. Ich selbst hatte immer ein entschieden gespaltenes Verhältnis zu Fotografen ANDREAS GURSKY Rückblick, 2015 GÜNTER NETZER im Museum Frieder Burda, fotografiert von LOTTERMANN AND FUENTES und kannte sie vor allem als Paparazzi, von denen ich der Meinung war, sie wären stets zur falschen Zeit am falschen Ort. Von Gursky jedoch wurde mir erzählt, er wäre leidenschaftlicher Fußballfan, was natürlich nur meine Zustimmung finden konnte und ihn mir gleich sympathisch machte. Über Rolf Sachs lernten wir uns persönlich kennen und sind uns in vielen Gesprächen nahe gekommen. Heute hat der Fußball in meinem Leben an Bedeutung verloren. Und so überrascht es nicht, dass mich die Kunstbegeisterung erst jetzt so richtig packt: vor einem Bild wie Rückblick von Andreas Gursky. Er hat mich früh gefragt, was ich von der Idee eines großen Kanzlerbildes halten würde. Diese Männer und eine Frau, die Großes für unser Volk APÉRO 28 geleistet haben, aus derart ungewohnter Perspektive zu porträtieren, überzeugt sofort. Gurskys Bild ist so außergewöhnlich komponiert, dass ich schon fast nicht mehr von einer Fotografie sprechen möchte. Wenn ich auf diese vier Köpfe von Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Angela Merkel und Helmut Kohl blicke, sehe ich ein zeithistorisches Stück gemalter Fotografie, das meine Frau wohl zu Recht an Barnett Newman erinnert. Ich habe nie behauptet, die Werke, die mich faszinieren, wirklich zu verstehen und ich bin klug genug, dies in Zukunft nicht zu tun. Aber ich habe Respekt vor dem, was Künstler leisten und erschaffen. Ich zähle das Werk von Andreas Gursky ohne jede Einschränkung zum Größten in der Kunst. Porsche Design AUS LEIDENSCHAF T ZUM RENNSPORT: CHRONOTIMER COLLECTION A L L E S , W A S M Ä N N E R B E W E G T. Willkommen in der Welt von Porsche Design. Eine Welt, die seit jeher von ihrer Leidenschaft für Innovation angetrieben wird und so für immer zeitlos jung bleibt. Eine Welt, in der richtungsweisende neue Materialien, innovative Technologien und feine funktionale Eleganz in einem exklusiven zeitgenössischen Design zum Einklang finden. Einige nennen das Luxus? Wir nennen das die Konzentration auf das Wesentliche, mit Blick auf eine zunehmend herausfordernde Zukunft. www.porsche-design.com APÉRO 29 UM DIE ECKE PETIT SABLON BRÜSSEL Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. In Brüssel geraten wir in einen Friseursalon für Prinzessinnen, erfahren von schrägen Bastel-Vorlieben und neuen weißen Zellen D ie Herbstsonne gießt ihr warmes Licht auf den Square du Petit Sablon. Friedlich sieht er aus, der kleine Platz mit den geputzten mittelalterlichen Häusern, eine Oase mitten in der Altstadt von Brüssel. Ja, Brüssel: diese zerrupfte EU-Stadt, von der man kein inneres Bild zeichnen kann. Die eigentlich keiner so richtig kennt. Den meisten fällt dazu nur Lobbyismus und Manneken Pis ein, vielleicht noch Schokolade und Comics. Dabei ist Brüssel ständig in Bewegung. Voller Widersprüche und Seltsamkeiten. Es ist die zentralste und internationalste Stadt Europas – in kaum zwei Stunden ist man in Paris, London, Amsterdam, Köln. Jeder hier spricht mehrere Sprachen. Die Straßen tragen zwei Namen, einen flämischen und einen französischen. Es gibt schroffe, abrupt auftauchende Neubauten, Resultate der „Bruxellisation“, mit der sich die Stadt in ihre EU-Rolle warf und ganze Altbauzeilen plattmachte, so dass sie nun zerwürfelt aussieht. Doch Brüssel ist auch traditionsbewusst. Es gibt viel adliges Geld. Aber auch Migranten, die nicht aus der EU kommen. Vor allem um den Bahnhof herum. Am Petit Sablon, oder auch: „Kleine Zavel“, ist die Welt in Ordnung. APÉRO 30 Wer sich umsieht zwischen den prächtigen, aber auch sehr verschlossenen Fassaden, erinnert sich vielleicht, dass hier früher alles voll war mit Händlern für Kunst aus Afrika und Antiquitäten. Heute sind die meisten verschwunden. Heute hat Brüssel einen Zulauf von Künstlern und Galerien, bei dem Berlin nicht mehr mithalten kann. Die meisten liegen südlich vom Sablon, in einer edlen Wohngegend – Xavier Hufkens und Almine Rech sind dort die Platzhirsche. Und hier? Hinter dem kleinen Schaufenster eines Backsteinhauses entdecke ich ausgestopfte Papageien, mit Holzklötzchen gefüllte Toten- köpfe, Halskrausen unter Glasglocken, als wäre das die Dachkammer aus der Unendlichen Geschichte. Ein Herr mit schwarzem Schnauzbart und Pullover lässt mich herein. Er nickt gemütlich, die Hände in den Taschen, sein Name ist Jean-Pierre Laurent. Er kennt die staunenden Gesichter von Touristen, die vom berühmten Antikenflohmarkt am Grand Sablon kommen, von Filmausstattern und treuen Liebhabern seiner, wie er es nennt, „Antiquitäten“. Ganze Sammlungen von Schmetterlingen und Korallen kauft er und kombiniert sie gemeinsam mit seiner Frau zu surrealen Gebilden. Eigentlich sei er Industriemodellbauer, sagt Monsieur Laurent. Zur Erklärung holt er von hinten ein Foto, das irgendeine Anlage zeigt, rote Leitungen ziehen sich daran wie Nervenbahnen empor. Der Beruf sei heute überflüssig. Nun setze er keine Rohre mehr zusammen, sondern Antiquitäten. Dagegen erstrahlt im Nachbarhaus ein Fenster in gleißendem Weiß, am Boden eine große Muschel auf Rädern. Es ist der neue, bereits zweite Raum der Londoner Galerie MOT International in Brüssel. Sie vermischt 80er-Neoexpressionismus von Helmut Middendorf mit der angesagten Videokünstlerin Laure Prouvost. Nach Brüssel kam sie, weil die Mieten sogar in der Altstadt bezahlbar sind – und wegen der vielen Sammler. Von den niedrigen Steuern für Reiche werden sie auch aus Frankreich angelockt. „Jean-Luc au Sablon“ lese ich nebenan auf einem Schild aus Silber. Wer ist dieser Mann, der den Namen seines Standortes trägt? Eine rundliche Frau im Blümchenkleid reißt die Tür auf. „Sie haben jetzt einen Termin zum Färben, stimmt’s? Kommen Sie, kommen Sie!“ Sie winkt hinein in den Friseursalon, der aussieht wie die Edelgarderobe einer Diva aus Kolonialzeiten. Auf einem Tisch liegt eine Kollektion aus Ringen und Armreifen: goldene Fassungen mit großen, bunt schimmernden Steinen – JeanLucs Eigenkreation. Daneben eine Vitrine mit Vintage-Schmuck von Chanel. Und dann die Friseursessel: mit Leopardenmuster bezogen. Einer steht wie ein Thron im Separee. „Unsere VIP-Lounge“, erklärt ein Mann, es ist Jean-Luc Lorenzetti. „Dort werden die Damen aus dem Königshaus frisiert.“ Wer genau, verrät er nicht. Diskretion gehört zum Geschäft. Ich stelle mir eine Prinzessin unter der Trockenhaube vor. Die Rue aux Laines ist eine vornehme Straße. Im Eckhaus liegt die Galerie Patrick APÉRO 31 DIE BEWEGTE STADT BEI JEAN-PIERRE LAURENT HEISSEN SCHMETTERLINGE ANTIQUITÄTEN (GANZ LINKS), ERIC GILLIS (MITTE) VERKAUFT JAMES ENSOR HINTER EDELFASSADEN. BARBARA GLADSTONE BILDET DIE SPEERSPITZE DER NEUEN GALERIEN UND RESIDIERT AM EGMONTPARK Derom, eine der wichtigsten Adressen für Symbolismus und Nachkriegsmoderne. Sie residiert seit 1986 am Petit Sablon. Gegenüber ist letztes Jahr Eric Gillis eingezogen. Eine junge Frau mit langen dunkelroten Haaren fängt fröhlich an zu erzählen, was, sagen wir mal, in einer New Yorker Galerie undenkbar wäre, wenn man eindeutig nichts kaufen will. Ein Eames-Stuhl vor buntem Jugendstilfenster, eingefasst von hohen Bücherregalen, der Blick geht in den Garten. An den Wänden ein Cézanne-artiges Stillleben von James Ensor und düstere Tintenzeichnungen von Léon Spilliaert, dem belgischen Symbolisten. Alles wirkt konzentriert. Wie finden die Kunden hierher? „Die Straße ist ruhiger, seit die meisten Antiquitätenhändler fort sind – die Leute kauften plötzlich lieber Kunst statt Silberbesteck. Nun ziehen die Galerien her.“ Den Trend hat Barbara Gladstone gesetzt. Die Dependance der New Yorker Großgalerie liegt auf der anderen Seite des kleinen Egmontparks. Zwischen Bronzestatuen und uralten Bäumen sitzen Büromenschen beim Lunch auf der Orangerieterrasse. Dahinter erhebt sich ein Wolkenkratzer. KUNST IST DIE NEUE KOLONIE AM SQUARE DU PETIT SABLON HAT DIE LONDONER GALERIE MOT INTERNATIONAL (RECHTS) GERADE IHREN ZWEITEN RAUM IN BRÜSSEL ERÖFFNET. NEBENAN FRISIERT JEAN-LUC LORENZETTI BELGISCHE PRINZESSINNEN IM SEPAREE (LINKS). CHRISTINE DE SCHAETZEN (RECHTS UNTEN) STREBT IM AUKTIONSHAUS LEMPERTZ DAS GESCHÄFT MIT DER ZUKUNFT AN In die elegante Stadtvilla der Galerie trete ich über Bodenmosaiken ein. Mit den lackierten Holztreppen ist sie das Gegenteil der Kühlschrankarchitektur, wie man sie aus Chelsea kennt. Barbara Gladstone, eine der wichtigsten Galeristinnen überhaupt, ist berühmt für ihr knallhartes Kalkül, aber auch für ihren scharfen Blick. Früh vertrat sie Kai Althoff oder Anish Kapoor, als der noch keinen Kitsch produzierte. Seit die Brüsseler Räume 2008 eröffneten, reist die Galeristin zu jeder Ausstellung an, dann wohnt sie im obersten Stock. Warum Brüssel und warum ausgerechnet hier? Eine Mitarbeiterin sagt: „Brüssel liegt superzentral. Unsere Künstler waren hier noch nicht vertreten. Die belgischen Sammler sind kenntnisreich, gehen nicht mit jedem Trend. Die Lage ist perfekt. Alle großen Modemarken liegen um die Ecke, das Auktionshaus Lempertz nebenan.“ In der schmucken Art-Nouveau-Villa aus dem Jahr 1901 sitzt Christine de Schaetzen hinter einem raumfüllenden Schreibtisch. Er ist mit rotem Filz bedeckt, Kataloge stapeln sich darauf. „Vor einem Jahr wurde alles denkmalgerecht renoviert“, erklärt die Direktorin im schmalen kurzen Kleid. An ihren Ohren und Händen blitzen Steine. Sie wirkt sehr aufrecht. „Nun sind wir die Vitrine unseres Haupthauses in Köln.“ Lempertz sitzt seit 1985 in Brüssel. Jedes Jahr gibt es drei Auktionen, zwei für Afrikanische und nun auch eine für Zeitgenössische Kunst. Das Geschäft läuft gut – vielleicht bald besser als in Deutschland, wo das geplante Kulturgutschutzgesetz den Handel schon jetzt ins Ausland treibt. Wir nehmen eine knarzende Treppe ins Kellerdepot. Am Boden ist eine Holzkonstruktion ausgepackt, darauf hocken affenähnliche Figuren mit Haarbüscheln. Die Kunsthistorikerin wiegt den Kopf, das sei wohl aus dem südostasiatischen Raum. Tribal Art ist nicht ihr Fachgebiet, sie blickt lieber in die Zukunft. Die Avantgarde findet allerdings woanders statt: Im Blickfeld des klassizistischen Monstrums von Justizpalast steht ein elegantes Haus mit Säulen. Früher wurden hier Gesetzesbücher gedruckt und verkauft. Seit APÉRO 32 letztem Jahr ist es Symbol für die neue Brüsseler Kunstszene. In jedem der drei Stockwerke sitzt mindestens eine Galerie – im Vorderhaus die großen Namen Micheline Szwajcer und Jan Mot, der in den ehemaligen Buchladen eingezogen ist. Über samtbezogene Stufen schleicht man in einen Raum, wo die alten Regalwände bis unter die Decke reichen. Gerade ist alles dunkel, es läuft ein stiller Film der Niederländerin Manon de Boer. Im Hinterhaus, wo früher die Druckwerkstätten lagen, führen schmale Stahltreppen zu den jüngeren Kollegen. Bei Patrick Waldburger glänzt schwarzmetallisch ein alter Lastenaufzug in der Ecke, auf rohen Dielen sprießt eine Parklandschaft von Xu Zhen, „dem ersten chinesischen Konzeptkünstler“, wie der Galerist erzählt. Da treibt ein Windstoß Herbstblätter am Fenster vorbei. Golden leuchten sie auf – und verschwinden. TEXT: GESINE BORCHERDT FOTOS: VINCEN BEEKMAN ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT WIR VERBINDEN FOTOGRAFIE MIT 700 JAHREN KUNSTGESCHICHTE. Mit der DZ BANK Kunstsammlung, der größten Sammlung ihrer Art für zeitgenössische Fotokunst, machen wir Kunst seit über 20 Jahren für alle erlebbar – mit Ausstellungen in unserem ART FOYER und durch die langjährige, erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Städel Museum, der ältesten Museumsstiftung Deutschlands mit Werken aus 700 Jahren europäischer Kunstgeschichte. Wir freuen uns, dem Städel in diesem Jahr als Hauptsponsor einer Jubiläumsausstellung zu seinem 200-jährigen Bestehen gratulieren zu dürfen. Mehr unter » www.dzbank.de Die Uffizien sind eine ganz eigene Kategorie. Es ist eines der berühmtesten und ältesten Museen der Welt. – Ja, seit dem 18. Jahrhundert haben hier einige der bedeutendsten italienischen Gelehrten als Chef amtiert. Die allermeisten kamen direkt aus der Toskana, also nicht einmal Römer oder Neapolitaner wollte man in den Uffizien haben. Wenn ich nun im November als erster Ausländer überhaupt dieses Amt antrete, dann kann man sich vorstellen, dass viele Italiener meine Arbeit sehr kritisch beäugen. INTERVIEW EIN DEUTSCHER FÜR ITALIEN EIKE SCHMIDT, der neue Direktor der Uffizien, verrät BLAU, was er am schönsten Arbeitsplatz der Welt vorhat Herr Schmidt, mit Ihrer Ernennung zum neuen Direktor der Uffizien sind auch noch andere Ausländer auf wichtige Museums-posten in Italien berufen worden, allein drei deutsche und zwei österreichische Kollegen. Erleben wir da eine Invasion ausländischer Experten ins Mutterland der Kunst? – So würde ich es nicht sehen. Es sind auch vier Italiener dabei, die vorher im Ausland Karriere gemacht haben. Das ist für mich das eigentliche Signal: In Italien bekommt man nicht mehr nach langem Warten in den Institutionen einen Chefposten, sondern wenn jemand sich die Sporen auf dem internationalen Markt verdient hat. Aber Florenz ist kein Neuland für Sie? – Nein, ich habe von 1994 bis 2001 in Florenz gelebt, erst als Stipendiat, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut. Ich bin mit einer Italienerin verheiratet, spreche die Sprache. Und ich kenne sehr wohl die typische Mentalität der Florentiner. Mit ihrem Sarkasmus sind sie mindestens so direkt und scharfzüngig wie die Leute in Berlin oder New York. Was wollen Sie anders machen als ihre Vorgänger? – Vor allem möchte ich die Technikbegeisterung aus Amerika in Italien nutzbar machen. Wir haben am Museum in Minneapolis vor sechs Jahren die Besucher mit einem Begleitprogramm auf dem iPad ausgestattet. Videos, Computeranimationen gehören sowieso dazu. Das ist jetzt schon fast wieder veraltet, jetzt können sich die Besucher ihre Infos per App aufs Smartphone laden. sich der Interessierte auf Schildern über die Werke informiert, oft hängen die Beschriftungen tief, sind schwer lesbar und richten sich eher an Experten, die gerade eine Examensarbeit über den Künstler schreiben. Das geht so nicht mehr. Es gab viel Kritik an den neuen Sälen der Uffizien, die beim Umbau jetzt nach und nach eröffnet werden. – Man monierte die bunte Farbgebung, die Enge. An der Enge der historischen Räume kann man wenig ändern. Und ich weiß, wie passioniert der bisherige Direktor Antonio Natali – ich schätze und bewundere ihn sehr – an der Auswahl der Farben gearbeitet hat. Der Trend zu den bunten Wänden fing im Louvre der 80er-Jahre an, und er passt eigentlich gut zu den Uffizien, denn diese Tonalität stammt aus dem 18. Jahrhundert – also aus der Zeit, als die Sammlung zuerst als Museum dem Publikum geöffnet wurde. Ich will da jedenfalls flexibel sein und nicht dogmatisch. So etwas sollte man von Fall zu Fall neu entscheiden, wenn jetzt beim Ausbau neue Säle dazukommen. Die Uffizien sind ja nicht nur das meistbesuchte Museum in Italien, sondern im Verhältnis zur Grundfläche auch das vollste Museum der Welt … – Daran kann man sehr wohl etwas ändern. Bisher müssen die fast zwei Millionen Besucher pro Jahr von der Schlange an einer Eingangskasse auf einem festen Parcours durch die rund 50 Säle hindurch. Von der Das gibt es in Italien so noch nicht? vorgegebenen Marschroute – Nein, kann man nicht gerade können auch die Leute nicht sagen. Hier erwartet man, dass abweichen, die eigentlich genug APÉRO 34 ENT WURF: R AHLWESPIE TZ ABB.: STUDIE FÜR BILD 25.08.2015 GALERIE BÄRBEL GRÄSSLIN Schäfergasse 46 B, 60313 Frankfurt am Main Phone + 49 69 299 24 67 0, www.galerie-graesslin.de gesehen haben, die müde sind und nur noch den Ausgang suchen. Diese Gruppen laufen dann noch kilometerweit durch Säle, in denen sie nur die anderen Besucher stören. Was kann man gegen den kunsthistorischen Massentourismus tun? – Wir haben in den Uffizien zwei Hauptflügel und können hier schon mal die Massen trennen und auf zwei unterschiedlichen Parcours durchs Haus leiten. Und selbst da könnte man noch über Nebenausgänge und Treppen Leute wieder ableiten und Wahlmöglichkeiten schaffen. Erfahrungsgemäß ist es jetzt schon in den letzten Sälen viel leerer, während die einzigartige Malerei des Mittelalters und der Frührenaissance immer überfüllt ist, weil sich am Anfang die Gruppen stauen. „Wir benötigen keine Neubauten und Werbung. Die Uffizien kennt jeder“ Kunstwerk ist, sich alle durch einen Flaschenhals drängen müssen. Es geht in Florenz nicht wie beim viel größeren Louvre, wo die Massen sternförmig ausschwärmen können. Doch wir dürfen den Besuchern ruhig eine größere Freiheit geben. Ich bin überzeugt, wenn wir jetzt mit den Architekten sprechen und das Museum anders begehbar machen, haben wir das größte Problem beseitigt. Wieso auch müssen immer endlose Schlangen draußen stehen und potenzielle Besucher abschrecken, wenn wir das anders regeln können? Viele italienische Kritiker haben geunkt, dass mit einem jungen Direktor aus dem Ausland jetzt das schrankenlose Sponsoring in den Uffizien losgeht … – Bestimmt nicht. Man sollte da behutsam vorgehen. Was würde es denn nutzen, wenn wir jetzt irgendeinen Multinational als neuen Großsponsor vorstellen und damit die lokalen Spender und Gönner in den Schatten stellen? Das lokale und regionale Umfeld in der Toskana muss jeder Direktor sehr vorsichtig pflegen. Und die Räume der Uffizien, die von den Besuchern schwer beansprucht sind, kann ich keineswegs nach Belieben abends für Partys und Empfänge vermieten. Aber die italienische Politik, allen voran Premierminister Renzi, der aus Florenz stammt, erwartet mehr Einnahmen aus Marketing und Sponsoring. – Wir haben da wunderbare Möglichkeiten mit dem riesigen Palazzo Pitti auf der anderen Der neue Herr über den Florentiner Bilderschatz: Eike Schmidt, geboren 1968 in Freiburg Sie wollen also in den Uffizien Bypässe legen? – Wenn Sie so wollen. Ich sehe jedenfalls nicht ein, warum in diesem hochsensiblen Bau, der selber ein historisches Arnoseite, der samt den Boboli-Gärten jetzt mit den Uffizien unter meiner Leitung vereinigt wird. Da gibt es herrliche Säle, die höchstens einmal für Sonderausstellungen genutzt werden, Theater, Gartenflächen. In diesem noblen Ambiente haben die toskanischen Modeschöpfer in den 50er-Jahren ihre Catwalks aufgebaut. Damals spielte Florenz weltweit eine Vorreiterrolle im Public-Private-Partnership. Im Palazzo Pitti ist Florenz als Stil- und Modemetropole etabliert worden. Wenn ich an diese Tradition anknüpfen kann, dann ist das nicht nur einträglich, sondern brach liegende Räumlichkeiten werden wieder mit Leben erfüllt. Bisher haben alle Direktoren die Uffizien auch für Ausstellungen genutzt – bis hin zu Gegenwartskunst. – Das soll auch so bleiben. Zudem haben wir die größte Galerie von Künstlerselbstporträts weltweit. Die werden an den Uffizien seit dem 17. Jahrhundert gesammelt. Diese Sammlung wächst weiter mit bedeutenden Erwerbungen der Gegenwartskunst. Zuletzt sind noch Werke von Bill Viola und Vanessa Beecroft dazugekommen. So etwas müssen wir sichtbar machen. Digitalzeitalter müssen sensible Gemälde nicht so oft reisen; die kann sich jeder auf dem Computer anschauen. Darum werden wir auch die digitale Präsentation ausbauen. Wie waren denn so die Reaktionen in Ihrem Umfeld nach der Ernennung? – In den italienischen Medien gab es zum Teil sehr kritische Stimmen gerade in den sehr linken und den sehr rechten Publikationen. Kann das ein Ausländer überhaupt? Muss es unbedingt ein Deutscher sein, wenn die Deutschen sonst in Europa immer mehr das Sagen haben? Bei so viel Zurückhaltung war es dann sehr schön, dass mir auch italienische Kollegen, Kunsthistoriker, aufrichtig zum neuen Posten gratuliert haben. Keine Befürchtungen vor der wachsenden Deutschfeindlichkeit, die sich zuletzt bei der Eurokrise in Italien breitmachte? – Überhaupt nicht. Davon ist in Florenz und in meinem Umkreis nichts zu spüren. Als ich jetzt in Florenz war, haben mich sogar Italiener auf der Piazza della Signoria erkannt und angesprochen: „Sie sind doch der künftige Direktor der Uffizien aus Germania?“ Und augenscheinlich waren sie sehr zufrieden. Und für all das brauchen Sie Das hat mich dann doch nicht den praktischen Neubau gefreut. Vielleicht machen sich der Uffizien zwischen Autobahn ja auch in Italien immer mehr und Flughafen, wie ihn italieni- Leute klar, dass eine Institution sche Kunsthistoriker provokant wie die Uffizien über das Land, gefordert hatten? ja über Europa hinausstrahlt. – Definitiv nicht. Wir benötigen Und dass die Mehrzahl der keine Neubauten und auch Besucher längst nicht mehr aus keine aufwendige Werbung Italien kommt. Warum also im Ausland mit Sonderschauen, der Direktor? wie das weniger bekannte Sammlungen machen. Die INTERVIEW: DIRK SCHÜMER Uffizien kennt jeder. Im APÉRO 36 #,""$&! "!%##% +% ' ×$*! $! (" #!$!!"$(" #$$% &%" 2. Julian Schnabel, 1981 in seinem Atelier neben The Mutant King, fotografiert von Hans Namuth Julian SCHNABEL Kein zweiter Künstler wurde in den 80er-Jahren so verehrt und gehasst wie er. Und keiner hatte mehr Selbstvertrauen: Julian Schnabel verglich sich selbst mit Picasso und schrieb mit 36 Jahren seine Autobiografie. Dann kamen die Neunziger und plötzlich stand er für alles, was man am vergangenen Jahrzehnt schon immer nicht gemocht haben wollte. Im tiefsten Karriereloch erfand er sich neu – als Regisseur. Vierzig Jahre nach seinen ersten Arbeiten schaut Schnabel jetzt auf ein Lebenswerk zurück, das eine ganze Generation neuer Maler inspiriert. Und das trotzdem noch immer auf seine Wiederentdeckung wartet. Ein Besuch beim berühmtesten unbekannten Künstler der Welt. Von Cornelius Tittel JANE BIRKIN #2 1990, Öl, Gesso (Gipsmasse) auf Segeltuch, 488 × 793 cm I mmerhin, der Maler und der Autor dieser Zeilen haben etwas gemeinsam. Beide haben Plattfüße. Doch während es der Autor seit Grundschultagen mit Einlagen probiert, weiß der Maler bis heute nicht, was ein orthopädischer Schuster ist. Er geht seinen Weg, ohne sich abzurollen, meist in ausgetretenen Vans mit offenen Schnürsenkeln, was umso erstaunlicher ist, als er nicht nur sein eigenes Gewicht, sondern auch das der Kunstgeschichte auf seinen Füßen trägt. An diesem Spätsommertag in den Hamptons, ganz oben in Montauk, wo auch Warhols Sommerhaus steht und die Wellen hoch genug zum Surfen sind, hat Julian Schnabel sie bislang geschont. Mittags hat er im Liegen gesprochen, im Schatten neben seinem Open-Air-Studio, das an einen SquashPlatz erinnert und über ein Sprungbrett mit dem tiefer gelegenen Pool verbunden ist. Nachmittags dann im Wasser, vor und zurück und von zwei Kirschbäumen geschützt, die auch dann Schatten warfen, als man kurz nicht sicher war, ob der Künstler weint oder sich nur die Augen reibt. Und dann vorbei an einer großen Holzskulptur, auf der Idiota steht, der Gang zu seinem Haus. Wie aus einer Edgar-AllanPoe-Geschichte ragt es schwarz und hölzern aus den Dünen. Schnabel nimmt die Stufen zur Veranda wie einer der Bären, die zuletzt in den 30er-Jahren hier gesichtet wurden, und denen man sich, so tapsig sie wirken mochten, niemals in den Weg gestellt hätte. Die Möwen kreisen, das Meer rauscht, die Abendsonne scheint. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, die Geduld des Malers anzutesten. Kritiker hat er genug, aber was entgegnet er denen, die behaupten, einen nicht unerheblichen Teil seines Werkes habe er sich bei Cy Twombly abgeschaut? Julian Schnabel zögert nicht. „Es ist immer ein Geben und Nehmen“, sagt er. „Cy kannte offensichtlich Jack the Bellboy, ein frühes Bild von mir. 25 Jahre später hat er einen ganzen Zyklus gemacht, der mein Motiv wieder aufnimmt. Es sind die Lepanto-Bilder, die heute in München hängen.“ Und als würde er Zweifel bei seinem Gegenüber spüren, hebelt er sich aus seinem verwitterten Gartensessel und sagt: „Komm.“ Dann steht man da, in seinem Wohnzimmer, und sieht zwei wunderschöne Twomblys. Von Angesicht zu Angesicht hängen sie und die Textfragmente auf beiden beginnen mit denselben Worten: „To Julian“. Ein paar Jahre vor Cys Tod sei er in Italien gewesen, erzählt er, ganz in der Nähe seines Hauses. Spontan sei er hingefahren, ohne sich groß anzumelden. Cy sei nicht da JACK THE BELLBOY / A SEASON IN HELL 1975, verschiedene Stoffe, RhoplexTM (Acrylbinder), Öl, Gips, Drahtgitter auf Leinwand, 183 × 122 cm gewesen, aber ein Assistent habe ihn hereingelassen. „Ich bin im Haus herumgelaufen, habe in jedes Zimmer geschaut. Meine Bilder, unser Tausch, waren im Schlafzimmer. Sie dort zu sehen, hat mich tief gerührt.“ Draußen dämmert es. Und hier drinnen, auf dem windschiefen Couchtisch zwischen den Twomblys liegt ein zerbeultes, sonnengebleichtes Taschenbuch. Es ist Der Herbst des Patriarchen von Gabriel García Màrquez. DIE KUNSTWELT FORDERT DEMUT Der Mann der jetzt zum Abendessen ruft, man darf das ruhig so hinschreiben, war einmal der berühmteste Maler der Welt. Andy Warhol ließ sich von ihm porträtieren, Bernard Picasso tauschte ein Bild seines Großvaters gegen studiofrische Ware. Und warum auch nicht? Hatte Schnabel nicht gerade eben erst einer Reporterin den schönen Satz diktiert: „I am as close to Picasso as you’re going to get in this fucking life“? So allgegenwärtig war er in den 80er-Jahren, dass das Magazin Artforum eine Coverstory REVUE 42 mit dem Titel Not about Julian Schnabel veröffentlichte, in der es am Ende natürlich doch wieder um Julian Schnabel ging. Dann kam der Kunstmarktcrash von 1990 und plötzlich stand Julian Schnabel stellvertretend für alles, was man an den 80erJahren schon immer nicht gemocht haben wollte – für große Egos und noch größere Gesten, für finanzielle Exzesse, für einen Geniekult, der jetzt, im Rückblick, so démodé wirkte wie die Armani-Anzüge von Richard Gere in American Gigolo. Der amerikanische Groß-Kritiker Robert Hughes erwählte Schnabel zu seinem bevorzugten Prügelknaben, seine deutsche Kollegin Isabelle Graw erkannte den „Erzfeind“ in ihm. Der Diskurs um Geschlechteridentitäten oder zum Ende der Autorenschaft hatte für Schnabel keine Verwendung – und wenn doch, dann nur als Antithese zu allem, was man eben so diskutierte. So nachhaltig verhasst war er, dass das Whitney Museum, das ihm noch 1988 eine Soloschau ausrichtete, 15 Jahre später ein geplantes Geschenk von Leonard Lauder ablehnte: Bones and Trumpets Rubbing Against Each Other Towards Infinity, eines seiner wichtigen frühen Scherbenbilder. Nicht, dass man sich um Schnabel allzu große Sorgen hätte machen müssen. Einige der reichsten Sammler der Welt, von Stavros Niarchos bis Peter Brant, hielten ihrem Freund die Treue. Seine Häuser blieben groß, die Bilder wurden noch größer. Nur, dass sich jetzt keine Museumsdirektoren mehr meldeten. „Nimm Nicholas Serota“, sagt Schnabel heute. „Er hat mich zu A New Spirit in Painting eingeladen, hat mit mir eine große Einzelausstellung in der Whitechapel Gallery gemacht. Und von einem Tag auf den anderen meldet er sich nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt weiß, was ich in den letzten 25 Jahren gemacht habe.“ Es beginnt der zweite Akt seiner Karriere. Schnabel hört auf, exklusiv mit Galerien zu arbeiten und wird sein eigener Händler. Langsam, aber sicher verschwindet er aus den Seiten der Kunstzeitschriften, bleibt für Gesellschaftsmagazine aber Celebrity genug, um fast jeden seiner Schritte zu begleiten. Dass er nebenbei fünf Kinofilme dreht, erst Basquiat und später dann Schmetterling und Taucherglocke, für den er den Regiepreis in Cannes erhält, ist seiner Credibility als Maler CIRCUMNAVIGATING THE SEA OF SHIT 1979, Öl, Teller, metallene Seifenschale, Spachtelmasse auf Holz, 244 × 244 × 31 cm ebenso wenig zuträglich wie die KomplettGestaltung des Gramercy Park Hotels oder der Bau seines gigantischen New Yorker Privathauses, eines pinkfarbenen Palazzos im venezianischen Stil. Die Kunstwelt, das weiß Schnabel, fordert Demut, wenn schon nicht in Geldfragen oder zwischenmenschlichen Dingen, so doch wenigstens der Kunstform gegenüber. „Ich bin Maler“, sagt er. Und: „Ich hatte nie die Absicht, davon abzulenken, was ich am besten kann. I just happened to be alive.“ Also, noch einmal auf Los, zurück auf die Liege im Schatten, wo das Gespräch begann. Julian Schnabel wird am 26. Oktober 1951 in New York City geboren. Sein Vater Jack, der als 12-Jähriger alleine aus der Tschechoslowakei in die USA gekommen war, ist Fleischgroßhändler, seine Mutter Esta studiert am jüdischen theologischen Seminar. Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen ist ein Museumsbesuch mit seiner Mutter, der vor einem Rembrandt endet. „Das Bild war mit Samtkordeln abgesperrt, und REVUE 43 ich weiß noch, wie golden es geleuchtet hat, wie magisch es aussah. Es war, als hätte ich den brennenden Busch gesehen.“ Auch an die Zeichnungen einer Klassenkameradin namens Fran Jetter erinnert er sich, als sei es gestern gewesen. „Wir waren in der dritten Klasse und ihre Zeichnungen waren so viel delikater als meine. Meine waren sehr rau. Und ich weiß noch, ich hatte dieses Gefühl, dass sie die Anerkennung bekam, die mir zugestanden hätte.“ Als Schnabel 15 ist, ziehen seine Eltern mit ihm nach Texas, wo sein Schon die Wahl seiner Maluntergründe sorgt für Rekordausschläge auf der Pathos-Skala. The Edge of Victory entsteht auf dem Bodenbelag des BoxGyms, in dem Mike Tyson trainiert hat. Das Bild ist mit dem Schweiß und Blut ungezählter Boxer getränkt – und eben mit dem des jüngsten Weltmeisters aller Zeiten THE EDGE OF VICTORY 1987, Gesso (Gipsmasse), Gaffer-Tape, Schweiß, Blut, Boxringboden, 345 × 488 cm Vater an der mexikanischen Grenze in den Großhandel mit Second-Hand-Bekleidung einsteigt. Wenn man ihn fragt, was ihn in dieser Zeit in Texas besonders geprägt habe, sagt er nur: „Die Weite. Die Größe. In Texas beginnt man, in anderen Dimensionen zu denken. Als ich wieder nach Brooklyn kam und mein Elternhaus sah, kam es mir wie eine Puppenstube vor.“ Schnabel beginnt, in Houston Kunst zu studieren und bewirbt sich 1973 für ein Stipendium des Whitney Museums. „Ich habe meine Dias zwischen zwei Sandwich-Scheiben gepackt und hingeschickt. Ein dummer Trick, aber er hat funktioniert.“ Zurück in New York stellt das Whitney ihm ein kleines Atelier und organisiert für ihn und die anderen Stipendiaten Studiobesuche bei Künstlern wie Donald Judd, John Chamberlain und Richard Artschwager. Schnabel ist 21 Jahre alt und wird der jüngste Stammgast in Max’s Kansas City, einem legendären Künstlerrestaurant, in dem er meist umsonst essen darf, von Willem de Kooning bis Carl Andre alle kennenlernt und mit Jeff Koons einen weiteren ebenso jungen wie unbekannten Künstler einführt. „Niemand hat damals gemalt – außer Bill de Kooning. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem Richard Serra mich nach Hause gefahren hat. Er wollte wissen, was genau ich mache und ich erzählte ihm von meinen Bildern und fragte ihn, ob er sie sehen wolle. Er sagte nein – Brice Marden und Ellsworth Kelly seien die einzigen Maler, die er toleriere.“ Ob er schon früh Visionen zukünftiger Größe hatte? „Überhaupt nicht“, sagt Julian Schnabel. „Obwohl ich natürlich gesehen habe, dass meine Sachen besser sind als das meiste, was in den New Yorker Museen und Galerien ausgestellt wurde. Das war offensichtlich.“ Vorerst bleibt diese Erkenntnis sein Privileg. Versuche, eine Galerieausstellung zu bekommen, scheitern, dafür macht er mit seinen deutschen Freunden Sigmar Polke und Blinky Palermo einen Roadtrip in seinem alten Dodge nach Philadelphia, wo sie sich gemeinsam Marcel Duchamps Installation Das große Glas anschauen. Nachdem Schnabel die Arbeit an einer Art ProtoBasquiat beendet, der wenig mehr als ein Pferd, eine Krone und daneben das Wort „Hawk“ zeigt, beschließt er, seine Freundin in Texas abzuholen und Urlaub in Mexiko zu machen. Erst zwei Jahre später, in denen er in Houston ein leer stehendes Ladenlokal bezieht und Jack the Bellboy malt, kehrt Julian Schnabel nach New York zurück. Abends jobbt er als Koch in Mickey Ruskins Ocean Club, nachts malt er erst bei seinem Freund Ross Bleckner, der in Europa weilt, dann in einem ungenutzten Teil des Ateliers von Susan Ensley, der Lebensgefährtin des Künstlers Gordon Matta-Clark. Der Julian Schnabels Eltern Jack und Esta, Palm Beach 1990 REVUE 46 sieht Schnabels Bilder und überredet seine Galeristin Holly Solomon, den jungen Maler zu besuchen, was ihm seine erste Gruppenausstellung einbringt – und wenig später ein Angebot von Mary Boone, die ihm noch vor Eröffnung seiner ersten Solo-Schau ein englisches Sammlerpaar namens Charles und Doris Saatchi vorbeischickt. Jetzt geht alles sehr schnell. So schnell, dass Julian Schnabel mit seiner zweiten Schau bei Mary Boone, er ist gerade 28 Jahre alt geworden, zum gefeiertsten jungen Maler der USA avanciert. Keiner stillt den plötzlichen Hunger nach Bildern, der nach einem Jahrzehnt Minimal, Post-Minimal und Konzeptkunst plötzlich von New York bis Köln ausbricht, wie er. So schnell ist auch er selbst, wie er weniger atemlos als tatsächlich mit längstem Atem Stile wechselt, Maluntergründe und Techniken, dass man vielleicht erst heute im Rückblick erkennen kann, wie groß sein Beitrag zur jüngsten Kunstgeschichte ist. Er malt Heilige und Idioten, ein Portrait of God genauso wie The Unexpected Death of Blinky Palermo in the Tropics, er bestreicht Untergründe mit schnell trocknendem Gips, schneidet Löcher in die Leinwände, malt auf Scherben-Reliefs, schmutzige Truckplanen und sonnengegerbte Segel, auf Teppiche und Türen. Und je länger man sich heute dieses 40 Jahre umfassende Werk anschaut, desto unwahrscheinlicher klingt es, dass man im Jahre 2015 von der Frieze in London zurückkehrt, ohne auch nur einen Schnabel gesehen zu haben – dafür aber mindestens zehn zeitgenössische Marktlieblinge, die ihm mehr als nur einen Drink schulden. Da ist Oscar Murillo, der bei David Zwirner ausstellt und auf zusammengenähtem Sackleinen Bilder malt, bei denen man nur das Wort „Yoga“ ersetzen müsste, und man hätte einen eher schwachen Schnabel aus den späten Achtzigern. Da ist Sterling Ruby, der sich vom Meister (und dem Bild, dass auf dem Cover dieser Ausgabe zu sehen ist) ganz offensichtlich zu einer Serie inspirieren ließ. Da ist Joe Bradley, der seine ebenfalls zusammengenähten Leinwände dem Schmutz des eigenen Studios aussetzt und Fußabdrücke integriert, wie es Schnabel schon vor 40 Jahren gemacht hat. Und da ist Sergej Jensen, der bis vor Kurzem wie Schnabel Stockflecken oder die Nähte seiner Textilcollagen zum Bildprogramm erhoben hat. HURRICANE BOB (DIE EIGER NORTWAND) 1991, Öl, Gesso (Gipsmasse) auf Abdeckplane, 457 × 457 cm EL ESPONTANEO (FOR ABÉLARDO MARTINEZ) 1990, Öl, Fahne auf weißer Abdeckplane, 671 × 671 cm Julian Schnabel verlagert das Gespräch jetzt in seinen Pool und bittet seinen alten Freund Herbie Fletcher dazu, einen ehemaligen Profi-Surfer, der, wie fast jedes Jahr, Urlaub bei ihm macht. Kennengelernt haben sie sich vor 1968 am Strand von Padre Island, Texas – Schnabel war 16, Herbie drei Jahre älter und schon damals der weit bessere Surfer. „Aber Julian“, sagt Herbie Fletcher und pfeift durch die Zähne, „der Junge kannte keine Angst.“ Oscar Murillo, Joe Bradley – Schnabels Freund gesteht, noch nie von ihnen gehört zu haben, während der Maler jetzt mit der flachen Hand aufs Wasser schlägt „Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen“, sagt er. „Aber als mir neulich einer in der Gagosian Galerie erklären wollte, wie Rudolf Stingel die Malerei neu erfindet, indem er seine Blattgold-Leinwände auf dem Studioboden liegen lässt, bis der Dreck und die Spuren der Besucher das spätere Motiv bilden, da bin ich richtig sauer geworden.“ Natürlich kann er Stingel toppen – und hat es längst getan. Anfang der Neunziger lässt er seinen Freund Christopher Walken auf seinen am Boden liegenden Leinwänden tanzen. Schnabel befestigt Leinwände an sei- nem Pick-up und schleift sie auf dem Montauk Highway hinter sich her. Es entstehen Werke wie Two Days Later, auf denen dort, wo die zusammengefaltete Leinwand der Straße ausgesetzt ist, geisterhafte Spuren entstehen, die an Altmeister-Zeichnungen erinnern. Dazu kommen die Abdrücke von in Farbe getränkten Tischdecken, die Schnabel schließlich gegen die Leinwand schleudert. Es sind Bilder wie Grabtücher, die, selbst wenn man weiß, wie sie entstanden sind, nichts von ihrer Aura verlieren. BEI KNAPP FÜNF METERN BEGINNT DER HIMMEL Immer wieder schafft es Schnabel, nicht nur formal einen Schritt weiterzugehen – die Wahl seiner Malgründe ermöglichen ihm auch Rekordausschläge auf der nach oben offenen Pathos-Skala. 1987 etwa lässt er seinen Freund, den Maler James Nares in einem seiner New Yorker Studios arbeiten. Als Nares eines Abends am legendären Gramercy Boxing Gym vorbeiläuft, weiß er sofort, wie er sich bei seinem Gastgeber bedanken kann. Das Gym, in dem Mike Tyson für seine größten Kämpfe trainiert hat, wird renoviert und REVUE 47 Nares sieht, wie Bauarbeiter säckeweiße Schutt auf die Straße tragen. „James hat mir die mit Tape geflickten Bodenbeläge der Boxringe ins Studio geschleppt. Mein Geschenk für dich, hat er gesagt.“ Julian Schnabel macht daraus drei gigantische, ebenso atemberaubende wie komplett ironiefreie Gemälde: Muhammad Ali, Descent from the Cross und The Edge of Victory. Alle sind sie mit dem Schweiß und Blut ungezählter, längst vergessener Boxer getränkt – und eben mit dem des jüngsten Schwergewichtsweltmeisters aller Zeiten. Überhaupt: die Größe. Keiner seiner Kritiker, der die schiere Quadratmeterzahl der Bilder nicht als Symptom begreifen würde, keiner, der ihm nicht längst chronischen Größenwahn attestiert hätte. „Vielleicht“, sagt er, „war ich zu unbescheiden, vielleicht habe ich Sachen gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Aber soll ich deshalb kleinere Bilder malen?“ Schnabel erzählt, wie er nach Ellora in Indien gereist sei, wo die Menschen ihre Tempel aus dem Felsen gehauen hätten. Sie haben dort eine menschliche Größe – und eine himmlische. „Die himmlische“ sagt er, „beginnt bei knapp fünf Metern. Wir selbst sind vielleicht 1,80 Meter CASPAR DAVID FRIEDRICH Abend, 1824, Öl auf Karton, 20 × 28 cm groß und dann schauen wir hoch. Ab dieser berichten. „In London“, sagt er „hat mich Ist das, was ihn antreibt, UnsterblichHöhe scheint es, als würde der Himmel neulich ein Taxifahrer gefragt, ob ich der keit? „Ich glaube, der Grund für fast alles, beginnen. Fünf mal fünf Meter ist also eine Vater von Vito Schnabel sei.“ was ich mache, ist Liebe“, sagt er. „Am ziemlich ideale Größe für ein Bild.“ Dann klingelt das Telefon und Laurie Anfang habe ich Bilder gemalt und mir vorWoher er das Selbstvertrauen nimmt, Anderson ist dran, die Witwe von Lou Reed. gestellt, dass meine Mutter mich noch mehr sich immer wieder diesen Formaten auszulie- Sie ist aufgebracht, weil sie in einem dieser in lieben würde, wenn sie sähe, wie gut sie sind, fern? Julian Schnabel und Herbie Fletcher New York gerade schwer angesagten Sauer- wie gut ich male. Später war ich in diese Frau machen jetzt den toten Mann. Der eine auch stofftanks gewesen sei und Platzangst verliebt, doch sie lebte mit einem anderen mit weit über 60 noch mit eindrucksvollem bekommen und daraufhin immer wieder den Mann in Paris. Ich begann, ihren Namen Sixpack, der andere mit einem Bauch, auf Notrufknopf gedrückt und gegen den Tank Olatz auf jedes meiner Bilder zu malen, ich dem man sich einen Fluss hinabtreiben ließe. getrommelt habe, doch niemand sei gekom- machte eine ganze Ausstellung damit. Drei „Als Surfer“, sagt Julian Schnabel, „bist du men. Gott sei Dank habe sie ihr Telefon Jahre später haben wir geheiratet. Oder mein Wellen gewöhnt, die weit größer sind als du. dabeigehabt, mit dem sie die Feuerwehr Freund, der Sänger Antonio Molina, der Du musst dich entscheiden, ob du sie reiten gerufen habe, die sie dann schließlich befreit seine Stimme verlor. Ich machte diese Bilder kannst.“ Surfen und Malen hätten viel habe. Und die Frau von diesem Sauerstoff- und auf jedes schrieb ich ‚the voice of Antogemeinsam. Beides sei kein Teamsport. Und dings habe doch tatsächlich behauptet, sie nio Molina‘, als könnte ich ihr so weiter einen bei beidem hätte man ständig den Thrill, fast habe nichts gehört. „Laurie, hör zu“, sagt Raum geben.“ Es ist noch nicht lange her, zu ertrinken. Und doch gäbe es einen Unter- Schnabel – ruhig, beruhigend, aber doch sagt er, da sei sein Freund Philip Seymour schied: Es sei viel einfacher, über das Surfen auch so, als würde er keine Widerrede dul- Hoffman gestorben, einfach weil er ein paar zu reden als über das Malen. den. „Du kommst morgen hier raus. Hier falsche Entscheidungen getroffen habe. „An Ob er es trotzdem probieren will? Julian brauchst du keinen Sauerstofftank. Du weißt, dem Abend zerriss ich diese Abdeckplane Schnabel, der einst ein 14 Meter hohes Bild dass ich immer ein Bett für dich habe.“ von einem Straßenverkaufsstand in vier Teile namens Ahab gemalt hat, liegt immer noch und machte vier Gemälde für Phil. Für wen BLINKY PALERMO auf dem Rücken, füllt seine Backen und lässt habe ich sie gemacht? Wollte ich seine Frau UND DIE LIEBE jetzt eine Fontäne hochsprudeln. „Du kannst wissen lassen, dass ich ihn liebe? Wollte ich über alles andere auf der Welt besser sprePhil sagen, dass ich ihn liebe, obwohl er tot chen als darüber, warum du malst“, sagt er. Später sitzen wir im Kaminzimmer, umgeben ist, und so weiter mit ihm kommunizieren? „Weil das, was du tust, so offensichtlich von Joseph Beuys, Sigmar Polke und dem Wollte ich mir selbst sagen, dass ich ihn liebe? absurd ist. Das Einzige, was wichtig ist, ist letzten Bild, das Blinky Palermo vor seinem Oder wollte ich, dass ein Publikum diese die Wahrheit; die Authentizität des Zeichens, Tod gemalt hat. Blinky Palermos Freundin Liebe fühlt und irgendwohin mitnimmt? Was das gleich auf der Leinwand erscheinen wird. hat es ihm 1977 verkauft. Was denkt er, wenn auch immer der Grund war, es hatte mit Wenn du unsicher und verwirrt bist, ist es er es sieht? „Ich denke daran, dass wir nicht Liebe zu tun.“ die Hölle. Aber wenn du dieses Zeichen fin- wissen können, wann es zu Ende ist. Und Als Julian Schnabel mir das Gästezimdest, wenn es dort vor dir erscheint, dann ist daran, dass das, was wir hinterlassen, für sich mer zeigt, sehe ich im Treppenhaus ein Bild. stehen muss, wenn wir nicht mehr da sind.“ Darauf hat er Harz zerfließen lassen und alles gut.“ Abends dann, beim Essen Regardes mes pieds plats geschriemit Herbie Fletcher und Schnaben – schaut auf meine platten bels Freundin Tatiana, einer CelFüße. „Ein fantastisches Bild“, listin, die den Tag genutzt hat, sage ich noch. „Ich weiß“, sagt um für ein anstehendes Konzert Julian Schnabel. „Cy hat es zu üben, geht es dann nur noch geliebt.“ um Wellen. Es geht um die besten Surfplätze der Welt, um die Vorfreude auf die hurricane season, die bald beginnt. Und es geht um Söhne. Fletcher erzählt von seinem Sohn Christian, der AM 10. DEZEMBER ERSCHEINT zu einem der 50 besten Surfer DIE WELT DES JULIAN SCHNABEL, aller Zeiten gewählt wurde, und EINE KOMPLETT VOM KÜNSTLER Schnabel von Vito, der längst GESTALTETE AUSGABE DER TAGESZEITUNG DIE WELT. berühmter sei als er selbst, seitDIE GALERIE ALMINE RECH, UNTITLED (SURFER), 2008, Tintenstrahldruck, Gesso (Gipsmasse), dem die internationalen KlatschPARIS, ZEIGT NOCH BIS ZUM Tinte auf Polyester, 269 × 416 cm. Vorherige Doppelseite links: UNTITLED, 2015, zeitschriften wöchentlich über 14. NOVEMBER NEUE UND Sprayfarbe, Gesso (Gipsmasse) auf einem Stück Stoff, 290 × 239 cm. ALTE ARBEITEN SCHNABELS seine Beziehung zu Heidi Klum Rechts: TWO DAYS LATER, 1990, Öl, Schmutz auf Abdeckplane, 244 × 193 cm REVUE 50 Julian Schnabel, fotografiert von Gregory Halpern, Montauk, September 2015 CASPAR DAVID FRIEDRICH Abend, 1824, Öl auf Karton, 20 × 28 cm Die Prinzessin PARLAGHY Zeitungsbericht im Hempstead Sentinel 1911: Der amerikanische Bürgerkriegs-Exgeneral Daniel E. Sickles schenkt Vilma Parlaghy ein Löwenbaby. Sie nennt es Goldfleck und nimmt es mit in ihre Menagerie im Plaza Hotel in New York (unten), in dem sie selbst ein 14-Zimmer-Apartement bewohnt. Mitte und rechts: Vilma Parlaghy und ihre berühmten Modelle: der amerikanische Stahltycoon Andrew Carnegie (oben), Otto Fürst von Bismarck (Mitte), Ilya Graf Tolstoi (unten) und Helmuth Graf von Moltke (rechts) REVUE 52 Als Vilma Parlaghy 1883 von München nach Berlin zieht, ist sie eine unbekannte Künstlerin, die behauptet, Lenbachs Meisterschülerin zu sein. Wenig später heißt sie Prinzessin Lwoff-Parlaghy, stürzt Kaiser Wilhelm II. in einen Skandal und porträtiert die mächtigsten Männer der Welt. Philipp Demandt über eine Malerin, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere nebst Bär, Krokodilen und Löwe eine 14-Zimmer-Suite im New Yorker Plaza bewohnt – und die doch völlig vergessen stirbt W o beginnen, in Budapest, München oder Berlin? In einem feudalen Anwesen an der französischen Riviera oder doch im Plaza Hotel, New York? Wie erzählt man die Geschichte der Vilma Parlaghy oder Prinzessin Lwoff-Parlaghy, wie sie sich selbst nannte? Quellen gibt es kaum. Legenden umso mehr, selbst gestrickte. Von einer Malerin, die einen eigenen Presseattaché beschäftigte und wie keine Künstlerin zuvor die Klaviatur der öffentlichen Inszenierung beherrschte. Eine Malerfürstin, die diesseits wie jenseits des Atlantiks die Kunstwelt ebenso in Atem hielt wie die Klatschpresse, die Kaiser und Könige, Heerführer und Nobelpreisträger porträtierte, die als „berühmteste Porträtmalerin der Welt“ zur Millionärin wurde – und heute völlig vergessen ist, auch und nicht zuletzt, weil sie ihr größtes Kunstwerk mit ins Grab genommen hat: sich selbst. Beginnen wir also auf einem Friedhof. dem Hartsdale Pet Cemetery in Westchester County, New York. Zwischen Hunden und Katzen ruht hier ein Tier, das für gewöhnlich nicht zu den Kuscheltieren der oberen Zehntausend in Manhattan zählt: ein Löwe. Der Grabstein nennt seinen Namen: Goldfleck. REVUE 53 Ein schöner junger Löwe sei hier begraben, steht dort in Stein gemeißelt, zutiefst betrauert von Prinzessin Vilma Lwoff-Parlaghy. New York 1912. Goldflecks Leben war kurz. Geboren in einem Zirkus, hatte er die Aufmerksamkeit einer Frau erregt, die in New York im Jahr 1908 wie ein Filmstar empfangen wurde. Nicht nur die aufwendig livrierte Entourage und die 50 Schrankkoffer waren es, die Prinzessin Lwoff-Parlaghys Eintritt in die Staaten zu einem öffentlichen Ereignis machte, sondern auch ihre mitgebrachte Menagerie: ein Zwergspitz, eine Angorakatze, ein Meer- Modell und Förderer von Vilma Parlaghy: Wilhelm II. Rechts: Das sogenannte Blaue Porträt des Erfinders Nikola Tesla aus dem Jahr 1913 schweinchen, eine Eule, ein Ibis, ein kleiner Bär namens Teddy und zwei Krokodile. Ziel hätte das Waldorf-Astoria sein sollen, doch sah sich die Hotelleitung nicht imstande, Vilmas Zoo ein Obdach zu gewähren. o zog die Reisegruppe ins Plaza, wo man Parlaghy samt Gefolge in einer 14-Zimmer-Suite räumlich und auch geistlich – es gab eine Privatkapelle – angemessen unterbringen konnte. Verliebt in den jungen Löwen hatte sich die Prinzessin im Frühling 1911, als sie ihn in der Barnum & Baily Menagerie am Madison Square Garden sah und sogleich erwerben wollte. Der Zirkus aber dachte nicht daran, den Löwen zu ver- S kaufen. Was dann geschah, folgt jenem Muster, das fundamental für den Werdegang der Künstlerin geworden war, die früh erfahren hatte, dass es mit Talenten nicht allein getan war, wenn man als Frau zu ihrer Zeit nach oben wollte. Die Prinzessin wandte sich an einen Mann von Macht und Einfluss, der ihr schon Modell gesessen hatte. General Daniel Sickles, ein hochbetagter Held der Schlacht von Gettysburg, trat nun seinerseits als Interessent an die Zirkusdirektion heran, die nicht wagte, ihm den Löwen zu verweigern. Und so zog der Löwe unter großem Presseecho in das Plaza-Hotel, nachdem er mit Champagner getauft worden war. Doch nur REVUE 54 ein Jahr später war Goldfleck bereits eingegangen. Nach einer formalen Totenwache fuhr seine Besitzerin mit dem Taxi zum Hartsdale-Tierfriedhof, begleitet von sechs Autos voller Trauernder, die meisten davon Angestellte auf der payroll der Parlaghy. Kehren wir zurück über den Atlantik und erzählen die Geschichte der Prinzessin von Anfang an: die Geschichte einer Frau, deren große künstlerische Begabung nur noch von ihrer unschlagbaren sozialen Intelligenz übertroffen wurde, und die gewillt war, in einer Männerwelt ihr eigener Herr zu bleiben. Wie man sich heute sicher ist, kam Vilma Parlaghy 1863 im ungarischen Hajdúdorog zur Welt, sie selbst gab 1867 als Geburtsjahr an, aber es kursieren auch die Jahre 1868 oder sogar 1873 – Vilma wurde immer jünger. Nach ersten künstlerischen Gehversuchen noch in Budapest wurde gegen 1886 die Begegnung mit Franz von Lenbach zum Erweckungserlebnis, für beide, glaubt man Parlaghy: „Du wirst keinen anderen Lehrer außer mir haben, ebenso wie ich niemals eine andere Schülerin als dich haben werde.“ So gebar gleichsam das „erste Gebot“ die Malergöttin, die später behauptete, niemals Schülerin von Lenbach gewesen zu sein. Schon das erste Bild, mit dem die junge Künstlerin an die Öffentlichkeit trat, verriet eine Strategie, auf die viele Künstler setzten und die noch heute funktioniert: Man malt einen berühmten Mann, einen umstrittenen idealerweise. Parlaghy wählte Lajos Kossuth, Ungarns Kämpfer für die Unabhängigkeit, den sie in seinem italienischen Exil besuchte. Erfolgreich stellte sie das Bildnis im privaten Rahmen aus, nachdem es in Österreich als politisch unerwünscht zurückgewiesen worden war. Nach einer Kurzehe mit dem Juristen Karl Krüger firmierte die Malerin ab 1899 durch Hochzeit mit einem Fürsten Lwoff als Prinzessin Lwoff-Parlaghy. Den Titel behielt sie nebst Apanage und Stadtpalais in Nizza, nachdem sie sich vom Fürsten 1903 schon wieder scheiden ließ. Später folgte die Verbindung mit einem Dänen, der Vater ihres einzigen Kindes wurde. Salonausstellung anno 1895 in ihrem Atelier Unter den Linden: die malende Prinzessin (Mitte), umringt von malenden Männern Als ihr der Kaiser persönlich die Medaille der Großen Berliner Kunstausstellung verleiht, hat sie ein Leitmotiv für ihr Leben. Den Neid, die höchste Form der Anerkennung Wohl 1887 war Parlaghy von München nach Berlin gezogen, wo sie 1890 auf der Großen Berliner Kunstausstellung eine Kleine Goldene Medaille für das Porträt von Ludwig Windthorst, des prominenten Reichstagsabgeordneten, erhielt. Doch schon im Jahr darauf wurde sie zum Stadtgespräch durch einen Eklat, der sich um das Porträt eines herausragenden Mannes drehte. Keinen Geringeren als Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, den Helden der Reichseinigung von 1871, hatte Parlaghy vor die Staffelei bekommen. Das Ergebnis reichte sie beim Komitee der Internationalen Kunstausstellung des Vereins Berliner Künstler ein, doch wurde das Gemälde ausjuriert. Empört machte die Künstlerin die Zurückweisung öffentlich. Laut Parlaghy habe von Moltke selbst bezeugt, niemals besser dargestellt worden zu sein als vom „modernen van Dyck“, wie er die Künstlerin pries. So drang die Geschichte an das Ohr des jungen Kaisers. Entrüstet über die Ablehnung des Heldenbildes ließ Wilhelm II. das Werk erwerben und befahl die Aufstellung im Ehrensaal der Ausstellung: ein offener Affront gegenüber der Künstlerschaft. Fortan schwebte Parlaghys Genius über Feindesland, was ihr wenig auszumachen schien, denn sie wusste den mächtigsten Mann im Staate hinter sich. Und mehr als das: Wilhelm II., Kaiser eines Reiches, das Frauen das Studium der Malerei an der Akademie versagte, ließ sich zum Beweise seiner Unabhängigkeit gleich mehrfach porträtieren: von einer Frau, von Vilma Parlaghy. 1894 erschienen drei Gemälde der Künstlerin auf der Großen Berliner Kunstausstellung, darunter auch ein Bildnis Kaiser Wilhelms, das wiederum im Ehrensaal platziert wurde. Als es um die Verleihung der wichtigsten Medaille ging, schlug die Jury den Architekten des Reichstags Paul Wallot vor. Der Kaiser aber wollte es anders und erkannte die Medaille Parlaghy zu, die gar nicht vorgeschlagen worden war. Zudem ließ man sich mit der Bekanntgabe viel Zeit. REVUE 55 Unterdessen aber hatte Parlaghy längst ein Glückwunschschreiben des Kulturministers erhalten und – wie nicht anders zu erwarten – sogleich öffentlich gemacht. Die Presse schäumte über die „eines Künstlers nicht würdige“ Eigenreklame und die dahinterstehenden Seilschaften. Wie ungezählte männliche Kollegen zuvor hatte sich die kluge Malerin die allerhöchste Protektion verschafft. Und sie hatte für ihr Leben nun ein Leitmotiv: den Neid, diese höchste Form der Anerkennung, die man nicht geschenkt bekommt, sondern sich erkämpfen muss, wie Parlaghy oft betonte. ls Richard Wrede und Hans von Reinfels 1897 in ihrem Sammelband Das geistige Berlin einen Überblick über die Künstlerschaft Berlins edierten, beklagten sie im Vorwort noch die Unwilligkeit vieler großer Geister, an diesem Kompendium mitzuwirken. Während viele Künstler keine oder nur sehr knappe Daten lieferten, schrieb Parlaghy einen Roman, der im Lexikon acht Seiten Platz benötigte. So erfuhren die Leser vom Werden eines Wunderkindes, das als Zehnjährige die Akademie in Budapest besuchte, als Zwölfjährige von Publikum wie Presse bejubelt worden war (als Konzertpianistin), schließlich Tizian A kopierte und bereits mit 15 Jahren selbstversorgend war, nach München zu Lenbach fuhr, der unverzüglich ihr Talent erkannte, aber ihr nichts mehr beibringen konnte, worauf sie später nach Berlin gelangte, um die Stadt im Triumphzug einzunehmen, von 25.000 Dollar verlangte sie für ein Porträt – mehr als das Lebensgehalt eines Arbeiters Kaiser und Hof auf Händen getragen, doch stets von Missgunst sekundiert. „Während des verflossenen Sommers unternahm die Künstlerin eine Reise nach Amerika, allerdings mehr von dem Wunsche nach einer längeren Seereise als vom Verlangen nach business getrieben“, endete die Selbstbetrachtung. „Die ihr zu Teil gewordene Aufnahme lässt aber vermuthen, dass Vilma Parlaghy das Feld ihrer künstlerischen Thätigkeit auch noch über das große Wasser hin ausdehnen wird.“ Und in der Tat: Nachdem sie die gesamte politische Elite bis hin zu Bismarck porträtiert und der Kaiser ihre Ausstellung mit 104 Gemälden in ihrem Privathaus Unter den Linden eröffnet hatte, schiffte sich Parlaghy nach New York ein. Und dort konnte von no business nun wirklich keine Rede sein. Kein Geringerer als Andrew Carnegie, der „reichste Mann der Welt“, sollte ihr dafür den Weg bereiten. Wohl schon beim ersten Aufenthalt in den USA 1896 hatte Parlaghy den Stahltycoon gemalt, der ihr den Rat gegeben haben soll, alle berühmten Männer des Landes in Bildern festzuhalten. Hilfreich dabei war, dass ihre Bewunderer in Empfehlungsschreiben an die High Society nicht davor zurückschreckten, sie als „greatest living portrait painter either in Europe or America“ zu bezeichnen. Wie konnte das passieren? Halten wir also inne und sprechen über etwas, das angesichts der bunten Lebensgeschichte fast unterzugehen droht: über ihre Malerei. Je nach Möglichkeit skizzierte die Künstlerin ihr Gegenüber zunächst nur auf Papier, malte jedoch auch ohne Umwege in Öl auf Leinwand. Erfolgreiche Porträts wiederholte sie gelegentlich für ihren eigenen Salon. Effektvoll treten in ihren Bildern Kopf und Hände in den Vordergrund, meist bleibt der Bildgrund dunkel. Auch die skizzenhafte, kalkuliert unfertige Pinselführung, die Lenbachs Bilder so alt und neu, lebendig und genialisch wirken ließ, zeigt sich bei Parlaghy oft. Zeitgenossen verglichen sie mit Frans Hals und Rembrandt, die sie anfangs auch kopierte, doch vermied sie jene immer gleiche rembrandteske Bräune, die Lenbach nicht ganz unumstritten zur Erfolgsmasche gemacht hatte. „Jedenfalls kann Vilma Parlaghy für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, kein malendes Frauenzimmer, sondern ein berufener Bildnismaler – und nur dem Geschlechte nach ein weiblicher – zu sein“, hatte 1889 die Kunstkritik resümiert. Interessant, dass auch unlängst eine Kennerin der Zeit Parlaghys Malstil „männlich“ nannte. Nicht weniger entschieden männlich waren ihre Preise. Summen von bis zu 25.000 Dollar sind für ihre Werke kolportiert, mehr als das Doppelte des Lebenslohnes eines Arbeiters zu jener Zeit. Schließlich zahlte man nicht nur für sein Porträt allein, sondern auch für dessen extravagante Entstehungsatmosphäre. So empfing Parlaghy ihre Modelle im Plaza auf einem Teppich, den ihr der Schah von Persien geschenkt haben soll, in einem Thronsaal, wo man sich zum Malen auf einem Sessel niederließ, der angeblich Katharina von Medici gehört hatte. Auch die Präsentation der Resultate folgte einer ausgefeilten Dramaturgie. Höhepunkt war offenbar die Ausstellung des Blue Portrait, das sie von Nikola Tesla gefertigt hatte, dem exzentrischen Erfinder, der das Publikum mit der Vorführung von blauen Blitzen fesselte. Auf seine Anweisung hin installierte sie in ihrem Atelier ein blaues Licht für die Modellsitzung und präsentierte das Ergebnis später in einem ebensolchen magischen Schein. it Kriegsausbruch sank Parlaghys Stern rasant. Kurz bevor die Nachfrage nach teuren Bildnissen der als deutsch verdächtigten Prinzessin schwand, überhob sie sich offenkundig mit dem Kauf eines riesenhaften Anwesens im Staat New York, nachdem sie 1909 bereits das luxuriöse Chateau St. Jean auf Cap Ferrat erworben hatte. Nun wurden die Suiten immer enger, die Unterkünfte günstiger und der Privatzoo kleiner, doch fand Parlaghy schließlich einen Helfer, den Diamanten- M REVUE 56 händler Ludwig Nissen, der sich vom Tellerwäscher zum Millionär emporgearbeitet hatte. Nissen war bereit, in Verbindlichkeiten einzutreten und Parlaghy Geld zu leihen, die 1916 schon wieder an der Upper East Side lebte und 1921 in ein Queen-Anne-StyleTownhouse überwechselte. Und eben dort begann im Spätsommer 1923 der letzte Akt der großen Oper, in der Parlaghy Komponistin, Librettistin und zugleich die Primadonna war – der Showdown eines Lebens, dessen Epochalität die Tagespresse in epischer Breite auszuschmücken wusste. „Der Tod und das Gesetz lieferten sich einen düsteren Wettlauf, um zu sehen, wer zuerst die einstmals glühende Lebenskraft der Prinzessin Lwoff-Parlaghy vernichten konnte“, schrieb der Brooklyn Daily Eagle, und ließ um das Krankenbett der vereinsamten Gesellschaftslöwin die Riege aller gekrönten oder ungekrönten Häupter wiederauferstehen, die sich einst vor ihrer Staffelei versammelt hatten: das ganze alte Europa, das mit Parlaghy gleichsam zum zweiten Male unterging. Vor dem Haus der Künstlerin indessen versammelte sich die Polizei. Diamentenhändler Nissen, bei dem Parlaghy mit einer Viertelmillion Dollar in der Kreide stand, war der Geduldsfaden gerissen. In diesem bedrängtesten Augenblick ihres Lebens, als keine Kunst und auch kein Kaiser ihr mehr helfen konnten, begab sich Vilma Lwoff-Parlaghy in Gottes Hand. Am 28. August 1923 starb sie an Diabetes in einem Bett, das Marie Antoinette gehört haben soll. Bei ihr waren nur noch ihr Arzt, eine Kammerzofe und ihr Attaché, der immense 500 Dollar im Monat verdiente – und seit zehn Jahren kein Gehalt mehr bekommen hatte. Wie eine Königin, mit Staatsrobe und Diadem, legte man sie in den Sarg, dem nur noch eine Handvoll Freunde folgte. „Ihre Durchlaucht, Prinzessin LwoffParlaghy starb, wie sie gelebt hatte“, schrieb der Morning Telegraph, „als ein Mysterium“. Schnell senkte sich der Schleier des Vergessens über Leben und Werk. Nur einmal noch, fast ein Jahrhundert später und am anderen Ende der Welt, blitzte etwas vom vergangenen Ruhm der Malerfürstin auf: Als 2009 die internationale Gemeinschaft der Physiker den Atem anhielt bei der Nachricht, dass das längst verschollene Blue Portrait von Tesla wieder aufgefunden worden war. Das berühmte Die Prinzessin im Atelier und ihr Hofstaat an Bildern Gemälde des bis heute kultisch verehrten Pioniers der Elektrotechnik (der unlängst einer Elektroautomarke seinen Namen gegeben hat) fand sich in einem Bilderschrank – in Husum in Nordfriesland. Ludwig Nissen, Parlaghys größter Gläubiger, hatte es auf deren Nachlassauktion erworben und zusammen mit einer umfangreichen Kunstsammlung seiner Geburtsstadt Husum vermacht. Ein Leben wie das von Vilma LwoffParlaghy hat jeden Epilog verdient. Zumindest einen davon kann der Autor dieser Zeilen liefern: Nachdem ich 2012 die Leitung der Alten Nationalgalerie übernehmen durfte, sah ich im Depot ein Bildnis Kaiser Wilhelms II., das mir unbekannt war und nie im Haus gehangen hatte. Nicht minder unbekannt war mir der Name des Künstlers, der sich (ungewöhnlich genug für ein Kaiserbild) als der einer Künstlerin entpuppte: Vilma Parlaghy. Allein der fremdartige Klang des Namens ließ mich aufhorchen. Und als mir eine Kollegin mit besorgter Miene zuraunte, die Künstlerin sei „böse“ gewesen und habe sich „an den Kaiser rangemacht“, war klar: Dem war nachzugehen – was nicht einfach war, denn moderne Literatur über Parlaghy fand sich kaum. Martin Stather und Cornelius Steckner seien genannt, Miriam Reinhardt und Peggy Gavan für Hinweise bedankt. Aus dem Dunkel des Depots herausgebracht, hängt Parlaghys Bildnis Kaiser Wilhelms nun seit 2014 in REVUE 57 der Schausammlung der Nationalgalerie. Nicht, weil es das Kunstwerk einer Frau ist. Oder skandalumwittert. Sondern nur aus einem Grund: weil es ein gutes Bild ist. Gemalt von einer im wahrsten Sinn unfassbaren Künstlerpersönlichkeit, in deren Geschichte sich die Wechselfälle eines Jahrhunderts spiegeln wie auf einem klaren Wasser, über das Parlaghy sicher segelte, manche Welle machte und schlussendlich darin versank. Wenn sich ein Mann über das Mittelmaß erhebe, ernte er Neid, soll Bismarck zu ihr gesagt haben, eine Frau dagegen Brutalität. Im Tempel auf der Museumsinsel, so viel ist sicher, fände sich Vilma Parlaghy selbst am rechten Platz. AVERY SINGER ZWISCHEN LEGO UND LABOR FOTO: HEJI SHIN REVUE 58 MIT NUR 28 JAHREN UND EINER HANDVOLL AUSSTELLUNGEN IST AVERY SINGER ZUR GEFEIERTESTEN MALERIN DER POST-DIGITALGENERATION GEWORDEN. DIE FRAGE IST JETZT: WIRD SIE BLEIBEN? VON OLIVER KOERNER VON GUSTORF ch nehme noch einen Schluck Cola Light aus dem Marmeladenglas, das aussieht, als käme es geradewegs aus der Speisekammer einer Farmerin in Maine. Es ist ein ungewöhnlich warmer Herbsttag in New York, Columbus Day. Um uns herum, in einem Café in der Lower East Side, Studenten und junge Familien, Mütter in digital bedruckten Leggings, bärtige Väter, die an Transformer-artigen Kinderwagen rütteln. Es ist einer dieser Orte, in denen die Hamburger etwas kleiner sind, die Pommes dafür aber in rustikalen Pergamenttütchen serviert werden. Klingeltöne mit Harfen und Zimbeln wehen durch die Luft, vermischen sich mit dem Geräusch von Sirenen. Ich habe Jetlag. Avery Singer auch. Gestern Abend ist sie aus Los Angeles zurückgekehrt, wo im Hammer Museum ihre Solo-Schau mit neuen Arbeiten eröffnet wurde. Jetzt sitzen wir hier in der typischen, etwas peinlichen Interview-Position: Journalist und Künstlerin, zwischen uns Kaffeetassen und das Diktiergerät. Singer hat viele dieser ganz alltäglichen Situationen aus der Kunstwelt gemalt – Studiobesuche, Happenings, Performances, Partys. Sie könnte sich auch diese Szene vornehmen. Wären wir jetzt in der grauen Welt ihrer Airbrush-Gemälde, die auf Vorlagen basieren, die sie mit der 3-D-Software SketchUp am Computer generiert, würden wir uns in diese merkwürdig kubistischen Kastenkörper verwandeln, die aussehen wie aus dem 80erJahre-Dire-Straits-Video Money for Nothing. Wir hätten keine Augen. Averys Haare würden wie überdimensionierte Sägespäne von ihrem Kopf hängen. Wir und die anderen Gäste wären aus geometrischen Modulen zusammengesteckt, mehr oder minder nackt, glatt, konturlos. Das Café und die ganze Welt wären eine Bühne, auf die ein diffuses Licht fällt. Singers retro-futuristische Gemälde könnten ebenso Parodien auf den russischen Konstruktivismus, die Avantgarden des 20. Jahrhunderts oder auch superdigitalisierte, posthumane Utopien sein. Auf jeden Fall sind sie hermetisch – wie in Sartres I UNTITLED, 2015, ACRYL AUF LEINWAND, 203 × 229 CM. AUFTAKTSEITE: HEIDILAND, 2014, ACRYL AUF LEINWAND, 197 × 155 CM REVUE 60 REVUE 62 Geschlossener Gesellschaft. Sie gleichen einer zeitlosen Kunsthölle zwischen Lego und Labor, in der der Baukasten der Moderne und Postmoderne in immer neuen stereotypen Kombinationen zusammengesteckt wird. Falls sie damit einer aussterbenden Kunstwelt einen Spiegel vorhalten wollte, ist ihr das gelungen. enn die Szene hat in ihn hineingeschaut und sich auf der Stelle in diese dystopische Reflexion verliebt. Wie man hört, stalken Museumsleute, Kuratoren, Sammler und Galeristen Singer geradezu, um mit ihr zu arbeiten. Dabei ist sie gerade 28 Jahre alt und hatte ihre erste Einzelausstellung vor weniger als drei Jahren. Nur wenige Monate nach ihrer ersten Schau in der Galerie Kraupa-Tuskany Zeidler beim Gallery Weekend 2013 in Berlin nahm sie als eine der wenigen Malerei-Positionen an der Ausstellung Speculations on Anonymous Materials im Kasseler Fridericianum teil. 2014 folgte ihre Einzelausstellung in der Züricher Kunsthalle, 2015 die Biennale in Lyon, dann die unter anderem von Ryan Trecartin kuratierte Triennale im New Yorker New Museum. Und nun die Solo-Ausstellung im Hammer Museum. In Jogginghosen und T-Shirt scheint sie von diesem schnellen Ruhm allerdings ziemlich unbeeindruckt – ein echter Underdog. Auf Fotos wirkt sie ein bisschen gothic, ein bisschen melancholisch, wie die kleine Schwester aus der TV-Serie Girls. Tatsächlich aber ist sie groß gewachsen, fast schlaksig, alles andere als mädchenhaft. Ihre Stimme ist erstaunlich tief. Wenn sie lacht, hört sich das an, als würde dem Imperator aus Star Wars etwas Luft aus den Lungen entweichen. Singer, die als Tochter eines Künstlerehepaares in Tribeca groß wurde und heute um die Ecke in der Lower East Side lebt, erzählt, dass sie nach dem Studium an der Cooper Union das Abschlussstudium an einer Graduate School nicht bezahlen konnte. Sie jobbte, fand in der Bronx ein heruntergekommenes Studio, das sie über sieben Monate renovierte. Hier begann sie ohne eine genaue Vorstellung, was sie tun wollte, zu arbeiten und zu wohnen, ohne Geld, ohne viele Kontakte, aber auch ohne jede Ablenkung. Ihr Material waren D REVUE 63 UNTITLED, 2015, ACRYL AUF LEINWAND, 152 × 195 CM ganz offensichtlich simuliert ist. Und sie konstruiert noch etwas ganz anderes – zynisch überspitzte, romantische Vorstellungen eines bohemehaften Künstlerdaseins, das scheinbar Lichtjahre von der Realität und den Produktionsbedingungen ihrer eigenen Kunst entfernt ist. Die Happenings mit Blockflötenspielerinnen und Studioszenen, in denen Zitate von Schlüsselwerken wie Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 (1912) oder Naum Gabos Konstruktiver Kopf (1915) auftauchen, wirken wie ein fremdes Marionettentheater, in dem alle sexistischen und genialischen Klischees, die poetischen Verklärungen der Moderne, die Hippievisionen vergangener Generationen durchgespielt werden. Aber auch ganz zeit„Man sieht zu, wie die gemäße Phänomene: Städel-Studenten, die Club Berghain gehen, oder wie Zeichnung entsteht. Das ist inbeiden dem Techno-Babe auf Heidiland (2014) der Punkt, an dem sie gut die Infantilisierung von Frauenrollen. Distanz, die Singer zu diesen Mythen wird. Kunst fängt an, wenn Die und Motiven aufbaut, ist vor allem eine die Sprache Urlaub nimmt“ formale. Als sie von einer Freundin gebeten wird, für eine Gruppenausstellung in an Kunst arbeitet. Ich komme in diesen men- einem Projektraum ein Poster anzufertigen, talen Zustand, in dem ich absolut gerne das „richtig grafisch“ aussehen soll, bin und den ich am Computer nie erreiche. besinnt sie sich auf ihr Airbrush-Gerät. Nach Stunden des Zeichnens macht Der Effekt ist noch kühler, unpersönlicher man einfach die Sachen und sieht zu, wie die und bestimmt von da an ihre Malerei. Zeichnung entsteht. Das ist der Punkt, „Die Leinwand wird nicht berührt“, an dem sie richtig gut wird. Kunst fängt an, sagt Singers Galerist Amadeo Kraupawenn die Sprache Urlaub nimmt.“ Tuskany zu ihrer Arbeit, „Spray Painting Am Anfang bearbeitete Avery Singer heißt wirkliche Distanz. Zum alten Künstihre Clip-Art-Motive zunächst mit Photolerbild gehört die gestische Berührung, shop und zeichnete sie dann wieder mit der dieser fast erotische Akt des Aufbringens Hand auf Papier ab. Sie ging damals der Farbe. Eine solche innige Interaktion schon so vor wie heute auf ihren Gemälden. mit der Leinwand findet bei Avery nicht Akkurat klebte sie die Handzeichnungen statt.“ Das Papier ersetzt Singer durch die mit Klebeband ab, um grafische Linien, Leinwand, die sie wieder und wieder helle und dunkle Flächen zu definieren. Ein grundiert und abschleift, um eine ultraglatte ungeheuer aufwendiger Prozess. Doch Fläche zu erzeugen. Die Gemälde, die das Ergebnis befriedigte sie nicht. Schließlich jetzt entstehen, sind noch viel mehr Hybride kommen ihr die Bilder in den Sinn, die sie zwischen digitaler Zeichnung, Handschon seit Jahren mit dem 3-D-Programm zeichnung und Malerei. „Ihre Malerei wirkt SketchUp gemacht hat – einer Software zur klassisch, tatsächlich ist sie aber sehr Erstellung von dreidimensionalen Modelradikal“, sagt die Kuratorin Susanne Pfeffer: len, die im Kunstbetrieb gerne dafür „Im Hinblick auf die Ausstellung genutzt wird, um Messestände und Ausstel- Speculations on Anonymous Materials war für lungen zu planen. mich interessant, dass viele Prozesse bei den Singer erzeugt mit ihr eine merkwürdig teilnehmenden Künstlern technisch perfekt zweidimensionale, flache Architektur aus ausgeformt sind und der HerstellungsObjekten und Körpern, in der die Tiefe prozess nicht mehr sichtbar und damit nicht nur das Papier und die Stifte, die sie von der Kunsthochschule mitgebracht hatte, für mehr reichte es nicht. „Ich fing einfach an zu zeichnen, verwendete Sachen, die ich am Computer gemacht hatte. Das war wirklich meine einzige Idee, die einzige Möglichkeit, eine Art Konzept für meine Ideen zu entwickeln.“ Als Grundlage dienten ihr ClipArt-Motive – der rechtefreie Deko-Schrott aus dem Internet, die comic-artigen Bildchen, mit denen man Grußkarten oder Desktops verziert. as Zeichnen und Arbeiten an ihren Gemälden ist für sie jedoch eine völlig andere Arbeitsweise. „Es hat nichts Analytisches. Ich kann dieses Gefühl gar nicht beschreiben, wenn man körperlich D REVUE 64 mehr nachvollziehbar ist. Doch in dem Moment, in dem Hände ins Spiel kamen und gemalt wurde, wie etwa bei Pamela Rosenkranz, ergab sich ein Gegensatz – es wurde gestisch gemalt. Die malerische Geste steht für den Maler an sich. Bei Avery verschwindet sie komplett.“ Dass Singer 2012 entdeckt wird, ist beinahe Zufall. „Mein Freund Daniel Keller, der auch bei Kraupa-Tuskany Zeidler ist, und ich folgten uns schon lange auf Facebook. Ich postete Bilder von meinen neuen Arbeiten, einfach weil ich mitteilen wollte, woran ich arbeite. Er mochte die Sachen und sagte, er würde sie der Galerie zeigen. Sie schickten tatsächlich eine E-Mail und dann kam es zum ersten Studiobesuch in meinem Leben.“ Paradoxerweise heißt das Gemälde, das Singer gerade fertiggestellt hatte und für den Besuch aufgehängt hat, Studio Visit. „Dieses Bild war eine Fantasie darüber, wie sich so etwas abspielen würde. Ich wollte es realistisch darstellen. Ich dachte an dieses verschwitzte, ungemütliche Ambiente, an peinliche Momente. Ich liebe diese Sachen und noch niemand hatte das in einem Bild zusammengebracht.“ ls die Galeristen eintreffen, befinden sie sich plötzlich in einer surrealen Lage, wie KraupaTuskany erzählt: „Meine Frau und ich saßen vor dem Bild und natürlich wurde auf einmal klar, dass die Situation sich hier quasi umgedreht hatte. Avery gab uns Texte zu lesen, fiktive press releases, die sie damals geschrieben hatte, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten, aber viel mit dem Denken, der Strategie in ihrer Arbeit. Wir fühlten uns ertappt in dieser Hierarchie der Studio Visits und mussten dann ins Gespräch einsteigen.“ Tatsächlich gleichen Singers makelund gesichtslose Gemälde Meta-Konversationen darüber, wie man malt, Kunst macht, lebt, wie man verführt oder verführt wird. „Die Glätte ist die Signatur der Gegenwart“, schreibt der Berliner Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han in seinem viel diskutierten Buch Die Errettung des Schönen. Das Glatte, etwa des iPhones oder einer Jeff-Koons-Skulptur verkörpere einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ – den der Positivgesellschaft, die A anschmiegsam und widerstandslos konsumiert. Und genau diese Glätte fasziniert auch die Künstler der PostInternet-Generation, die ihre Werke ganz unromantisch in den Warenkreislauf des Kunstmarktes einspeisen. So ist es auch kein Zufall, dass immer mehr Produkte der Post-Internet-Art mit High-tech-Unternehmen der Luxus- oder Unterhaltungsindustrie produziert werden. Auch die distanzierte Glätte von Avery Singers Gemälden könnte in dieses Schema passen. Doch ist diese Glätte genauso doppelbödig und ironisch konnotiert, wie es die Figuren und Situationen auf ihren Bildern sind. ine Art Studienausstellung nennt sie ihre aktuelle Schau im Hammer Museum, in der sie erstmals Farbe einsetzt. Die transparenten, hellblau fluoreszierenden Gitter, die roten Formen, die aus Maschinenkörpern herausleuchten, wirken wie Elemente in nachträglich eingefärbten Schwarz-WeißFilmen: „Ich dachte an Filme aus den Fünfzigern, auf gewisse Weise etwas sehr Romantisches.“ Immer wieder ahmt Singer kinematografische Mittel nach, die sie wie eine Regisseurin einsetzt, um psychologisch aufgeladene Szenen zu gestalten. Da sind die wie durch einen Fettfilter gefilmten, verschwimmenden Außenränder, die als dramatischer Effekt in Melodrameneingesetzt werden – etwa, wenn sich eine Person erinnert, träumt oder das Bewusstsein verliert. In der Oberfläche konserviert liegen bei Singer das verhallte Pathos und die gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts – aber auch die ganze Peinlichkeit, Tragikomik und Hysterie dieses Scheiterns. Die mühsam per Hand hergestellte Glätte ihrer vermeintlich „digitalen“ Bilder ist ebenso verwegen wie die waghalsigen Konstruktionen in ihren Bildern. Singer E THE STUDIO VISIT, 2012, ACRYL AUF LEINWAND, 244 × 183 CM entwickelt aus dieser Gebrochenheit eine neue progressive Malerei.Doch die ist bei aller Experimentierlust kaum optimistisch. Als Singer von einem Besuch im Getty Museum in Los Angeles erzählt und von der Sammlung der Impressionisten schwärmt, frage ich sie, ob sie angesichts der technologischen Umwälzungen des digitalen Zeitalters nicht eine ähnliche Begeisterung für den Fortschritt fühlt, wie sie die Künstler des 19. Jahrhunderts angesichts von Beschleunigung und technischem Fortschritt empfanden. Sie denkt kurz nach, dann kommt wieder dieses leise Lachen. „Der Kapitalismus verändert ständig alles um uns herum und produziert ständig neue Dinge, die uns dazu verführen, andere Dinge zu wollen. Unsere visuelle Kultur transformiert sich ständig. Aber unser Denken hat sich REVUE 65 nicht geändert, wir ändern uns nicht. Als ich den ersten Band von Marx’ Kapital las, in dem er die kapitalistische Gesellschaft beschreibt, kam es mir vor, als habe sich rein gar nichts verändert. Die Wirtschaft, die Zirkulation, der Profit – alles ist genau dasselbe, seit er dieses Buch geschrieben hat.“ Mir geht für einen Augenblick dieses Singer-artige Bild durch den Kopf: Wir sitzen wieder in dem bühnenartigen Café, dieser abstrakten platonischen Höhle. Alles wird zu reiner Form, unser Körper zu Geometrie. Die Klingeltöne, unsere Worte, fallen wie ein ornamentaler Schatten über uns – ein sprachloses, gitterartiges Geflecht, in das manchmal Zahlen oder Fragmente von Buchstaben eingearbeitet sind. AVERY SINGER, BIS 17. JANUAR 2016, HAMMER MUSEUM, LOS ANGELES REVUE 66 EXIL EINES BOHEMIENS TEXT: BRIAN DILLON ÜBERSETZUNG: WILHELM VON WERTHERN FOTOS: NICK BALLON PABLO BRONSTEIN liebt die Kulisse, in seiner Kunst und in seinem Haus in der Grafschaft Kent. Dorthin flüchtet er vor der Welt der klaren Linien. Uns hat er seine Wunderkammer geöffnet REVUE 67 Als junger Künstler sah sich Bronstein in der Tradition wenig angesagter „camp rebels“. Schon damals hatte er das Gefühl, „nichts mit irgendjemand anderem gemein zu haben“ B ei klarer Sicht kann man von Deal, früher einmal ein kleiner Fischerei- und Handelshafen am östlichen Rand der Grafschaft Kent, die französische Küste sehen. Ein Rest eigenwilliges England wohnt noch in diesen Orten, die an die Träume der englischen Boheme vom Kontinent erinnern. Deal war eine Enklave für Theaterleute und wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wochenendzuflucht, beliebt bei schwulen Schauspielern, Regisseuren und Designern aus der Hauptstadt. Im Zentrum des Städtchens besitzt der Künstler Pablo Bronstein seit 2011 ein Haus. Ganz in seiner Nähe wohnte einmal Charles Hawtrey, ein homosexueller Komödiendarsteller. Bronstein bewundert, was er die „historische Tuntigkeit“ von Deal nennt. Womit er auch das Erbe des Ästhetizismus meint, das er hier spürt. Antiker Glamour, das Spiel mit Kitsch, Fragen zu Politik und Wirtschaft – alle die Aspekte von Bronsteins künstlerischer Arbeit finden hier ihr Echo, in diesem kleinen Knotenpunkt britischer Seemacht, in dem er sich zu leben entschlossen hat. Bekannt geworden ist Bronstein mit skurrilen Zeichnungen. Daneben gibt es aber auch Installationen, Skulpturen und Performances in seinem Werk. Nicht selten fallen an seinen Projekten überbordende Strukturen auf: öffentliche Toiletten, die wie Grotten oder Mausoleen aussehen, palladianische Villen, die er in grellen Primärfarben angemalt hat, riesige, an totalitäre Architektur erinnernde Klötze mit kleinen, nur aus der Luft sichtbaren Innenhöfen. Bronstein stammt aus Argentinien, wo er 1977 geboren wurde. Seine Familie zog nach England, als er noch ein kleines Kind war. Im heruntergekommenen Londoner Vorort Neasden, wo die Familie wohnte, schwelgte er in Erinnerungen an das Haus seiner Großmutter in Buenos Aires mit seinen luftigen Salons im französischen Stil des 18. Jahrhunderts. Er begann, imaginäre Gebäude und aufwendige Interieurs zu zeichnen; mit 16 dekorierte er sein Zimmer im Stil eines barocken Palazzos. Ein paar Monate studierte er Architektur, dann wechselte er an die Kunstakademie. Schon damals hatte er das Gefühl, „nichts mit irgendjemand anderem gemein zu haben“. PABLO BRONSTEIN THE BIRTH OF THE SKYSCRAPER FROM BOTANICAL ARCHITECTURE, 2015 REVUE 68 Bronstein-Barock: das „Chinesische Zimmer“, dekoriert mit Möbelfundstücken aus dem 18. Jahrhundert A Kein Stift, der gedankenlos herumläge: das Recherchezimmer des Künstlers ls junger Künstler sah sich Bronstein in der Tradition wenig angesagter „camp rebels“, zu denen er den Maler Rex Whistler mit seinen schwächlich wirkenden Figuren in allegorischen Landschaften rechnet oder Eugene Berman, dessen Gothicized Surrealism in Ruinen-Szenerien schwelgt. Auch gibt es in Bronsteins Werk deutliche Verweise auf eine bestimmte Richtung des englischen Films, bei dem sich zeitgenössische Kunst und Design mit einem historischen Narrativ überschneiden – insbesondere im Werk von Derek Jarman und Peter Greenaway. Mit anderen Worten: Bronsteins Kunst bezieht sich auf Formen der internationalen Avantgarde, die er mit dem Geist des englischen Ästhetizismus REVUE 69 auflädt. In einer Zeit, in der sich die Kunstszene mehr nach den klaren Linien der Moderne des letzten Jahrhunderts sehnt, wirken seine kunsthistorischen Eklektizismen fremd und faszinierend zugleich. Am leichtesten versteht man Bronsteins verrätselte Kunst, wenn man ihn in seinem Haus besucht, das um 1670 gebaut wurde. Der Künstler und sein Partner, der Journalist und Dichter Leo Boix, schwelgen hier in Wohnwelten des 17. und 18. Jahrhunderts und reichern sie mit allerlei Skurrilitäten an. So hängt im Vorderzimmer ein holländisches Gemälde aus dem frühen 16. Jahrhundert, auf dem der unbekannte Dargestellte schwarz gekleidet ist und seine Hand auf einem Jedem Zauber wohnt ein Schwindel inne: Cupido reitet auf einem bulligen Panther und würdigt die Vase, die so tut, als wäre sie aus dem fernen China, keines Blickes. Sie entstand aber im 17. Jahrhundert in Holland (links). Eine von Bronstein im Stil des 18. Jahrhunderts entworfene Vitrine mit antiken Silberarbeiten (rechts). Rechts unten: Pablo Bronstein und Leo Boix tafeln unterm Kugel-Kerzenleuchter großen Schädel ruht. Wenn man genauer hinsieht, wird es allerdings kompliziert. Dann leuchtet unter der schwarzen Farbe verschnörkeltes Brokat hervor. Anscheinend trug dieser Trübsal blasende Herr zuvor einmal ein ziemlich prächtiges Gewand. Oben im Arbeitszimmer nimmt Bronstein eine Keramik in die Hand. Eine Großkatze mit merkwürdigen Schlappohren, auf der sich eine Putte im Rodeostil festhält. Das wirkt so kurios wie der fette, gekreuzigte Christus, den ein Maler aus den Niederlanden auf eine Teekanne gemalt hat. Das seltsame Stück gehört zum Inventar des „Chinesischen Salons“, wo es viel Platz für die Exotika aus dem 18. Jahrhundert gibt: siamesische Zwillinge aus Porzellan, Frösche in einer Grotte, Fayencen, verziert mit westlichen Herrschaften in chinesischen Kostümen. Fehlt noch der Sekretär aus dem 17. Jahrhundert, der wie ein barocker Palast REVUE 70 gestaltet ist. In ihm scheint sich der ganze komplexe Stilmix des Hauses zu verkörpern. Zugleich steht er da wie ein Zeichen für Bronsteins Kunst. Einer Kunst, die irgendwo zwischen gelehrter Präzision, Schwindel und Rätsel schwebt. Manchmal sind selbst für den Künstler die Unterschiede nicht so ganz klar. Im Treppenhaus zeigt er auf ein niederländisches Möbelstück. „Merkwürdig, ich krieg einfach nicht heraus, was es ist.“ Sein Werk schwebt zwischen gelehrter Präzision, Schwindel und Rätsel. Manchmal sind selbst für den Künstler die Unterschiede nicht so ganz klar PABLO BRONSTEIN HOUSE OF A WASHERWOMAN, 2014 Albers Awe Baumeister Becher Cragg Dix Ernst Francis Fußmann Graubner Hartung Hesse Jawlensky Katz Kirchner Kneffel Knoebel Kollwitz Lehmpfuhl Liebermann Macke Marini Mataré Modersohn-Becker Münter Nauen Nolde Pechstein Picasso Piene Poliakoff Purrmann Richter Rohlfs Schleime Sintenis Tappert Ury Winter Zeniuk MEISTERWERKE JAHRE 40 − 27 September − 23 Januar 2016 Otto Piene Ohne Titel, 1963/64 Öl, Acryl und Rauch auf Leinwand 40 x 50 cm GALERIE LUDORFF Königsallee 22 D-40212 Düsseldorf Germany T +49-211-326566 F +49-211-323589 www. ludorff. com [email protected] -KEINE72 Alexej von Jawlensky, „Landschaft mit Bäumen“. 1909 Öl auf Karton. 50 × 54 cm. Jawlensky 272. Schätzpreis EUR 350.000–450.000 250. Auktion in Berlin 25.–28. November 2015 Fasanenstraße 25, 10719 Berlin grisebach.com -KEINE73 ENCORE 74 ENCORE DER FALL KARSCH — — WERTSACHEN — AU KT IO NE N GR AND PRIX — BL AU K ALENDER — DER AUGENBLICK DAS UNSAUBERE SPIEL DES STAATS Was uns mit dem Kulturschutzgesetz blüht, zeigt der Fall Florian Karsch: Als der Galerist eine Schenkung zurückzieht, verbietet ihm Berlin die Ausfuhr. Die Chronologie eines erbitterten Streits I n der Debatte um das neue Kulturschutzgesetz kann der Eindruck entstehen, ausschließlich die angestrebte neue Rechtslage stifte Streit zwischen Kunsthandel und Staat. Streit aber gab es auch zuvor, was kein Wunder ist, geht es doch um enorme Werte und Renommee und zugleich um ein knappes Gut: alte Kunst. Sie weckte immer schon Begehrlichkeiten. Doch bislang wurde die Macht der Kulturgutschutzliste kaum angewendet. Das soll mit dem geplanten Gesetz anders werden. Ein Beispiel für einen Blick in die Zukunft ist das seit zehn Jahren andauernde Ringen Erst kurz vor seinem Tod geschah ihm endlich Recht: Die West-Berliner Institution Florian Karsch malt sich selbst in der Galerie Nierendorf, um 1995 der Berliner Galerie Nierendorf mit dem Berliner Senat. Nierendorf ist eine Berliner Institution, geboren in Köln. Dort eröffnen die Brüder Karl und Josef Nierendorf 1920 eine Galerie für moderne Kunst ihrer Zeit: Dix, Grosz, Heckel, Klee, Kandinsky, Otto Mueller. Das Geschäft läuft so gut, dass Karl Nierendorf schon drei Jahre später nach Berlin expandiert. Seine Galerie wird zum Spiegel des Jahrhunderts. Die 20er-Jahre bringen Erfolge und Geldsorgen, Künstlerfreunde und Liebesturbulenzen, die düsteren Dreißiger politische Pressionen und ENCORE 75 Beschlagnahmungen „entarteter“ Werke. Nach dem Krieg ersteht die Galerie wieder auf, nun unter Florian Karsch, der sie erfolgreich weiterführt und eine bekannte Gestalt der West-Berliner Jahrzehnte wird. Heute ist Nierendorf eines der ersten – und wenigen – Kunsthandelshäuser für die klassische Moderne, die Berlin noch hat. Den alternden Florian Karsch treibt die Sorge um, wie es dereinst weitergehen solle mit seinem Lebenswerk. Seine Frau Inge und er sind kinderlos, aber da ist dieser junge Mann. Eingewandert aus der Türkei, kam er als Passepartout-Zuschneider 1973 zu den Karschs, fand rasch ins Galeriegeschäft hinein und mehr als das – er wurde ein Teil der Familie. Florian Karsch adoptiert ihn 1994 und macht ihn zu seinem Erben. Und noch ein Problem bereitet ihm Sorge. „Wenn ich morgen sterbe, bist du pleite“, habe Karsch 1994 zu ihm gesagt, erzählt Ergün Özdemir-Karsch, sein Adoptivsohn. „Ich hätte Unsummen Erbschaftssteuer zahlen müssen, das hätte das Ende der Galerie bedeutet.“ Florian Karsch hatte eine Idee. „Wir schenken“, gibt sein Adoptivsohn ihn wieder, „dem Land Berlin die Hälfte unserer Bilder im Wert von gut 50 Millionen Mark.“ Das tut er 1995 in einem notariellen Vertrag. So hoffte der Galerist die gewaltige Erbschaftssteuer zu vermeiden und die Zukunft seiner Galerie zu sichern. „Florian wollte nicht, dass sein Lebenswerk nach seinem Tod in irgendeinem Keller verschwindet.“ Karsch räumte der landeseigenen Berlinischen Galerie das Recht ein, die Hälfte seines Kunstbestandes, gemessen an dessen Wert, frei auszuwählen. Das seien etwa 1.000 Blätter gewesen, sagt sein Adoptivsohn, darunter das gesamte grafische Werk von Otto Dix, das allein schon aus rund 500 Blättern besteht. Groß beraten lassen habe sich Florian Karsch bei diesem Vertrag mit dem damaligen Berliner Kultursenator Roloff-Momin nicht. Es ist der Stil eines Mannes aus der Kunstwelt, in der das Geschäftliche nicht bloß kühles Kalkül ist, sondern eng verwoben mit Künstlerfreundschaften, Kunstleidenschaften, Verkäufen beim Essen und Abreden per Handschlag. Später, sagt Ergün ÖzdemirKarsch, habe man den Schenkungsvertrag einem Steuerberater gezeigt. „Der war entsetzt. ‚Um Gottes Willen, Herr Karsch, was haben Sie da unterschrieben!‘ “ arsch kommt dem Staat weit entgegen. Obwohl die Schenkung laut Vertrag erst nach seinem Tod vollzogen werden soll, bietet er der Berlinischen Galerie an, das Riesengeschenk gleich an sich zu nehmen – und die sagt nicht nein. So gehen die Bilder fort. In diese Lage hinein kracht eine Steuerprüfung. Ihr Resultat: Nierendorf wird eine Steuernachzahlung in Höhe von 20 Millionen Mark auferlegt. Karsch sieht sich genötigt, seine Schenkung zu wieder- K GEORGE GROSZ Belebte Straßenszene, um 1918, Tuschfeder, 56 × 38 cm rufen. Das Land Berlin sieht das nicht ein und besteht auf Vertragserfüllung. Die Prozesse, die nun folgen, füllen viele Aktenordner der Galerie und sie kosten weiteres Geld. DIE NUTZNIESSER DER SCHENKUNG ALS GUTACHTER IN EIGENER SACHE „Die andere Hälfte des Kunstbestandes, der uns nach der Schenkung verblieben war, haben wir damals unter Wert an Kollegen verkauft“, sagt Özdemir-Karsch. Hier nun kommt der Kulturschutz ins Spiel und naturgemäß ist die Bewertung dessen, was jetzt geschieht, heftig umstritten. Aus Sicht der Galerie war die Sache so: „Als wir auf Aufhebung der Schenkung klagten, erklärte man die wichtigsten Bilder aus der Schenkung zum nationalen Kulturgut.“ Will sagen: Wenn wir die Bilder, jedenfalls die wirklich wertvollen, nicht geschenkt bekommen, dann setzen wir sie auf die Kulturgutliste, dann dürfen sie nicht ins Ausland verkauft werden, dann sinkt ihr Preis, dann ergibt sich vielleicht Gelegenheit, sie preiswert zu kaufen. So weit die Interpretation der Galerie. Tatsache ist, während er auf Rückgabe seiner Bilder klagt, bekommt Florian ENCORE 76 OTTO MUELLER Zwischen Bäumen stehendes Mädchen/Stehender Mädchenakt im Walde, um 1925, Aquarell und Farbkreiden, 69 × 52 cm Karsch Post vom Berliner Senat. Im März 2006 zeigt man ihm an, ein Verfahren zur Eintragung von sieben der strittigen Bilder ins Verzeichnis national wertvoller Kulturgüter werde nun eröffnet. Es geht um drei Werke von George Grosz, eines von Hannah Höch, eines von Otto Mueller und zwei von Ernst Ludwig Kirchner. Ebenfalls im März 2006 erstellen Mitarbeiter der Berlinischen Galerie – also des Nutznießers der Schenkung – für das Land Berlin Stellungnahmen zu den strittigen Werken. Die Frage ist: Wäre ein Verkauf jener sieben Bilder ins Ausland ein wesentlicher Verlust für das deutsche Kulturgut? Die Gutachten bejahen das. Die Galerie Nierendorf widerspricht. Woraufhin der Berliner Senat die Berlinische Galerie erneut um eine Stellungnahme bittet – und diese ihre vorherigen Gutachten bekräftigt. Im Oktober 2006 tagt Berlins Sachverständigen-Ausschuss für Kulturgut in der Causa Nierendorf und stimmt „mehrheitlich“ der Einschätzung der sieben Bilder als national wertvolle Kulturgüter zu. Was den Preis der Bilder drückt, da sie nur mehr auf dem deutschen Markt verkauft werden dürfen. Das Berliner Verwaltungsgericht, das den Streit schließlich entscheidet, rekapituliert ihn noch einmal Punkt für Punkt in der Umstand, dass die Werke angesichts der aus dem Kulturschutzgesetz folgenden Ausfuhrerschwernis für andere Erwerber weniger attraktiv wurden, nicht ungelegen gekommen sein.“ Nicht ungelegen gekommen – muss man mehr sagen? Doch weiter. Das Land Berlin bestreitet jeden Zusammenhang zwischen seinem Kulturschutzverfahren für die sieben Karsch-Bilder und dem Appetit seines Landesmuseums auf ebendiese Bilder: „Die Behauptung ist nicht zutreffend. Die Einleitung des Verfahrens zur EintraERNST LUDWIG KIRCHNER Tanzende nackte Mädchen, um 1910, Deckfarbe gung in das Verzeichnis national wertvollen und Feder, 46 × 52 cm Kulturgutes erfolgte am 28.03.2006. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Werke seinem Urteil vom 22. Januar 2015. Was die nicht mehr als Leihgaben in der BerliniBewertung der sieben Bilder angeht, gibt schen Galerie. Der Abzug der Leihgaben das Urteil der Galerie Nierendorf weitgeerfolgte, nachdem Herr Karsch das in HANNAH HÖCH hend Recht: Mit einer Ausnahme (George einem notariellen Vertrag aus dem Jahr Ertüchtigung, 1925, Collage, 28 × 19 cm Grosz: Brillantenschieber im Café Kaiserhof) 1995 enthaltene Schenkungsangebot im nimmt es die Bilder von der Kulturgutliste. Jahr 2002 widerrufen hatte.“ Das Gericht hat ein eigenes Gutachten Das stimmt soweit. Was aber die Verdacht der Galerie Nierendorf, der Senat eingeholt, das den Gutachten der BerliniSenatskanzlei unerwähnt lässt, ist der jahrehabe parteiisch gutachten lassen, um billiger lange Kampf um die Bilder, der auf schen Galerie überwiegend widerspricht. u der dahinterstehenden Frage äußert an die Bilder zu kommen, schließt sich dem Karschs Widerruf seiner Schenkung im sich das Gericht nicht: Ist es nicht aber nicht an. Zweifel bleiben aber auch im Jahre 2002 folgte. Erst 2010 entschied anrüchig, wenn dasselbe LandesUrteil. Die Richter schreiben hinein, dass das Berliner Kammergericht zu seinen museum, das beschenkt werden sollte, in „Zweifel an der (vollständigen) UnparteiGunsten. Florian Karsch erhielt seine Bilder einer für den Wert dieser Bilder so elemen- lichkeit nicht ausgeräumt werden konnten.“ zurück. Anfang Oktober dieses Jahres taren Frage als Gutachter auftritt? Sind Was jedoch schwerer wiegt und am ist er im Alter von 90 Jahren verstorben. Es hier nicht Gutachter und Nutznießer des Ende wirklich zählt, ist dies: Das Gericht war sehr wohl so, dass sein Kampf um Gutachtens identisch? Wie kann es da bestellt ein eigenes Gutachten zu den sieben seine Bilder mit dem Berliner Senat und unparteiisch zugehen? Und was sagt der strittigen Bildern und traut diesem mehr der Versuch des Senats, die Bilder unter Berliner Senat dazu? als den Gutachten der Berlinischen Galerie. Kulturschutz zu stellen, parallel liefen. Die Senatskanzlei erklärt auf Anfrage „Äußerungen von interessierter Seite“ Es ist kein schlichtes Schwarz-Weiß von Blau: „Der Direktor der Berlinischen nennt sie die Galerie Nierendorf – zitiert Bild, das sich hier bietet – hier der herzensGalerie, Dr. Thomas Köhler, war zum Zeitaus dem Urteil des Verwaltungsgerichts. gute Kunsthändler, dort der kunstgierige punkt der Beschlussfassung des SachverMan muss sich in diesen 26-Seiten-Text Staat. Was aber der Fall Karsch zeigt, ist ständigenausschusses am 20.10.2006 nicht hineinlesen, um zu erkennen, dass juristidies: In kaum einem anderen WirtschaftsMitglied oder stellvertretendes Mitglied sche Prosa durchaus Spielraum bietet für zweig ist der Staat so sehr aktiver Player des Sachverständigenausschusses. Herr Dr. sprachliche Feinheit und Süffisanz. wie im Kunsthandel. Sobald es um Kunst Köhler hat als stellvertretendes Mitglied Da steht der kraftvoll urteilende Satz: geht, beschränkt sich der Staat nicht wie erst an der Sitzung des Sachverständigenaus- „Zureichende Anhaltspunkte dafür, dass gemeinhin sonst darauf, dem Wirtschaftsschusses am 18.05.2011 teilgenommen. die Verfahrenseinleitung – wie der Kläger leben die Regeln zu setzen und Steuern In dieser Sitzung hat der Ausschuss keinen meint – in Wahrheit einzig darauf zielte, zu erheben. Vielmehr wirtschaftet er Beschluss über die Eintragung gefasst, den Verkaufswert der Kunstwerke zu min- ziemlich massiv mit. Er ist Partei. Und diese sondern lediglich auf das bereits vorliegende dern, um so einen Erwerb durch das Land Konstellation – Mitbewerber auf dem Votum vom 20.10.2006 verwiesen.“ Berlin zu erleichtern, sind nicht ersichtlich.“ Kunstmarkt zu sein und zugleich diesen zu Weiter verweist die Senatskanzlei auf Will sagen, der Galerist Florian Karsch regulieren – ist systemisch anfällig für das genannte Urteil des Verwaltungsgeunterstellt dem Land Berlin eine böswillige allerlei unschöne Aktionen. richts – darin würden beim Senat „keine Absicht, die so nicht beweisbar ist. Dann Verfahrensfehler beanstandet“. Das stimmt. aber der nächste Satz: „Zwar mag dem am Zwar referiert das Urteil ausgiebig den Erwerb der Werke interessierten Beklagten TEXT: WOLFGANG BÜSCHER Z ENCORE 77 WERT SACHEN — DER FALL KARSCH — U K TI O N EN — A WERTSACHEN R AU K ALENDE GRAND PRIX — BL — DER AUGENBL ICK Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot des Kunsthandels UMARMUNGSAKT Die Dokumentation ihrer New Yorker Freundeswelt war Nan Goldin, Jahrgang 1953, Instrument der Selbstvergewisserung. Darin pulsierte die Angst, ohne diese Erinnerungen nicht sein zu können. Ihre Wirklichkeit ist hart: Sterbende, Geschlagene, Zugedröhnte. Meist schaut man müden Lebensgeistern in die Augen. Dieses seltene Motiv ist zurückhaltender – und doch wird auch hier ein Raum für die Fantasie gelassen: Ein kraftvoller Männerarm greift fest um die Taille der Frau, die struppigen Haare verdecken, was wir uns nun vorstellen müssen: einen innigen Kuss, eine aggressive Fotografie und Fotobücher Umarmung? The Hug, NYC, von 1980, abgezogen 2. Dezember bei 2007, ist auf 4.000 Euro geschätzt. SWKA Bassenge in Berlin MANN UND FRAU Meister von Hoo und seine Schüler Klassische Moderne Der Maler Rudolf Wacker (1893–1939) 24. bis 26. November bei war selbst ein großer Kakteenzüchter. im Kinsky in Wien Der Eros seiner Leidenschaft sticht nicht gleich ins Auge. Dabei ist die Symbolik ganz klar: Stachel = Mann. Rundung = Frau. Stillleben mit Fettpflanze hat der Bregenzer sein Bild genannt. Herz-Ass-Spielkarte, Preisschild und rosa Jugendstil-Teppich ergänzen die charakteristische Symbolik der Neuen Sachlichkeit (Taxe 100.000–200.000 Euro). GB Er ist einer der großen Buchmaler des Spätmittelalters. Seinen Notnamen Meister von Hoo erhielt er von einem Stundenbuch, das Mitte des 15. Jahrhunderts für Thomas Lord Hoo, Kanzler der Normandie, entstand und heute in der Dubliner Royal Academy bewahrt wird. Seine Bilderfindungsgabe hat der international tätige Künstler weitergegeben: Jetzt wird ein Pariser Stundenbuch versteigert, dessen zwölf große Miniaturen im Stil des Meisters gemalt sind. Im Marienoffizium des Gebetskalenders finden sich Szenen der Verkündigung, der Darbringung im Tempel oder der Flucht. Über das Brevier der Bußpsalmen wacht König David (Taxe 100.000 Euro). WOE ENCORE 78 Wertvolle Bücher 23. und 24. November bei Ketterer in Hamburg EINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION www.cofacontemporary.de AUKTIONEN 3. – 5. NOV. DOROTHEUM IN WIEN Kunstgewerbe, Design und Grafik 4./5. NOV. SOTHEBY’S IN NEW YORK Alfred Taubman: Masterworks 5./6. NOV. SOTHEBY’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne 9N 9. NOV. OV. OV V. Die neue Plattform für zeitgenössische Kunst CHRI CH CHRISTIE’S R ST STIE IE’S ’S S IN N NE NEW EW YO YORK RK K The A Artist’s rtitst’s Muse: rt A Curated Cura ur ted e Evening Eveniing Sal SSalee of 20th Sa 0 C 0th Century enturyy Art A 10./11. NOV. CHRISTIE’S IN NEW YORK Gegenwartskunst 11./12. NOV. SOTHEBY’S IN NEW YORK Gegenwartskunst 12./13. NOV. CHRISTIE’S IN NEW YORK Moderne und Impressionismus 13. NOV. KARL & FABER IN MÜNCHEN Alte Meister und 19. Jh. 13./14. NOV. VAN HAM IN KÖLN Alte Kunst und Europäisches Kunstgewerbe 12. – 14. NOV. LEMPERTZ IN KÖLN Alte Kunst und Kunstgewerbe, Gemälde und Zeichnungen des 19. Jahrhunderts 18. NOV. KOLLER IN ZÜRICH Asiatica 18. NOV. NAGEL IN STUTTGART Moderne und Gegenwartskunst 20. NOV. KETTERER IN MÜNCHEN Alte Meister und 19. JJahrhundert 21.1. NO 2 NOV. V PIN – BE B BENEFIZAUKTION, NEFIZA ZAUK U TIION,, PI UK P PINAKOTHEK NAKOTH HEK E IIN N MÜ MÜNCHEN ÜN NC CH HE EN Ge Gegenwartskunst Gegen g war gen w tsk t uns unst 23. NOV. HASSFURTHER IN WIEN Alte Meister und Moderne Kunst 23./24. 23 2 3./24 24 4. NOV. KE K KETTERER TTER E ER R IIN N HA HAMBURG AMB MBUR U G We Wertvolle Wertv rtvoll rt ollle B Bücher ücher üch er 24./25. NOV. SOTHEBY’S IN LONDON Sammlung Bernheimer 24. NOV. BASSENGE IN BERLIN Bücher, Graphik und Autographen 24./25. NOV. HAUSWEDELL & NOLTE IN HAMBURG Galerien · Galleries: Klaus Benden, Köln | Clement & Schneider, Bonn | Conrads, Düsseldorf | Cosar HMT, Düsseldorf | Philine Cremer, Düsseldorf | Drei, Köln | Fiebach,Minninger, Köln | Julia Garnatz, Köln | Hammelehle und Ahrens, Köln | Heinz Holtmann, Köln | Natalia Hug, Köln | Martin Kudlek, Köln | Löhrl, Mönchengladbach | Markus Lüttgen, Köln | Martinetz, Köln | Mirko Mayer, Köln | Nagel Draxler, Köln, Berlin | Priska Pasquer, Köln | Rupert Pfab, Düsseldorf | Berthold Pott, Köln | Thomas Rehbein, Köln | Petra Rinck, Düsseldorf | Philipp von Rosen, Köln | Ruttkowski 68, Köln | Scharmann & Laskowski, Köln | Brigitte Schenk, Köln | Schönewald, Düsseldorf | Setareh Gallery, Düsseldorf | Sies + Höke, Düsseldorf | TZR Kai Brückner, Düsseldorf | Van der Grinten, Köln | VAN HORN, Düsseldorf Bücher und Autographen 24.. – 26 2 24 2 26.. NO N NOV. OV. V IM MK KINSKY I SK IN S Y IN IN W WIEN IEN IE N Alte Mei Meister M ster und 19. 9. Ja JJahrhundert, hrhunddert e , Moderne Modern Mod erne rrnne und und nd Geg Ge Gegenwartskunst, genw nwart artsku art skunst sk st,, A st Antiquitäten, ntitiqui qqui uiität tät äten, enn, Jugen Ju Jugendstil ugendst gendstil gen ds ilil und dst uunnd nd D De Design eesig ssig si sign iggn 25. – 27. NOV. FISCHER IN LUZERN Kunst und Antiquitäten q 25. 25 2 5. – 28 28. N NOV. OV. V VILLA A GR G GRISEBACH I EB IS BAC ACH H IN N BER BERLIN ER RLIN 19. Jahrhun Jahrhundert, u der de t,, Moderne Modern Mod ern rnne und undd Geg Gegenwartskunst, genw en art artsku sk nstt, F sku Fotografi otogra oto g fiee,, O gra Orangerie ranger ran g ie ger 26. NOV. Projekträume · Non-Profit Spaces: Belle Air / New Bretagne, Essen | Bruch & Dallas, Köln | CAPRI, Düsseldorf | Jagla Ausstellungsraum, Köln | Kjubh Ausstellungsraum, Köln | Melange, Köln | Simultanhalle, Köln | SSZ Sued, Köln VAN HAM IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst 27./28. NOV. LEMPERTZ IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst, Fotografie 27./28. NOV. STAHL IN HAMBURG Kunst und Antiquitäten 28. NOV. NEUMEISTER IN MÜNCHEN Sonderauktion in Bernried, expressionistische Druckgraphik aus dem Nachlass Buchheim 2 D 2. DEZ. E . EZ BA BASSENGE ASS SSEN E GE G IN BE BERLIN ERL RLIN Fotografie undd Fo F Fotobücher tobücher Halle · Hall 11.2, Koelnmesse MOSCHEEN UND RUINEN Zypern ist seit 1974 eine geteilte Insel. Der griechische Süden ist nach vielen Kriegen christlich-orthodox, der türkische Norden muslimisch. Die Berliner Fotografin Johanna Diehl, der die Pinakothek der Moderne in München zurzeit eine Ausstellung widmet, reiste 2008 mit ihrer analogen Kamera in das gebeutelte Land – auf der Suche nach den Ruinen, die nach dem historischen Exodus PIN – Benefizauktion von Christen und Muslimen 21. November zurückblieben. Im Süden fand sie Pinakothek in München leerstehende, verfallene Moscheen. Im Norden wurden die Kirchen als islamische Gebetsräume genutzt. Johanna Diehl zeigt, wie sehr sich die Religionen und ihre Rituale ähneln, mit ihren Predigt-Kanzeln und strengen Regeln. Der Freundeskreis der Pinakothek der Moderne versteigert in seiner schon traditionellen Benefizauktion für das Museum eines ihrer besten Motive: Melanarga/Adaçay, Cyprus (North) aus dem Jahr 2009 für geschätzte 8.000 Euro. SWKA Gefangene im Raum Ausgewählte Werke 26. November bei Villa Grisebach in Berlin — DER FALL KARSCH — U K TI O N EN — A WERTSACHEN R AU K ALENDE GRAND PRIX — BL — DER AUGENBL ICK ANGST ESSEN POP-ART AUF In der Berlinischen Galerie würde er sich ausnehmend gut machen: der Kopf von Hans Uhlmann (1900–1975). Als ausgebildeter Maschinenbauer entsprach Uhlmann dem Bild des Künstlers als hochsensibler Gegenwartskunst Lichtensteins Nurse mit dem Techniker, wie ihn die Bildhauer Naum 9. November bei Monroe-Mund entstand in Gabo und Antoine Pevsner 1920 in ihrem Christie’s den frühen 60er-Jahren, als der Realistischen Manifest beschrieben hatten. in New York Künstler seine Motive aus Ein Künstler, der jedem Comic-Heften nahm und die amerikanische Illustrier„Ding sein eigenes Wesensbild“ te Life ihn „den schlechtesten Maler in den Vereinigten verleiht, Skulptur nicht Staaten“ nannte. Damals zog die Beleidigung noch. als plastische Anordnung von Inzwischen weiß man, wie sehr der Maler seine Massen versteht, sondern Vorlagen veränderte. Die Pop-Art-Ikone hat einmal als Konstruktion von Räumen. dem legendären Sammler Leon Kraushar gehört, Uhlmann musste 1933 mit sehr bevor sie zu Karl Ströher kam. Da sie später nicht zum wenig Raum auskommen: Er Aufgebot gehörte, das der Wella-Unternehmer dem wurde von der Gestapo verhaftet, Frankfurter MMK als Gründungsgeschenk vermachte, weil er antifaschistische Flugblätter ging der Siegeszug weiter: 1989 reiste sie zu verteilt hatte. In Gefangenschaft führte er Tagebuch, zeichnete und entwarf Skulpturen Peter Brant in die USA, 1995 erwarb sie der aktuelle Besitzer für rund 1,6 Millionen Dollar. Wenn man aus Draht und Blech, die er nach seiner an Lichtensteins etwa gleichaltrige Picasso-Adaption Entlassung umsetzte. So auch seine Kopfdenkt, die 56 Millionen einbrachte, ist der NurseSkulpturen aus verzinntem Eisenblech von Rekord programmiert (Taxe 80 Millionen Euro). HJM 1936 (Taxe 100.000–150.000 Euro). WOE ENCORE 80 Jankel Adler André Bauchant Bertozzi e Casoni Georges Braque GL Brierley Giorgio de Chirico George Condo Lovis Corinth Walter Dahn Nicolas Henry Jeaurat de Bertry Léon de Smet Jiří Georg Dokoupil Matthias Dornfeld James Ensor Jean Fautrier Marianna Gartner Bruno Goller Jenna Gribbon Julius Grünewald Heinrich Hoerle Leiko Ikemura Alexej Jawlensky Alexander Kanoldt Michael Kirkham Wolfe von Lenkiewicz Joseph Mangold Louyse Moillon Sabine Moritz Mariele Neudecker David Nicholson Pablo Picasso Till Rabus Anton Räderscheidt Odilon Redon Théodule-Augustin Ribot Wilhelm Schnarrenberger Georg Scholz Kurt Schwitters Jean-Nicolas Spayemant Félix Vallotton Stillleben gestern und heute 27. November 2015 bis 9. Januar 2016 Andy Warhol Cologne Fine Art Royce Weatherly 18. bis 22. November 2015 Galerie Michael Haas Niebuhrstraße 5, 10629 Berlin t + 49-30-88 92 91 0 Alexej Jawlensky, Stillleben mit Gockel, 1910, Öl auf Karton, 53,5 × 49,8 cm — DER FALL KARSCH — U K TI O N EN — A WERTSACHEN R AU K ALENDE GRAND PRIX — BL — DER AUGENBL ICK GRAND PRIX SCHNELLKUNST Die Sammler zieht es dahin, wo das schnelle Geld unstkaufen heißt, sich auf Entdeckungsreise begeben. Doch wer früher in Berlin-Mitte durch Hinterhöfe auf den Spuren junger Kunst wandelte, findet heute eine Luxus-Shopist. Und die pingmeile vor. Fast könnte man meinen, Galerien wie neugerriemschneider und Eigen + Art in Berlin hätten das geahnt, als sie einfach in ihren alten Räumen sitzen blieben. Galeristen Viele ihrer Kollegen flüchteten vor Coffeeshops und Touristenströmen in Richtung Westen – die Sammler sollten weiterhin den rauen Charme der Straße spüren, für den die Stadt international gefeiert wurde. jagen Doch unterdessen veränderte sich Mitte. Heute sitzen hier Start-ups wie Rocket Internet, Modelabel wie A.P.C., das Soho House, das Grill Royal. Große Entscheidungen fallen im Radius des Regierungshinterher viertels. Wenn das Geld nach Berlin kommt, wird es zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz FOLGT MAN DIESEM ZEICHEN, VERPASST MAN DAS ZENTRUM NIE K ausgegeben. Dieser Ort passt zu einer neuen Generation an Kunstkäufern: Sie ist jung, effizient, online. Und hat keine Zeit zum Schlendern: Wer gewohnt ist, sehr schnell sehr viel Geld zu investieren, will nicht lange laufen oder Taxi fahren, sich nicht die Concept Stores in den entlegenen Stadtteilen zusammensuchen. Und so ist es nur konsequent, wenn eine Galerie wie Gerhardsen Gerner, die hochpreisige Künstler wie Julian Opie und Carroll Dunham vertritt, nun von einem abgelegenen S-Bahnbogen zurück in die alte Mitte geht – in die ehemaligen Räume von Esther Schipper, die in den 90ern den Mythos von Mitte mitformte. Schon letztes Jahr tat die Galerie Neu diesen Schritt, als sie in derselben Straße ein Trafohaus zwischen Plattenbauten bezog. Ihre alten Räume waren keinen Kilometer entfernt – doch nun ist es auch zu Sprüth Magers und Johnen nur noch ein Katzensprung. Geschäftsleute sind oft nur für einen Tag in der Stadt. Um ihrer Effizienz entgegenzukommen, muss eine Galerie ins historische Zentrum der Stadt – sofern sie es sich leisten kann. Man kennt das aus anderen Metropolen: Im Marais in Paris oder Mayfair in London, wo Gagosian gerade seine zweite Adresse im Ballungsraum der Blue-Chip-Galerien und Modemarken eröffnet hat, verlieren Investoren keine Zeit. In Berlin-Mitte fühlt sich die Zentralisierung weniger gravitätisch an, aber sie funktioniert genauso: Die Geschwindigkeit, die Hedge-Fonds-Manager und Internetmillionäre in ihrem Business an den Tag legen, spiegelt sich im schnellen Konsum von Kunst. Längst werden die meisten Werke online gekauft – aus Räumen mit exorbitanten Mietpreisen heraus bieten die Galerien ihre Ware fast nur noch über JPEGs oder auf Messen an, die der Netzwerkstecker zur globalen Geschäftswelt sind. Doch was passiert mit der Kunst, wenn es mit dem Effizienzdenken immer so weitergeht? Ganz einfach: Dann wird auch die Stadtmitte zu weit weg sein. Geschäfte werden nur noch an Privatflughäfen gemacht. Gagosian und Thaddaeus Ropac haben schon vor drei Jahren in Paris ihre Räume dorthin verlagert. Vielleicht wird Tegel 2017 nicht schließen. Residieren dann in den Gates die Galerien? GESINE BORCHERDT ENCORE 82 Herbstauktionen 2015 12./13. Nov. Schmuck und Kunstgewerbe 14. Nov. Alte Kunst und 19. Jahrhundert 27./28. Nov. Moderne Kunst, Photographie, Zeitgenössische Kunst 4./5. Dez. Asiatische Kunst und The Kolodotschko Collection of Netsuke IV Günther Uecker. Wald. 1992. Äste, Nägel, Asche, Leim und Kohle auf Holz, ca. 240 x 200 cm. Auktion 28. Nov. Neumarkt 3 50667 Köln T 0221-92 57 290 Poststraße 22 10178 Berlin T 030-27 87 60 80 München 089-98 10 77 67 Zürich 044-422 19 11 Brüssel 02-514 05 86 [email protected] www.lempertz.com DÜRER & KENTRIDGE KULTURFORUM BERLIN 20.11.2015 – 06.03.2016 BLAU K ALENDER — DER FALL KARSCH — U K TI O N EN — A WERTSACHEN R AU K ALENDE GRAND PRIX — BL — DER AUGENBL ICK Unsere TERMINE im November HITO STEYERL Reina Sofia, Madrid 11.11.2015 – 21.03.2016 ALBRECHT DÜRER Die Buße des Hl. Johannes Chrysostomus, um 1496 lustige Avatare aus dem Nichts auftauchen, um sie kurz darauf wieder ins Nichts zu verabschieden. Analoge Spielszenen und digitale Bildbearbeitung fließen ineinan- Zimmeruhr mit Schäferpaar, Paris 1745–1750 GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN LIEBIEGHAUS FRANKFURT 04.11.2015 – 28.03.2016 Als 1715 der Tod des alten Sonnenkönigs verkündet wird, hat längst das ganze System begonnen zu sterben. Nur die Kunst dieser welken höfischen Welt gönnt sich einen letzten Neubeginn. Und so zwängt HITO STEYERL How not to be seen: A Fucking sich das Rokoko zwischen den Barock und die Jahre Didactic Educational .MOV File, 2013 der Revolution. Auf den großen Leinwänden verblassen die Götter. Alltägliche Figuren drängen in der. Wir fragen uns: die 1966 in München die Motivwelten hinein und mit ihnen ein neues Was ist real? Und was geborene Künstlerin Verständnis von Zärtlichkeit, Erotik und Frivolität. nur Schein? Dasein zu den wichtigsten Ein Zeitalter denkt über die Liebe nach. Das Liebiegund Verschwinden, Protagonistinnen des haus stemmt mit über 80 bedeutenden Werken das hat bei Steyerl Genres. In Deutschvon Étienne-Maurice Falconet (1716–1791) oder auch eine politische land hat sie ihren Johann Joachim Kändler (1706–1775) ein gewaltiges Qualität, etwa wenn Durchbruch erst in Fa ltfächer m diesem Jahr gefeiert – sie sich mit it ga Rokoko-Tableau aus Skulpturen, Gemälden, la n Wirtschaftsmit ihrem Beitrag im ten Grafiken sowie Kunsthandwerk. Sz problemen Deutschen Pavillon en en Angesichts der friedlichen Bilderwelt befasst oder auf der Biennale von erscheint es seltsam und logisch sich über die Venedig. Nun ist zugleich, dass auf die Zeit Macht der Steyerl im Museo Algorithmen Reina Sofia in Madrid entfesselter individueller lustig macht. zu sehen. In ihren Gefühlswelten ein kollektives Bei Hito Steyerls Videos holt Steyerl Wüten folgen wird. Noch Filmen gerät man alte Soul-Songs aus aber wiegt man sich unwillkürlich in den Untiefen von in Sicherheit: zarte LiebYoutube, collagiert ein einen Sog. Kunst kosungen und intime und Wirklichkeit dadaistisches, verschwimmen – und computergeneriertes Blicke. Der letzte Reigen Design dazu und lässt wir sind mittendrin. woe dieser Zeit. MW ,u m 0 176 Noch einmal das ganze DürerABC. Von den apokalyptischen Reitern über die Melencolia bis zum famosen Rhinocerus. Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt all die berühmten Blätter, was allein schon Grund zum Ausstellungsbesuch ist. Aber der Reiz liegt in der Gegenüberstellung mit dem eher verschwiegenen, im Ton gedämpften Werk des südafrikanischen Zeichners William Kentridge, dessen Graphic Novels von Exil, Vereinsamung, Gefangenschaft in alten Riten handeln und immer wieder Themen aus der Problemgeschichte des Landes aufgreifen. So erinnert die Lithografie Treason Trial an eine Prozess-Serie der frühen 60er-Jahre, bei der eine Gruppe Apartheid-Gegner wegen Landesverrats angeklagt und später freigesprochen wurden. Demgegenüber nimmt sich einer wie Dürer, dem es sichtlich um Publikumserfolg zu tun war, wie ein Antipode aus. Was die Grafiker über die Jahrhunderte verbindet, ist die suggestive Schwarz-WeißSprache, die beide gleich gut beherrschen. MÜ Kann Medienkunst intelligent sein und witzig zugleich? So, dass man nicht gleich wieder aufstehen und weiterlaufen will? Hito Steyerls Arbeiten halten einen fest. International gehört ENCORE 84 ANTON CORBIJN C/O Berlin, BERLIN 07.11.2015 – 31.01.2016 OLAF METZEL Links: Mao IV (das Rote Buch), 2014. Rechts: lo cambio, 2010 OLAF METZEL Neues Museum NÜRNBERG 13.11.2015 – 14.02.2016 ANTON CORBIJN Nina Hagen und Ari Up, Malibu 1990 Avantgarde funktioniert manchmal sehr schlicht. Man tut einfach: das Gegenteil der Masse. Meist ist es nicht neu, aber anders. In Zeiten von großem Bombast und SpektakelDebatten hat Anton Corbijn in den 80er-Jahren genau diese Anleitung befolgt. Während alle anderen bunt und schrill waren, suchte er die Wahrheit mit der Kamera. Und er untermauerte seinen Willen mit markanten Sprüchen: „I was always looking for inner beauty and struggle.“ Künstlerprosa? Corbijn traute sich in ein Metier, dass die Öberfläche zur Haupttanzfläche erklärt: die Musikindustrie. Körnigkeit, Unschärfe und harte Kontraste, ja in Licht, Schatten und hartem Schwarz-Weiß: So zeigte er Nina Hagen, die Rolling Stones, U2, Nirvana, Tom Waits, REM, Metallica, Depeche Mode oder auch Herbert Grönemeyer. Ob diese Melancholie nur auch wieder eine Form der Pose ist, das kann der Besucher im C/O Berlin entscheiden. Der Ort für Fotografie im Amerika Haus am Zoo zeigte Teile seiner Arbeiten schon 2005, doch nun gibt es einen besonderen Anlass: Zum 60. Geburtstag von Corbijn versammelt man 600 Fotografien, Filme und Memorabilia. Die zweiteilige Ausstellung zeigt sein gesamtes Werk der vergangenen 40 Jahre und seine Arbeiten aus der Musikwelt – darunter noch nie veröffentlichte Aufnahmen, die Corbijn selbst seine „verlorenen Bilder“ nennt. swka ENCORE 85 Olaf Metzel ist auf Krawall gebürstet. Seit den frühen 80er-Jahren gilt der Berliner Bildhauer, Jahrgang 1952, als Störenfried der saturierten Gesellschaft – als einer, der sich einmischt, kommentiert, provoziert. Doch geht das heute überhaupt noch? 1987 stapelte er auf dem Ku’damm rot-weiße Absperrgitter und Einkaufswagen aufeinander: Eine Art Tatlin’scher Turm als Mahnmal der Spießergesellschaft, den die Anwohner sofort wieder weghaben wollten. Heute steht das „Randale-Denkmal“ befriedet zwischen irgendwelchen Bürotürmen. Später nahm Metzel die Schwaben aufs Korn, indem er den Stuttgarter Kunstverein mit dem Wort Stammheim verzierte. Und 2007 stellte er ein nacktes Bronzemädchen mit Kopftuch in Wien auf. Er verlieh ihm den kalauernden Titel Turkish Delight – die Skulptur wurde fast augenblicklich zerstört und entfernt. Ad-hoc-Provokation klappt also nach wie vor. Seine Retrospektive hat Metzel nun Deutsche Kiste genannt. Titel der neuesten Arbeit darin: dermaßen regiert zu werden. Mal sehen, wer sich diesmal von ihm ärgern lässt. gb OLAF METZEL Deutsche Kiste, 1997 15 29–01 OCTOBER NOVEMBER 21st International Contemporary Art Fair www.kunstzuerich.ch KETUTA ALEXIMESKHISHVILI — DER FALL KARSCH — U K TI O N EN — A WERTSACHEN R AU K ALENDE GRAND PRIX — BL — DER AUGENBL ICK KÖLNISCHER KUNSTVEREIN 15.11. – 20.12.2015 GEORGES PIERRE Letztes Jahr in Marienbad, 1960. Mitte: FORT Match, 2015 LETZTES JAHR IN MARIENBAD Kunsthalle BREMEN 14.11.2015 – 13.03.2016 „Im Sommer 1929 hat es über eine Woche gefroren“ – Klaviersolo. „Gefiederte Flügel wie Schwäne“ – Klaviersolo. Diese kryptischen Satzfetzen sind aus Alain Resnais’ Film Letztes Jahr in Marienbad aus dem Jahr 1961, für den Chanel die Kostüme entwarf und bei dem Schlöndorff Assistent war. Das Werk ist die Ikone der Moderne im Kino, in dem sich Menschen im barocken Grand Hotel treffen und ein Mann seine große Liebe wiedererkennt – sie aber erinnert sich nicht. Die Bremer Kunsthalle nähert sich dem rätselhaften Film aus der Perspektive der Kunst, zu der er zweifellos selbst gehört. Vom formalen Barock über die mental strapaziöse Irritation des Zuschauers bis hin zum Bildaufbau – all das wurde nicht nur Nachfolgern zur Inspiration, wie David Claerbouts Bordeaux Piece von 2004, sondern entsprang auch künstlerischen Einflüssen wie den Bildern von Giorgio de Chirico. Eine lange überfällige Schau, denn sie tritt unter anderem dem Irrglauben entgegen, dass es für gute Kunst reicht, das eigene Medium zu thematisieren. Marienbad ist aber gerade keine leere Hommage an die Kunstform Film als solche – und darin zum Vorbild geworden. SWKA GIORGIO DE CHIRICO Piazza d’Italia con statua Fotografie muss nicht immer glatt sein. Wir leben zwar im Digitalzeitalter und man rechnet in diesem Genre schon fast mit nichts anderem mehr als mit cleanen, werbemäßigen Oberflächen. Doch es gibt Ausnahmen. Wenn Ketuta Alexi-Meskhishvili (geb. 1979) Blumen oder Tapetenmuster ablichtet, hat das nur auf den ersten Blick mit Dekoration und Design zu tun. Die in Berlin lebende Georgierin, die in New York bei Stephen Shore studierte, baut in ihre Kompositionen haptische Brüche ein: KETUTA ALEXI-MESKHISHVILI Blumen, 2013 Kratzer, Fingerabdrücke, Risse oder Sonnenstrahlen lassen die Motive ins Unklare driften. Heraus kommt eine süßlichseltsame Bildwelt, die an die morbide Schönheit des georgischen Filmemachers Sergei Paradschanow erinnert: Die Farbe des Granatapfels aus dem Jahr 1968, in dem parareligiöse Rituale zu erotischen Tableaux vivants verschmelzen, bildet so etwas wie das Hintergrundrauschen ihres Werks. Der Kölnische Kunstverein widmet Alexi-Meskhishvili nun die erste institutionelle Einzelschau in Deutschland. GB ENCORE 86 CATHY WILKES, Installationsansicht, LENTOS Kunstmuseum Linz, 2015 CATHY WILKES MUSEUM ABTEIBERG MÖNCHENGLADBACH 08.11.2015 – 14.02.2016 Man steht mitten auf einer Bühne: Kinderfiguren beugen sich über ein Waschbassin und tauchen sanft ihre Hände ein. Laufen hintereinander im Kreis. Warten bei einem Mann mit Gipskopf, der sich über einer Bierflasche krümmt. Weiß, zart und in fragile Lumpen gehüllt, wirken die Puppen der in Glasgow lebenden Künstlerin Cathy Wilkes (geb. 1966) wie Schlafwandler aus einer vergangenen Zeit: ärmlich, traurig, geisterhaft. Es sind Szenen voller Melancholie, die vom Verschwinden erzählen. Schon eine Figur reicht aus, um den Raum in eine Metapher von Leben und Tod zu verwandeln. Ähnlich ist es mit ihren kleinformatigen Gemälden, die wie Kondensate dieser Szenen wirken. Berühmt wurde Wilkes mit Schaufensterpuppen: Verdreht und entblößt lehnen sie als postapokalyptische Statuen am Rollband einer Supermarktkasse, sitzen auf einer Kloschüssel davor, den Kopf mit Schwesternhaube, Teetasse und Hufeisen behängt. Der Turner-Preis, den Wilkes 2008 dafür erhielt, hat sie nicht zum Superstar gemacht. Sie produziert nur wenig, stellt selten aus. Nun ist in Mönchengladbach ihre erste Retrospektive zu sehen. gb Detail einer Installation im LENTOS Kunstmuseum Linz 2015 r. DER ÖLE* IN FRANKREICH BASSENGE Bernard Aubertin (*1934). Objekt mit Nägeln und Acryl auf Holz. 1970. 40 x 40 cm. Signiert. Kunstauktionen 26.–28. November 2015 Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts Moderne und Zeitgenössische Kunst Fotoauktion 2. Dezember 2015 Mit einer Sammlung „Indien – Fotografien des 19. Jahrhunderts“ G A L E R I E B A S S E N G E · E R D E N E R S T R A S S E 5 A · 1419 3 B E R L I N Tel.: +49 30-8938029-0 · Fax: +49 30-8918025 · E-Mail: [email protected] · Kataloge: www.bassenge.com 88 www.colognefi neart.de Koelnmesse GmbH, Tel. +49 1806 018 550* * 0,20 Euro/Anruf aus dem dt. Festnetz; max. 0,60 Euro/Anruf aus dem Mobilfunknetz BILDNACHWEISE Nr. 6 / November 2015 TITEL: Courtesy and © Julian Schnabel. EDITORIAL: S. 5: Foto: Yves Borgwardt für BLAU. INHALT: S. 6 l.: Museumsverbund Nordfriesland. Foto: Sönke Ehlert/ Nordseemuseum Nissenhaus Husum. S. 6 M.: Courtesy Julian Schnabel. Foto: Paul Seward. S. 6 r.: Courtesy Miet Warlop. S. 8 l.: Courtesy Galerie Nierendorf, Berlin. S. 8 M.: Foto: Heji Shin für BLAU. S. 8 r. o.: Courtesy Im Kinsky. S. 8 u.: Foto: Nick Ballon. CONTRIBUTORS: S. 10 o.: Foto: laif. ESSAY: S. 13: Musée national Picasso-Paris. © Estate of Pablo Picasso. APÉRO: S. 16 l.: Courtesy Galerie Elizabeth Royer, Paris. © The Easton Foundation. Foto: Jean-Francois Jaussaud. S. 16 M: Courtesy Galerie Elizabeth Royer, Paris. Foto: JeanFrancois Jaussaud. S. 16 r.: Courtesy of DKUK. S. 17: Foto: dpa Picture Alliance. S. 18 l.: Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. ©BLAU. S. 18 r. o.: Courtesy of Ed Ruscha. S. 18 Mitte l. : Courtesy Museo Franchetti del Collegio San Giuseppe, Turin. S. 18 M. r.: Courtesy Archivio del Museo Antropologica criminale „Cesare Lombroso”, Università di Torino. S. 18 r. u.: Courtesy Skulpturensammlung Dresden. DICHTER DRAN: S. 20: © Rita Ackermann. Courtesy the artist and Hauser & Wirth. O-TON: S. 23 l. o.: Foto: ddp. S. 23 l. u.: Courtesy kjubh e.V. DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT: S. 23 r.: Courtesy Lamborghini. MIET WARLOP: S. 24: Foto: Jose Caldeira. S. 25 r. : 1. v. o., 3. v. o.: Fotos: Reinout Hiel, 2.v. o.: Foto: Jose Caldeira. S. 26: Foto: Reinout Hiel. BLITZSCHLAG: S. 28 l. u.: Courtesy Sprüth Magers. S. 28 r. o.: Foto: Lottermann and Fuentes für BLAU. UM DIE ECKE BRÜSSEL: S. 30 bis S. 32: Fotos: Vincen Beekman für BLAU. INTERVIEW EIKE SCHMIDT: S. 34: Foto Getty Images S. 36: Foto: Imago Sportfotodienst. JULIAN SCHNABEL: S. 38/39: Foto: Hans Namuth. Courtesy Center of Creative Photography, University of Arizona. © 1991 Hans Namuth Estate. S. 40/41, S. 42, S. 43, S. 44/45, S. 47, S. 48, S. 49, S. 50: Courtesy and © Julian Schnabel. S. 46: Courtesy Julian Schnabel. Foto: Sante d’Orazio. S. 51: Foto: Gregory Halpern für BLAU. PRINZESSIN VILMA LWOFF-PARLAGHY: S. 52 r. o.: Foto: ddp Images. S. 52 r. u.: Foto Getty Images. S. 53, S. 54 r. : Courtesy Museumsverbund Nordfriesland. Fotos: Sönke Ehlert/ NordseeMuseum Nissenhaus Husum. S. 54 l.: Courtesy Alte Nationalgalerie/Foto: smb/ J.P.Anders. AVERY SINGER: S. 58 : Foto: Heji Shin für BLAU. S. 59: Courtesy the artist and Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin. Foto: Jörg Lohse. S. 60/61, S. 62/63: Courtesy the artist and Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin. Foto: Thomas Mueller. S. 65: Courtesy the artist and Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin. Foto: Roman März. PABLO BRONSTEIN: S. 66, S. 67, S. 68/69 u., S. 69, S. 70, S. 71 u.: Fotos: Nick Ballon. © 2015 T Style Magazine. S. 68 o., S. 71 o.: Courtesy Herald St, London and Franco Noero, Turin. FLORIAN KARSCH: S. 75 bis 77: Courtesy Galerie Nierendorf, Berlin. WERTSACHEN: S. 78 l.: Courtesy im Kinsky. S. 78 r. o.: Courtesy Bassenge. S. 78 r. u.: Courtesy Ketterer. S. 80 l. o.: Courtesy Johanna Diehl, Galerie Fiebach Minninger, Köln und Ga- 89 lerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt am Main © Johanna Diehl. S. 80 l. u.: Courtesy Villa Grisebach. S. 80 r.: Courtesy Christie’s. KOLUMNE: S. 82: Foto: Thommy Weiss/Pixelio. KALENDER: S. 84 l.: ©bpk/Staatliche Museen zu Berlin Kupferstichkabinett/Volker-H. Schneider. S. 84 M.: Courtesy of the artist and Andrew Kreps Gallery, New York. S. 84 r. o.: Foto: Les Arts Décoratifs/Cyrille Bernard. S. 84 r. u.: © Historisches Museum Frankfurt. Foto: Horst Ziegenfusz. S. 85 l.: © Anton Corbijn. S. 85 r. o.: Courtesy the artist and Wentrup, Berlin. Fotos: Leonie Felle. S. 85 r. u.: Foto: Jens Ziehe. S. 86 l. o.: © Georges Pierre/Laurence Pierre–de Geyer. Foto: Österreichisches Filmmuseum, Wien. S. 86 l. u.: Foto: Musée d’Art Moderne/Roger-Viollet. S. 86 M.: Courtesy the artist and Micky Schubert, Berlin. S. 86 r. o.: Courtesy of the artist, Xavier Hufkens, Brussels and The Modern Institute/Toby Webster Ltd. Glasgow. Foto: Reinhard Haider. DER AUGENBLICK: © Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt/Courtesy Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm VG Bild-Kunst Bonn 2015 Louise Bourgeois, Giorgio de Chirico, George Grosz, Andreas Gursky, Hannah Höch, Anish Kapoor, Roy Lichtenstein, Olaf Metzel, Pablo Picasso, Julian Schnabel, Hans Uhlmann E VON BL AU DIE NÄCHSTE AUSGAB MBER 2015 VE ERSCHEIN T AM 28. NO CH IM NA DA D UN IN DER WELT EL ZEITSCHRIFTENHAND DER AUGENBLICK IM FROSTKLEID Ein fotografisches Still und seine Vorläufer MICHAEL SCHMIDT o.T., aus der Serie Lebensmittel, 2006 – 2010, C-Print, 56 × 82 cm A ls die deutsche Grenze sich öffnete, wunderten sich viele Ostdeutsche und fanden es (mit Nina Hagen) „ganz schön bunt hier“. Tatsächlich aber waren wir im Westen keineswegs mit Okra, Limetten, Rucola, Kiwi, Avocados und Papayas groß geworden. Das alles war erst in den 80er-Jahren zu uns gekommen und der Markt wächst immer noch – bis in exotische Nischen. Diese Papaya wurde wohl im Zwischenlager porträtiert. Auf den ersten Blick glaubt man, sie habe sich zum Schutz gegen die eigene Verderblich-keit ein Frostkleid angelegt. Verkniffen schaut sie vom Stielende her ihrem Schicksal, verzehrt zu werden, entgegen. Ohne Schwestern, ganz allein in Styropolis, erwartet sie die wie auch immer flüchtige Würdigung ihrer gelbgrünen Einzigartigkeit. Luxus hat seinen Preis. Auf den zweiten Blick sieht man etwas Vertrautes, nämlich das Stillleben. „StilLeben“ sagen manche, weil sie glauben, die kontemplative Betrachtung des Unbelebten sei eine Frage des Stils. Da gibt es die üppigen, gedeckten Tische der Holländer, das Spargelbündel bei Manet und die abgehobenen Äpfel Cézannes – aber all das noch irgendwie zwischen Markt und Küche. Bei den Fotografen war es Edward ENCORE 90 Weston, der Mitte der 20erJahre in seinem kalifornischen Hüttenatelier die Paprika so lange betrachtete, bis sie sich aufs Fleischlichste in Pose warf und rief: Nimm mich, nimm mich! Beim Stillleben knüpft Michael Schmidt an, wenn er den Apfel, die Mango, den Kohl und die Papaya kühl bestaunt: Farbe und Form. Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man annimmt, dass ihn die Entzauberung der Ware im Warenverkehr beschäftigt hat. Anders als sein englischer Kollege Martin Parr war Schmidt aber nicht geneigt, die Ekelgrenze zu überschreiten, was mit einem Blitzlicht auf das Profane leicht zu haben ist. Lebensmittel heißt, ganz furchtbar nüchtern, das letzte Projekt einer bemerkenswerten fotografischen Karriere, deren Ziel es war, das Dokumentarische immer wieder bildlich aufzuladen, also der Klischeebildung zu entziehen. Es ging Schmidt, der im vergangenen Jahr verstorben ist, nicht um das, was man schon weiß. So etwas wie ein mittleres Grausen beim Betrachter war dem Fotografen gerade recht. ULF ERDMANN ZIEGLER DER SCHRIFTSTELLER IST ZU GAST IN BERLIN. MICHAEL SCHMIDTS BERLIN NACH 1945 IST SEIN LIEBLINGSBUCH ÜBER DIESE STADT S E I T 17 0 7 David Ostrowski, F (2012), 2010, Öl, Lack, Holz, Wolle auf Leinwand, 200 x 150 cm, € 60.000 – 80.000, Auktion 25. November Zeitgenössische Kunst und Klassische Moderne Auktionswoche 24. – 27. November Düsseldorf, Südstraße 5, Tel. +49-211-210 77-47, [email protected] München, Galeriestraße 2, Tel. +49-89-244 434 73-0, [email protected] Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien, www.dorotheum.com DER CHANEL MOMENT -KEINE92 CHANEL-Kundenservice - Tel. 01801-24 26 35 (3,9 Ct/Min. aus dem Festnetz, max. 42 Ct/Min. aus Mobilfunknetzen). www.chanel.com
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