Hans-Detlef Horn Vom Staat der Demokratie Schönburger Gespräche zu Recht und Staat herausgegeben von Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter Bd. 23 2015 Ferdinand Schöningh Hans-Detlef Horn Vom Staat der Demokratie Zur Individualisierung der Volkssouveränität, nicht nur im Kontext der Europäischen Integration 2015 Ferdinand Schöningh Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Printed in Germany Satz: Martin Mellen, Bielefeld Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77991-5 Übersicht I.Auftakt: Grenzbetrachtungen im offenen Gelände der Demokratie . . . . . 9 1. Vielfältige Ausdeutungen . . . . . . . . . . . . . 9 2. Identischer Ordnungsrahmen . . . . . . . . . 12 II.Grenzprägungen der Demokratie . . . . . . . 1. Radikaler Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dienende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsnatur ohne Naturrecht . . . . . . . . . . a) Rationaler Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . b)Wille zur Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewillkürte Entscheidung . . . . . . . . . . 4. Mindestanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . 5. Staats- und Regierungsform . . . . . . . . . . . 6. Selektive Politikerzeugung . . . . . . . . . . . . a) Werkzeug des Politischen . . . . . . . . . . b)Recht »in eigener Sache« . . . . . . . . . . . 17 17 18 19 19 23 29 31 33 34 35 38 H A N S -D E T L E F H O R N III.Grenzregion der Demokratie: Europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legitimationsverbund »vor der Grenze«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Solange-Formel »bis zur Grenze« . . . . . . a) Zunehmende Bremskraft . . . . . . . . . . . b)Anstehender Kompetenzwechsel . . . . 3. Reflexion »über die Grenze« . . . . . . . . . . . a) Fortdauernde Gültigkeit des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b)Verfassungserneuernde Gewalt als Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Option »an der Grenze« . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang des Art. 79 Abs. 3 GG? . . . . . b)Vorrang des Art. 146 GG? . . . . . . . . . . c) Komplementarität von Art. 146 GG und Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . 5. Perspektive »hinter der Grenze« . . . . . . . 6. Bauform »entlang der Grenze« . . . . . . . . a) Loslösung von kollektivsingulärer Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . b)Freies und gleiches Teilhaberecht als Grenz- und als Grundwert . . . . . . . c) »National-europäische Doppel demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 44 48 49 51 54 55 59 60 60 62 64 68 69 71 76 84 V O M S TA AT D E R D E M O K R AT I E IV.Ausblick: Grenzerfahrungen als Zukunftswissen der Demokratie? . . . . 89 1. Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Föderalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I Auftakt: Grenzbetrachtungen im offenen Gelände der Demokratie 1. Vielfältige Ausdeutungen Der Staat der Demokratie lässt sich nicht auf einen Begriff bringen, geschweige denn zwischen zwei Buchdeckel. Es gehört zu den Erfahrungssätzen der Demokratie, dass fortwährend »über« sie geredet und »um« sie gerungen wird. Wie sie selbst, so ist auch ihr »richtiges« Verstehen ein prinzipiell offenes Projekt. Sie verträgt nicht nur die unterschiedlichsten Ausformungen und Gestaltungen in der Praxis, sondern erträgt auch die verschiedensten Ausdeutungen und Zuschreibungen in der Theorie. Es sind diese »Erträgnisse«, die jedem auflauern, der das Thema erneut angeht. Deren Vielfalt ist berüchtigt. Kaum eine andere H A N S -D E T L E F H O R N Modalität des staatlichen Lebens weist einen solchen Reichtum an Lehren und Dogmen, an theoretischen Denkweisen und praktischen Funktionsverständnissen, an weltanschaulichen Sinngebungen und politischen Erwartungen auf wie die der Demokratie. Dem Juristen kommt dabei keine exklusive Deutungskompetenz zu. Wo sonst, wenn nicht hier, ist die offene Gesellschaft zur Mitwirkung berufen, füglich getragen von der Sache selbst: »Wir sind die Demokratie«. Doch die Demokratie ist nicht ein irgendwie sozial entstandener, durch bloße Empirie feststellbarer Zustand. Sondern sie ist dem Wesen nach ein normatives Gebilde, das allein durch rechtliche Regeln geschaffen ist, nur nach solchen besteht und erkennbar ist. Erst diese Regeln stellen jenes Relationsgefüge zwischen Regierenden und Regierten her, das im Zentrum der Vorstellung von demokratischer Herrschaftsordnung steht. Die Folge ist, dass sich auch alle Debatte »über« die Demokratie immer und notwendig als normative Debatte ereignet. Stets geht es um die Reflektion ihrer rechtlichen Existenz, gerade auch dann, wenn über ihr »richtiges« Funktionieren gestritten wird. Demokratiekritik, sei sie affirmativ oder negativ, agiert immer als Rechtskritik. Damit aber gelangt die genuin rechtswissenschaftliche Hinwendung in eine eigentümliche Lage. Sie trifft auf eine spezifische Verantwortung und Erwartung. 10 V O M S TA AT D E R D E M O K R AT I E Neben den anderen Wissenschaftsdisziplinen und Erkenntnisinteressen, neben den praktischen Deutungskompetenzen der Demokratiebürger, der politischen Öffentlichkeit und der staatlichen Amtsträger fällt dem Juristen der Demokratie die »heikelste Aufgabe«1 zu, in den Divergenzen jener vielfältigen Denkweisen und Verständnisse die Identität der Demokratie in ihrem (verfassungs)rechtlichen Begriff und Gehalt zu behaupten. Die Erwartung allerdings, aus der Wahrnehmung dieser Aufgabe resultierten stets eindeutige juristische Ergebnisse, muss fehlgehen. Normen, die wie die Demokratie zur verfassten Grundordnung des Gemeinwesens gehören, teilen die verfassungstypische Komplikation ihrer lapidaren Sprachform. Mit der Allgemeinverständlichkeit ihres Ausdrucks befördern sie die politische Integrationswirkung. Ihre inhaltliche Vagheit aber belastet die juristische Interpretationsarbeit. Solche »Schleusenbegriffe« speichern eine Fülle von politischen Ideen, staatsethischen Maximen und geschichtlichen Traditionen, die sich weder ursprünglich noch für alle Zeiten des Verfassungslebens abschließend definieren lassen.2 Sie bergen deshalb zugleich auch die großen juristischen Dissense. So auch der Verfassungsgrundsatz der Demokratie: In der deutschen Staats- und Verfassungsrechtslehre trifft man auf ein derart vielstimmig strapa11 H A N S -D E T L E F H O R N ziertes Rechtsverständnis der Demokratie, dass dem Fragenden zuweilen die Orientierung abhanden zu kommen droht. Die Lage ist von weit weniger Klarheit als Unsicherheit, von weit mehr spekulativen Annahmen als von festem Deutungswissen bestimmt. Abgesehen von einem diffusen Grundkonsens gibt es kaum eine Grundsatz- oder Einzelfrage, deren Beantwortung allgemeinen Konsens findet, kaum einen Baustein im Lehrgebäude von Staat und Demokratie, der keinem Angriff ausgesetzt ist. Allein der staatlichen Amtsgewalt des Bundesverfassungsgerichts, als dem höchsten Hüter der Verfassung der Demokratie, eignet die Gewissheit des schließlich Unanfechtbaren. Doch die (letzt)verbindliche Gerichtsentscheidung beendet nur den Streit, kittet aber nicht den Dissens. 2. Identischer Ordnungsrahmen Unter solchen Umweltbedingungen können die folgenden Überlegungen nicht die ganze Dimension des Themas ausschreiten. Wohl aber wollen sie das ein oder andere konfrontieren, was das normative Geltungsverständnis der Demokratie grundlegend ausmacht und ebenso gegenwärtig herausfordert. Ihre Prämissen sind: Das Recht der Demokratie ist beweglich, aber nicht beliebig. Veränderungen sind denkbar, 12
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