Stellungnahme zur frühen Sprachtherapie

Stellungnahme zur frühen Sprachtherapie und deren Wirkungen
Prof. Dr. Julia Siegmüller, Dekanin, Europäische Fachhochschule, Rostock
Juni 2015
Die Platzierung der Sprachtherapie im kindlichen Lebenslauf ist ein seit den
1990er Jahren bereits breit diskutiertes Thema in der interdisziplinären und
internationalen Debatte zur Kindersprach-therapie. Dabei muss beachtet werden,
dass die einzelnen Aussagen a) vom regionalen/nationalen Versorgungssystem
abhängen und b) stark von der Kindergruppe beeinflusst werden, die aktuell
untersucht ist.
Stellvertretend für die frühe, von Tsybina & Eriks Brophy (2007) als „klassisch“
bezeichnete Studien-phase sollen hier zwei Quellen zitiert werden. Beide
stammen aus der Diskussion um die Therapie-relevanz von Late Talkern. Die hohe
Spontanremissionsrate, die in den damaligen Late-Talker- Korpora festgestellt
wurde, führte z.B. Whitehurst und Kollegen (1991) zu der viel zitierten „wait-andsee“-Haltung, bei der zwar beobachtet, nicht jedoch behandelt wird. Dieser
Meinung tritt Rescorla gegenüber, die die Möglichkeit zur Spontanremission als
Chance betrachtet, Kinder mit möglichst wenig Therapie zu aktivieren. So
argumentiert sie, dass das Warten, bis eine mögliche Spontanremission
ausgeschlossen werden kann, auf der Kehrseite das Risiko einer wesentlich
längeren und teureren Therapie in sich trägt (Rescorla, 1989). Diese Debatte hält
bei den Late Talkern bis heute an. Darüber hinaus hat sich die
Kindersprachtherapie jedoch weiter entwickelt und kann im Vergleich zu der alten
Debatte neue Argumente für den Zeitpunkt der Versorgung ins Feld führen.
1. Stabilität der Prävalenz: ab 3;0 können Spontanremissionen quasi
ausgeschlossen werden. Die Stabilität der Prävalenz ist auch 4 Jahre nach
kindergarden age (USA; gemessen an 196 Kindern) hoch (Tomblin et al.
2003). Damit kann eine „wait-and-see“-Haltung zur Vermeidung unnötiger
Kosten abgewiesen werden.
2. Typenausbildung mit zunehmendem Alter: je älter das Kind im
unbehandelten Zustand wird, desto stärker bilden sich spezifische Typen
aus, die in Systematik und Therapie(möglichkeit) unterschieden werden
können (Conti-Ramsden & Botting, 1999).
3. Frühe Therapie triggert Anschlussfähigkeiten: die wenigen
Therapiestudien, die es mit jungen Kindern gibt, geben erste Hinweise
darauf, dass eine systematische Therapie gehäuft zum selbstständigen
Erreichen anschließender Entwicklungsmeilensteine bzw. zu
Ausbreitungseffekten führen kann (Siegmüller, 2013; Ellis Weismer, 2000).
4. Intervalltherapie: eine Therapie in therapeutisch begründeter Länge, die
in Intervallen mit Therapiephase – Pause –Therapiephase arbeitet, triggert
in der Regel größere Selbstaktiviertungsfähigkeiten beim Kind als eine
Dauertherapie (Fox-Boyer, 2015).
5. Folgen von früher Therapie: die Frage, ob Störungen, die später im
Leben eines Kindes auftreten, auf einen frühen therapeutischen Einfluss
(also eine falsche/zu frühe) Therapie zurückgeführt werden können, ist
statistisch kaum zu beantworten. Um diese Kausalität herstellen zu
können, müsste ausgeschlossen werden, dass das entsprechende Kind das
spätere Störungsbild ohne die als Ursache angenommene Therapie
tatsächlich nicht bekommen hätte. Dies ist jedoch nicht möglich. Gleiches
gilt für die Frage, ob Mittelohrent-zündungen im ersten Lebensjahr kausal
für Sprachentwicklungsstörungen sind: es gibt keine Befunde, die über
eine Häufung beider Phänomene hinaus kommen, da auch hier zum
Zeitpunkt der Mittelohrentzündung nicht ausgeschlossen werden kann, ob
das Kind nicht auch ohne die Entzündungen eine
Sprachentwicklungsstörung entwickelt hätte. Insofern ist die internationale
Forschung mit Rückschlüssen dieser Art extrem vorsichtig und verwendet
eine relative Sprache, die ausschließlich auf der Basis von großen, sicheren
Kohortenstudien geführt wird. Für das Deutsche liegen entsprechende
Daten bis dato nicht vor.
6. Positive Alterseffekte: misst man den Einfluss des Alters an der Anzahl
benötigter Sitzungen, so sind in den letzten Jahren erste Daten am LIN.FOR
in Rostock entstanden, die belegen können, dass die frühe Versorgung eine
kürzere Verweildauer in einer Therapie zur Folge haben kann (Siegmüller et
al., 2010, Siegmüller, 2015, in sub). Daten bestehen zum einen für die
Late-Talker-Therapie, in der sich eine signifikant erhöhte Verweildauer ab
einem Therapiebeginn—Alter von 2;10 zeigte (Kindergruppen nach Anzahl
Wörter im Lexikon gleichgesetzt) und zum anderen für die
Verbzweitstellungstherapie bei Dysgrammatismus (Verweildauer wird
signifikant länger bei 4;5). Beide Alterspunkte liegen am unteren Ende den
momentan üblichen Versorgungsalter dieser beiden Störungsbilder.
Literatur:
Conti-Ramsden, G., & Botting, N. (1999). Classification of children with specific
language impairment: longitudinal considerations. Journal of Speech,
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Rescorla, L. (1989). The language development survey: a screening tool for
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Siegmüller, J. (2013). Emergenzorientierte Grammatiktherapie auf der Grundlage
des PLAN - erste Ergebnisse des DYSTEL-Projektes. In T. Fritsche, C. B.
Meyer, A. Adelt & J. Roß (Eds.), Im Dschungel des Grammatikerwerbs;
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Siegmüller, J., Baumann, J., & Meyer, S. (2015, sub.). Inputorientierte
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und Nachweis der Wirksamkeit. Sprache-Stimme-Gehör, eingereicht.
Siegmüller, J., Schröders, C., Sandhop, U., Otto, M., & Herzog-Meinecke, C. (2010).
Wie effektiv ist die Inputspezifizierung? - Erwerbsverhalten von Late
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Entwicklungsstörungen und Late-Talker-Sprachprofil in der inputorientierten
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Tomblin, J. B., Zhang, X., Buckwalter, P., & O'Brien, M. (2003). The stability of
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Tsybina, I., & Eriks-Brophy, A. (2007). Issues in research on children with early
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Whitehurst, G. J., Fishel, J. E., Lonigan, C. J., Valdez-Menchaca, M. C., Arnold, D. S.,
& Smith, M. (1991). Treatment of early expressive language delay: if, when
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