Felicidad Romero-Tejedor Wenn Technik kreativ sein muss: Kunst als ihre Verbindung zur Lebenswelt. Wir wundern uns kaum noch, wenn auf einer Geburtstagsparty der Gastgeber seine NintendoWii-Konsole einschaltet. Wem erscheint es befremdlich, lauter 40-Jährige zu sehen, die sich dann mit Boxen, Tennis, Golfspielen unterhalten? Anders als bei der Fußball-Europameisterschaft, wo sich die Gemeinde im Zuschauen vereint fühlte, spielen die Gäste miteinander, sie bewegen lebhaft weiße Kunststoffgriffe, als ob sie Boxhandschuhe trügen. Alle blicken fasziniert auf den Bildschirm und die virtuelle Welt dahinter. Man treibt zusammen virtuellen Sport – und feiert dazu mit einem realen Brut Nature Geburtstag! Geistlos, stillos? Nicht unbedingt: zeitgemäßer Alltag. Die Postmoderne hat sich gegenüber der Moderne durchgesetzt. Die existierende starre Technik der Moderne konnte nicht mehr den sich wandelnden psychischen und sozialen Bedingungen genügen. Technik für sich gibt nicht mehr den Trend vor, vielmehr entscheidet der Konsument, wohin die Richtung geht. Technik entwickelt sich kreativ, aber sie muss in soziale Angebote umgeformt werden, um attraktiv zu sein. Auf diesem Feld verhält sich die Technik allein oft recht einfallslos. Die hier benötigte Kreativität liegt immer häufiger in Händen eines neuen Typs von »technical artists«, von interdisziplinären Gestaltern. Technische Künstler oder künstlerische Ingenieure bestimmen inzwischen einen globalen Arbeitsmarkt, der sich von der Freizeitindustrie der Games und Filmeffekte bis hin zur komplexen Welt der Automobile, Flugzeuge oder Medizinsysteme spannt. Es gibt also den Bedarf nach einem »neuen«, interdisziplinären Technikertyp, der sein Vorbild in dem Renaissance-Genie Leonardo da Vinci finden könnte. Dieser war Künstler, Ingenieur, Wissenschaftler, Festegestalter, Anatomieforscher, Untersucher der menschlichen Sehvorgänge – in manchen Werken all dies auf einmal. Ein Berufsbild, das sich heute nicht nur für geniale Einzelköpfe anbietet, sondern sich in Breite etabliert. Inzwischen gibt es an Universitäten und Fachhochschulen Ausbildungen für solche »denkenden Designer«, wie ich sie genannt habe – wobei das Wort Design im breiten englischen Kontext zu verstehen ist. Designhochschulen gründen Professuren für Ingenieure und Informatiker, die Technischen Hochschulen, an denen früher ausschließlich der traditionelle »Dipl.-Ing.« gedieh, haben heute Designprofessuren bei sich eingerichtet. Es handelt sich nicht um ein allein deutsches Phänomen: Großbritannien, Schweden, Dänemark, Holland, aber auch Frankreich, Spanien und Italien formten Ausbildungsstätten für diese neuen Leonardos. Zwischen bildender Kunst und Ingenieurdisziplin siedelt sich der Gestalter der Zukunft an. Er oder sie müssen sowohl Techniker als auch Künstler sein, wenn sie den anspruchsvollen Aufgaben der heutigen und morgigen Gesellschaft genügen wollen. Die technische Forschung und Entwicklung kann durch beide Denkweisen nur profitieren. An der Fachhochschule Lübeck feiern wir 2009 unser 10jähriges Jubiläum eines erfolgreichen Studiengangs mit dem Namen »Informationstechnologie und Gestaltung international« (IGi). Im Unterschied zu anderen Mischgebilden steht hier die Proportion beider Schwerpunkte ausgeglichen da. Die Sache fing harmlos an, als die Gestaltung im damaligen Fachbereich Elektrotechnik zur Ergänzung des Angebots integriert wurde. Die Rechnung ging auf; wir bilden heute in dieser ungewöhnlichen Sparte von Ingenieuren »denkende Designer« aus. Obwohl das zunächst nicht den Geschmack der Mehrheit im Fachbereich traf, konnte bald etwas nicht mehr übersehen werden: die IGi-Absolventen erwiesen sich immer wieder als Erfolgsmodell auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Arbeitsfelder sind breit gestreut; es gibt Datenbank-Gestalter, Entwerfer ergonomischer Systeme, Erfinder und Produzenten von Games, Designer interaktiver Systeme usw. Es gibt Absolventen, die jetzt im Kommunikationsdesign, im Industrialdesign, in der Informatik, in der Konzeption technischer Innovationen, in der Optimierung der Ergonomie komplexer Systeme beheimatet sind… und natürlich auch als Entwicklungsingenieure. Von daher ist es gar nicht gut, wenn die politische Tendenz, Kunst als Unterrichtsfach in den Schulen als überflüssig anzusehen, sich durchsetzen würde. Natürlich sind Mathematik und Naturwissenschaften so wichtig wie eh und je. Aber die Kunst sollte die kreative Grundlage für die Schnittstelle zwischen Technik und Lebenswelt bilden. Künstler, Designer und Ingenieure im weitesten Sinn benötigen eine Denkweise, die jene »felicity conditions« erfolgreichen Alltagshandelns für jedermann sichert. Die Nutzung vernetzten Denkens ist für Designer längst Standard. Hier gibt es eine erprobte Tradition, die als Methodologie von der Hochschule für Gestaltung Ulm (1953 – 1968) ausging. Heute liegt sie in verallgemeinerter Form vor und bewährt sich an hochkomplexen Gestaltungsproblemen interaktiver Systeme, wobei sich herausstellt, dass Hochkomplexität für das menschliche Fassungsvermögen vorwiegend ästhetisch reduziert werden muss. Auch die Arbeitsmethoden der Ingenieure und Informatiker ähneln immer mehr den Methoden des Designprozesses. Ich musste lächeln während des Kolloquiums zu einer Diplomarbeit, als der Student neue Methodiken der Informatik darstellte. Als Designerin kam mir der Arbeitsprozess sehr vertraut, beinahe schon, möchte ich sagen, altmodisch vor. Allmählich etabliert sich eine gemeinsame Sprache. Die Kopplung von Designmethoden an die Technik erlaubt Komplexitätsreduktionen, die dem handelnden Menschen volle Souveränität über die Dinge verschaffen. Kreativität nimmt bekanntlich mit dem Alter ab, nicht, weil wir das Potenzial verloren haben, sondern weil unsere Gesellschaft diese nicht wirklich fordert. Menschen in kreativen Berufen bleiben jedoch ihr ganzes Leben kreativ. Ein Künstler wie Matisse entwickelte im hohen Alter neue Formen der Visualisierung in der Kunst, seine bekannten Blauen Formen aus Papier. Aus seiner Fesselung ans Krankenbett heraus schuf seine kreative Natur neuartige Ausdrucksformen. Die gesellschaftliche Neigung, Kreativität nicht als ein besonderes Gut zu schätzen und durch Rezeptwissen (Know-how) zu ersetzen, ist ein Fehler, der nun wirklich nicht zeitgemäß ist. Um das natürliche Kreativitätspotenzial zu fördern, könnte die Schule in einem erneuerten, interdisziplinären Kunstunterricht vieles erreichen: Die Kunst und ihre Kreativität fördern alle anderen Fächer. Kreativität in den Schulen ist daher immer wichtiger, damit die zukünftigen Ingenieure, wenn sie an die Hochschulen kommen, nicht erst mühsam das Kreativsein lernen müssen. Häufig gehen ein bis zwei Semester ins Land, bis Studierende sich von Vorurteilen, Blockaden und Klischees im Kreativen befreit haben. Die künstlerisch-kreativ aufgeschlossensten Studierenden erhalten in der Regel auch bessere Noten in Programmierung, Mathematik oder Digitalen Systemen – diese Erfahrung wurde seit langem bei uns gemacht. Um nochmals auf die Spielkonsole zurückzukommen: An jenem Geburtstag war ich dabei. Technik vereint mit Kunst bringt die Technik den Menschen nahe. Wir wissen, dass Japan das Land ist, das die Technik in Alltagssituationen am meisten akzeptiert. Hierbei spielt Ästhetik eine Ausschlag gebende Rolle. Durch die Kunst erlebt die postmoderne Gesellschaft endlich eine Versöhnung mit der Technik. Die Gesellschaft akzeptiert nicht mehr die starren technischen Prozesse, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts das Leben bestimmten. Man musste ein Mechaniker sein, wenn man Auto fahren wollte, sich wie ein Teil der Maschine begreifen, wenn man am Fließband arbeitete und später sogar Informatikkenntnisse haben, um Bücher mit den Computern in der Bibliothek zu suchen. Die Postmoderne und ihre Denkweise hat den Menschen teilweise von der Sklaverei der starr funktionierenden Systeme befreit. Es wird eine Technik verlangt, die einfach zu benutzen ist, eine Technik, die den Menschen nicht in ein technisches Anhängsel verwandelt. Das findet paradigmatisch statt in Games, aber auch in Medizinsystemen, wenn etwa ein Anästhesist während der Operation die Messwerte des Patienten ohne große eigene Schwierigkeiten mit der Maschine kontrolliert. Die Kunst bringt den Technikern außer Kreativität ein realistischeres Menschenbild. Zur Person: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor leitet das Designlabor des Fachbereichs Elektrotechnik und Informatik an der Fachhochschule Lübeck. Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Ausbildung hat sie in ihrem Essay Der denkende Designer 2007 ausführlich begründet.
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