Nick Kratzer Systematische Überlastung Warum Arbeit und Gesundheit in Konflikt geraten Tagung „Hinsehen und Handeln Psychische Belastungen von Beschäftigten im Fokus“ LVG & AFS Niedersachsen e.V., Hannover 7. Dezember 2015 gefördert vom Empirische Basis Aktuelle Befunde aus verschiedenen Untersuchungen sowie eigene Untersuchungen: Insgesamt 28 Fallstudien aus Industrie, Private Dienstleistungen, Öffentlicher Dienst; Rd. 525 Interviews mit Mitarbeitern (MA) und Führungskräften (FK) (gerundete Zahlen) Schwerpunkt: Qualifizierte und hochqualifizierte Angestellte Projekt Fallstudien MA FK Leistung Angestellte 9 50 20 PARGEMA 8 130 35 PIA 3 80 25 Lanceo 6 110 25 Zeit- und Leistungsdruck 2 30 20 Gesamt 28 400 125 Zusätzlich: Ergebnisse weiterer Studien, Schriftliche Befragungen, Tagebuchstudien, Beobachtungen, Gruppendiskussionen u.a. Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 2 Leistungsfähigkeit und Lebensqualität im Konflikt „Also, diese kriminellen Erschöpfungszustände, das ist neu. Dass es sie wegtratzelt, das ist neu. Ich bin ja vor Weihnachten auch zuhause gewesen, ich konnt‘ einfach nicht mehr“ (Gruppenleiter IT) „Ich habe irgendwann gesagt okay, es geht jetzt nicht mehr weiter. Und ich brauche jetzt einfach Hilfe.“ (Kundenberater Finanzdienstleistungen ) „Nein, also der Hauptpunkt ist wirklich Arbeitszeiten hier bei uns, das ist das größte Thema momentan, was uns alle fertig macht. Weil das Privatleben kommt gerade wirklich bei den meisten, die an diesem tollen Projekt dransitzen, einfach viel, viel zu kurz. (Bauingenieurin) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVG & AFS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 3 Psychische Anforderungen auf hohem Niveau Psychische Anforderungen in der Arbeit „auf hohem Niveau stabilisiert“ („Streßreport“ dervierte Bundesanstalt für Arbeitsschutz „… jeder bis dritte Beschäftigte ist durch und Arbeitsmedizin, Lohmann-Haislah 2012), u.a.oder sehr stark Termin und Zeitdruck stark belastet“ (iga.report 26, 2014) Verschiedene Arbeiten gleichzeitig 58% starker Termin- und Leistungsdruck 41 % aller 52% berichten abhängig Beschäftigten über Probleme der Vereinbarkeit von Beruf ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge 50% und Privatleben (2005/2006: 39%) bei der Arbeit gestört, unterbrochen 44% Nur 50% aller Erwerbstätigen gehen davon schnell müssen bis zum aus,sehr dass sie arbeiten ihre Tätigkeit Rentenalter werden ausüben können (DGBKonfrontation neuen2009) Aufgaben Index Gutemit Arbeit Quelle: Lohmann-Haislah 2012 39% 39% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 4 Fragestellung Warum nehmen psychische Belastungen und Vereinbarkeitsprobleme zu … … obwohl sich die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten insgesamt deutlich verbessert haben … viele Beschäftigte gleichzeitig sagen, dass ihr Job ihnen Spaß macht und … die Unternehmen mehr denn je für Gesundheitsförderung und Work-Life-Balance tun … Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 5 Antwort … weil die Unternehmen sich (selbst) systematisch überlasten und … die systematische Überlastung an die Beschäftigten weiterreichen Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 6 Ursachen der „systematischen Überlastung“ „Vermarktlichung“ der Unternehmen: Die „Marktlogik“ (Wettbewerbsund Wachstumslogik) wird zum internen Steuerungsprinzip Steuerung der Unternehmen über abstrakte und dynamische Ziel- und Ergebnisvorgaben Abstrakte Wettbewerbslogik: Ausrichtung an der (externen oder internen) Konkurrenz, z.B. durch Benchmarks Dynamische Wachstumslogik: Dynamisierung der Leistungserwartung – jedes Jahr X % mehr (Umsätze, Kunden, Erträge etc.) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 7 Jedes Jahr mehr, besser, schneller, billiger … „Ich … höre jedes Jahr von den Führungskräften den Satz: Wir legen noch eine Schippe drauf. … Und das Merkwürdige ist: Wir schaffen das jeweils und die Konsequenz ist davon dann, daß sich die Spirale wieder weiterdreht, wir am Ende des Jahres wieder hören, daß wir noch eine Schippe drauflegen sollen, obwohl wir eigentlich ständig schon am Limit arbeiten.“ (Finanzdienstleistung) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 8 Unrealistische Ziele Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 9 „Systematische Überlastung“ der Organisation Orientierung am „theoretisch Notwendigen“, nicht (mehr) am „praktisch Machbaren“: Die Unternehmen überlasten sich systematisch selbst durch „unerreichbare“ Ziele. Die „systematische Überlastung“ ist kein Fehler im System, sondern hat selbst System: Definiert wird der „Fortschritt“, den die Organisation erst noch machen muss (und an dem sie gemessen wird) (Druck und Motivation). Die Erreichbarkeit unerreichbarer Ziele lässt sich nur begrenzt steuern: Eine „Lösung“ besteht darin, dieses Problem weiterzugeben. Aus dem Problem der Organisation wird ein Problem der Beschäftigten. Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 10 Wie aus einem Unternehmensproblem ein Problem der Beschäftigten wird Drei Schritte der Transformation in ein individuelles Problem: 1. Verschränkung von Unternehmens- und Arbeitskraftperspektive Arbeitsplatzverlust bei Misserfolg, Erfolgsbeteiligung, Koppelung von Entgelt und Leistung, Zielvereinbarungen, Motivierung … 2. Verschränkung von Fremd- und Selbststeuerung Beschäftigte als Co-Akteure von Leistungssteuerung und Rationalisierung: Selbststeuerung und „Subjektivierung“ 3. Verschränkung von Leistung und Leben Institutionelle Freisetzung und „erweiterte Inbetriebnahme“ der Potentiale und Ressourcen von Arbeitskraft („Entgrenzung“) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 11 Systematische Überlastung „Und da habe ich das gemacht, was früher die Vorgesetzten gemacht haben: Ich habe mich dazu gebracht, immer effektiver zu arbeiten. Ich habe mich selber unter Druck gesetzt. Das ist natürlich die optimale Form, ist doch klar. Kein Vorgesetzter kann mich so unter Druck setzen wie ich mich selber, das ist doch klar. Weiß ich doch auch. Aber Sie kommen ja nicht raus aus diesem Prozess. Das ist eben so. Sie sind gezwungen, effektiver zu arbeiten, oder Sie schaffen es nicht, Sie schaffen das Volumen an Arbeit früher nicht als andere. Und keiner will doch der erste sein, der sagt: Ich schaffe es nicht.“ (Sachbearbeiter) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 12 Folgen der systematischen Überlastung Folgen für die Beschäftigten: Immer mehr, immer schneller: Missverhältnis zwischen quantitativ wachsenden Anforderungen und den vorhandenen Ressourcen Widersprüchliche Ziele: Beraten vs. Verkaufen, Qualität vs. Kosten u.a. Widersprüchliche eigene Interessen: Erfolg ist wichtig – Gesundheit auch! Folgen für die Unternehmen: Qualitätsprobleme: Qualität als „Puffer“ der überlasteten Organisation Motivationsprobleme: „Permanentes Ungenügen“ Gestaltungsprobleme: Zeit- und Leistungsdruck als Lösung der Probleme einer überlasteten Organisation Beschäftigte und Unternehmen: Arbeit und Gesundheit im Konflikt Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 13 Umgangsweisen: Beschäftigte Lebensführung: Aktive Erholung / Distanzierung (Sport) Arbeitsweise: Unterschiedlicher Umgang mit dem Missverhältnis von Anforderungen und Ressourcen: Perfektionismus: Anpassung der Ressourcen an die Anforderungen „Ich bin da jemand, der das hundertprozentig macht“ Pragmatismus: „Man kann nicht mehr als Arbeiten“ Anpassung der Anforderungen an die Ressourcen Umgangsweisen, nicht Personentypen! Pragmatismus: Eine Form der Distanzierung / „Verweigerung“ der Aneignung – vermutlich gesünder! Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 14 Umgangsweisen: Führungskräfte „Hm … ja, eigentlich oberflächlich. Mit Worten ‚Ja, ich soll mich schonen usw. Also schon Anteilnahme gezeigt mit Worten, aber dem sind keine Taten gefolgt, jetzt von sich aus‘. Wenn ich gesagt hab‘: ‚Ja, ich brauch da und da ein bisschen Auszeit‘, ‚ja, ist o.k.‘, wenn es von mir kam, ja, aber jetzt nicht von seiner Seite, dass es dann hieß ‚Ja, sollen wir das Thema anders umshiften oder sonst etwas‘. Höchstens dann: ‚Schau halt, wen man noch einbinden kann‘, damit die Belastung weniger wird. Aber der Ball lag dann wieder bei mir, dass ich mich drum kümmern muss.“ (IT-Fachkraft)aft) „Auch das noch!“: Gesundheitsförderliches Führen als zusätzliche Überforderung Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 15 Unternehmen: Entkoppelung von Leistungs- und „Lebens“politik Wachsende Sensibilität für den Konflikt von Arbeit und Gesundheit: Gesundheitsförderung Aber vor allem: Entkoppelung von Leistungs- und Gesundheitspolitik Leistungspolitik Gesundheitspolitik Schwerpunkt Gesundheitsförderung: Individualisierung der Probleme / „Doppelte Schuldfalle“ Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 16 Was tun? Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 17 Gestaltung: Keine einfachen Lösungen! Systematische Konflikte: Erfolg oder Gesundheit? Gestaltung im Dilemma: Jede Lösung hat einen Preis! Gestaltung im Konflikt (mit dem Unternehmen): Spielräume für WinWin-Situationen? Gestaltungsziele: Leistungsdruck gestalten, nicht abschaffen: „Leistbarkeit“ als Ziel Widersprüche in Bewegung bringen: • Prozesse, nicht Projekte • Diskurs über Leistungserwartungen und -bedingungen Gestaltungsspielräume erschließen / Grenzen der Gestaltung erweitern Leistungs- und Gesundheitspolitik integrieren: „Balanceorientierte Leistungspolitik Beteiligung erhöhen: Gesundheitsschutz geht nicht ohne Beschäftigte Gestaltungsansätze integrieren (Mehr-Ebenen-Ansatz) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 18 Gestaltungsansätze (Mehr-Ebenen-Ansatz) Individuum Führung Organisation Kultur Leistungspolitik Individuelle Ressourcen stärken / Reflexion anregen Partizipation erweitern: Einfluss auf Arbeitsmenge, Termine, Vorgaben … Gesundheitsförderliches Führen: Achtsamkeit, Wertschätzung, Verantwortung übernehmen „Ent-Störung“ der Organisation Spielräume der Praxis legitimieren Klären: Perfektionismus oder/und Pragmatismus Balanceorientierte Leistungspolitik Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 19 Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Dr. Nick Kratzer Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München Jakob-Klar-Str. 9, 80796 München Tel. 089 / 272921 - 68 [email protected] www.isf-muenchen.de Literatur: Nick Kratzer et. al. (Hrsg.) (2011): Arbeit und Gesundheit im Konflikt, Berlin: edition sigma. Nick Kratzer et. al. (Hrsg.) (2015): Work-Life-Balance – eine Frage der Leistungspolitik, Wiesbaden: Springer VS Wolfgang Dunkel; Nick Kratzer (2016): Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Interaktionsarbeit, Nomos / sigma (in Vorbereitung) Dr. Nick Kratzer: Systematische Überlastung LVGS Niedersachsen, Akademie des Sports, Hannover, Dezember 2015 Folie 20
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