Dahlhoff Ausgewählte Tanzmusik der Küsterfamilie aus Dinker, Westfalen, gesammelt von Dietrich Dahlhoff (1767-99) für Streicherbesetzung arrangiert von Michael Möllers - Band 1- 3 Vorwort: Traditionelle Volkstanzmusik ist in Norddeutschland weitgehend ausgestorben. Daran haben auch Wiederbelebungsversuche in den 1970ern und die Arbeit von Vereinen für „Brauchtumspflege“ nichts ändern können. Im europäischen Ausland, z. B. in Irland, Schweden, Dänemark ist das durchaus anders. Manchmal, festgemacht an nur ganz spärlichen Resten, einer Handvoll Gewährsleuten und wenigen, kleinen Sammlungen, hat sich dort über die Jahre eine große, allgemeine Begeisterung entfalten und neues Musikleben entwickeln können, das auf alten Traditionen fußt. In der letzten Zeit mehren sich auch bei uns die Zeichen, dass eventuell doch noch etwas geht: Ein bisschen Interesse an der tatsächlichen musikalischen Vergangenheit wird auf einigen wenigen Festivals (Venne, Hösseringen, Schwerin…) hörbar. Mangels echter Tradition greifen viele Musiker auf alte Quellen zurück, und das ist gut so, gibt es davon doch mehr als gedacht. In der Szene kursieren inzwischen etliche Sammlungen1, die vor das 19. Jahrhundert, die Zeit des großen Traditionssterbens in Deutschland reichen, und deshalb auch noch lebendige Bilder von dem liefern können, was einmal war. Die Musiksammlung der Dahlhoffs ist die größte, und die Stücke sind allesamt schön. Sie ist extrem reich an Formen, Melodien, Harmonien, die sich wie von selbst finden. Sie repräsentiert gut und gern zweihundert Jahre traditionelle Familienmusik, aus einem kleinen Dorf in Westfalen. Und wenn sie wieder gespielt wird, hat sie eine reelle Chance! Mir ist dabei besonders wichtig, dass die Quelle zunächst rein bleibt. Sonst wird man niemals sehen/hören/fühlen, woran die Leute früher Vergnügen hatten. Nichts gegen Stilmixe, Weiterentwicklung, aber in diesem Fall ist musikalischer Artenschutz dringend vonnöten. Wir müssen dazu stehen, was unsere eigenen Wurzeln wirklich sind und aufhören, ständig über den Zaun zu schielen: die Musik der Dahlhoffs ist eben nicht irisch, nicht schwedisch, nicht französisch usw., auch nicht fancy-mittelalterlich sondern westfälisch und sehr eigenartig im besten Sinne! Andererseits: Gerade weil die Dahlhoff-Familie weltoffen auch Anregungen und Melodien von anderswo ins eigene Repertoire aufnahm, entstand so etwas wie ein eigener Stil. Aus Fremdem wurde im Laufe der Zeit Eigenes, ein Vorgang, den man häufig in der Volksmusik beobachten kann. Entscheidend dafür ist die Zeit, die Musik braucht, um zu sich selbst zu kommen. Die Originalvorlage für dieses Spielbuch befindet sich seit vielen Jahren in der „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz“ Unter den Linden in Berlin. Bei den zehn Bänden handelt es sich wohl um die größte Tanzmusiksammlung des 18. Jahrhunderts aus Deutschland, insgesamt knapp 1400 Seiten. Auf vielen Blättern sind zwei Melodien notiert. Es gibt aber auch zahlreiche Zweit- und Bassstimmen sowie Variationen, die als „Doubletten“ gekennzeichnet sind. Auf Initiative einzelner Volksmusik-Enthusiasten hin gelang es 2012, die alten Originale digitalisieren zu lassen, so dass sie als PDF-Daten nun jedermann zur Verfügung stehen.2 Vor allem Simon Wascher, Drehleierspieler und Musik-Forscher und Wolfgang Meyering, Musiker und Redakteur bei Deutschlandradio Kultur waren die Initiatoren.3 1 Um einige zu nennen: Das Wernigeröder Tanzbüchlein 1786, Wolfenbütteler Tanzbuch 1717, Seibiser Notenbuch 1784, Altländer Notenbuch 1792 2 http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/?PPN=PPN719868688 3 Mitfinanziert wurde das Unterfangen von einigen nicht unbekannten Musikern aus der Szene: Merit Zloch, Simon Wascher, Wolfgang Meyering, Thomas Behr, Matthias Branschke, Ralf Gehler, Hermann Haertel, Kristina Künzel, Michael Möllers, Anne Schenker, Cordula Schönherr, Christian Tewordt, Johanna Wildhack und Vivien Zeller. 4 Das Besondere an der Dahlhoff-Sammlung liegt nicht nur in ihrem Umfang sondern auch in der Herkunft und den Umständen ihrer Entstehung. Sie stammt aus dem kleinen westfälischen Dorf Dinker (früher „Kirch-Dincker“), das zwischen Hamm und Soest am Hellweg liegt. An dieser uralten Handelsstraße hatte das Dorf natürlich ein Gasthaus und damit Kontakt zur weiten Welt. Der sehr eigenwilligen evangelisch-lutherischen Gemeinde dort ist es zuzuschreiben, dass alle Kirchenämter vom Pastor bis zum Totengräber über viele Jahre „im Dorf“ blieben und geradezu vererbt wurden. So auch das Küsteramt des Johann Heinrich Dahlhoff (1704-1764), der es wohlmöglich schon von seinem Vater geerbt hatte.4 Das Amt umfasste aber offenbar nicht nur die kirchlichen Aufgaben sondern auch die Zuständigkeit für Pfarrkirche St. Othmar, Dinker die Unterhaltung, die Tanzmusik im Dorf. Als Johann Arbeitsplatz für viele Heinrich 1764 gestorben war, begann offenbar sein Sohn Dahlhoff-Generationen Johann Dietrich, das tradierte musikalische Erbe aufzuschreiben. Das Widmungsblatt des zweiten Bandes nennt das Jahr 1767. PDF 156: 2. Band, Widmung: „Liebe lehrt Musik“ Die Stücke sind in der damals üblichen barocken Schreibweise notiert, wie man sie ja auch aus z.B. Bachhandschriften kennt: Vorzeichen vor jeder Linie, jedem Zwischenraum, b als Auflösungszeichen, Faulenzer („bis“=doppelt) etc.. Auffällig ist die zunächst durchgängige Verwendung der lateinischen Schrift, wie sie bis Mitte des19. Jahrhunderts noch üblich war. Dann finden sich zahlreiche Kommentare und Zusätze in Kurrentschrift, einer Vorform dessen, was ab 1916 als „Sütterlin“ an deutschen Schulen eingeführt wurde. Interessant ist auf jeden Fall, dass die Titelblätter ganz am Anfang in dieser „späteren“ Schreibweise gehalten sind. 4 http://kirche-dinker.de/fileadmin/mediapool/baukaesten/KG_dinker/Unsere_Gemeindekonzeption.pdf 5 PDF 3: 1. Band, Seite III: „Um das Alter der Stücke in diesem I. Bande ungefähr angeben zu können, diene als Angabe, daß der Sammler Johann Heinrich Dahlhoff, Küster in Dinker, am März 1704 geboren und am 17. Decemb. 1764 starb.“ PDF 5: 1. Band, Seite V: „Tanzmusik der Westfalen in der Gegend der Soester Börde im 17. Jahrhundert“ Etwa um 1860 schien Schluss zu sein mit der Tanzmusiktradition in Dinker. Die alten Geigen wurden der Mozart-Gesellschaft vermacht, und ganz im Geist der Zeit ein Männergesangsverein gegründet. Man weiß nicht, wer sich der Noten angenommen hat. Sicher ist (Quelle: Simon Wascher), dass die Dahlhoff-Sammlung sich im Nachlass des bekannten Volksmusik-Sammlers Ludwig Erk5 befand und auf diesem Weg in die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin gelangt ist. Möglicherweise handelt es sich bei den Kurrent-Texten also um Erks Kommentare. Die vielen Markierungen mit Rötel und Blau scheinen ebenfalls nachträglich eingefügt zu sein und wurden im Spielbuch deshalb weitgehend übergangen. Nur über einen Umweg wurden deutsche Folkmusiker der jüngeren Generation auf die verschwundene Quelle aufmerksam: Um 1930 hatte der schwedische Volksmusikforscher und Sammler Nils Dencker im Staatsarchiv Berlin gestöbert und gezielt die Polonesen aus der Dahlhoff-Sammlung herausgeschrieben. Die Quellenangabe tauchte natürlich Jahre später bei schwedischen Musikern auf. Und nun wurde manch ein deutscher Schwedenfreak doch neugierig, und die Geschichte der Wiederentdeckung nahm ihren Lauf. 5 Ludwig Christian Erk (* 6. Januar 1807 in Wetzlar; † 25. November 1883 in Berlin) deutscher Musiklehrer und Komponist. Initiator der Sammlung Deutscher Liederhort (1856, 1893/94) (umgearbeitet von Franz Magnus Böhme und seitdem das Standardwerk des Deutschen Volksliedes, der „Erk-Böhme“) 6 Zu diesem Spielbuch: Auf der Suche nach interessanten Spuren bei den Dahlhoffs habe ich mich einerseits einfach von den Melodien locken lassen: Wie mögen sie damals in der Tanzkapelle geklungen haben? Aufschluss über die Harmonisierung geben natürlich die zwei- oder dreistimmig notierten Stücke, die deshalb für mich Vorrang hatten. Und eines fällt auf: Auch wenn die Melodien schlicht und volksmusikartig sind, ist die Sprache der frühen Klassik überall deutlich spürbar: Man findet nur wenig modale Melodieführungen, stattdessen Dur-/moll-Parallelen, Doppeldominanten, sogar Modulationen gehören zum musikalischen Standard. Die Originalstimmen sind jeweils mit Hinweis auf die pdf-Seite (siehe oben) gekennzeichnet. Wenn etwas geändert wurde befindet sich ein Ausrufezeichen (!) hinter der pdf-Nummer. Dann empfiehlt sich dringend ein Vergleich mit dem Original. Damit man die vielen Menuette und Polonaisen besser voneinander unterscheiden kann, habe ich sie neben dem Titel (in möglichst originaler Schreibweise) mit Band- und Seitenzahl der ersten Stimme bezeichnet. Gab es auf einer Seite beispielsweise zwei Menuette, so war das eine eben 2.46 a (Band 2, Seite 46, oben) und die andere 2.46 b. Letztere Regelung habe ich von Jan Kristof Schliep, Hildesheim, übernommen, weil ich sie noch ein wenig deutlicher fand als meine Kennzeichnung in den bisherigen Ausgaben. Schön ist es, wenn man sich gegenseitig auf Fehler aufmerksam macht. So muss der „Zwisel“ aus den vorigen Ausgaben natürlich „1.09 Tripel“ (Dreiertakt) heißen. Die Arrangements haben nicht den Anspruch klassischer Quartettsätze. Bei den ergänzten Bassstimmen habe ich mit von den vorhandenen leiten lassen. Die vorgeschlagenen Akkorde sind natürlich auch anders interpretierbar. Zweitstimmen sind einfach aus Terz und Sextparallelen entwickelt. Die Besetzung ist deshalb absolut beliebig, obwohl die Dahlhoffs natürlich in erster Linie Geiger gewesen zu sein scheinen. Um Verkleinerungen zu ermöglichen, habe ich die Bassstimme meist in der Bratsche dupliziert: Nur zwei Geigen und eine Bratsche können auch sehr reizvoll sein. Alles in allem gilt aber, dass es sich nur um Vorschläge handelt, mit denen man gern frei umgehen soll! Mein besonderer Dank gilt der Cellistin Maja Reichelt aus Hannover, die eine Menge gute Ideen bezüglich Greifbarkeit und Musikalität der Cellostimmen beigetragen hat und in diesem Band mit ersten Arrangements (Kennzeichnung: MR) dabei ist! Interessant sind auch die vielen Entdeckungen um die Stücke herum. Vielen Dank in diesem Zusammenhang an Marianne Müller, Tanzlehrerin aus Köln. Französisch war den Dahlhoffs, einfachen Leuten vom Land, wohl nicht geläufig. Und so wurden die tradierten Bezeichnungen unmittelbar, wie damals üblich, ins Plattdeutsche “übersetzt”. Aus “La Chaine” “Die Kette” konnte dann “Menuet La Schene” (“die Schöne”) werden, was ja auch gewissermaßen einen eigenen Sinn ergibt... Ausgerechnet diese Melodie hat sich in der flämisch/französischen Tradition erhalten6 und taucht später auf als "Menuet de la chaine" in einer Violinenhandschrift von Wandembrille7 auf. Vieles bleibt trotz allem skurril und unverständlich, zumal sich die Titel zunehmend unter dem Einfluss der Kurrent-Mode auch schriftlich manchmal nicht eindeutig entziffern lassen. Hinter “Schoenvonye” steckt also vielleicht “Sinfonie”? Wir werden hoffentlich noch viel und unterhaltsam zu spekulieren haben! Michael Möllers, August 2014 6 7 Es gibt sogar einen youtube-Film: https://www.youtube.com/watch?v=iouDxPo6rPQ Joseph Gaspard Wandembrille, Namur 1778, Hinweis von Merit Zloch
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