Didi-Huberman · Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft Bild und Text herausgegeben von G OT T F R I E D B O E H M GABRIELE BRANDSTETTER BERND STIEGLER begründet von G OT T F R I E D B O E H M KARLHEINZ STIERLE Georges Didi-Huberman Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft Das Auge der Geschichte III Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek Wilhelm Fink Titel der französischen Originalausgabe: Atlas ou le gai savoir inquiet. L’œil de l’histoire, 3. © 2011 by Les Éditions de Minuit Veröffentlicht mit Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur – Centre national du livre und der Maison des sciences de l’homme, Paris Umschlagabbildung: Anonymus, römisch, Atlas Farnese, um 150 v. Chr. Marmor (Gesicht, Arme und Beine im 16. Jhd. restauriert) (Detail). Neapel, Museo Archeologico Nazionale. Foto: Georges Didi-Huberman Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Satz: Martin Mellen, Bielefeld Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5393-8 »Siempre sucede, Amarga presencia, Duro es el paso! Y non hai remedio. Por qué? No se puede mirar. Bárbaros! Todo va revuelto, Yo lo vi! Tambien esto, Y esto tambien. Cruel lástima! Que locura! No hay que dar voces, Esto es lo peor! Murió la verdad. Si resucitará?« »Das passiert immer wieder, Bittere Gegenwart, Hart ist der Weg! Und es gibt keine Hilfe. Warum nur? Man weiß nicht warum. Man kann es nicht mit ansehen. Barbaren! Alles geht drunter und drüber, Ich habe es selbst gesehen! Das ebenfalls. Und das auch. Grausames Elend! Was für ein Wahnsinn! Es lohnt sich nicht zu schreien, Das ist das Schlimmste! Die Wahrheit ist gestorben. Und wenn sie wiederauferstünde?« Francisco Goya, Los Desastres de la Guerra (1810–1820), Tafeln 8, 13, 14, 15, 32, 35, 26, 38, 42, 44, 43, 45, 48, 68, 58, 74, 79, 80. »Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.« Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, § 489. »Wir Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen an der Strasse stehen und es Niemandem wehren mögen, dass er aus uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es möchten, wir können durch Nichts verhindern, dass man uns trübt, finster macht, – dass die Zeit, in der wir leben, ihr ›Zeitlichstes‹, dass deren schmutzige Vögel ihren Unrath, die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und großes Elend in uns werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben: wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsere Tiefe – denn wir sind tief, wir vergessen nicht – und werden wieder hell …« Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, § 378 * Als Quellen zu den Goya-Titeln vgl. S. Dittberner 1995, S. 511ff. und P. Gassier 1975 passim. Inhalt I D I S PA R AT E S »Was nie geschrieben wurde, lesen« Das Unerschöpfliche, oder: Erkenntnis durch Imagination (S. 11). Erbschaft unserer Zeit: der Mnemosyne‑Atlas (S. 17). Viszeral, astral, oder: Wie eine Schafsleber lesen (S. 23). Verrücktheiten und Wahrheiten des Inkommensurablen (S. 35). Tafeln, um die Zerstückelung der Welt zu versammeln (S. 50). Heterotopien, oder: Kartographien der Befremdlichkeit (S. 64). Leopard, gestirnter Himmel, Pocken, Spritzer (S. 77). II AT L A S »Die ganze Welt der Schmerzen tragen« Ein Titan, unter der Last der Welt gebeugt (S. 91). Götter im Exil und Wissen im Leiden (S. 105). Nachleben der Tragödie, Morgenröte der unruhigen fröhlichen Wissenschaft (S. 119). »El sueño de la razón produce monstruos« (S. 126). Eine Anthropologie in bildlicher Hinsicht (S. 138). Muster des Chaos, oder: Die Poetik der Phänomene (S. 151). Ursprungspunkte und Affinitätsverbindungen (S. 163). Atlas und der ruhelos wandernde Jude, oder: Das Zeitalter der Armut (S. 178). III DESASTER »Das Thema der Kunst ist, daß die Welt aus den Fugen ist« Tragödie der Kultur und moderne »Psychomachien« (S. 195). Explodierender Positivismus, oder: Die »Krisis der europäischen Wissenschaften« (S. 212). Warburg im Angesicht des Krieges: 8 I nhalt Notizkästen 115–118 (S. 234). Der Seismograph explodiert (S. 253). Orientierungstafeln für die Rückkehr aus dem Desaster (S. 271). Der Bilderatlas und die Übersicht (S. 280). Das Unerschöpfliche, oder: Erkenntnis durch Remontagen (S. 298). Bibliographischer Hinweis ................................................................ 325 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 327 Literaturverzeichnis ......................................................................... 331 I DISPARATES »Was nie geschrieben wurde, lesen« Das Unerschöpfliche, oder: Erkenntnis durch Imagination Ich stelle mir vor, dass mein Leser, wenn er dieses Buch aufschlägt, praktisch schon sehr gut weiß, was ein Atlas ist. Vermutlich hat er mindestens einen in seiner Bibliothek stehen. Hat er ihn aber auch »gelesen«? Wahrscheinlich nicht. Einen Atlas »liest« man nicht wie man einen Roman, ein Geschichtswerk oder ein philosophisches Argument liest, von der ersten bis zur letzten Seite. Zudem beginnt ein Atlas oft – wir werden das gleich verifizieren können – auf willkürliche und problematische Weise, in deutlichem Unterschied zum Beginn einer Geschichte oder zur Prämisse eines Arguments; und was sein Ende betrifft, so wird es oft auf die Heraufkunft eines neuen, noch zu erforschenden Bereichs oder Feldes des Wissens verwiesen, so dass ein Atlas fast nie eine Form besitzt, die man endgültig nennen könnte. Darüber hinaus besteht ein Atlas kaum aus »Seiten« im üblichen Sinne des Wortes: eher aus Tafeln, auf denen Bilder verteilt sind, Tafeln, die wir mit einem präzisen Ziel konsultieren oder aber zum Vergnügen durchblättern, wobei wir unseren »Willen zum Wissen« von Bild zu Bild und von Tafel zu Tafel schweifen lassen. Die Erfahrung zeigt, dass wir vom Atlas meist in einer Weise Gebrauch machen, die folgende scheinbar so unterschiedliche Gesten miteinander kombiniert: Wir öffnen ihn zunächst, um nach einer präzisen Information zu suchen, wenn wir diese dann aber erhalten haben, legen wir den Atlas nicht unbedingt beiseite, sondern folgen seinen Verzweigungen in alle Richtungen; auf diese Weise schließen wir die Sammlung der Tafeln erst, nachdem wir ihren Wald, ihr Labyrinth oder ihren Schatz eine gewisse Zeit lang erratisch und ohne präzise Absicht durchstreift haben. Nicht ohne ein nächstes Mal zu erwarten, das genauso frei von Nutzen oder genauso fruchtbar sein kann. Mit dem Hinweis auf diesen doppelten, paradoxen Gebrauch wird bereits begreiflich, dass sich der Atlas in seiner zurückhaltenden, nützlichen Erscheinung für den aufmerksamen Betrachter auch 12 D I S PA R AT E S als ein doppeltes, gefährliches, ja explosives Objekt erweisen könnte. Eine Mine, um alles zu sagen. Der Atlas ist eine visuelle Form des Wis‑ sens [savoir], eine wissende Form des Sehens [voir]. Um die beiden Paradigmen, die der letztgenannte Ausdruck voraussetzt – das ästheti‑ sche Paradigma der visuellen Form, und das epistemische Paradigma des Wissens –, zusammenzufügen, zu verzahnen oder zu implizieren, kehrt der Atlas die kanonischen Formen, in denen diese Paradigmen sich jeweils auszeichneten und ihre grundlegenden Existenzbedingungen fanden, de facto um. Die große platonische Tradition hat bekanntlich ein epistemisches Modell propagiert, das auf dem Vorrang der Idee gründet: Wahre Erkenntnis setzt in diesem Kontext voraus, dass dem Bereich des Sinnlichen, also der Bilder, in dem die Erscheinungen uns erscheinen, eine Sphäre des Intelligiblen entweder von Anfang an entzogen oder diese von ersterem gereinigt wird. In den modernen Versionen dieser Tradition finden die Sachen* ihre Gründe, ihre Erklärungen und ihre Algorithmen nur in korrekt – zum Beispiel in der Sprache der Mathematik – formulierten und deduzierten Ursachen*. Solcherart wäre, grob zusammengefasst, die Standardform aller rationalen Erkenntnis, aller Wissenschaft. Es ist bemerkenswert, dass Platons Misstrauen gegenüber den Künstlern – jenen »Bildermachern«, jenen Manipulatoren des Scheins – die humanistische Ästhetik nicht daran gehindert hat, das ganze Prestige der Idee für sich zu übernehmen, wie Erwin Panofsky gezeigt hat.1 So konnte Leon Battista Alberti in seinem De pictura den Begriff des Gemäldes auf die formale Einheit einer rhetorischen »Periode« reduzieren, eines »korrekten Satzes«, in dem jedes übergeordnete Element in logischer – idealer – Weise von untergeordneten Elementen abgeleitet wäre: Flächen werden zu Gliedern zusammengesetzt, die die dargestellten Körper hervorbringen, wie in einer rhetorischen Periode Wörter zu Sätzen zusammengesetzt werden, die »Klauseln« oder »Gruppen« von Sätzen hervorbringen.2 In den modernen Versionen dieser Tradition, wie zum Beispiel im Modernismus Clement Greenbergs oder in jüngerer Zeit Michael Frieds, besteht der höhere Grund der Gemälde [tableaux] in der Abgeschlossenheit ihrer eigenen räumli* Ein Asteriskus (*) bedeutet durchgehend: Im Orig. deutsch (A. d. Ü.). 1 Vgl. E. Panofsky 1924, S. 1–4 und 64–72. 2 L. B. Alberti 1435, III, 33 (deutsch: a.a.O., S. 117–119). Vgl. M. Baxandall 1971, S. 20–31 und 121–139. M. Baxandall 1972, S. 135–137 (deutsch: a.a.O., S. 161-163). D I S PA R AT E S 13 chen, zeitlichen und semiotischen Rahmen selbst, so dass die ideale Beziehung zwischen Sache* und Ursache* ihre Gesetzeskraft behält. Als visuelle Form des Wissens oder wissende Form des Sehens bringt der Atlas all diese Rahmen der Erkennbarkeit durcheinander. Er führt eine fundamentale Unreinheit – aber auch eine Überfülle, eine bemerkenswerte Fruchtbarkeit – ein, die zu bannen diese Modelle ursprünglich erdacht worden waren. Entgegen jedweder epistemischen Reinheit führt der Atlas ins Wissen die sinnliche Dimension, das Diverse, den lückenhaften Charakter jeden Bildes ein. Entgegen jedweder ästhetischen Reinheit führt er das Mannigfaltige, das Diverse, die Hybridität aller Montage ein. Seine Bilder‑ tafeln [tables d’images] erscheinen uns vor jeglicher Buchseite einer Erzählung, eines Syllogismus oder einer Definition, aber auch vor jeglichem Tableau, ob man dieses Wort nun in seiner künstlerischen Bedeutung (Einheit der in ihren Rahmen eingeschlossenen schönen Figur oder Gestalt) oder in seiner wissenschaftlichen Bedeutung (logische Ausschöpfung aller in Abszissen und Ordinaten definitiv organisierten Möglichkeiten) versteht. Der Atlas sprengt also, von Anfang an, die Rahmen. Er zerschlägt die selbstproklamierten Gewissheiten der Wissenschaft, die sich ihrer Wahrheiten sicher ist, wie die der Kunst, die sich ihrer Kriterien sicher ist. Er erfindet Zwischenbereiche der Erkundung, heuristische Zwischenräume. Definitive Axiome ignoriert er bewusst. Das liegt darin begründet, dass er auf einer Erkenntnistheorie beruht, die sich dem Risiko des Sinnlichen, und auf einer Ästhetik, die sich dem Risiko der Disparität verschrieben hat. Durch seine Überfülle selbst dekonstruiert er die Ideale der Einheitlichkeit, der Spezifität, der Reinheit, der vollständigen Erkenntnis. Er ist ein Werkzeug nicht zur logischen Ausschöpfung gegebener Möglichkeiten, sondern zur unerschöpflichen Offenheit für noch nicht gegebene Möglichkeiten. Sein Prinzip, sein Motor ist nichts anderes als die Einbildungskraft. Einbildungskraft [imagination]: ein gefährliches Wort, wenn es denn so etwas gibt (und bereits das Wort Bild [image] ist ein solches). Es gilt jedoch, mit Goethe, Baudelaire oder Walter Benjamin immer wieder zu betonen3, dass die Einbildungskraft, so verwirrend sie auch sein mag, nichts mit persönlicher oder willkürlicher Phantasie zu tun hat. Im Gegenteil, 3 Vgl. G. Didi‑Huberman 2002b, S. 127–141 (deutsch: S. 139–157). G. Didi‑Huberman 2009, S. 238–256 (deutsch: S. 276–297). 14 D I S PA R AT E S sie schenkt uns eine transversale Erkenntnis, und zwar aufgrund der ihr innewohnenden Kraft der Montage, die darin besteht, Verbindungen zu entdecken – eben dort, wo sie die von sich aufdrängenden Ähnlichkeiten suggerierten Verbindungen zurückweist –, welche die direkte Beobachtung nicht zu erkennen vermag: Die Einbildungskraft (imagination) ist nicht die Phantasie (phantasy); sie ist auch nicht die Sensibilität, obwohl es schwerfiele, sich einen Menschen mit Einbildungskraft vorzustellen, der nicht sensibel wäre. Die Einbildungskraft ist ein fast göttliches Vermögen, das vor allem, unabhängig von den philosophischen Methoden, die geheimen inneren Beziehungen der Dinge, die Entsprechungen und Analogien wahrnimmt. Die Ehren und die Funktionen, die er [d. i. E. A. Poe] diesem Vermögen zuschreibt, verleihen ihm einen derartigen Wert, daß […] ein Gelehrter ohne Einbildungskraft nur noch als ein falscher Gelehrter, oder wenigstens als ein unvollständiger Gelehrter, erscheint.4 Die Einbildungskraft akzeptiert das Mannigfaltige (und genießt es sogar). Nicht um die Welt in einer subsumierenden Formel zu resümieren oder zu schematisieren: Darin unterscheidet sich ein Atlas von jedem Handbuch oder Lehrwerk. Auch nicht, um sie zu katalogisieren oder in einer vollständigen Liste auszuschöpfen: Darin unterscheidet sich ein Atlas von jedem Katalog und auch von jedem Archiv, von welchem man annimmt, dass es vollständig ist. Die Einbildungskraft akzeptiert das Mannigfaltige und erneuert es unaufhörlich, um in ihm neue »geheime innere Beziehungen«, neue »Entsprechungen und Analogien« zu entdecken, die ihrerseits unerschöpflich sein werden, wie alles relationale Denken unerschöpflich ist, das sich jedesmal in einer noch nie dagewesenen Montage zu manifestieren vermag. Das Unerschöpfliche: Es gibt so viele Dinge, so viele Wörter, so viele Bilder in der Welt! Ein Wörterbuch wird davon träumen, ihr nach einem unwandelbaren und definitiven (in diesem Falle alphabetischen) Prinzip geordneter Katalog zu sein. Der Atlas hingegen lässt sich nur von beweglichen und provisorischen Prinzipien leiten, solchen, die in unerschöpflicher Weise neue Beziehungen – die noch viel zahlreicher sind als die Terme selbst – zwischen den Dingen oder den Wörtern zum Vorschein bringen können, die zunächst nichts 4 C. Baudelaire 1857a, S. 329 (deutsch: a.a.O., S. 352). D I S PA R AT E S 15 miteinander zu verbinden schien. Wenn ich das Wort Atlas in einem Wörterbuch suche, wird mich normalerweise nichts anderes interessieren, außer, vielleicht, die Wörter, die ihm direkt ähnlich, die sichtbar mit ihm verwandt sind: Atlant oder Atlantik zum Beispiel. Wenn ich jedoch anfange, die vor mir aufgeschlagene Doppelseite im Wörterbuch wie eine Tafel zu betrachten, auf der ich »geheime innere Beziehungen« zwischen Atlas und, zum Beispiel, Atoll, Atom, Atelier, oder, in der anderen Richtung, astuce (»Raffiniertheit«), Asymmetrie oder asymbolie (»Agnosie«) entdecken könnte, dann hätte ich begonnen, das Prinzip des Wörterbuchs selbst in Richtung eines sehr hypothetischen und überaus abenteuerlichen Atlas‑Prinzips umzuleiten. Das kleine Experiment, das ich hier beschreibe, erinnert natürlich an so etwas wie ein Kinderspiel: Fragt man ein Kind nach der lectio eines Wortes im Wörterbuch, so wird es sogleich angeregt von der delectatio eines transversalen und imaginativen Gebrauchs des Lesens. Ein Kind ist genausowenig brav wie die Bilder es sind (daher die Falschheit, die Scheinheiligkeit einer Redewendung wie »sage comme un image [kreuzbrav, wörtl.: brav wie ein Bild; A. d. Ü.]«). Es liest nicht, um den Sinn einer spezifischen Sache zu erfassen, sondern um diese Sache von Anfang an imaginativ mit vielen anderen zu verbinden. Es gäbe also zwei Sinne, zwei Gebrauchsweisen des Lesens: einen denotativen Sinn auf der Suche nach Botschaften [messages] und einen konnotativen und imaginativen Sinn auf der Suche nach Montagen. Das Wörterbuch bietet sich vor allem als ein wertvolles Hilfsmittel für die erstgenannte Suche an, der Atlas hingegen bietet uns gewiss einen unerwarteten Apparat für die zweite. Niemand hat die Gefahr – und den Reichtum – dieser Ambivalenz besser vor Augen geführt als Walter Benjamin. Niemand hat die »Lesbarkeit« [lisibilité] der Welt besser mit den der »Sichtbarkeit« beziehungsweise Anschaulichkeit* [visibilité] der Dinge immanenten phänomenologischen oder historischen Bedingungen verbunden, womit er das monumentale Werk von Hans Blumenberg zu diesem Thema gleichsam vorwegnahm.5 Niemand hat die Lektüre des rein sprachlichen, rhetorischen oder argumentativen Modells, das man im Allgemeinen damit verbindet, besser freigelegt. Die Welt zu lesen, das ist etwas allzu Grundlegendes, um nur auf die Bücher 5 W. Benjamin 1927–1940, in: GS V, S. 570–611. H. Blumenberg 1981. 16 D I S PA R AT E S zu vertrauen oder sich auf sie zu beschränken: Denn die Welt zu lesen [lire], das heißt auch, die Dinge der Welt ihren »geheimen inneren Beziehungen«, ihren »Entsprechungen und Analogien« gemäß zu verbinden [relier]. Es ist nicht nur so, dass sich die Bilder als Kristalle einer historischen »Lesbarkeit« zu sehen geben6, sondern alles Lesen – selbst die Lektüre eines Textes – muss mit den Vermögen der Ähnlichkeit rechnen: »So ist der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit [zwischen den Dingen] in Erscheinung tritt.«7 In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass der Bilderatlas eine Lesemaschine ist, in dem sehr weiten Sinne, den Benjamin dem Begriff der Lesbarkeit* gab. Er fügt sich in eine ganze Konstellation von Apparaten ein, die vom »Lesekasten« über die Kuriositätenkabinette – oder, trivialer, die Schuhkartons voller Postkarten, wie man sie auch heute noch in den kleinen Läden der alten Pariser Passagen findet – bis hin zur Camera obscura und zur Kamera reichen. Der Atlas wäre ein Apparat zum Lesen vor allem, will sagen vor aller »ernsthaften« Lektüre »im strengen Sinne«: ein Objekt des Wissens und der Betrachtung für Kinder, Kindheit der Wissenschaft und Kindheit der Kunst zugleich. Genau dies war es, was Benjamin an den illustrierten Abc‑Fibeln, den Bastelbögen und den Kinderbüchern liebte.8 Genau dies wollte er auf einer grundlegenderen – anthropologischen – Ebene verstehen, als er in einer großartigen Formulierung davon sprach, das, »was nie geschrieben wurde, [zu] lesen«. Und er fügte hinzu: »Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache […].«9 Der Atlas bietet jedoch auch sämtliche Ressourcen für das, was man ein Lesen nach allem nennen könnte: Die Humanwissenschaften – insbesondere die Anthropologie, die Psychologie und die Kunstgeschichte – erlebten am Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Umwälzung, bei der die »Erkenntnis durch Imagination«, wie auch die Erkenntnis der Einbildungskraft und der Bilder selbst, eine entscheidende Rolle gespielt hat: von der Soziologie Georg Simmels, die den »Formen« so viel Aufmerksamkeit schenkte, 6 7 8 9 W. Benjamin 1927–1940, in: GS V, S. 577. W. Benjamin 1933a, in: GS II.1, S. 213. W. Benjamin 1916–1939, in: GS VI, S. 112–113. W. Benjamin, 1933a, in: GS II.1, S. 213. D I S PA R AT E S 17 bis hin zur Anthropologie von Marcel Mauss, von der Psychoanalyse Sigmund Freuds – in der die zu einem »Tableau« disponierte klinische Beobachtung dem Labyrinth der »Gedankenassoziationen«, der Übertragungen, der Verschiebungen von Bildern und Symptomen Platz machte – bis hin zur »Ikonologie der Zwischenräume« bei Aby Warburg…, einer Ikonologie, die auf der »natürliche[n] Zusammengehörigkeit von Wort und Bild«10 gründet, eine Hypothese, die nicht nur zeitgleich mit Benjamins Hypothese der Lesbarkeit* aufgestellt wurde, sondern auch eng mit ihr verbunden ist. Das letzte Projekt dieser Ikonologie bestand bekanntlich in der Ausarbeitung eines Atlas: jener berühmten Sammlung von Bildern, die den Titel Mnemosyne trägt und die hier sowohl unseren Ausgangspunkt wie auch unser Leitmotiv bilden wird.11 Erbschaft unserer Zeit: der Mnemosyne-Atlas Die Form namens Atlas – wie auch die Montage, aus der sie hervorgeht – könnte man, eine Formulierung Ernst Blochs aus seinem Buch Erbschaft dieser Zeit paraphrasierend, problemlos als jenen Schatz an Bildern und Gedanken betrachten, der uns vom »eingestürzten Zusammenhang« der modernen Welt übrigbleibt.12 Der Atlas hat seit Warburg nicht nur die Formen – und also die Inhalte – sämtlicher »Kulturwissenschaften« oder Humanwissenschaften von Grund auf verändert13, sondern er hat auch zahlreiche Künstler angeregt, die Art und Weise, wie in den visuellen Künsten heute gearbeitet wird und wie sie präsentiert werden, in Form der Sammlung oder der Remontage völlig neu zu denken.14 Vom dadaistischen 10 A. Warburg 1902, S. 106. 11 A. Warburg 1927–1929. 12 E. Bloch 1935, S. 17. 13 Vgl. G. Neumann/S. Weigel (Hg.) 2000. 14 Vgl. S. Flach/I. Münz‑Koenen/M. Streisand (Hg.) 2005. 18 D I S PA R AT E S Handatlas*, dem Album* Hannah Höchs, den Arbeitscollagen* Karl Blossfeldts oder der Boîte‑en‑valise Marcel Duchamps bis hin zum Atlas von Marcel Broodthaers oder Gerhard Richter, zu den Inven‑ taires Christian Boltanskis, den Fotomontagen Sol LeWitts oder dem Album* Hans‑Peter Feldmanns fliegt das ganze Gerüst einer Maltradition in Stücke. Weit entfernt vom einheitlichen, in sich verschlossenen Gemälde/Tafelbild [tableau] als Träger eines begnadeten Könnens oder eines Genies – bis hin zu dem, was man ein Meisterwerk nennt15 –, haben sich bestimmte Künstler und Denker daran gemacht, bescheiden zum/zur einfacheren, aber disparateren Tisch/Tafel [table] zurückzugehen, wenn man so sagen kann. Ein Gemälde oder Tafelbild kann erhaben sein, ein »Tisch« beziehungsweise eine »Tafel« wird es wahrscheinlich nie sein. Opfertisch [table d’offrande], Küchentisch, Seziertisch oder Montagetisch, je nachdem. Tafel [table ou »planche«] eines Atlas (im Englischen sagt man plate, im Spanischen lámina, im Französischen aber hat man, wie bei Tafel* im Deutschen oder tavola im Italienischen, den Vorteil, eine gewisse Beziehung sowohl mit dem häuslichen Gegenstand als auch mit dem Begriff des Gemäldes [tableau] suggerieren zu können). Wie im Falle des Abdrucks – dieser alterslosen Prozedur, die seit Marcel Duchamp so viele unserer Zeitgenossen systematisch erkundet haben16 – können wir Folgendes feststellen: Um eine Zukunft jenseits des Tafelbilds und seiner großen Tradi‑ tion zu erfinden, war es nötig, zum/zur bescheideneren Tisch oder Tafel und ihrem ungedachten Nachleben zurückzukehren. Der Atlas ist insofern ein anachronistisches Objekt, als in ihm stets heterogene Zeiten konzertiert zusammenwirken: das »Lesen vor allem« mit dem »Lesen nach allem«, wie ich bereits sagte, aber auch, zum Beispiel, die technische Reproduzierbarkeit des Zeitalters der Fotografie mit den älteren Gebrauchsweisen jenes häuslichen Gegenstands namens »Tisch [table]«. Ich erinnere mich, dass man während der Epoche des Strukturalismus viel vom Tafelbild [tableau] als »Einschreibungsoberfläche« gesprochen hat: Es errichtet seine Autorität nämlich durch eine dauerhafte Einschreibung, eine räumliche Abgeschlossenheit, durch eine Vertikalität, die uns von der Wand her, an der es befestigt ist, überragt, sowie durch die zeitliche Permanenz eines Kulturobjekts. 15 Vgl. H. Belting 1998. 16 G. Didi‑Huberman 1997. D I S PA R AT E S 19 Das Tafelbild wäre also die Inschrift eines Werks (die grandissima opera del pittore, wie Alberti schrieb17), das im Hinblick auf die Geschichte endgültig sein möchte. Der Tisch hingegen ist nur der Träger einer Arbeit, die immer wieder aufgenommen, modifiziert, wenn nicht gar immer wieder neu begonnen werden muss. Er ist nur eine Oberfläche für flüchtige Begegnungen und Anordnungen: Auf ihm legt oder räumt man abwechselnd all das ab, was seine »Arbeitsfläche«, wie man so schön sagt, hierarchiefrei aufnimmt. Die Einmaligkeit des Tafelbilds weicht auf einem Tisch der unaufhörlich erneuerten Offenheit für neue Möglichkeiten, neue Begegnungen, neue Vielfältigkeiten, neue Konfigurationen. Die kristalline Schönheit des Tafelbilds – seine zentripetale gefundene Schönheit, die, einer Trophäe gleich, stolz auf der vertikalen Fläche der Wand fixiert wurde – weicht auf einem Tisch der bruchstückhaften Schön‑ heit von Konfigurationen, die dort plötzlich auftauchen, zentrifugale Schönheits‑Fundstücke, die auf der horizontalen Ebene der Tischplatte endlos in Bewegung sind. In der berühmten Formel Lautréamonts, »Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«18 sind die beiden überraschenden Gegenstände, die Nähmaschine und der Regenschirm, bestimmt nicht das Wesentliche: Was zählt, ist vielmehr der Träger der Begeg‑ nungen, der den Tisch selbst als Ressource neuer Schönheiten oder Erkenntnisse definiert – analytischer Erkenntnisse, Erkenntnisse durch Schnitte, Neurahmungen oder »Sezierungen«. Als er auf ein und derselben Tafel im Vorspann seines Mnemo‑ syne‑Atlas eine geographische Landkarte Europas und des Nahen Ostens, ein Ensemble fantastischer Tiere in Verbindung mit Sternbildern und schließlich den genealogischen Stammbaum einer florentinischen Bankiersfamilie einander begegnen ließ (Abb. 1)19, hatte Aby Warburg gewiss nicht im Sinn, als »surrealistischer« Historiker zu Werke zu gehen. Was auf seiner Tafel – seinem kleinen »Arbeitstisch« oder Schneide- beziehungsweise Montagetisch – in Erscheinung tritt, ist nichts anderes als die Komplexität der kulturellen Gegebenheiten selbst, von denen sein gesamter Atlas in der longue durée der abend17 L. B. Alberti 1435, III, 33 (deutsch: a.a.O., S. 116–117). 18 Lautréamont 1869, S. 224–225 (deutsch: a.a.O., S. 206, Sechster Gesang, 3 [Übers. leicht modifiziert; A.d.Ü.]). 19 A. Warburg 1927–1929, S. 9 [Tafel A]. 20 D I S PA R AT E S 1. Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, 1927–1929. Tafel A. London, Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute ländischen Geschichte Rechenschaft geben will. Die wenigen Worte, die Warburg wählte, um die fragliche Problematik einzuführen, hatten im Übrigen keineswegs den Zweck, die Unerschöpflichkeit seiner Aufgabe zu vereinfachen: Es gibt, so sagte er, »verschiedene D I S PA R AT E S 21 Systeme von Relationen, in die der Mensch eingestellt ist« und die »im magischen Denken« in Form einer »Ineinssetzung« präsentiert werden.20 Von Anfang an sprach Warburg in seinem Atlas also von einer grundlegenden – anthropologischen – Komplexität, hinsichtlich derer es weder darum ging, sie zu synthetisieren (in einem vereinheitlichenden Begriff), noch sie erschöpfend zu beschreiben (in einem vollständigen Archiv) noch sie von A bis Z zu ordnen (in einem Wörterbuch). Sondern darum, durch die Begegnung dreier unähnlicher Bilder bestimmte »geheime innere Beziehungen«, bestimmte »Entsprechungen« zum Vorschein zu bringen, die eine transversale Erkenntnis dieser unerschöpflichen Komplexität historischer (der genealogische Stammbaum), geographischer (die Karte) und imaginärer Art (die Tiere des Tierkreises) ermöglichen können. Wenn es wahr ist, dass der Mnemosyne‑Atlas einen bedeutenden Teil unseres Erbes darstellt – ein ästhetisches Erbe, weil er eine Form erfindet, eine neue Art und Weise, die Bilder untereinander anzuordnen; ein epistemisches Erbe, weil er eine neue Art des Wissens eröffnet21 –, und wenn es stimmt, dass er auch unsere zeitgenössischen Weisen des Produzierens, Ausstellens und Verstehens von Bildern von Grund auf prägt, dann dürfen wir, bevor wir seine Archäologie skizzieren und seine Fruchtbarkeit erkunden, aber auch seine grundsätzliche Fragilität nicht verschweigen. Der Warburg’sche Atlas ist ein als Wette gedachtes Objekt. Es handelt sich um die Wette, dass die Bilder, auf eine bestimmte Art und Weise versammelt, uns die Möglichkeit – oder besser: die unerschöpfliche Ressource – bieten würden, die Welt neu zu lesen. Die Welt neu lesen [relire]: ihre disparaten Stücke anders verbinden [relier], ihre Zerstreuung neu verteilen, was eine bestimmte Art und Weise ist, diese Zerstreuung zu orientieren und zu interpretieren, gewiss, aber auch sie zu respektieren, sie neu zusammenzusetzen [remonter], ohne zu glauben, sie dadurch zusammenzufassen [résumer] oder auszuschöpfen. Wie aber ist das praktisch möglich? Zweifellos müsste man Warburgs berühmtem Diktum »Der liebe Gott steckt im Detail« das folgende hinzufügen, durch das es dialektisiert wird: Im Atlas, das heißt im Raum der »geheimen inneren 20Ebd, S. 8 [Text zu Tafel A; die franz. Übersetzung schreibt amalgame für »Ineinssetzung«; A.d.Ü.]. 21 Vgl. G. Didi‑Huberman 2002a, S. 452–505 (deutsch: S. 499–559). 22 D I S PA R AT E S Beziehungen« zwischen den Dingen oder zwischen den Figuren, steckt immer ein kleiner Teufel. In der imaginativen Konstruktion der »Entsprechungen« und »Analogien« zwischen jedem einzelnen Detail steckt irgendwo ein böser Geist [malin génie]. Ist nicht allen großen Wetten ein gewisser Wahnsinn inhärent, und liegt ein solcher eigentlich nicht allen Unternehmungen zugrunde, die sich den Risiken der Imagination aussetzen? Für den Mnemosyne‑Atlas jedenfalls gilt das: Seit 1905 von Aby Warburg ins Auge gefasst22, sollte seine tatsächliche Erstellung erst 1924 beginnen, das heißt genau in dem Moment, da der Historiker just aus der Psychose herausgefunden hatte – wiederaufgetaucht [remontait], wiederhergestellt war.23 Der Bilderatlas war für Warburg weder eine einfache »Gedächtnisstütze« noch ein »Resümee in Bildern« seines Denkens: Er bot eher einen Apparat, um das Denken eben dort wieder in Bewegung zu setzen, wo die Geschichte zum Stillstand gekommen war, wo es an Worten noch mangelte. Er war die Matrix eines Verlangens, das Gedächtnis zu rekonfigurieren, indem man darauf verzichtet, die Erinnerung – die Bilder des Vergangenen – in einer geordneten, oder schlimmer: in einer definitiven Erzählung zu fixieren. Als Warburg 1929 starb, blieb er unvollendet. Die stete Austauschbarkeit der Bilderkonfigurationen im Mnemo‑ syne‑Atlas ist allein schon Zeichen für die heuristische Fruchtbarkeit und den inhärenten Wahnsinn eines derartigen Vorhabens. Es handelt sich um eine endliche Analyse (denn Mnemosyne verwendet insgesamt nur an die tausend Bilder, was letzten Endes ziemlich wenig ist in Anbetracht eines ganzen Kunsthistorikerlebens sowie, konkreter, in Anbetracht des Fotoarchivs, das Warburg mit Hilfe seiner Mitarbeiter Fritz Saxl und Gertrud Bing zusammengestellt hatte) und eine unendliche Analyse zugleich (denn man wird immer neue Bezüge, neue »Entsprechungen« zwischen all diesen Fotografien finden können). Warburg befestigte die Bilder des Atlas bekanntlich mit kleinen Klemmen auf einer schwarzen Leinwand, die auf ein Gestell gespannt war – ein »Tableau« also –, dann machte er ein Foto davon oder ließ eines machen, um so eine mögliche »Tafel [table ou planche]« seines Atlas zu erhalten, anschließend konnte er das ursprüngliche »Tableau« 22 Vgl. H. Gombrich 1970, S. 285 (deutsch: S. 377). 23 Vgl. L. Binswanger/A. Warburg 1924–1929, S. 125–196. D I S PA R AT E S 23 wieder zerlegen, destruieren, um von neuem ein anderes zu beginnen, um dieses dann neuerlich zu dekonstruieren. Das ist also unser Erbe, das Erbe unserer Zeit. In einem bestimmten Sinne ein Wahnsinn des Driftens: wuchernde Tafeln, auf denen es nur so wimmelt; ostentative Herausforderung jedweder klassifizierenden Vernunft; eine Sisyphusarbeit. In einem anderen Sinne jedoch eine Weisheit und ein Wissen: Warburg hatte begriffen, dass das Denken eine Sache nicht gefundener, sondern transformierender Formen ist. Eine Sache fortwährender »Wanderungen«, wie er gerne sagte. Er hatte begriffen, dass sich gerade die Dissoziation dafür eignet, die Geschichte der Menschen zu analysieren, neu zu montieren, neu zu lesen. Mnemosyne rettete ihn vor seinem Wahnsinn, vor seiner »Ideenflucht«, wie sie sein Psychiater Ludwig Binswanger so treffend analysierte.24 Gleichzeitig »blitzten« seine Ideen aber weiterhin in nützlicher Weise auf, wie dialektische Bilder, ausgehend vom Zusammenprall [choc] oder vom wechselseitigen In‑Beziehung‑bringen von Singularitäten. Weder absolut verrückte Unordnung noch übervorsichtiger Ordnungsplan, verleiht der Mnemosyne‑Atlas der Montage vielmehr die Fähigkeit, durch Begegnungen von Bildern eine dialektische Erkenntnis der abendländischen Kultur zu erzeugen, jener immer wieder neu – also ohne Synthese – aufgeführten Tragödie zwischen Vernunft und Unvernunft oder, wie Warburg es formulierte, zwischen den astra dessen, was uns zum Himmel des Geistes emporhebt, und den monstra dessen, was uns wieder in die Abgründe des Körpers hinabstürzt. Viszeral, astral oder: Wie eine Schafsleber lesen »Was nie geschrieben wurde, lesen«: Anthropologisch gesehen ist die Einbildungskraft zunächst einmal das, was uns befähigt, zwischen 24 Vgl. L. Binswanger 1933b. 24 D I S PA R AT E S den entferntesten, heterogensten Wirklichkeitsordnungen Brücken zu schlagen. Monstra, astra: Viszerales, was mit den Eingeweiden zu tun hat, und Astrales, was mit den Sternen zu tun hat, vereint auf ein und demselben Tisch oder ein und derselben Tafel. Walter Benjamin hat Warburgs Montagen aus dem Mnemosyne‑Atlas vermutlich nicht gekannt, doch hat er eine exakte Beschreibung seiner grundlegenden Triebfedern geliefert, als er in seinem Aufsatz »Über das mimetische Vermögen« eine beiden Denkern ganz offensichtlich gemeinsame Problematik erwähnte, nämlich das »Lesen vor aller Sprache«, und auch präzisierte, wo dieses sich vollzieht: »aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen«25. Die Tänze, sowie menschliche Gebärden [gestes] ganz allgemein, sind das Wesentliche, bilden das Zentrum der Warburg’schen Sammlung, die von Anfang an als ein Atlas von »Pathosformeln« gedacht war, jener Grundgesten, die von der Antike bis in unsere Zeit übermittelt – und transformiert – wurden: Gebärden der Liebe und des Kampfes, Gebärden des Triumphs und der Unterwerfung, der Erhöhung und des Falls, der Hysterie und der Melancholie, der Anmut und der Hässlichkeit, des lebhaften Begehrens und der Schreckensstarre… Im Zentrum des Mnemosyne‑Atlas steht also der Mensch, mit aller kontrastreichen Energie seiner Gedanken, Gebärden und Leidenschaften. Warburg hat jedoch Sorge getragen, dass diese Energie vor einem Hintergrund erscheint, der auf ihre konflikthafte Grenze hinweist, das Ungedachte, den Bereich des Nichtwissens: auf der einen Seite astra, auf der anderen monstra. Auf der einen Seite agiert der Mensch unter einem unendlichen Himmel, über den er sehr wenig weiß, daher sind die einleitenden Bildtafeln der Entsprechung zwischen den Sternen und dem Menschen, das heißt der »Abtragung des kosmischen Systems auf den Menschen«26 gewidmet (Abb. 2). Auf der anderen Seite finden sich, symmetrisch dazu, die Abgründe der Welt der Eingeweide, wobei der Mensch auf Erden agiert, ohne genau zu verstehen, was ihn von innen heraus bewegt: seine eigenen »Monstren«. Und der Atlas suggeriert, dass es keine menschliche Gebärde ohne psychische Umwandlung gibt, keine Umwandlung ohne organische Flüssigkeiten, und keine organische Flüssigkeit ohne verborgene [secrète] Innerei, die sie sekretiert. 25 W. Benjamin 1933a, in: GS .1, S. 213. 26 A. Warburg 1927–1929, S. 10 [Text zu Tafel B]. D I S PA R AT E S 25 2. Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, 1927–1929. Tafel B. London, Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute Bildtafel 1 des Mnemosyne‑Atlas ist in dieser Hinsicht so erstaunlich wie signifikant (Abb. 3). Sie ist erstaunlich, weil sich neben leicht identifizierbaren Bildern wie den astronomischen oder astrologischen Figuren von Sonne, Mond oder Skorpion, sowie Königsfiguren (links 26 D I S PA R AT E S 3. Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, 1927–1929. Tafel 1. London, Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute ist Assurbanipal zu sehen), die möglicherweise auf den politischen Horizont oder zumindest politischen Gebrauch jedweder Weltvorstellung hindeuten, weil sich also neben all dem, an die Oberkante der Tafel gerückt, fünf brutale Tatsachen finden, fünf formlose Formen, die der Historiker der abendländischen Kunst vermutlich nur mit einiger Mühe wiedererkennen wird. Man muss etwas näher hin- D I S PA R AT E S 27 4. Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, 1927–1929. Tafel 1 (Detail). London, Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute sehen (Abb. 4). Wenn man gleichzeitig geduldig bestimmte Bereiche der außerordentlichen Bibliothek erkundet, die Warburg zusammengestellt hatte27, jenen »Denkraum«, von dem nichts, was er je unternahm, getrennt werden kann, dann erfährt man, dass es sich um alte babylonische oder etruskische Darstellungen von Schafslebern handelt. Wie befremdlich! Wenn der Mnemosyne‑Atlas als eine Schatzkammer des visuellen Wissens, als das Erbe unserer Zeit erscheint, müsste man nun anerkennen, dass das Initial-, ja Initiationsprojekt dieses Erbes – eines wertvollen Erbes, denn es geht hier um nichts Geringeres als unsere Kunstgeschichte in ihrer longue durée – dort in ein paar Schafslebern zu finden wäre, die sozusagen als die ersten »Sätze« einer Geschichte der abendländischen Kultur präsentiert werden! Das Verblüffende dieses Einstiegs, ganz oben auf Bildtafel 1 des Mnemosyne‑Atlas, hat jedoch nichts Willkürliches an sich, und sei es nur deshalb, weil Warburg hier die dunklen Mächte der Einbildungskraft auf philosophischer und anthropologischer Ebene ernst nahm. 27 Insbesondere unter den Signaturen FEI, FME und FMH. 28 D I S PA R AT E S Vor allem aber sind diese formlosen Objekte, die der Bildhistoriker strategisch ausgewählt hatte, weder bedeutungslose noch einfache Gegenstände. Ihre Komplexität hängt damit zusammen, dass sie als dialektische Bilder fungieren: Bilder, die dazu bestimmt sind, diese heterogenen Räume, die die Verschlingungen der Eingeweide einerseits und die Himmelssphäre andererseits darstellen, zusammen zu montieren. Warburg hat einen beträchtlichen Teil seiner Forschungsarbeit Fragen der Astrologie gewidmet: Zeitliche Bewegungen in visu‑ ellen Konfigurationen zu lesen – wie die Sternbilder [constellations] sie darstellen –, ist das nicht im Grunde ein elementares Paradigma der Erkenntnis, die versucht, ausgehend vom Sinnlichen zum Intelligiblen zu gelangen? Und besteht darin, nebenbei bemerkt, nicht die hauptsächliche Arbeit eines jeden Archäologen oder Kunsthistorikers? Wie dem auch sei, Warburg hat sich lange darum bemüht, die kulturelle Bedeutung dieser astrologischen »Vorwissenschaft« – oder dieses astrologischen Vorwissens um die Zukunft – für die ästhetische28 wie die politische und religiöse29 Geschichte der Renaissance zu erfassen. Auf der rechten Seite der bereits erwähnten Bildtafel hat Warburg übrigens zwei weitere Tafeln, die er für eine Ausstellung über die antike orientalische Astrologie konzipiert hatte30, in einer Art Medaillon als Bild im Bild aufgenommen. Als Inspiration dienten ihm damals die Arbeiten seines Freundes Franz Boll, dessen Ideen er seinen eigenen theoretischen Fragestellungen anpasste und dem er auch die berühmte Formel per monstra ad sphaeram31 entlieh. Die Ton- oder Bronzelebermodelle interessierten Warburg32 auch insofern, als sie in seinen Augen einen exemplarischen Fall jener historischen und geographischen Mobilität darstellten, deren bevorzugte Vehikel die Bilder sind: wandernde Bilder, die, wenn man sie zur Kenntnis nimmt, aus jedem »Kunststil« und aus jeder »Nationalkultur« – wie man fälschlicherweise sagt – eine essentiell gemischte, unreine, hybride Entität machen. Eine Mischung oder 28 Vgl. A. Warburg 1912, S. 373–400. 29 A. Warburg 1920, S. 424–491. 30 A. Warburg 1926, S. 559–565. 31 A. Warburg, 1925a., S. 2–5. Vgl. F. Boll 1903. F. Boll/C. Bezold 1911 und 1917. F. Saxl 1927–1928, S. 58–72. F. Saxl 1936, S. 73–84. J. Seznec 1940, S. 56–61. M. Ghelardi 1999, S. 7–23. M. Bertozzi 1999. M. Bertozzi 2002, S. 97–113. D. Stimilli 2005a, S. 13–36. 32 A. Warburg 1925b. Vgl. P. Matthiae 2009, S. 123–138. D I S PA R AT E S 29 Montage von heterogenen Dingen, Orten und Zeiten. Einer der entscheidensten Beiträge der Warburg’schen Kunstgeschichte war seine Entdeckung, dass es selbst in jenen Errungenschaften des Abendlands, die am stärksten von »Klassik« und »Maß« geprägt sind – die griechisch‑römische Kunst einerseits und die italienische Renaissance andererseits –, eine grundlegende Unreinheit gibt, die mit großen Wanderbewegungen verbunden ist, die nur eine Kulturwissenschaft* zutage fördern konnte, die dieses Namens würdig, das heißt in der Lage ist, in jeder visuellen Konfiguration die heterogenen räumlichen Bewegungen zu lesen.33 So hat Warburg im Zusammenhang mit seiner Deutung der astrologischen Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara begriffen, dass man sie nicht nur im Zusammenhang mit der evidenten griechischen und lateinischen Tradition betrachten darf, sondern dass sie auch mit Hilfe deren weniger naheliegenden arabischen Verzweigungen betrachtet werden müssen, auf einem historischen und geographischen »Umweg«, wie er auch in vielen anderen Bereichen zu beobachten ist, insbesondere im Zusammenhang mit der Perspektive.34 Alles, was in den »Zentren« der Kunst geschieht, hängt auch an diesen weniger sichtbaren Fäden, die von den kulturellen Wanderbewegungen gewoben werden, so dass man bis nach Bagdad, Teheran, Jerusalem oder Babylon gehen muss, um zu ermessen, was in Rom, Florenz oder Amsterdam geschieht. Zu einer solchen deterritorialisierten, nomadischen Erkenntnis lädt uns die grundsätzliche Unreinheit der Bilder ein, ihre Berufung zum Ortswechsel, ihre innere Montage‑Natur. Wenn uns Warburg im weiteren Verlauf seines Bilderatlas Rembrandts Anatomien vor Augen führt, hat er sie daher zunächst von ihrer augenscheinlichsten – wissenschaftlichen, cartesianischen – Bedeutung gelöst, indem er sie mit religiösen Szenen und Antikenerinnerungen montierte, die uns diese Bilder im Sinne eines fernen Nachlebens der »magischen Anatomie«35 verstehen lassen, wodurch wir nicht zuletzt an die Lebermodelle der ersten Bildtafel erinnert werden. Die erste von diesen, oben links (Abb. 4), ist eine babylonische Tonleber, die sich im British Museum befindet (Abb. 5). Sie wurde 33 Vgl. E. Wind 1931, S. 401–417. 34 Vgl. A. Warburg 1912, S. 373–400. H. Belting 2008. 35 A. Warburg 1927–1929, S. 124–125 [Text und Tafel 75]. 30 D I S PA R AT E S vermutlich um 1700 v. Chr. modelliert. Die drei anderen neben ihr stammen aus dem Vorderasiatischen Museum in Berlin und sind auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts v. Chr. datierbar. Es handelt sich hierbei um faszinierende und doppeldeutige Objekte, wie alle dialektischen Bilder es sind: In ihnen treffen mindestens zwei Zeitlichkeiten, zwei Welten, zwei Wirklichkeitsordnungen zusammen, die normalerweise alles trennt. Einerseits handelt es sich um äußerst realistische Bilder: Die Schafsleber ist in Originalgröße dargestellt, wobei sie in etwa so erscheint, wie ein babylonischer »Hepatoskop« sie wohl hat sehen und handhaben können, der dem Körper des unmittelbar zuvor getöteten Tiers das blutige Organ entnahm und es auf einen Schautisch legte. Ein heutiger Anatom kann mühelos die gesamte Morphologie des Organs erkennen: die asymmetrischen Lappen – deren einer als lobus quadratus bezeichnet wird –, den pro‑ cessus pyramidalis genannten Auswuchs, oben die Pfortader mit ihrer porta hepatis sowie die nach rechts abfallende Gallenblase. Die zahlreichen Tonmodelle, die Archäologen im Orient entdeckten, weisen sämtlich diese anatomische Präzision auf.36 Andererseits sind diese Objekte aber nicht nur einfache naturalistische Darstellungen. Das wird deutlich, sobald man bemerkt, dass die Leber aus dem British Museum – wie die anderen auch – mit Schriftzeichen bedeckt und in geometrische Zonen unterteilt ist, die von regelmäßigen Vertiefungen durchbrochen werden und sich gleichsam strategisch über die gesamte Oberfläche verteilen. Die Schrift lässt an ein in Stein gemeißeltes Gesetz oder an einen eingravierten Spruch denken, die geometrische Aufteilung an ein geheimnisvolles Schachbrett. In einer grundlegenden Untersuchung der mesopotamischen Weissagepraktiken hat Jean Bottéro gezeigt, dass die sogenannte »deduktive Divination« ein ziemlich weites Feld abdeckte, das von der schlichten Beobachtung von Naturerscheinungen – Gestirnen, Meteoriten, Sonnen- und Mondfinsternissen, Steinen, Pflanzen, Tieren sowie natürlich des Menschen selbst, der in seiner Physiognomie und sogar in seinen Träumen beobachtet wurde37 – bis zur komplexen Ausarbeitung künstlicher Situationen 36 Vgl. M. Rutten 1938, S. 36–70. G. Contenau 1940, S. 235–283. M. Mani 1959–1967. J. Nougayrol 1968b, S. 31–50. J.‑W. Meyer 1983, S. 522–527. R. Leiderer 1990 (mit einem anatomischen Bildatlas). 37 Vgl. J. Bottéro 1974, S. 100–111.
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