Seite 20 Neubrandenbu Mittwoch, 25. November 2015 Neubrandenburg, Karl-Marx-Platz Blick vom HKB Kantine im VEB Reifenwerk Spielplatz in der Oststadt Der Blick zurück hält einige Überraschungen bereit Auf der Turmstraße Harald Kirschner muss eine Engelsgeduld besessen haben, wenn er hinter dem Sucher seiner Kamera auf Momente wartete, die sich einzufangen lohnten. Denn in manchmal fast intimen Bildern hat der Fotograf dokumentiert, was sich Anfang der 80er-Jahre auf den Straßen und Plätzen oder in den Betrieben der Viertorestadt abgespielt hat. Diese Seite zeigt eine Auswahl der Bilder, die in der Ausstellung im Regionalmuseum zu sehen sind. Von Jörg Franze NEUBRANDENBURG/ALTENTREPTOW. So war er, der Sozialis- mus: ein Plakat mit der Losung „8. März! Dank und Anerkennung allen Frauen und Mädchen zum Internationalen Frauentag“ hängt an der Wand in der Kantine des Reifenwerks – und davor steht eine Frau und gibt das Essen aus. Dafür sitzt im Vordergrund ein langhaariger junger Mann mit halb geschlossenen Augen, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich je eine leere Bier- und Milchf lasche. Aber auch so war er, der Sozialismus: Ein Dutzend Kinder und Erwachsene holen sich am Eisstand in der Oststadt-Schülergaststätte, gleich neben dem überdimensionalen Wandbild „Kinder – Träume – Zukunft“ von Erhard Großmann, eine kalte Leckerei. An einem anderen Tag, mitten im Winter, rutschen Kinder auf dem Neubrandenburger KarlMarx-Platz auf einer Spritzeisbahn durch die Gegend – ganz ohne Eiszelt. Alle diese Momente und noch viel mehr Szenen aus dem Alltag einer aufstrebenden sozialistischen Bezirksstadt hat Harald Kirschner mit der Kamera eingefangen. Anfang der 80er-Jahre war der damals in Leipzig wohnende Fotograf in Neubrandenburg unterwegs. Harald Kirschners Fotos aus den 80er-Jahren sind auch für jüngere Neubrandenburger eine Inspiration. FOTO: JÖRG FRANZE Bilder für ein Buch, ein Stadtporträt sollten es werden. Aber Kirschner, 1944 im tschechischen Liberec (Reichenberg) geboren und in Altentreptow aufgewachsen, hatte von Anfang an den Ansatz, die Menschen der Stadt abzubilden. Und es ist ihm gelungen. Das beweisen die gut 30 Fotografien der Ausstellung „Vor mehr als 30 Jahren – Neubrandenburg in den 1980er Jahren, die derzeit im Neubranden- burger Regionalmuseum zu sehen sind. Zur Eröffnung ließ es sich der 71-Jährige nicht nehmen, selbst zu kommen. Denn er habe immer noch eine enge Bindung zur Viertorestadt, erläuterte er. Schließlich habe er hier auch seine ersten Schritte als Fotograf unternommen und erste Erfolge gefeiert. Im Foyer des HKB konnte er 1970 erstmals einige seiner Bilder zeigen, kurz vor der Wende waren 1988 in der damaligen Kunstsammlung im Friedländer Tor ein zweites Mal Fotografien von ihm in der Stadt zu sehen. Nun ermöglicht Harald Kirschner mit seiner dritten Personalausstellung den Neubrandenburgern zugleich einen Blick zurück, wie Museumdirektor Rolf Voss hervorhob. Viele Besucher würden mit den Motiven sicher persönliche Erinnerungen verbinden. Die Fotos seien Zeitdokumente, die etwas dokumentierten, was nicht in Vergessenheit geraten sollte. „Sicher eröffnen diese Fotodokumente unterschiedliche, vielleicht sogar polarisierende Emotionen. Das sollen sie auch. Keinesfalls sind die Fotos Ostalgie, bei genauem Hinsehen merkt der Betrachter die Tücken des DDR-Alltags, die nicht nur Schmunzeln, sondern auch Kopfschütteln provozieren“, sagte Voss. Er hob auch die hohe Qualität der Schwarz-Weiß-Motive hervor, aus einer Zeit, als an Digitalfotografie wirklich noch nicht zu denken war. Neubrandenburgs Oberbürgermeister Silvio Witt verwies auf ein starkes Interesse jüngerer Neubrandenburger an der Geschichte der Stadt, das sich auf diversen Seiten im Internet zeige. Insofern sei diese Ausstellung nicht nur eine Chance für das Museum, einen möglichst großen Publikumskreis anzusprechen, sondern auch für die Besucher, einen Blick zurück in die Geschichte der Stadt zu wagen. „Ich wusste gar nicht, dass das HKB schon einmal saniert wurde“, befand der Oberbürgermeister zum Beispiel mit Blick auf ein Bild des eingerüsteten Hauses, auf dem ein Bauschild Besucher bittet, den Seiteneingang zu benutzen. Den zum Teil quietschbunten 80er-Jahren werde mit diesen SchwarzWeiß-Eindrücken eine ganz neue Seite abgewonnen. Die Ausstellung „Vor mehr als 30 Jahren – Neubrandenburg in den 1980-er Jahren“ ist bis zum 14.Februar 2016 immer dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr im Dachgeschoss des Franziskanerklosters zu sehen. Kontakt zum Autor [email protected] LDPIX - GO FOTO: © IA.COM FOTOL urger Zeitung Seite 21 FOTOS (6): HARALD KIRSCHNER Schülergaststätte in der Oststadt mit Wandbild von E. Großmann („Kinder-Träume-Zukunft“) Straßenfotograf fängt das Neubrandenburg der 80er ein Wie die Stadt vor etwa 30 Jahren aussah, ist bis zum 14. Februar auf den Bildern einer Ausstellung im Neubrandenburger Regionalmuseum zu sehen. Der jetzt in Leipzig wohnende Fotograf Harald Kirschner hat die Motive im Rahmen seiner Arbeit für ein Buchprojekt gefunden und festgehalten. Jörg Franze sprach mit ihm über die Entstehung der Bilder. Die Fotos, die im Regionalmuseum zu sehen sind, sind Bilder, die im Rahmen eines Buchprojektes entstanden sind. Was war das für ein Projekt? Es handelte sich dabei um ein Stadtporträt von Neubrandenburg, das der Brockhaus-Verlag in Leipzig herausgegeben hat. Für die umfangreiche Fotoserie von Neubrandenburg und Umgebung war ich 1982 bis -84 in der Stadt und drumherum unterwegs. Das Buch ist dann später im Frühjahr oder Sommer 1989 erschienen, es sollte aber eigentlich schon Mitte der 80er herauskommen. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Grund dieser Verzögerung. Wie es zu DDR-Zeiten nun mal war – Papierkontingente waren knapp. Außerdem hatte man ein Problem mit dem Textautor. Das war Tom Crepon (damals Direktor des Literaturzentrums, Bezirksvorsitzender des Schriftstellerverbandes, zudem Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit – Anm. d. Red.). Der Gutachter die schönen Tore und die Stadtmauer. Fotograf Harald Kirschner vor einem seiner Ausstellungsbilder. FOTO: JÖRG FRANZE war mit dem Text ideologisch nicht einverstanden. Einige Passagen waren zu kritisch. Crepon wollte sie aber nicht verändern. So verzögerte sich das Buchprojekt immer weiter. Schließlich sprang Heidrun Uhl ein und steuerte den Text bei. Es gab also ein wirtschaftliches und ein ideologisches Problem. Außerdem war Neubrandenburg für den in Leipzig angesiedelten Brockhaus-Verlag weit weg und wohl auch nicht so wichtig. Hatten Sie von vornherein eine Idee, was Sie in Neubrandenburg mit der Kamera einfangen wollten? Jede Stadt ist anders und ich kannte Neubrandenburg aus meiner Jugendzeit. Ich bin in Altentreptow groß geworden, habe dort meine Kinder- und Jugendzeit verbracht. In Neubrandenburg hatte ich meine ersten fotografischen Erfolge. Daher kannte ich die Stadt ein bisschen. Es war ein Auftragswerk, aber ich hatte schon ziemlich viele Freiheiten. Es sollte das Porträt einer Stadt rüberkommen, ich wollte in diesem Buch aber auch meine eigene Handschrift hinterlassen – also nicht einfach nur die Höhepunkte von Neubrandenburg fotografieren, Was bedeutete das? Mich interessierten hauptsächlich die Menschen, die hier leben. Ich fühle mich als Straßenfotograf, mich haben schon immer vor allem soziale Themen interessiert. Auf den Bildern sind keine Situationen gestellt. Meine Arbeitsweise war, zu beobachten, Geduld zu haben und auf einen bestimmten Moment zu warten. Ich bevorzuge eine erzählerische Fotografie und möchte, dass sich eine Geschichte in den Bildern entwickelt. Haben Sie bewusst auf die Schwarz-Weiß-Fotografie gesetzt? In dem Buch sind auch Farbbilder, weil der Verlag es so wollte. Aber in dieser Ausstellung will ich meine Neubrandenburg-Bilder präsentieren. Und die sind eben nur schwarz-weiß. Neubrandenburg war damals, als die Bilder entstanden sind, eine sehr junge Stadt. Haben Sie das auch so wahrgenommen? Mir fiel damals natürlich der Kinderreichtum auf, das zeigt sich ja auch auf verschiedenen Bildern. Im Gedächtnis geblieben sind mir auch die Kinderwagen-Reihen vor dem Centrum-Warenhaus, wo alle ihren Nachwuchs abstellen konnten und keine Angst haben mussten. Ich fand damals Neubrandenburg sehr harmonisch und offen. Die Leute kannten sich alle, man unterhielt sich. In der Turmstraße war reges Leben, es gab ein beeindruckendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich hatte das Gefühl, hier gibt es nicht so große Probleme wie zum Beispiel in Leipzig, wo die Umweltverschmutzung, der Verfall der Bausubstanz und anderes die Leute viel mehr aufgewühlt haben. Kommen Sie noch regelmäßig hierher? Und wie wirkt Neubrandenburg dann auf Sie? Nein, regelmäßig nicht. Ich habe noch Verwandte in Altentreptow und bin dann auch ab und zu in Neubrandenburg. Die Stadt lässt sich ja schnell erlaufen. Und sie wirkt auf mich weniger lebendig. Die Leute fahren mit dem Auto ins Zentrum, gehen im Center einkaufen und fahren wieder raus. Das Leben spielt sich heute wahrscheinlich anderswo ab. Kontakt zum Autor [email protected]
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