Seite 9 Nummer 3/2016 Interessantes aus früheren Zeiten Geflohen, vertrieben, umgesiedelt – Neustadt als Zufluchtsort und neue Heimat (Fortsetzung) Quarantäne- und Umsiedlerlager Ehe man die Vertriebenen und Geflohenen auf Städte und Dörfer verteilte, kamen sie in Durchgangs- oder Übernahmelager, wie sie auf der Marienhöhe in Arnstadt oder auf dem ehemaligen Gelände der Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG) in Altenburg angelegt waren. Den weiteren Verfahrensweg regelten ab Februar 1947 die „Richtlinien für die Betreuung der Umsiedler und Neubürger im Lande Thüringen“ (1), aufgestellt vom Ministerium des Inneren (Amt für Neubürger). Schon zuvor dürfte die Handhabe ähnlich gewesen sein. Nach Registrierung, Verpflegung und medizinischer Behandlung in Übernahmelagern erfolgte der Weitertransport in Quarantänelager. Die von der beschwerlichen Reise Geplagten wurden entlaust und medizinisch versorgt. Die Quarantäne, die in der Regel zwei Wochen dauerte, wurde Quarantänebescheinigung, ausgestellt in Salza 1946 (Stadtarchiv, Akte 10051) Schlafsaal des Quarantänelagers B 35 Hotel Böttcher (Stadtarchiv). mittels eines Ausweises bescheinigt. Dieser berechtigte auch zum Erhalt von Lebensmittelkarten. Es gab in Neustadt mehrere Lager für die Quarantäne und Unterbringung der Vertriebenen und Geflüchteten. Die Kapazitäten der zwölf Behelfsheime, die im Sommer 1945 von den Fabrikanten Könitzer, Max Schneider, Seelemann und Jäger errichtet worden waren (2), reichten längst nicht aus. In Tanzsälen wie in Böttchers Hotel (heute Hotel „Stadt Neustadt“), dem Schützenhaus (später Stadthalle) oder der „Alten Post“ (ehemals Vereinshaus des „Geselligen Vereins“, später Volkshaus) wurden Lager eingerichtet. In der Schankwirtschaft am Fürstengarten waren Baltikum-Deutsche einquartiert. Voraussetzungen für die Einrichtung eines Lagers waren u.a. beheizbare Räume, Küchen, Behandlungsräume und Krankenstuben. Das Lager in Böttchers Hotel konnte anfangs 260 Personen aufnehmen. Tatsächlich waren im Januar 1946 hier fast 360 Menschen untergebracht. (3) Auf Befehl der sowjetischen Militär-Administration in Weimar hatte die Stadt im Januar/Februar 1946 ein Quarantänelager für 1000 Personen einzurichten. Mit der Kratzenfabrik „Ankermarke“ gegenüber des Schützenplatzes wurde ein geeignetes Objekt gefunden. Der Fabrikbesitzer Rudolf Pohl versuchte, die neue Nutzung abzuwenden, weil sein Betrieb schon Jahre zuvor zum Erliegen gekommen sei. Zu Kriegszeiten hätte das Karlsruher Rüstungsunternehmen Junker & Ruh hier eine Produktionsstätte eingerichtet. Nach dem Krieg sei das Werk erst von amerikanischen Truppen besetzt und dann freigelassene französische Kriegsgefangene hier untergebracht worden. Gerade erst hätten sich zwei notleidende Firmen eingerichtet, nun müsse das Gebäude wieder geräumt werden. (4) Seine Beschwerde fand kein Gehör. Anfang März 1946 informierte das Landesamt für Kommunalwesen Weimar den Landrat in Gera darüber, dass das Lager Ankermarke nach Rücksprache mit der SMA als Quarantänelager bestimmt sei und ab sofort die Bezeichnung „Quarantänelager 9 Ankermarke – Neustadt -“ trage. Mit dessen Einrichtung wurde das Umsiedlerlager Schützenhaus nicht mehr benötigt und im März 1946 aufgelöst. (5) Das Lager Hotel Böttcher erhielt den Status eines Reservelagers (R2), aber nur für eine kurze Zeit dann wurde es als Quarantäne-Lager B 35 Böttcher geführt. Die Ankermarke, in deren Keller eine Entlausungsanlage installiert war, konnte bis zu 400 Personen aufnehmen. Diese Ka- Seite 10 pazität war in der Regel auch ausgelastet. Fast alle dokumentierten Transporte zwischen Juli 1946 und Oktober 1947 brachten zwischen 350 und 400 Vertriebene nach Neustadt. (6) Unter der beschwerlichen Reise hatte die Gesundheit vieler Vertriebenen stark gelitten. Von den 697 Personen, die im Oktober 1947 in Neustadt neu eingetroffen sind, hatten neun Kopfläuse, sechs Krätze. 30 Herzkrankheiten, eine Lungenkrankheit und zwei Nierenkrankheiten wurden diagnostiziert. 210 ambulante Krankenbehandlungen waren erforderlich, zwei Patienten wurden ins Krankenhaus eingewiesen. Kleinkinder fast aller Transporte aus Altenburg litten an Verdauungsstörungen. (7) Auch in den Neustädter Lagern traten immer wieder Typhus-, Diphterie-, Scharlach- und Masernfälle auf, die nicht alle erfolgreich behandelt werden konnten. Die 22-jährige Irmgard Röhr aus RathsGDPQLW]'ĊEQLFD.DV]XEVND3RPPHUQ zuletzt im Quarantänelager Hotel Böttcher untergebracht, erkrankte an Diphterie und starb am 28.1.1946 im Waldkrankenhaus Gera. Wenige Tage später fiel auch ihre nicht einmal zwei Jahre alte Tochter der ansteckenden Infektionskrankheit zum Opfer. Knapp zehn Monate später starb Manfred Schnoor im Lager Böttcher an vollständiger Erschöpfung in Folge von Unterernährung. Er war gerade zehn Monate alt. Im selben Jahr sind die Todesfälle weiterer Kinder in Neustadt dokumentiert, die ihren ersten Geburtstag nicht erlebten. (8) Das Quarantänelager Ankermarke wurde zum 31.12.1947 aufgelöst und geräumt. (9) Wohnraummangel und erschwerte Unterbringung Weil die Heimatlosen kaum etwas besaßen und von Strapazen gezeichnet waren, wurden sie von Einheimischen nicht Nummer 3/2016 selten als Habenichte oder Zigeuner bezeichnet. Dass sie mit dem Wenigen, das ihnen blieb, eine neue Existenz aufbauen müssen, war für viele, die darauf hofften, nach den Friedensverhandlungen wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, anfangs noch nicht abzusehen. Doch spätestens während der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 wurde immer sicherer, dass die Oder-Neiße-Grenze für die über zwölf Millionen Vertriebenen und Geflohenen auch zur politischen Grenze werden würde, was eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher machte. Lager waren für eine dauerhafte Unterbringung der Vertriebenen nicht geeignet, an Wohnungen mangelte es aber. So wurden Dienstgebäude öffentlicher Verwaltungen und Pfarrhäuser zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert. Der Alliierte Kontrollrat ordnete mit dem Gesetz Nr. 18 (Wohnungsgesetz) am 8. März 1946 an, Wohnungsämter in den Landratsämtern und Oberbürgermeistereien einzurichten. Wohnungsausschüsse wurden gebildet, die Wohnungsbestände erfassen und gerecht verteilen sollten. „Solange neuer Wohnraum noch nicht in genügendem Maße vorhanden ist, muß einstweilen durch Zusammenrücken der Bevölkerung Raum für die Unterbringung der Neubürger freigemacht werden.“, wurde in den „Richtlinien für die Betreuung der Umsiedler und Neubürger im Lande Thüringen“ angewiesen.(10) Einheimische zeigten für die Verpflichtung, Fremde in den eigenen vier Wänden aufnehmen zu müssen, nicht immer Verständnis. In den Kriegsjahren hatten sie Angehörige und Freunde verloren, mussten große materielle Verluste hinnehmen und nun auch noch ihren knappen Wohnraum teilen. Aber es gab auch Hausbesitzer in Neustadt, die freiwillig Flüchtlingsfamilien oder Einzelpersonen aufnahmen. Holzbaracke auf dem Grundstück des Arnshaugker Schlosses, in der Umsiedler untergebracht waren (Foto: Privatbesitz Michael Bernast) Im Juni 1946 ordnete der Landrat des Kreises Gera, zu dem Neustadt damals noch gehörte, an, die sozialen Verhältnisse der „Umsiedler“ zu überprüfen. In der Antwort der Neustädter Verwaltung wurden die Wohn- und Lebensverhältnisse statistisch dargelegt. Demnach lebten in der Stadt 465 Umsiedler-Familien und 220 Einzelpersonen. 160 Männer und 135 Frauen gingen Arbeitsverhältnissen nach. Ein Industriebeirat hatte die Aufgabe, die Neubürger in Arbeit zu bringen. 30 Familien erhielten Kleingärten, die zum Anbau von Lebensmitteln genutzt werden und die Versorgungssituation verbessern sollten. Es fehlte an Herden, Kohle und Holz. Auch auf einen Mangel an Kleidung und Schuhen wurde hingewiesen. Das Verhältnis zu den Altbürgern wurde als gut eingeschätzt. Privatleute wären bereit gewesen, kleine Siedlungshäuser für die Stadt auf eigene Kosten zu bauen. Die Unterbringung von etwa 200 Familien schätzte man als gut, allerdings die von 220 Familien auch als weniger gut ein. (11) Mit der Errichtung von Behelfsheimen wollte man dem Mangel an Wohnraum entgegentreten. Im August 1947 gab es zahlreiche solcher Unterkünfte in Neustadt. 21 Holzhäuser standen im Willy-DolgeWeg, an der Gasanstalt (heute Hugo-Hartung-Straße), an der „Villa Dolly“ (auf von Mohl’schem Grundstück des Arnshaugker Schlosses) und hinter den Flachbauten (Willy-Dolge-Weg), dazu die frühere Luftschutzschule (vormals Berufsschule, später Neuapostolische Kirche an der heutigen Hugo-Hartung-Straße) und das Sportlerheim Döhlen. Im Börthener Weg, in der Wimmlerstraße und der Schleizer Straße und auf verschiedenen Betriebsgeländen waren steinerne Behelfsheime errichtet. Hinzu kamen noch fünf massive Baracken. (12) Bis 1947 waren 80 Prozent der Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone als Untermieter in feste Wohnungen eingewiesen worden. Der Wohnraum konnte bis 1949 verdoppelt werden, die Qualität der Unterkünfte war allerdings nach wie vor meist schlecht. (13) Schluss folgt ... (1) Vgl. Stadtarchiv, Akte 8815. (2) Vgl. Stadtarchiv, Akte 9084, 1. Sitzung des Bau- und Wohnungsausschusses am 26.07.1945. (3) Vgl. Stadtarchiv, Akte 5603/1. (4) Vgl. Stadtarchiv, Akte 8803. (5) Vgl. Stadtarchiv, Akte 5603/1. (6) Vgl. Stadtarchiv, Akten 5605 und 5606. (7) Vgl. Stadtarchiv, Akte 5606. (8) Ebenda. (9) Vgl. Stadtarchiv, Akte 8803. (10) Vgl. Stadtarchiv, Akte 8815. (11) Vgl. Stadtarchiv, Akte 5603/1. (12) Vgl. Stadtarchiv, Akte 7914. (13) Vgl. Kossert, Andreas, Kalte Heimat, Die Geschichten der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 200.
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