„Eine unglaubliche Ungleichbehandlung“

UMFRAGE DER WOCHE
LIPPSTADT
Martin Levenig (54)
Ich glaube nicht, dass die
Krise um die Flüchtlinge
die Gesellschaft spalten
wird. Es ist wichtig, dass
man nicht pauschalisiert.
Nur weil eine Gruppe junger Männer in Köln Frauen
sexuell bedrängt haben,
sollte man nicht panisch
werden und das auf alle
Flüchtlinge projizieren.
ERWITTE
GESEKE
Die Flüchtlingsdebatte polarisiert immer mehr. Haben Sie Angst, dass die aktuelle Krise die Gesellschaft endgültig spaltet
oder glauben Sie an die
Chance, dass die Situation
die Gesellschaft doch eher
zusammenführen kann.
?
ANRÖCHTE
Dieter Ritz (50)
Ich glaube, das Ganze wird
gut ausgehen. Wir können
keinen Zaun ziehen, wir
müssen den Flüchtlingen
einfach helfen. Wir haben
hier in Geseke andere Probleme als in Köln und werden uns hier bald besser
koordinieren.
200 000
Flüchtlinge sind locker zu
schaffen.
RÜTHEN
Christel Schumacher (72)
Jürgen Roehl (66)
Dominik Ewald (28)
Nein, ich denke, dass wir
das als Chance verstehen
müssen, zusammenzurücken. Und jeder muss im
Rahmen seiner Möglichkeiten helfen, die Probleme zu lösen. Denn wir haben die Flüchtlinge hier,
wir müssen es schaffen,
und das werden wir auch,
denke ich.
Wenn es bei einem vernünftigen Zuzug bleibt,
also etwa eine Obergrenze
festgelegt wird, dann bin
ich optimistisch, dass die
Integration
gelingen
kann. Das würde auch die
Gesellschaft zusammenhalten. Aber wir sollten
uns davor hüten, alle über
einen Kamm zu scheren.
So wie ich das empfinde,
ist die Gesellschaft bereits
gespalten und ich sehe in
näherer Zukunft keine
Möglichkeit, wie sich das
ändern soll. Ich mache mir
Sorgen, dass der Teil der
Leute, der gegen Flüchtlinge hetzt, weiterhin größer
wird – auch weil viele sich
leicht beeinflussen lassen.
„Eine unglaubliche Ungleichbehandlung“
Bürgermeister aus Geseke, Erwitte und Anröchte üben scharfe Kritik an der Verteilung der Erstattung von Flüchtlingskosten
Lokales Thema des Tages:
Flüchtlingskrise
vor Ort
Von Dominik Friedrich
KREIS SOEST ■ „Unbehagen
breitet sich aus, weil immer
mehr Kommunen verstehen,
wie die Flüchtlingsfinanzierung funktioniert“, sagt Remco van der Velden. Mit seinen
Amstkollegen Peter Wessel
aus Erwitte und Alfred Schmidt
aus Anröchte sitzt der Geseker
Bürgermeister am Montagnachmittag im Erwitter Rathaus an einem runden Tisch.
Vor ihnen liegt eine Tabelle
mit einer von der Gemeinde
Ense in Kooperation mit der
Stadt Geseke erstellten Berechnung der Kostenerstattung pro Flüchtling nach dem
Flüchtlingsaufnahmegesetz,
kurz FlüAG.
Was angesichts der Zahlenkolonnen nach trockener
Mathematik aussieht, ist
nach Einschätzung der drei
Bürgermeister eine so nicht
hinnehmbare
Verteilung
der vom Land zur Verfügung gestellten Finanzmittel in Höhe von insgesamt
rund zwei Mrd. Euro im Jahr
2016. „Wir sprechen hier
von einer unglaublichen Ungleichbehandlung“, betont
Wessel. Kommunen mit
Landesunterkünften oder
Großstädte, die ihre 100-Prozent-Quote bei der Flüchtlingsaufnahme bei weitem
nicht erfüllen, sind laut van
der Velden klar im Vorteil.
Beispiel Dortmund: Die
Stadt weist auf Grundlage
der Bestandszahlen aus der
Monatsstatistik zum 1. Dezember 4687 Flüchtlinge
auf. Damit erreicht sie nach
dem FlüAG-Verteilschlüssel
einen Erfüllungsgrad von
78,4 Prozent. Auf die tatsächliche Kostenerstattung
nimmt das jedoch keinen
Einfluss. Die basiert auf ei-
ner 100-prozentigen Erfüllung der Quote. Dortmund
erhält so 59,8 Millionen
Euro pro Jahr vom Land. Das
macht pro tatsächlich betreutem Flüchtling eine Erstattung von 12 751 Euro.
Oder anders ausgedrückt:
Nimmt man den vom Städteund Gemeindebund mit
dem Land ausgehandelten
und ab dem Jahr 2017 gel-
Kommunen wie Erwitte, Geseke und Anröchte. Sie haben keine Landesunterkünfte, erfüllen die Zuweisungsquote dennoch deutlich im
Rahmen der kommunalen
Unterbringung und müssen
demnach tief in die eigene
Tasche greifen. Geseke hat
bei 381 tatsächlich betreuten Flüchtlingen eine ProKopf-Erstattung von 6900
Euro und somit eine Unterdeckung von 1,17 Mio. Euro
pro Jahr. Anröchte muss bei
212 Flüchtlingen mit 6800
Euro pro Kopf (Unterdeckung: 679 000 Euro) leben,
Erwitte bei 298 Flüchtlingen mit 7039 Euro pro Kopf
(Unterdeckung:
882 000
Euro).
Wessel, van der Velden
und Schmidt stellen in diesem Zusammenhang klar:
„Wir kritisieren nicht Rüthen, Möhnesee oder Wickede. Wir würden uns dort
als Bürgermeister genauso
verhalten. Das ist Kritik am
Verteilungsschlüssel
des
Landes, Kritik am System
generell.“ Wessel spricht
dabei von „Anwesenheitsprämien ohne Aufwand“.
„Städte, die die Quote nicht
erfüllen, bekommen Geld
für Flüchtlinge, die es gar
nicht gibt“, sagt er. Und van
der Velden legt nach: „Im
Endeffekt leiden darunter
Die Flüchtlingskrise wird auch im oder Geseke noch länger Verdie Flüchtlinge in unseren
Altkreis Lippstadt mehr und mehr ständnis für belegte GemeindehalKommunen.“ Die Standards
zur Zerreißprobe. Die Forderungen len, Mangelverwaltung und Invesbei der Unterbringung, da
nach einer Begrenzung des Zutitionsstaus aufbringen, wenn
ist er sich mit Schmidt und
stroms und nach verschärften Ab- Kommunen an Rhein und Ruhr ihre
Wessel einig, werden notgeweisungsrichtlinien werden lauAufnahmequoten gar nicht erfüldrungen weiter heruntergeter, die Stimmung droht auch vor len und trotzdem abkassieren? Die
hen. Die ungerechte VerteiOrt zu kippen. Natürlich spielen
Landesregierung muss die Flüchtlung der Gelder führe zur
der Sex-Mob in der Silvesternacht lingsgelder zweckgebunden dort
zusätzlichen Verschärfung
oder der IS-Terror eine Rolle. Aber einsetzen, wo sie benötigt werder logistischen Probleme.
Pflicht des Landes wäre es
der zu befürchtende Prozess einer den. Und nicht bevorzugt dort, wo
daher, die Kommunen minschleichend nachlassenden Will- die meisten Wähler leben. Das
destens so auszustatten,
kommenskultur ist vielschichtiger. wäre nicht nur gerecht, sondern
dass sie ihre Aufgaben erfülWie soll in heimischen Kommunen auch neuer Antrieb für die vielen
len können. Van der Velden:
tenden Kostenersatz von
Integration gelingen, wenn eine
Menschen im Altkreis, die sich seit
„Dafür wäre genügend Geld
10 000 Euro pro betreutem
da, wenn es anders verteilt
Flüchtling, kann sich die Re- systembedingte Finanznot sogar Monaten aufopferungsvoll für ein
würde.“
vierstadt laut der von van die geordnete Unterbringung der friedliches Zusammenleben von
Flüchtlingen und Einheimischen
Die drei Bürgermeister
der Velden vorgelegten Ta- Flüchtlinge gefährdet? Wie köneinsetzen. Dominik Friedrich
rechnen derweil für 2016
belle über eine Überzahlung nen Bürger in Erwitte, Anröchte
mindestens mit den gleiin Höhe von 12,9 Mio. Euro
chen Zuweisungszahlen wie
freuen. „Das ist Strukturpo- Beispiel Rüthen: Die Berg- schlüssel bei minus 177, die
2015. „Langsam läuft uns
litik, um bestimmte Kom- stadt musste zum Stichtag 1. Erstattung pro tatsächlich
das Angebot an Mietobjekmunen zu bevorteilen“, fin- Dezember 2015 nur 19 betreutem Flüchtling bei
det van der Velden. Im Kreis Flüchtlinge kommunal un- 75 571 Euro, die Überzahten leer“, berichtet Wessel
Soest profitieren von dieser terbringen. Die Differenz lung somit bei 1,25 Mio.
diesbezüglich. Seine VerBerechnung nur die Kom- zwischen der tatsächlichen Euro.
mutung: „2016 und 2017
munen mit vom Land betrie- Anzahl und der 100-Prozentwerden wir in der HellwegAm Ende der Fahnenstanbenen
Notunterkünften. Quote liegt laut Verteil- ge dagegen befinden sich
halle wohl keine Schützenfest feiern.“ Die Platznot
können Schmidt und van
der Velden nur bestätigen.
„Wir werden vemehrt auf
die Ortsteile ausweichen
müssen, denken über Investorenmodelle nach“, so der
Anröchter Bürgermeister.
Investitionen in die kommunale Zukunft dagegen
sind Fehlanzeige. „Wir machen nichts“, sagt Wessel.
„Wir werden schieben“, erklärt Schmidt. „Wir auch,
unser Rathaus schon seit 15
Jahren“, ergänzt van der
Velden. Sorge bereitet den
drei
Bürgermeistern
schließlich auch die Integration (Wessel: „Das Ehrenamt verdoppelt sich
nicht mit“) und darüber hinaus mittelfristig die Aufrechterhaltung der Sozialsysteme vom Erhalt eines
bis
Drei Bürgermeister, ein Problem (v.l.): Alfred Schmidt (Anröchte), Peter Wessel (Erwitte) und Remco van der Velden (Geseke) sehen ihre Kindergartenplatzes
zum geregelten SchulunterKommunen bei der Verteilung der Landesmittel für die Erstattung der Flüchtlingskosten massiv benachteiligt. ■ Fotos: Tuschen
KOMMENTAR
Integration in Gefahr
Nehmen das Land in die Pflicht:
Peter Wessel, Remco van der
Velden und Alfred Schmidt.
richt. „Auch diese Probleme
werden auf die unterste
Ebene weitergereicht“, so
van der Velden. „Die Stimmung droht jetzt tatsächlich zu kippen“, beobachtet
er. Amtskollege Peter Wessel stellt dennoch klar: „Wir
werden keinen Flüchtling
vor dem Rathaus stehen lassen. Das ist eine Frage der
Achtung.“