Die vielen Facetten eines Menschen

Die vielen Facetten eines Menschen
Predigt zum Martinsfest im Bonner Münster 2015
Jeder Mensch hat viele Facetten. Oft ist es aber so, dass
nicht einmal die Nahestehenden alle Seiten eines
Menschen kennen – und überrascht sind, wenn sie ihn
plötzlich ganz anders erleben, als sie gewohnt sind.
Der zurückhaltende, bei Tisch und in Gesellschaft fast
stumme Kollege wird redegewaltig, witzig und versprüht
ungeahnte Leidenschaft, sobald er hinter einem Pult steht
und vor einem großen Auditorium spricht.
Der energische Familienvater, der daheim den Boss
spielt, wird plötzlich ganz kleinlaut, als ihn sein Chef
zuhause anruft.
So mag es uns auch mit dem hl. Martin gehen. Vermutlich
kennen wir bei weitem nicht die vielen Facetten, von
denen die Martinslegenden erzählen.
Natürlich: Da ist der spontan barmherzige Soldat, der vor
den Stadttoren von Amiens seinen Soldatenmantel mit
dem Schwert zerschneidet und die eine Hälfte dem
frierenden Bettler überlässt.
Aber da gibt es auch den hartnäckigen Opponenten
Martin, der sich nicht in die Karrierepläne seines Vaters
einsperren lässt. Der hatte schon bei der Geburt seines
Sohnes dessen Laufbahn vor Augen: Elitesoldat sollte er
werden, wie er selbst einer war. Und deshalb hat er ihm
den Kriegsgott Mars gleich in den Namen gesetzt: Martin.
Aber Martin bricht aus – und quittiert seinen Dienst beim
Militär.
1
Da gibt es den spirituellen Menschen Martin, der sich
schon in jungen Jahren in Bischof Hilarius einen
geistlichen Begleiter sucht und später selbst ein Kloster
gründet: Er wie alle anderen leben in strengster Askese
und sind wegen ihrer überzeugenden Lebensweise
Anziehungspunkt für die gesamte Gegend.
Da ist der religiöse Kämpfer Martin: Gegen die
Mehrheitsmeinung vertritt er hartnäckig eine andere
christologische Lehre – und lässt sich dafür auspeitschen.
Weil er sich wegen seiner theologischen Meinung nicht
kleinkriegen lässt, wird er mehrfach vertrieben.
Da ist der Bischof Martin, der gegen den Willen seiner
vornehmen Amtskollegen vom Volk als neuer Bischof
ausgerufen wird – und sich zeitlebens mit den Kleinen,
Kranken und Benachteiligten solidarisiert. In seiner
Bischofskirche setzt er sich nie auf die bischöfliche
Kathedra, sondern immer auf einen Melkschemel, „wie
ihn die Bauern haben“.
Und da gibt es auch den geradezu unheimlichen Martin,
der eine feine Nase hat für die Dämonen und die
teuflischen Versuchungen; der sich nicht täuschen lässt,
als ihm eine Gestalt mit Krone, Purpurgewand und
goldenen Stiefeln vorgaukeln will, er sei Christus.
Ich höre hier auf. Keine Frage: Martin ist ein Heiliger mit
vielen Facetten. Gewiss, da gab es Entwicklungen: vom
jungen Soldaten, hoch zu Ross, der „von oben herab“
barmherzig ist, zum älteren Bischof, der wie die Bauern
auf einem Melkschemel sitzt.
Aber es gibt auch eindeutige Konstanten: den
Opponenten, den Eigenwilligen, der sich in kein
2
Denkgehäuse einsperren lässt: weder in das des Vaters
noch in das der Glaubensbrüder.
Und – als Konstante – gibt es die religiöse Ader, die
einfach dem Bauchgefühl vertraut: vor den Toren Amiens
genauso wie bei der Erscheinung des als König
verkleideten Teufels.
Liebe Zuhörer,
die Legenden über den hl. Martin regen mich an, über die
vielen Facetten von mir selbst nachzudenken. Wo zeige
ich mich wie? In welchen Punkten habe ich mich im Laufe
meines Lebens verändert? Wo liegen die Konstanten in
meinem Leben?
Und: Ist es bei den anderen nicht genauso? Lasse ich die
vielen Facetten auch bei ihnen zu – und freue ich mich,
neue Seiten an ihnen zu entdecken?
Einleitung
In der kommenden Woche wird in Bonn der hl. Martin
wieder mit einem großartigen Spektakel gefeiert: mit
einem Martin zu Roß, dem Martinsfeuer und unzähligen
Lampions auf dem Marktplatz – und der vom
Bürgermeister erzählten Martinslegende.
Aber der hl. Martin ist mehr als der mildtätige
Mantelverteiler.
Ein Grund, heute am Patrozinumsfest hier im Münster
einmal auch die anderen Seiten des Martin zum Zuge
kommen zu lassen.
3
Fürbitten
Herr unser Gott, höre du heute am Patrozinium des hl.
Martin unsere Bitten:
- Wir beten für die jungen Menschen, die ihren
eigenen Weg suchen: zwischen den Erwartungen
ihrer Eltern, den gesellschaftlichen Zwängen und
den Wünschen ihres eigenen Herzens …
- Wir beten für die vielen Helferinnen und Helfer, die
den Asylsuchenden auf Augenhöhe begegnen …
- Wir beten für alle, die mit Überzeugung ihren
eigenen Weg gehen – trotz der Hindernisse und
Nachteile, in ihnen in den Weg gelegt werden …
- Wir beten für alle, die ihrem religiösen Bauchgefühl
vertrauen – und laut sagen, was sie denken …
- Wir beten für alle, die ihre Kraft im Gebet suchen –
und dort zur Stelle sind, wo sie gebraucht werden …
4