- Schweizerische Energie

Energie & Umwelt
Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 1/2016
Oyasuminasai Beznau! > Fukushima: Aushalten, was nicht auszuhalten ist
> Die japanische Regierung hat aus Fukushima nichts gelernt
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> Wie sicher ist das AKW Beznau?
INHALTSVERZEICHNIS
>
Oyasuminasai Beznau!
>
>
4 Aushalten, was nicht auszuhalten ist
5 Jahre danach: Tausende von Quadratkilometern wurden durch den Nuklearunfall in Fukushima Daiichi verstrahlt.
Eine Reportage von Susan Boos (Text) und Fabian Biasio (Fotos).
10 Japans Regierung hat aus Fukushima nichts gelernt
Japan hat bewiesen, dass es ohne Atomstrom geht. Doch die ­japanische Re­gie­rung
hält gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit an der Kernenergie fest.
12 ENERGIE AKTUELL
14 Fukushima in Beznau?
Ein Tsunami in der Schweiz? Ein Hochwasser könnte durchaus die Beznau-Insel
überfluten und beim AKW Beznau zu einer heiklen Gefahrensituation führen.
16 Wie wir das Restrisiko der Atomenergie ­verdrängen
>
Die Schweizer Bevölkerung erachtet Atomkraftwerke nach wie vor als grösste Gefahr für Mensch und Umwelt. Doch ­Risiken werden oft einfach verdrängt.
weitere Themen
>
18 Wie sicher ist das AKW Beznau?
Obwohl die gesetzlichen Bestimmungen vermeintlich erfüllt sind: Aufgrund der
Faktenlage ist das AKW Beznau alles andere als «sicher».
20 SES AKTUELL
22 Die Photovoltaik-Bremse
Wer wie und warum die Eigenproduktion von Solarstrom verhindert. Die Energiestrategie 2050 löst die Probleme nicht, es braucht weitere Gesetzesanpassungen.
Schweizerische Energie-Stiftung SES | Telefon 044 275 21 21 | [email protected] | www.energiestiftung.ch
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2 Energie & Umwelt 1/2016
EDITORIAL
Oyasuminasai – Zeit des Abschieds
Von SABINE VON STOCKAR
SES-Projektleiterin Atom & Strom
Liebe Leserinnen und Leser
«Oyasuminasai» heisst gute Nacht auf Japanisch und
steht für eine Form des Abschieds. Abschied ist das zent­
rale Thema in diesem Heft. Fünf Jahre nach den tragischen Ereignissen von Fukushima ist es an der Zeit,
dass die Schweiz endlich ihren Abschied von der Atomenergie besiegelt. Das Bundesparlament tut sich in dieser Hinsicht leider schwer. Zwar ist das Verbot, neue
AKW zu bauen, unbestritten, wann aber die alten Reaktoren vom Netz gehen sollen, bleibt offen.
Damit befinden wir uns in der paradoxen Situation,
dass die Schweiz nach Fukushima nicht mit weniger,
sondern mit mehr atomaren Risiken leben muss. Die
Schweiz betreibt mit Beznau I das älteste AKW der
Welt. Es steht zurzeit wegen Anomalien im Reaktordruckbehälter, dem Herzstück der Anlage, still. Mitte
Jahr soll der Entscheid fallen, ob wir dem ältesten
­Reaktor der Welt endlich und endgültig gute Nacht
wünschen können. Weshalb dies dringend nötig ist,
­erklärt die Physikerin Oda Becker in ihrem Artikel.
Weitere Beiträge beleuchten die Risiken in Beznau oder
die psychologische Verdrängung des Restrisikos.
Zudem waren Susanne Boos und Fabio Biasio für uns
in Japan und zeigen in ihrer Reportage, dass das Land
der aufgehenden Sonne sich von den Folgen von Fuku­
shima noch lange nicht verabschieden kann. Die Auf-
räumarbeiten sind endlos. Japan-Korrespondent Chris­
toph Neidhart wirft einen Blick hinter die Wirtschaftskulisse und erklärt, weshalb Japan 3 der 48 un­
beschädigten Reaktoren gegen den Willen der Bevölkerung wieder ans Netz genommen hat.
Gerne Abschied von der Atomenergie würde der ehemalige Premierminister von Japan, Naoto Kan, nehmen.
Am internationalen Kongress «NPC 2016 – ­Nuclear
­Phaseout Congress» der SES im März 2016 wird uns
Kan hautnah seine Erlebnisse als oberster Staatsmann
während einer nuklearen Katastrophe schildern. Auf
www.energiestiftung.ch können Sie sich jetzt für den
Kongress anmelden.
Abschied nehme nun auch ich. Nach zehn Jahren als SESAnti-Atomfrau ist es für mich an der Zeit, neue berufliche Wege einzuschlagen. Meine Nachfolge steht schon
in den Startlöchern. Die SES werde ich vermissen.
Es waren für mich persönlich zehn Glanzjahre. Der Abschied von der Atomenergie bleibt mir ein Herzens­
anliegen und zu meinem Abschied halten Sie ein Heft
zu meinem Kernthema in Ihren Händen. Das schönste
Abschiedsgeschenk wäre allerdings, wenn noch dieses
Jahr zumindest Beznau I nicht wieder ans Netz gehen
würde.
Oyasuminasai – vielen Dank. <
Energie & Umwelt 1/2016 3
FÜNF JAHRE NACH FUKUSHIMA
Aushalten, was nicht auszuhalten ist
Tausende von Quadratkilometern wurden durch den Nuklearunfall in Fukushima Daiichi
verstrahlt. Man hat versucht, alles zu putzen. Das hat aber nur mässig geholfen. Trotzdem
sollen jetzt die Evakuierten zurück.
Von SUSAN BOOS (Text) und FABIAN BIASIO (Fotos)
2000 bewohnte Quadratkilometer verbleiben, die zu putzen sind. Das ist ein Gebiet grösser als der Kanton Zürich.
Am 11. März 2011 bebte an der Küste die Erde,
wenig später rollte ein gigantischer Tsunami übers
Land und riss 18'000 Menschen in den Tod.
Ohne Blindenhund ist man hier verloren. Mein Blinden­
hund ist ein kleines, gelbes Gerät mit dem Namen
«Gamma-Scout». Es misst die radioaktive Strahlung in
Mikrosievert pro Stunde (μSv/h).
Im Hotel «Ocean View» steht in der Lobby ein Strahlen­
messgerät mit einem kleinen Monitor, der 0,08 μSv/h
anzeigt. Der «Gamma-Scout» gibt etwa denselben Wert
an. Oben im Zimmer sind es 0,143 – so viel misst man
auch in Luzern. Alles in Ordnung.
Draussen grollt der Ozean, hohe Wellen zerstieben an
der steilen Küste. Das «Ocean View» ist ein prächtiges
Onsen, ein japanisches Thermalbad. Still und gediegen.
Wäre da nicht Fukushima Daiichi. Das Atomkraftwerk
liegt 17 Kilometer nördlich vom «Ocean View». Am
11. März 2011 bebte hier an der Küste die Erde, wenig
später rollte ein gigantischer Tsunami übers Land und
riss 18'000 Menschen in den Tod.
Das «Ocean View» überstand den Tsunami heil, weil
es auf einem Hügel steht. Das AKW Fukushima Daiichi
geriet jedoch ausser Kontrolle, drei Reaktoren schmolzen durch. Es entwichen mehrere radioaktive Wolken,
die rundherum grosse Gebiete verseuchten.
6 Energie & Umwelt 1/2016
Das Hotel liegt in der Gemeinde Naraha. Im März 2011
wurde sie wegen der Strahlung evakuiert – so wie alle
anderen Dörfer, die im Umkreis von zwanzig Kilo­me­
tern um das AKW liegen. Im letzten September wurde
Naraha wieder freigegeben. Die Leute, die nun über vier
Jahre in Containersiedlungen gelebt haben, könn­ten in
ihre Häuser zurückkehren, sagt die Regierung.
Die grosse Duldsamkeit
In Naraha befindet sich auch das berühmte J-Village.
Das Stadion diente einst der japanischen Fussball­
nationalmannschaft als Trainingscamp. In den ersten
Tagen der Nuklearkatastrophe bezogen Daiichi-Arbeiter
im J-Village Quartier. Hier schliefen und assen sie.
Hier zogen sie die Schutzkleidungen über, bevor sie
zum AKW fuhren, um zu retten, was noch zu retten
war. Die Schutzkleidung half nicht wirklich gegen die
Strahlung, das wussten sie.
Shoganai, sagen die JapanerInnen dazu – «das lässt
sich nicht ändern», «das muss man erdulden». Sie
­sagen oft Shoganai, auch im normalen Leben. Doch
seit sich der unsichtbare radioaktive Schleier über das
Land gelegt hat, ist hier alles Shoganai.
Noch immer fahren jeden Tag 7000 Arbeiter von
­Naraha ins AKW Daiichi und versuchen, die Katastrophe in den drei Reaktorruinen einzudämmen. Einiges
haben sie geschafft.
Shoganai, sagen die JapanerInnen dazu – «das lässt sich nicht ändern», «das muss man erdulden».
Dem Energieunternehmen Tepco gehören die drei
durchgeschmolzenen Reaktoren. Wie es im Innersten
der Ruinen wirklich aussieht, weiss Tepco nicht, weil
die Strahlung dort tödlich hoch ist. Bei Block eins
­hätten sie festgestellt, dass der gesamte radioaktive
Brennstoff geschmolzen und aus dem Reaktor gelaufen sei, hat der Tepco-Pressesprecher in Tokio gesagt.
Über die Verhältnisse in Block zwei und drei wüssten
sie nichts. Er sagt, in vierzig Jahren hätten sie alles
aufgeräumt, dann könnten sich die Menschen dort
wieder normal bewegen. Das klingt vermessen, aber
er glaubt daran.
Berge von strahlendem Müll
Die Route 6 ist die Strasse ins Inferno. Wer ins AKW
Daiichi will, fährt über die Route 6. Lange war die
Strasse wegen der hohen Strahlenbelastung zwischen
Naraha und Minamisoma gesperrt. Seit letztem Herbst
ist sie wieder offen. Alle können durch die Sperrzone
fahren, es gibt keine Checkpoints, keine Kontrollen.
Man wähnt sich auf einer normalen Strasse. Doch der
«Gamma-Scout» vermeldet, dass die Strahlung steigt.
Auf einem grossen, leeren Parkplatz vor einem verlassenen McDonald's und einem abgesperrten Einkaufszentrum arbeiten Männer mit Papiermasken. Mitten
auf dem Platz stehen einige schwarze Säcke: Das
­Symbol der Katastrophe von Fukushima – die Fleconbags. Die schwarzen, überdimensionierten Plastiktüten
stehen überall in den kontaminierten Gebieten. Manchmal aufgereiht am Strassenrand, manchmal achtlos
abgeladen, doch meist ordentlichen aufeinandergestapelt in langen Reihen auf Feldern deponiert. Ein
Sack fasst einen Kubikmeter verstrahlten Dreck.
Schon im Herbst 2011 hat man in den verseuchten
Gebieten mit dem grossen Saubermachen begonnen.
Damals entschied die Regierung: Jeder Fleck, der
mehr als 0,23 Mikrosievert pro Stunde strahlt, muss
dekontaminiert werden. Nach dieser Definition hat es
die Hälfte der Präfektur Fukushima erwischt – das
sind 7000 verseuchte Quadratkilometer, was etwa
dem Kanton Graubünden entspricht. Die Präfektur
besteht zu siebzig Prozent aus dünn besiedeltem,
­hügligem Waldgebiet. Dieses Gebiet kann nicht
dekon­taminiert werden. Dann bleiben noch 2000 bewohnte Quadratkilometer, die zu putzen sind. Das ist
ein Gebiet grösser als der Kanton Zürich. Und das hat
man in den letzten drei Jahren getan.
Tausende von Männern putzten jedes kontaminierte
Haus, wuschen jedes verstrahlte Dach und trugen die
Erde jedes verseuchten Gartens ab. Die Strassen wurden gewischt, die Strassengräben gereinigt und die
oberste Erdschicht der Reisfelder abgebaggert. Was an
Dreck zusammen kam, wurde in unzählige Fleconbags
gepackt. Fleconbag steht für Flexible-Container-Bags,
flexible Containersäcke.
Energie & Umwelt 1/2016 7
Das Gerippe eines einst modernen Gebäudes:
Der Scout piepst und piepst, bis er bei 74 μSv/h verharrt.
Kein Ort zum Bleiben.
Eine unheimliche Fatalität liegt über dem
­Sperrgebiet, das eigentlich keines ist. Shoganai.
Die Dimension ist unfassbar. Vermutlich schafft das
nur ein Land, das im Shoganai-Modus steht. Man hält
aus, was nicht auszuhalten ist. Es müssen sich um die
zehn Millionen der riesigen Plastiktüten ange­sammelt
haben.
Überall tauchen pitoreske Fleconbag-Landschaften auf.
Die stark strahlenden Bags sollen einmal ins Zwischen­
lager kommen, das rund um Fukushima Daiichi er­
rich­tet wird. Einen Teil der nicht so stark belasteten
Erde möchte die Regierung im Strassenbau einsetzen.
Der Rest der Bags wird vermutlich die nächsten Jahrzehnte liegen bleiben, wo sie sind.
Fahrt durch die Sperrzone
Zurück auf der Route 6. Irgendwo blinkt am Strassenrand ein Schild mit roten und gelben Schriftzeichen.
Sie besagen: «Hier beginnt die Sperrzone.» Es ist verboten, die Strasse zu verlassen. Die Häuser sind leer,
kalt, kaputt. Gestrüpp hat die Gärten überwuchert.
Die Strassen, die früher in die Dörfer führten, sind
mit Gittern abgesperrt. In den Zufahrten zu den Parkplätzen der Einkaufszentren stehen Absperrgitter.
Der «Gamma-Scout» meldet im Auto 0,42 μSv/h, auf
der Strasse geht er hoch. Der Verkehr rauscht vorbei,
8 Energie & Umwelt 1/2016
als sei die Route 6 die gewöhnlichste Strasse der Welt.
Dazwischen tauchen immer wieder die weissen Busse
mit den Daiichi-Leuten auf, die von der Arbeit kommen
oder zur Arbeit fahren.
Ein Stück weiter steht das Gerippe eines einst modernen Gebäudes. Das Erdbeben hat es aufgebrochen, ein
Teil der vorderen Hauswand ist weg, im zweiten Stock
sieht man Spielautomaten stehen. Vor fünf Jahren
war das noch die Spielhalle von Futaba.
Rechts neben dem Gebäude beginnt der «GammaScout» zu piepsen – ab 5 μSv/h warnt er. Über einer
ausgetrockneten Pfütze klettert der Wert höher und
höher. Der Scout piepst und piepst, bis er bei 74 μSv/h
verharrt. Kein Ort zum Bleiben.
Auf der anderen Strassenseite parken vor einer Mall
zwei Autos. Im einen hängt ein Stofftierchen am
Rückspiegel, auf dem Beifahrersitz liegen eine Zeitung
und eine leere Dose. Es wirkt, als sei der Besitzer nur
kurz einkaufen gegangen. Doch alle Räder sind platt,
das Autos steht seit bald fünf Jahr hier.
Neben der Mall beginnt der Wald. Am Waldrand­
­beginnt der «Gamma-Scout» erneut zu piepsen. Die
­Wälder strahlen immer stärker als offenes Gelände.
Das war schon in Tschernobyl so, weil sich im Wald
die strahlenden Partikel auf den obersten Zentimetern
anreichern, nicht abgewaschen werden und auch nicht
in die Erde sinken.
Spatenstich für eine neue Siedlung: Der Kindergarten ist schon gebaut. Am Bach schnellt das Messgerät auf
0,6 μSv/h. Da sollten keine Kinder spielen.
Ein Polizeiauto rast mit Blaulicht heran. Eine Schrecksekunde lang verharren wir. Aber es fährt vorbei.
Irgend­wo im Norden der Route 6 ist ein Unfall
­passiert. Niemand kommt und fragt, was wir da tun.
­Keiner kontrolliert, wenn wir hinter den Absperrungen herumstreunen. Eine unheimliche Fatalität
liegt über diesem Sperrgebiet, das eigentlich keines
ist. Shoganai.
Das erzwungene Ende
Die Regierung hat festgelegt, dass Gebiete, die mit
mehr als 4,6 μSv/h strahlen, nicht besiedelt werden
dürfen. Die Zeit arbeitet für die Regierung. Denn beim
Unfall sind Cäsium-134 und Cäsium-137 ausgetreten.
Das eine zerfällt relativ schnell, das andere hat hin­
gegen eine Halbwertszeit von dreissig Jahren. Deshalb
ist die Strahlung in den ersten Jahren nach dem ­Unfall
merklich zurückgegangen.
Die Regierung hat das ursprüngliche Sperrgebiet inzwischen stark reduziert, heute ist es noch etwa einen
Drittel so gross wie 2011.
Im März 2017 sollen die Dekontaminierungsarbeiten
abgeschlossen sein, sagt Syunji Miura von der Ver­
waltung der Präfektur Fukushima. Dann könnten alle
Evakuierten – ausser die aus der Restsperrzone – in
ihre Häuser zurückkehren. Und das, obwohl der
­enorme Dekontaminierungseffort die Strahlung im
Durch­schnitt nur um die Hälfte reduzieren konnte.
Wer nicht zurück geht, muss selber schauen, wie er
künftig über die Runden kommt.
Das «Zurückkehren-Können» ist allerdings mehr ein
Müssen. Die Notsiedlungen werden geschlossen, die
Kompensationszahlungen beendet. Wer nicht zurück
geht, muss selber schauen, wie er künftig über die
Runden kommt. Viele Alte werden zurückkehren, ­darin
sind sich alle einig. Aber die Jungen, die Kinder haben,
werden es nicht tun, wenn sie nicht müssen.
Der Himmel über Naraha strahlt blau an diesem
Morgen, ein kalter Wind bläst vom Meer. Auf einem
Feld nicht weit von der Route 6 ist ein kleines Podium
errichtet. Männer in schwarzen Anzügen schauen
vom Podium aus zu, wie zwei Laster und eine Lade­
raupe eine kleine Choreografie aufführen – zu Ehren
des ersten Spatenstichs für eine Siedlung, die hier entstehen wird: hübsche Häuschen, ein künstlicher See,
eine neue Mall. Der Kindergarten ist schon gebaut.
Auf dem Spielplatz steht auf einem Betonsockel ein
Messgerät, das 0,06 μSv/h anzeigt. Der «Gamma-Scout»
vermeldet 0,24. Beim Bach schnellt der Scout auf 0,6
hoch. Da sollten keine Kinder spielen.
Seit September sind weniger als zwanzig Prozent der
Evakuierten in ihre Häuser nach Naraha zurückgekehrt. Naraha wird so schnell nicht auferstehen. <
Energie & Umwelt 1/2016 9
JAPANS ENERGIEPOLITIK NACH FUKUSHIMA
Die japanische Regierung hat aus Fukushima
nichts gelernt
Japan hat bewiesen, dass es auch ohne Atomstrom geht. Nach dem GAU von Fukushima
war zeitweise kein einziges AKW am Netz, zuletzt während fast zwei Jahren. Doch die
­japanische Regierung hält gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit an der Kernenergie
fest: Dabei geht es nicht um Versorgungssicherheit und ­Klimaschutz, sondern vor allem
um politische, militärische und kommerzielle Vorteile und Überlegungen. so wenig Strom wie seit 17 Jahren nie. Vor allem die
Industrie, für etwa die Hälfte des Verbrauchs verantwortlich, reduziert ihren Bedarf stetig.
Von CHRISTOPH NEIDHART
Tokio-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und des
Tages-Anzeigers
Kohle statt Klimaschutz
Es geht kaum um die Versorgungssicherheit, wenn
Japan trotz Fukushima weiterhin auf die Kern­
energie setzt, und noch weniger um den Klima­
schutz. Die zwei Argumente, mit denen die Regierung von Premier Shinzo Abe ihre Energiepolitik rechtfertigt, spielen für ihre Entschlossenheit,
möglichst viele der 48 intakten Kernkraftwerke gegen
den Willen einer Mehrheit der Japaner wieder anzufahren, eine sekundäre Rolle. Drei Reaktoren hängen
bereits am Netz. Sendai I und II auf der Insel Kyushu
und seit Ende Januar Takahama 3: letzterer mit MOX,
dem Brennstoff-Gemisch aus Uran und Plutonium.
Wie wenig es ihm ums Klima geht, hat Abe mit der
Revision von Japans Klimazielen gezeigt: Bis 2030 will
Nippon seinen CO2-Ausstoss um 26 % verringern. Das
ist weniger als Tokio im Kyoto-Protokoll 1997 zusagte.
Wenn alle Staaten so wenig zum Klimaschutz beitrügen,
würde sich die Erde bis zum Ende des Jahrhunderts
um 3 bis 4 Grad Celsius erwärmen. Das wäre eine Katas­
trophe. Japan, einst ein Klima-Pionier, ist zu einem
Nachzügler geworden. Zumal die Regierung mit reduzierten Zöllen die Kohle, die das Klima mehr belastet,
gegenüber dem Erdgas begünstigt. Mit 114 Millionen
Tonnen hat Japan noch nie so viel Kohle ­importiert
wie 2015, fast doppelt so viel wie im Jahre 2000. Zudem sind 40 neue Kohlekraftwerke geplant. Die Einfuhr von Erdgas dagegen geht zurück. Tokio hofft auf
die kaum erprobte Technik der CO2-Speicherung.
Es ging – auch ohne Atomstrom
Japan hat bewiesen, dass es ohne Atomstrom auskommt – und ohne Einschränkung des Stromkonsums. Zwischen September 2013 und August 2015
war kein einziger Reaktor am Netz, auch in den
­heissen Sommermonaten nicht, in denen wegen der
­Klimaanlagen am meisten Strom konsumiert wird.
Zudem sinkt die Nachfrage: 2015 verbrauchte Japan
Kernkraft versus erneuerbare Energien
Weiter hat Abes Regierung die von ihren Vorgängern
eingeführten Einspeisetarife für Solar- und Windstrom
reduziert. Und lässt es zu, dass die Strommonopolis­
ten Inhabern grosser Solaranlagen einen Einspeisever­
trag verweigern, angeblich aus technischen Gründen.
In Wirklichkeit sind diese «technischen Gründe» ein
Versuch, Netzkapazität für die AKW zu reservieren.
Die weitere Entwicklung der Geothermie, mit der
sich angesichts der 108 aktiven Vulkane Japans der
gesamte Strombedarf decken liesse, wird von der Atom­
lobby seit dreissig Jahren unterdrückt.
Foto: www.opcp.org
Der Atomausstieg – nur ein leeres Versprechen?
Nach dem GAU in Fukushima: Die Mehrheit der Japaner möchte den Atomausstieg.
10 Energie & Umwelt 1/2016
Als Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf im Herbst
2012 Tokio besuchte, versicherte ihr der damalige Premier Yoshihiko Noda, Japan werde schrittweise aus der
Kernenergie aussteigen. Damit gab er im Hinblick auf
bevorstehende Wahlen dem Druck der Wähler nach.
Allerdings hatte er in der gleichen Woche amerikani­
schen Regierungsvertretern zugesagt, Japan halte an
der Kernenergie fest.
Noda steckte in einem Dilemma. Seine Ausstiegspläne
hatten Washington alarmiert. Die wichtigsten amerikanischen Reaktorhersteller Westinghouse und General Electric werden heute ganz oder teilweise von japanischen Unternehmen kontrolliert. Westinghouse
gehört Toshiba, die AKW-Tochter von General Electric
ist eine Partnerschaft mit Hitachi. Falls Japan aus
der Kernenergie ausstiege, würde dies die Zukunft
der beiden Firmen beeinträchtigen, fürchtet man in
Washington. Die Branchenführung dieser auch militärisch wichtigen Technologie könnte an China oder
Russland gehen.
Der einstige Verteidigungs- und heutige Regionen­
minister Shigeru Ishiba wird noch deutlicher: «Ich
glaube nicht, dass Japan Atomwaffen braucht. Aber es
ist wichtig, dass wir unsere kommerziellen Reaktoren
behalten. Sie erlauben es uns, in kurzer Zeit Atomsprengköpfe zu bauen», sagte er und nannte die AKW
eine «stillschweigende Abschreckung». Japan verfügt
über 47 Tonnen waffenfähiges Plutonium, als eines
von wenigen Ländern darf es abgebrannte Brenn­stäbe
aufbereiten. Sollte es aus der Kernenergie aussteigen,
ginge dieses Privileg verloren.
Bei AKW-Ausstieg droht die Pleite
Das andere Motiv Abes, an der Kernenergie festzu­
halten, ist kommerziell. Neun der zehn regionalen
Stromkonzerne besitzen Atomkraftwerke. Sollten sie
diese auf Null abschreiben und ihren Rückbau budgetieren müssen, gingen sie Pleite. Das würde nicht nur
die Stromversorgung gefährden. Da ihre Wertpapiere
weit gestreut gehalten werden, würde ihre Pleite den
Finanzmarkt belasten. Das will Premier Abe, der mit
der Energiewirtschaft verbandelt ist und versucht, die
Wirtschaft anzukurbeln, unbedingt vermeiden.
Foto: Christoph Neidhart
Das Dilemma der verbandelten Atomindustrie Die Energiewende wird in Japan von unten kommen: Im Bild eine grosse Solarstromanlage
in Nagasaka zwischen Friedhof und Chuo-Autobahn mit einer Leistung von 1,2 MW.
­ limaanlage. Dafür sind viele Japaner offen für InnoK
vationen: Wer durch die Provinzen fährt, stösst auf
immer mehr grosse Sonnenkollektoren-Anlagen. Auch
auf den Dächern von Privathäusern tauchen stets mehr
Sonnenzellen auf. Fukushima hat das Misstrauen gegenüber der Regierung und den Strommonopolisten
geschürt. Die Energiewende wird in Japan von unten
kommen – vielleicht schneller als erwartet.
Premier Abe ruft oft dazu auf, Japan müsse wieder
eine Führungsrolle in der Welt übernehmen. Kein
­Bereich eignet sich dazu so sehr wie die künftige
­Energie-Revolution. Japans Forschung und Industrie
verfügen über die Kapazitäten dazu. Nippon war einst
Marktführer der Photovoltaik, hat seinen Vorsprung
aber an China und andere Länder verloren. Tokios
­beste Chance für eine Führungsrolle wäre, Japan zu
einem Modell der Postcarbon-Gesellschaft zu machen.
Doch Abes Regierung bremst die Energiewende, statt
sie zu fördern. <
Nichts gelernt
Vom Mythos der sicheren Atomenergie
Der japanische Staat hat aus Fukushima nichts gelernt, er hält an der Kernkraft fest wie am Walfang,
einem anderen Anachronismus und begünstigt die
Kohlekraft gegenüber erneuerbaren Energien. Auch
deshalb, weil Kohlekraft, anders als Solarenergie, nur
von grossen Stromfirmen produziert werden kann.
Selbst die beschlossene Entkoppelung von Strom­
produktion und Netzbetreibern droht verwässert zu
­werden. Abes Regierung tut alles, die gegenwärtigen
Elektrizitätsfirmen am Leben zu erhalten.
Die Regierung von Japan war einst weltweit ein Pionier des Energiesparens – im
18. Jahrhundert. Zur Beschränkung des Brennholzverbrauchs galten in Japans
Grossstädten damals strenge Bauvorschriften. Auch der über tausend Jahre staat­
liche Zwang zum Vegetarismus erklärt sich eher mit dem Schutz beschränkter
Ressourcen als mit dem Buddhismus, mit dem das Fleischverbot begründet wurde.
Viehzucht beansprucht Agrarland, das Nippon für den Reisanbau brauchte.
Die Energiewende kommt – aber von unten
Ganz anders das Volk, viele Firmen und Gemeinden.
Gespart wird zwar noch wenig: Die Häuser sind
schlecht isoliert, viele Japaner lassen die Motoren
­ihrer geparkten Autos stundenlang laufen: für die
In der Gegenwart dagegen war Energiesparen nie ein Ziel der Politik. Während
die Industrie aus wirtschaftlichen Gründen ihre Effizienz schon lange optimiert,
haben die Elektrizitätswerke bis Fukushima sogar für mehr Stromverbrauch
­geworben. Auch die Klimaziele von Kyoto sollten nicht mit Sparen erreicht ­werden,
sondern mit mehr Kernkraft. Bis 2030 hätte der Anteil des Atomstroms auf 50
Prozent ­steigen sollen. Die AKW waren absolut sicher, so der Mythos, den Politik
und ­Energiekonzerne wider besseren Wissens predigten. In Wirklichkeit genügten
die damaligen Sicherheitsnormen den internationalen Standards nicht – auch die
neuen, strengeren Vorschriften tun das noch nicht, wie die Internationale Atom­
behörde IAEA im Januar festhielt.
Energie & Umwelt 1/2016 11
ENERGIE AKTUELL
Leere Speicherseen, volle Kassen
Steigendes Risiko trotz Atomausstieg
vs. Trotz der europaweiten
Stromschwemme herrscht in
der Schweiz eine angespannte
Energie- und Netz­situation.
Im Dezember 2015 hat die
Netzbetreiberin Swissgrid auf
die limitierte Transformatorenkapazität hingewiesen, um
den Importstrom aus dem EURaum zu den Schweizer Verbrauchern zu bringen. Verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass auf der Netzebene 3
(220 kV) und darunter potenziell zu wenig Strom vorhanden
ist: die trockene Witterung, die Ausfälle im AKW Beznau und
die tiefen Füllstände der Speicherseen. In den Seen fehlen
rund 800 GWh, was in etwa dem Stromverbrauch der Stadt
Zürich während eines Monats entspricht. Im Sommer waren
die Seen noch voll. Im Herbst wurden der Speicherstrom
nach Italien verkauft und die Kassen aufpoliert.
Wer hat profitiert? Wie gehen wir mit dem Klumpenrisiko
Alt-AKW und der zunehmenden Pannenanfälligkeit um? Die
SES fordert Untersuchungen, um diese Fragen zu klären.
vs. Im Rahmen der Differenzbereinigung der Energiestrategie 2050 hat die nationalrätliche Energiekommission zu Jahresbeginn ein gesetzlich verankertes Langzeitbetriebskonzept abgelehnt. Dieses hätte der Atomaufsichtsbehörde ENSI
schärfere Kontrollmöglichkeiten für die Schweizer Uralt-AKW
ermöglicht. Der Skandal dabei ist: Das ENSI selber hatte ein
solches Konzept gefordert. Dass das Parlament dieses Konzept noch ins Gesetz aufnimmt, wird immer unwahrscheinlicher. Das bringt uns in die paradoxe Situation, dass das
­Risiko eines Atomunfalls trotz Atomausstieg zunimmt.
Dass verschärfte Sicherheitsbestimmungen bei alten Reaktoren dringlich sind, belegt die jüngste SES-Studie. Am Beispiel des AKW Beznau zeigt der französische Nuklearexperte
Yves Marignac auf, wie die Sicherheitsmarge nach 40 Jahren
Laufzeit stetig abnimmt. Während Materialien altern und
mögliche Gefahren und Risiken tendenziell zunehmen, wird
die Einschätzung des Zustands der Anlage immer schwieriger. Die ursprüngliche Sicherheitsmarge mit Investitionen
in Nachrüstungen erhalten zu wollen, ist eine Illusion.
Foto: © Greenpeace/Cristien Buysse
Warmes Wasser für rissige AKW
»Die SES-Studie ist auf unserer Website zu finden unter
www.energiestiftung.ch/sicherheitsmargen
Sicherheitsmarge nimmt ab
Beispiel Beznau I
Sicherheitsmarge nimmt ab: Beispiel Beznau I
Sicherheitsgebäude nicht verstärkt
trotz grösserer Flugzeuge als bei
Inbetriebnahme
Reaktordruckbehälter geschwächt
- spröder
- 1000 Anomalien
Sicherheitsbehälter geschwächt
- Durchbohrung für Deckelwechsel
- Korrosionsschäden
Brennelementbecken nicht nachgerüstet
liegt ausserhalb des Sicherheitsbehälters:
ist seit Fukushima als Gefahr annerkannt
Sicherheitsmarge
Sicherheitsmarge
Sicherheitsmarge
Sicherheitsmarge
Die ursprünglich eingeplante Sicherheitsmarge wird mit dem Alter und trotz Nachrüstungen immer kleiner.
vs. In den beiden belgischen Atomkraftwerken Tihange-2
und Doel-3 muss ausgerechnet das Kühlwasser vorgeheizt
werden. Üblicherweise hat dieses eine Temperatur von unter zehn Grad. In Tihange und Doel hat die Atomaufsicht
jedoch bereits 2012 angeordnet, das Notkühlwasser auf 30
Grad vorzuheizen. Anlass für diese eigentümliche Anordnung sind die Tausenden feinen Risse in den Reaktordruckbehältern der beiden Anlagen. Würde plötzlich und in grosser Menge kaltes Wasser eingefüllt, könnte ein so genannter
thermischer Schock die Behälter beschädigen oder gar zerstören. Auch im AKW Beznau I wurden zahlreiche Risse im
Reaktordruckbehälter festgestellt. Der Grad der Versprödung bezeichnet SES-Atomexpertin Sabine von Stockar als
noch gravierender. Gleichwohl gibt es hier keinen Kühl­
wasser-Heizbefehl.
Wie Franz Hohler vor 30 Jahren schon sagte: «Sie sagen, sie
tragen die Verantwortung. Aber wir tragen das Risiko.»
12 Energie & Umwelt 1/2016
Die Grafik zeigt eine Auswahl der grössten Sicherheitsdefizite des AKW Beznau I,
die zur Minderung der Sicherheitsmarge beitragen. Gewisse Defizite entstehen durch
Materialermüdung, andere durch nicht aktuelle Sicherheitszustände, insbesondere
bei der Gebäudehüllendicke. Weitere Defizite sind im Zuge von Nachrüstungen entstanden, etwa die Schwächung des Sicherheitsbehälters durch den Deckelaustausch.
Revision der Strahlenschutz-Verordnungen
Im Rahmen der Anhörung hat die SES ihre Auffassung eingebracht, dass der Rückbau eines AKW unmittelbar nach
der Ausserbetriebnahme beginnen muss. Nur so geht das
beim Personal vorhandene Wissen über die Anlage nicht
verloren und die Kosten können realistisch beziffert und
verursachergerecht überwälzt werden.
» SES-Stellungnahme unter www.energiestiftung.ch
ENERGIE AKTUELL
Dänische Energiewende
Filmfestival HALBWERTSZEIT 2016 » www.halbwertszeit-festival.ch
vs. Das Königreich zeigt vor, wie die Energiewende und der
rasante Ausbau erneuerbarer En­ergien umgesetzt werden
können. Durch Massnahmen wie Energieeinsparungen, Effi­
zienz und Kraft-Wärme-Kopplung gelang es Dänemark, den
Primärenergieeinsatz über 40 Jahre auf gleichem Niveau zu
halten, obwohl das BIP um mehr als 100 % wuchs. Zugleich
wurden 25 % der Primärenergie durch Erneuerbare ersetzt.
Eindrücklich ist der Zubau bei der Windkraft: 2005 hatte
diese 18,7 % des inländischen Strombedarfs gedeckt. 2015
waren es bereits 42,1 %. Das ist weltweiter Wind­energieRekord.
Wie die Schweiz verfolgt Dänemark das Ziel, die Energiewende bis 2050 zu schaffen. Bereits 2030 sollen 90 % der Stromund Wärmeversorgung durch erneuerbare Energien gedeckt sein. Das ist das ­ehrgeizigste Ausbauziel eines Industrie- oder Schwellenlandes weltweit. Und es funktioniert.
vs. Die Ereignisse von Fukushima und Tschernobyl hinterlassen noch immer tiefgreifende Spuren. Die AG Film der
Roten Fabrik lädt zum diesjährigen Filmfestival HALBWERTSZEIT ein. Aus Japan berichtet die Journalistin und
langjährige Anti-Atom-Aktivistin Yayoi Hitomi über die aktuelle Situation in Fukushima. Ihre Referate in Brugg und
Zürich finden in Kombination mit dem Dokumentarfilm
TELL THE PRIME MINISTER statt. In Zürich zeigt der dänische
Evolutionsbiologe Anders Møller, was bereits mittelstarke
Strahlendosen ­anrichten können. In Basel und Bern sind zwei
Spezialprogramme unter dem Motto ATOM & ANIMATION
mit animierten Kurzfilmen zu sehen.
Wer will die heisse Kartoffel?
New Yorker AKW leckt Sind die fetten Jahre endgültig vorbei? Eine ­Finanzanalyse
der Axpo, welche das Beratungsbüro Profundo im Auftrag
von Greenpeace Schweiz erstellt hat, legt diesen Schluss
nahe. Die alten AKW sind zum Klumpenrisiko geworden.
Neue sicherheitstechnische Massnahmen werden für den
sicheren Weiterbetrieb notwendig. Steht ein Reaktor wie
Beznau I unvorhergesehen still, fallen wichtige Deckungsbeiträge weg. Diese haben das aktuelle Verlustgeschäft immer­
hin etwas abgefedert. Denn mit den heutigen tiefen Marktpreisen ist der Betrieb der AKW ein Verlustgeschäft.
Foto: Daniel Case / Wikipedia, CC BY-SA 3.0
vs. Kürzlich wurde bekannt, dass die Kantone
Zürich und Schaffhausen
über den Verkauf ihrer
Anteile an der Axpo nachdenken. Aus dem Kanton
Schaffhausen sind ähnliche Signale zu vernehmen. Hintergrund des be­schränkten
Interesses an der Axpo ist deren wirtschaftliche Situation.
Früher hatte der Konzern den Kantonen Dividenden in Millionenhöhe eingetragen. Seit die Strompreise eingebrochen
sind, gibt es die nicht mehr.
n Brugg: Kino Odeon, Mi, 9. März n Zürich: Rote Fabrik,
Do und Fr, 10./11. März n Basel: neues kino, So, 13. März
n Bern: Kinemathek Lichtspiel, Mo, 14. März
vs. Bei Grund­was­ser­­messungen in der Nähe des AKW Indian
Point sind «alarmierend hohe» Strahlungswerte fest­gestellt
worden. Aus dem Kraftwerk ist mit dem radioaktiven Wasserstoffisotop Tritium kontaminiertes Wasser ausgetreten.
Das AKW Indian Point gehört mit seinen 40- und 43-jähri­
gen Reaktoren zu den ältesten in den USA. Es ist vom
­gleichen Bautyp wie das AKW Beznau und liegt nur 40 Kilometer von der Stadt New York entfernt. 6 % der US-Bevöl­
kerung leben im Umkreis von 80 Kilometern.
Der Genfer Geograph Frédéric-Paul Piguet hat 2015 die Gefährdungen durch AKW weltweit verglichen. Gemäss seiner
im Auftrag von Sortir du Nucléaire erstellten Studie zur Ver­
letzlichkeit bei einem schweren AKW-Unfall liegt die Schweiz
mit dem AKW Beznau auf Platz 4, Indian Point auf Platz 29.
Energie & Umwelt 1/2016 13
HOCHWASSERGEFÄHRDUNG DER SCHWEIZER AKW
Wieso Fukushima in Beznau passieren könnte
Ein Tsunami in der Schweiz? Ein Hochwasser könnte durchaus die Beznau-Insel überfluten
und beim AKW Beznau zu einer heiklen Gefahrensituation führen. Der Atom-Unfall von
Fukushima sollte eine Warnung sein, die Gefahren nicht am sicheren Schreibtisch tief zu
rechnen und notwendige Nachrüstungen nicht auf die lange Bank zu schieben.
Von SABINE VON STOCKAR
SES-Projektleiterin Atom & Strom
Zu den Ursachen des Super-GAUs in Fukushima
wurden zahlreiche Studien in Japan und in der
Schweiz publiziert. Das Gesetz sieht vor, dass
nach einem AKW-Unfall die Lehren für das eigene
Land zu ziehen sind. Für das ENSI, das für die
Sicherheit der Schweizer AKW verantwortlich ist,
scheint dies ein endlos holpriger Weg zu sein.
Der unterschätzte Tsunami in Japan
«Das Erdbeben- und Tsunami-Risiko wurden offensichtlich unterschätzt», schrieb das ENSI über die Flut­
welle in ihrem ersten Fukushima-Bericht. Anstatt 6,1
Meter kam die Flutwelle 14 Meter hoch. Die Atomaufsicht stellte vor allem zwei Mängel fest: Erstens wurden ­historische Erdbeben, bzw. Tsunami nur selektiv
­berücksichtigt. Der Tsunami des Jogan-Erdbebens im
Jahr 869 zum Beispiel hätte das Fukushima-Gelände
auch schon überflutet. Der Forscher Robert Geller, der
an der Universität Tokio lehrt, dazu: «Wenn die japanischen Wissenschaftler historische Aufzeichnungen
über Erdbeben mit darauffolgenden Flutwellenkatas­
trophen ausgewertet hätten (...), wäre die Katastrophe
vom 11. März zumindest ‹ vorhersehbar › gewesen.»
Zweitens wird vom ENSI die mangelhafte Berechnungsmethode kritisiert: Weil Unsicherheitsfaktoren
nicht gebührend berücksichtigt wurden, resultierten
zu optimistische Resultate und Annahmen.
Die Mängel waren bekannt
Die vom japanischen Parlament eingesetzte Kommission NAIIC berichtete schon 2012, dass sich Tepco,
der Betreiber der Atomanlage in Fukushima, seit 2006
der Risiken bewusst war, dass bei einem Tsunami die
Stromversorgung ausfallen könnte. Die Aufsicht
wusste zudem, dass Tepco diesbezüglich nichts unternahm und duldete dies einfach.
Genau die «unterschätzte Flutwelle» und mangel­hafte
Nachrüstungen der Stromversorgung waren der Auslöser des atomaren Super-GAUs: Der Tsunami überschwemmte die Notkühlsysteme in Fukushima, die
Stromversorgung fiel aus und die Brennelement­
lagerbecken konnten nicht mehr gekühlt werden. Es
kam zur dreifachen Kernschmelze.
14 Energie & Umwelt 1/2016
Der Schweizer Tsunami
Die Schweiz hat kein Meer. Trotzdem sind diese
Erken­ntnisse für die Schweiz von höchster Relevanz:
Denn sämtliche Schweizer AKW befinden sich entlang von Flüssen. Beim Wasserschloss Brugg im Kanton Aargau vereinen sich die Limmat, Reuss und Aare.
Und kurz unterhalb des Zusammenflusses trifft die
Aare auf die Insel Beznau, wo die beiden Reaktor­
blöcke Beznau I+II stehen. Eine Verstopfung durch
Schwemmholz des Wehrs oberhalb der Insel könnte
das AKW-Gelände, ähnlich wie ein Tsunami, meterhoch überfluten.
Die Hochwasserrechnerei der Axpo
Schon vor Fukushima musste die Beznau-Betreiberin
Axpo für den Fall eines Extremereignisses die Wassermengen, die auf die Insel Beznau treffen würden,
­abschätzen – vom trockenen Büro aus und bevor die
«Fukushima-Gefahren» bekannt waren. Die Axpo kam
auf eine Überflutungshöhe der Beznau-Insel von gerade
mal 37 cm. Das ENSI nickte ab und ging davon aus,
dass Beznau vor Hochwasser geschützt sei. Erst zwei
Jahre nach Fukushima verlangte das ENSI dann doch
neue Berechnungen. Und siehe da: Die Axpo kam auf
einen massiv höheren Wert von 60–100 cm. Beim
ENSI blieb alles beim alten: «Beznau ist sicher.»
Schweiz unterschlägt ebenfalls historische Werte
Die neuen Axpo-Berechnungen bleiben allerdings
mangelhaft. Denn die Axpo stützt sich hauptsächlich
auf die Hochwasserstatistik des Bundesamts für Umwelt (BAFU), die je nach Messstation zwischen 65- und
110-jährige Messdaten beinhalten. Ältere historische
Hochwasser werden salopp eingeschätzt, respektive zu
tief gehalten. Und das, obwohl Steingravuren unter
der alten Brücke in Brugg darauf hinweisen, dass bei
Hochwassersituationen schon viel mehr Wasser kam,
als von der Axpo einberechnet.
Damit aber nicht genug der Schönrechnerei: In den
alten wie auch neuen Gefahrenabschätzungen rechnete
die Axpo einfach nur mit «Hahnenwasser». Doch
Hochwasser werden erst in Kombination mit Geschiebe,
Geröll und Baumstämmen katastrophal. Es drohen
verstopfte Wehre und eine Überflutung des BeznauGeländes. Bei den Axpo-Berechnungen wurde das einfach weggeblendet.
In Fukushima warnen Hunderte von Markierungssteinen mit der Aufschrift «Bau nicht unterhalb dieses Steins! Bei Erdbeben, achte auf Tsunamis!». In Brugg warnt
eine Markierung aus dem Jahr 1852 vor extremem Hochwasser. Das ENSI wäre gut beraten, dafür zu sorgen, dass diese Warnung gebührend berücksichtigt wird.
Axpo hofft auf gutwilligen Wettergott
Die Axpo geht auch davon aus, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass bei einem extremen Hochwasser
das gesamte Einzugsgebiet der Aare, Reuss und Limmat
in gleichem Ausmass überregnet werde. Kurzum: Im
Modell regnet es nur abwechslungsweise im Westen
oder im Osten stark. Das Vertrauen in einen gutwilligen Wettergott geht noch weiter: Die Axpo kommt
im gleichen Bericht zur vereinfachten Annahme, dass
die grossen Hochwasser von 1994, 1999, 2005 und
2007 nur eine zyklische Häufung seien – und nicht
etwa eine Folge der Klimaerwärmung. Jetzt werde
«eine ruhigere Phase folgen». Die Vermutung liegt
nahe, dass solche Tricks ­nötig sind, damit der Hochwasserschutz bis zu den ursprünlich notwendigen 1,65
Meter gewährleistet ist. Trotzdem verlangte das ENSI
2015 dann Massnahmen zur weiteren Erhöhung der
Sicherheitsmargen. Und siehe da: Durch eine verbesserte Dichtheit des Notstandsbrunnens, die Ertüchtigung «der Entlüftungsleitun­gen und des Mannlochdeckels» stieg die Sicherheitsmarge gegen eine externe
Überflutung auf wundersame 6,15 Meter.
Nochmals eine neue Studie...
Doch richtig gut schlafen, können die zuständigen Behörden offenbar noch immer nicht: Das Bundesamt für
Umwelt (BAFU), das ENSI, das Bundesamt für Energie
(BFE), das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS)
und MeteoSchweiz lancierten 2013 eine neue umfassende Studienserie namens EXAR. Das Ziel sei «eine
homogene Gefahrengrundlage für Extremereig­nisse an
Aare und Rhein», erklärt Carlo Scapozza, ­Sektionschef
Hochwasserschutz beim BAFU. Es seien letztlich die
Verantwortungsträger, die entschei­den, wie mit den
neuen Ergebnissen umzugehen ist.
Sebastian Hueber, Mediensprecher des ver­antwort­li­
chen ENSI, meint dazu: «Der Stand von ­Wissenschaft
und Technik entwickelt sich immer ­weiter. Eine endgültige Gefährdungsbestimmung wird es deshalb nie
geben.» Es ist wohl so oder so zu er­warten, dass das
ENSI auch nach der EXAR-Studie einmal mehr verkün­
den wird: «Die AKW sind vor Hochwasser sicher.»
Nachrüstungen auf die lange Bank
Die EXAR-Studien hätten eigentlich Ende 2016 erscheinen sollen. Nun soll es bis 2018 dauern – also 7
Jahre nach Fukushima. Es brauche Zeit, eine solche
umfassende Studie zu lancieren und umzusetzen,
­erklärt Carlo Scapozza fürs BAFU. Die Atomaufsichtsbehörde stört das wohl kaum: Auch das ENSI ist seit
über 15 Jahren daran, die Gefährdungsannahmen zu
Erdbeben zu aktualisieren und schiebt – wie beim
Hochwasserschutz – eventuell nötige Nachrüstungen
einfach auf die lange Bank.
Nie zwei Mal derselbe Unfall
Selbst wenn die Lehren aus Fukushima zu neuen
Hochwasser-Standards in der Schweiz führen werden,
ist es damit nicht getan. Denn ein Unfall ereignet sich
nie zwei Mal auf gleiche Weise. Es müssen unzählige
Unwägbarkeiten, Gefahren und Unfallverläufe richtig
eingeschätzt werden. Dazu fehlt offenbar das Vor­
stellungsvermögen, sonst wären die Mängel der Hochwasserberechnung nicht erst nach Fukushima auf
den Tisch gekommen.
Das ENSI wäre also gut beraten, über die FukushimaFlutwelle hinaus sämtliche Schwachstellen baldmöglichst unter die Lupe zu nehmen und dabei die nötige
Vorsicht bei der Gefahrenabschätzung anzuwenden.
Nur immer wieder verlauten zu lassen, dass die
«Schweizer AKW sicher sind» hilft in keiner Weise,
einen weiteren Atomunfall zu vermeiden.
<
Energie & Umwelt 1/2016 15
RISIKOWAHRNEHMUNG DER ATOMENERGIE
Wie wir das Restrisiko der Atomenergie
­verdrängen
Wenige Jahre nach der AKW-Katastrophe von Fukushima erachtet die Schweizer Bevölkerung laut einer Umfrage Atomkraftwerke nach wie vor als grösste Gefahr für Mensch und
Umwelt, dies noch vor weiteren Gefahren wie Klimawandel und Gentechnik. Doch ­Risiken,
auch wenn sie sehr gross sind, werden oft einfach verdrängt. Von FLORIAN BRUNNER
SES-Projektleiter Fossile Energien & Klima
Atomenergie ist eine hochgefährliche Form der
Energiegewinnung, deren Risiken sich nicht
komplett eliminieren lassen. Die Sicherheit
hängt nicht nur von der Technologie ab, sondern
auch vom Menschen, wobei sowohl hochkomplexe Systeme wie auch der Faktor Mensch fehler­
anfällig sind.
Durch einen Fehler kann bekannter­weise die Kernspaltung ausser Kontrolle geraten. Im schlimmsten
Fall kommt es zu einer Kernschmelze (grösster anzunehmender Unfall: GAU). Austretende Radioaktivität
kann die umliegenden Gebiete für Jahrtausende verseuchen und unbewohnbar machen. Das «minimale»
Restrisiko ist also eigentlich schlicht zu gross.
Und die Folgen sind absolut fatal. Das haben uns die
Atom-Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima
mehr als deutlich gezeigt. Doch die Risikowahrnehmung bzw. die menschliche Auffassung über Risiken
und die daraus abgeleitete Handlung ist etwas Subjektives, bei jedem Menschen ist sie anders ausgeprägt.
Das heisst, Risiken werden individuell unterschiedlich
wahrgenommen und eingeordnet (siehe Interview
­nebenan).
Einschätzung der Gefahr von AKW für Mensch und Umwelt
(Anteil der Wohnbevölkerung)
2015
39,6 %
37,3 %
19,5 %
3,6
2011
46,8 %
34 %
16,2 %
3
0 %
20 %
40 %
60 %
80 %
Sehr gefährlich
Eher nicht gefährlich
Eher gefährlich
Überhaupt nicht gefährlich
16 Energie & Umwelt 1/2016
100 %
Fakt ist, dass das nicht beherrschbare Restrisiko der
Atomenergie (in der Wahrnehmung und beim Handeln) oft einfach verdrängt wird. Unbegreifbar bleibt,
wie wir das schaffen und mit den offensichtlichen
atomaren Risiken leben können.
Kosten-Nutzen-Überlegungen
In einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik1 zur
Einschätzung der Gefahren für Mensch und Umwelt
(siehe Abbildung) gaben eineinhalb Monate nach
­Fukushima insgesamt über 80 % der Befragten an,
AKW seien als gefährlich einzustufen, 47 % stuften
AKW sogar als sehr gefährlich ein. Vier Jahr später
scheint Fukushima bereits wieder etwas in Vergessenheit geraten zu sein, denn AKW wurden «nur» noch
von 40 % als sehr gefährlich eingestuft. Insgesamt
77 % der Befragten stehen der Atomkraft aber immer
noch skeptisch gegenüber.
Dennoch nehmen wir das Risiko der Atomenergie auf
uns und verdrängen die Gefahr eines AKW-Unfalls.
Risikowahrnehmungsforscher Michael Siegrist von
der ETH Zürich erklärt diese Diskrepanz u.a. damit,
dass wir zwar Risiken wahrnehmen, sie aber tagtäglich auf uns nehmen, weil wir auch einen Nutzen
­erkennen. Auto fahren ist beispielsweise nicht ungefährlich, wir setzen uns einem Risiko aus. Aber wir
kommen auf einfache Art und Weise von A nach B.
Für die Frage, ob AKW befürwortet werden oder
nicht, ist also nicht allein die Gefahren- bzw. Risikowahrnehmung entscheidend.
Für eine Handlung ist relevant, ob man einen Nutzen
oder eine Chance erkennt oder nicht. In einer Euro­
barometer-Studie von 2007 gaben 53 % der Einwohner­
Innen der EU an, dass Atomkraftwerke ein Risiko für
sie und ihre Familien darstellen. Trotzdem gaben
ebenso viele Befragte an, dass sie der Meinung sind,
die Risiken der Atomenergie seien geringer als ihr
Nutzen (53 % ja / 33 % nein). Risiko und Nutzen werden also oft getrennt voneinander eingeschätzt. Das
heisst, es fällt den meisten Leuten schwer, beim Einschätzen eines Risikos den Nutzen ganz auszublenden
(und auch umgekehrt). So fährt man eben doch Auto
und nutzt Atomenergie.
NACHGEFRAGT BEI ANNA-LENA KÖNG, STIFTUNG RISIKO-DIALOG
«Wahrnehmen heisst noch nicht handeln»
Anna-Lena Köng ist Projektleiterin der
unabhängigen Stiftung Risiko-Dialog
und in den Bereichen Risikowahr­
nehmung und -kommunikation sowie
Umwelt­verhalten tätig.
E&U: Alle reden von «Risiko». Was
verstehen Fachleute darunter?
Der Risikobegriff wird sehr unter­
schiedlich verwendet. Generell ‹wagen›
Menschen Vorhaben, weil sie sich ei­
nen Nutzen erhoffen. Dabei gehen sie
immer auch Unsicherheiten ein, da wir die Zukunft nicht vorwegnehmen
können. Diese Spannung zwischen Gefahr und Chance beschreibt Risiko.
Wenn Fachleute die Gefahrenseite betrachten, errechnen sie ein Risiko im
einfachsten Fall als erwartetes Schadensausmass multipliziert mit der
erwarteten Wahrscheinlichkeit des Eintritts. Neuere Ansätze fragen auch,
wie widerstandsfähig ein System ist und wie auf ein Ereignis reagiert
­werden kann. «
»
E&U: Was heisst das für den Alltag von Herrn und Frau Müller: Wie
sehen und schätzen diese die Risiken ein?
Wie wir Menschen Risiken sehen und bewerten, ist ein komplexer Vor­
gang und von verschiedensten Faktoren abhängig. Habe ich alle Informa­
tionen? Wie beurteile ich die Gefahren im Vergleich zu meinen Chancen?
Kann ich die Auswirkungen wahrnehmen und kontrollieren? Um welchen
Risikotyp geht es? Zudem sind wir alle Individuen mit Erfahrungen und
Werthaltungen. Wie unser Umfeld, die Medien und andere Akteure Risiken
in einen spezifischen Kontext stellen, hat einen wichtigen Einfluss auf
­unsere Risikowahrnehmung. Nehmen wir das Risiko, welches von Kern­
kraftwerken ausgeht: Es wird erst einmal von vielen als unkontrollierbar
erlebt. Weiter haben mögliche Störfälle ein grosses Katastrophenpoten­
zial und Radioaktivität ist sensorisch nicht wahrnehmbar. Dies sind alles
­Faktoren, die zu einer relativ hohen Risikowahrnehmung führen. «
»
Gewohnheitsfilter – oder die Angst vor Neuem
Der Betrieb der Schweizer AKW verläuft vermeintlich
störungsarm. Meldungen über kleinere Zwischenfälle
wecken zwar immer wieder Zweifel an der Sicherheit
von AKW. Doch über die Risikowahrnehmung hinaus
existieren auch eine Angst vor Neuem und eine Art
­Gewohnheitsfilter. Das führt dazu, dass wir das ausgemachte Risiko verdrängen: «Wieso sollen wir etwas
ändern, es besteht zwar ein gewisses Risiko, aber es
ist ja alles gut und es funktioniert.» Kommt hinzu,
dass bei neuen Ideen und Alternativen, wie der
Energie­wende, schnell die Faktoren Unbekanntheit
und Skepsis auftauchen. Dies zeigt sich in verschiedenen Mustern, wie dem erwähnten Gewohnheits­
filter «Das haben wir noch nie so gemacht, das kann
nicht aufgehen!», einem Machbarkeitsfilter «Das ist
sowieso zu teuer!» oder auch einem Konkurrenzfilter
«Achtung, da will sich einer profilieren!».
Man geht zudem davon aus, dass die Menschen gegenüber neuen Technologien (wie z.B. Solarenergie) zu-
E&U: Verfügt der Mensch über Daumenregeln zur Risikoeinschätzung?
Wir sind nicht immer in der Lage, Risiken rein rational zu beurteilen:
Risiken sind oft sehr komplex oder es fehlt schlicht die Zeit, uns aktiv zu
informieren und eine Meinung zu bilden. Daher orientieren wir uns an Dau­
menregeln, um Risiken einzuschätzen. Sehr einfach lässt sich sagen, dass
hohe Emotionalität und eine starke Präsenz des Risikothemas ‹im Kopf›
zu einer höheren Risikowahrnehmung führen. Allgemein stellen ­solche
Daumenregeln gute Werkzeug dar. Sie können aber im Einzelfall zu Wahr­
nehmungsverzerrungen führen, weil sie beispielsweise Regeln der Wahr­
scheinlichkeit nicht beachten, Informationen falsch gewichten oder andere
Faktoren ausser Acht lassen. «
»
E&U: Niemand möchte einen nuklearen GAU erleben: Weshalb
verdrängt man dieses Risiko bzw. nimmt es in Kauf?
Wie gesagt ist die Relevanz eines Risikos von Mensch zu Mensch unter­
schiedlich. Niemand befasst sich im Alltag nur mit den grossen gesell­
schaftlichen Risikothemen. Andere Themen können im Vordergrund stehen,
die ebenso einen bedeutenden Einfluss auf das eigene Leben haben.
Wahrnehmen heisst zudem noch nicht handeln. Bei der politischen
­Debatte geht es nicht nur um das potenzielle Unfallrisiko, sondern auch um
den Energiepreis, die Lagerung radioaktiver Abfälle, den Aufwand rund um
die Etablierung alternativer Energieformen – kurz um den gesamten Ener­
giekontext mit der Abwägung von Chancen und Gefahren. Generell ­gesagt:
Neben der Wahrnehmung fliesst die Frage nach Alternativen, ­sozialer
­Erwünschtheit, Nutzenüberlegungen, aber auch Wertvorstellungen in den
politischen Entscheidungsprozess ein.
«
Gerade auf gesellschaftlicher Ebene geht es bei der Frage nach der Risiko­
akzeptanz immer auch um Vertrauen und den Dialog mit Interessengruppen
für einen Austausch der unterschiedlichen Bewertungen. In der Schweiz
ist das Vertrauen in die Behörden, Unternehmen und die Politik vergleichs­
weise hoch. Politische Entscheide werden generell eher akzeptiert. Das
heisst aber nicht, dass alle einer Meinung sind. Es setzt sich also ganz im
Sinne der Demokratie vor allem die Mehrheitsmeinung durch. »
erst einmal vorsichtig sind und dem Produkt zunächst
wenig vertrauen. Dieser Prozess wird stark beeinflusst
durch Expertenmeinungen, Wissenschaftler, durch die
Industrie und auch die Regierung.
Risiko versus Gewohnheit
Die Risiken der Atomenergie werden zwar wahrgenom­
men, doch die Gewohnheit macht der Handlung in
Richtung Atomausstieg einen Strich durch die Rechnung. Dieser Gewohnheitsfilter der Atomenergie ist
gefährlich. Denn Fakt ist, dass die Kosten der Atom­
energie – auch im «Normalbetrieb» – den Nutzen klar
überwiegen (siehe E&U Nr. 3/2015 ­«Kostenfalle AKW»).
Schlicht untragbar werden die Risiken mit Blick nach
Japan, wenn es zur Atomkatastrophe kommt! Intelligent wäre es auszusteigen. Die Alternativen dazu, sprich
die erneuerbaren ­Energien, stehen bereit. <
1 Bundesamt für Statistik, Omnibus-Erhebungen 2011 und 2015: Umweltqualität und
Umweltverhalten.
Energie & Umwelt 1/2016 17
DIE BEWERTUNG DER AKW-SICHERHEIT IST ERMESSENSSACHE
Wie sicher ist das AKW Beznau?
Die Sicherheit eines AKW ist keine eindeutig bestimmbare Grösse. Deshalb kann auch
niemand die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall genau bestimmen – auch das
ENSI nicht. Obwohl die gesetzlichen Bestimmungen vermeintlich erfüllt sind: Aufgrund
der Faktenlage ist das AKW Beznau alles andere als «sicher»!
Von ODA BECKER Physikerin und unabhängige Expertin im Bereich Sicherheit
und Risiken von Atomanlagen
In allen AKW sind schwere Unfälle mit weit­
reichen­den Folgen jederzeit möglich. Dies wird
von niemandem bestritten, jedoch wird meist
auf die geringe Wahrscheinlichkeit eines Unfalls
hingewiesen. Die beiden Reaktoren Beznau I+II
gehören zu den ältesten der Welt. Doch sie dürfen so
lange weiter in Betreib bleiben, wie sie bestimmte
­gesetzliche Voraussetzungen erfüllen und somit als
«sicher» gelten. Zuständig für die Bewertung einer angemessenen Sicherheit eines AKW ist das Eidgenössi­
sche Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Wie sicher
ein AKW einzustufen ist, erfolgt auch mittels kom­
plexer probabilistischer Sicherheitsanalysen (PSA), welche die Wahrscheinlichkeiten von Unfällen ermitteln
(siehe Textbox unten).
Vermeintliche Sicherheit durch Probabilistik
Das zahlenmässige Gesamtergebnis einer probabilis­
tischen Sicherheitsanalyse (PSA) für die Unfallwahrscheinlichkeit darf aber lediglich als grober Risikoindikator verstanden werden – und nicht als belastbare
Angabe für die tatsächliche Wahrscheinlichkeit von
Unfällen. Der Betreiber hat für das AKW Beznau für
den Leistungsbetrieb eine mittlere Kernschadenshäufig­
keit (CDF) von rund etwa 1*10-5 pro Jahr (9,35*10-6/a)
ermittelt. Dieser Wert erfüllt zwar die Empfehlungen
der IAEO, ist aber vergleichsweise hoch.
Probabilistische Sicherheitsanalysen (PSA)
Die Unfallhäufigkeiten bzw. Wahrscheinlichkeiten von Unfällen werden in so ge­
nannten probabilistischen Sicherheitsanalysen (PSA) ermittelt. Zentrale Elemente
einer PSA sind Ereignisablaufanalysen. Dazu werden für alle betrachteten Er­
eignisse, die einen Unfall auslösen können, Ereignisbäume erstellt. Diese sollen
jede mögliche Folgeentwicklung nach einem auslösenden Ereignis darstellen. Sie
bestehen aus zahlreichen, sich zunehmend verzweigenden, unterschiedlichen
Pfaden, die jeweils einem möglichen Ablauf entsprechen. In den Fehlerbaum­
analysen werden sämtliche (bekannten) Ausfallursachen erfasst und die Wahr­
scheinlichkeiten bewertet, die zu dem Ausfall führen können.
Mit grossen Unsicherheiten behaftet: Es bestehen aber grosse Unsicherheiten
bei den ermittelten Werten. Zudem gibt es eine Reihe von auslösenden Ereig­
nissen, die nicht quantifizierbar sind, wie zum Beispiel komplexes menschliches
Fehlverhalten, unerwartete alterungsbedingte Ausfälle oder Terrorangriffe. Aber
gerade derartige Ereignisse sind für das alte AKW Beznau relevant.
18 Energie & Umwelt 1/2016
Das AKW Beznau ist aufgrund der Faktenlage alles andere als sicher.
Der Nutzen der PSA besteht vor allem darin, vorhandene Schwachstellen in einer Anlage zu identifizieren
und daraus ein Verbesserungspotenzial abzuleiten.
Eine derartige Schwachstelle ist in Beznau der Schutz
vor Erdbeben. Laut PSA liegt der errechnete Beitrag
von Erdbeben an der Kernschadenshäufigkeit bei 83 %.
Trotz der vorhandenen Gefährdung durch Erdbeben,
die bereits 2004 durch das PEGASOS-Projekt deutlich
wurde, dauerten die Analysen der Betreiber (PRP) bis
Ende 2013 und die Prüfung durch das ENSI nochmals
bis Ende 2015. Auch heute ist noch nicht bekannt,
welche Nachrüstungen erforderlich sind und in welchem Zeitraum diese zu erfolgen haben.
Ein nächster «Fukushima-Unfall» schon bald?
PSA errechnen nur die theoretische Unfallwahrschein­
lichkeit. Wird diese jedoch anhand der bisherigen Erfahrungen ermittelt, ergeben sich ganz andere Werte.
Mit einem solchen Verfahren rechnen Wheatley und
Sornette (ETH Zürich) und Sovacool (Universität Aarhus). Ihr Fazit: Es gibt eine 50 %-Wahrscheinlichkeit,
dass erneut ein Unfall wie in Fukushima in den nächs­
ten 50 Jahren in einem der heute betriebenen Atomkraftwerke eintritt.
Nuclear Phaseout Congress, 21. März 2016
Wie gefährlich ist die Alterung?
Die Reaktoren des AKW Beznau sind mit einer Betriebs­
­zeit von 45 und 47 Jahren sehr alt. Mit der Alterung
der Werkstoffe sind verschiedenste sicherheitsrelevante Probleme verbunden, welche die ­Sicherheit gefährden. Einerseits ist bei Alterung zu erwarten, dass
die Anzahl von Störungen und Stör­
fällen zunimmt (kleine Leckagen, Risse,
Kurzschlüsse usw.). Andererseits gibt
es Effekte, die eine graduelle Schwächung von Werkstoffen bewirken und
folglich zu katastrophalem Versagen
von Komponenten mit schwerwiegen­
den radioaktiven Freisetzungen führen können. Der wichtigste dieser
­Effekte ist die Versprödung des
Reaktordruck­behälters, welche die Gefahr eines Bers­tens des Behälters birgt.
Diese Gefahr ist aufgrund der im AKW
Beznau aufgefundenen Schwachstellen
von beson­derer Bedeutung.
Foto: SES-Archiv
Problematisch ist, dass bisher nicht
alle bekannten Alterungseffekte aus­
reichend verstanden werden und immer wieder neue, unerwartete Alterungseffekte auftreten. Den gefährlichen Folgen der Alterung könnte
durch geeignete Massnahmen bis zu
einem gewissen Grade entgegengewirkt werden. Eine Überprüfung der internationalen
Atomenergiebehörde (IAEO) im Jahr 2012 im AKW
Mühleberg deckte allerdings erhebliche Schwachstellen im Alterungsmanagement und im Umgang mit
aufgetrete­nen Ereignissen auf. Das ENSI betonte dennoch, dass durch die umfangreichen Instandhaltungsund Überwachungsprogramme sichergestellt sei, dass
Alterungsschäden frühzeitig erkannt und behoben
werden können. Die Aufsichtsbehörde postulierte
­damit lediglich eine theoretische Anforderung als
­Beweis für eine vermeintlich vorhandene Sicherheit
– statt die Realität ausreichend zur Kenntnis zu nehmen
und bei Bedarf entsprechende Anforderungen zu
­stellen und deren Erfüllung zu kontrollieren.
Nachrüstungen beheben das ­Risiko nicht
Bisher war es Praxis der Betreiber, Nachrüstungen
über Jahre verteilt in den geplanten Stillstandzeiten
für Revision/Brennelementwechsel durchzuführen,
um wirtschaftliche Einbussen durch zusätzliche Stillstandzeiten zu vermeiden. Die erforderliche Nachrüs­
tung der Notstromversorgung (Projekt AUTANOVE)
dauerte bis Ende 2015, obwohl bereits im August 2007
durch ein Ereignis die gefährlichen Schwachstellen
der Notstromversorgung deutlich wurden.
Oda Becker ist deutsche Physikerin, arbeitet als unabhängige
­Expertin im Bereich Sicherheit und Risiken von Atomanlagen
und wird am Nuclear Phaseout Congress als Referentin
auftreten. Weitere namhafte Referenten sind ENSI-Direktor
Hans Wanner, der japanische Ex-Premierminister Naota Kan
und Jürgen Trittin, ehemaliger Deutscher Umweltminister.
Jetzt anmelden unter www.energiestiftung.ch/npc2016
Einen erheblichen Ermessungsspielraum hat das ENSI
nicht nur bei der Gewährung des Zeitraums für die
erforderlichen Nachrüstungen, sondern auch bei den
Anforderungen, welche AKW erfüllen müssen. AKW
müssen lediglich dem «Stand der Nachrüsttechnik»
genügen – ein Standard, der nur in der Schweiz angewendet wird. Weder in der Schweiz noch international
werden mit dieser Phrase präzise, konkrete Sicherheits­
anforderungen verknüpft. So sind die vom ENSI im
Einzelfall geforderten Nachrüstungen nicht zwangs­
läufig das Ergebnis eines systematischen Vergleichs
mit den heutigen Sicherheitsanforderungen, sondern
basieren zum Teil auf Überlegungen der technischen
und ökonomischen Machbarkeit. Vor allem aber lässt
sich im AKW Mühleberg und im AKW Beznau die
­Sicherheit nur dort verbessern, wo es die veraltete
Bauweise der Anlagen zulässt.
Die Schweiz schneidet schlecht ab
Die Western European Nuclear Regulators Association
(WENRA) hat im Jahr 2008 insgesamt 295 Referenz­
level (RL) für die Sicherheit von Atomkraftwerken
­definiert. Diese basieren auf Empfehlungen der IAEO
und «good practice» in den beteiligten Ländern. Im
Jahr 2015 haben die meisten Länder alle bzw. fast alle
RL umgesetzt. Die Schweiz muss noch 58 RL umsetzen
– und ist damit an drittletzter Stelle in Europa. Um
die Erfahrungen des Fukushima-Unfalls zu berücksichtigen, wurden die RL inzwischen überarbeitet. Die
neue Version enthält 342 RL.
Fazit: Das Risiko ist gross!
Das AKW Beznau ist aufgrund der Faktenlage also
­alles andere als «sicher». Die Wahrscheinlichkeit für
einen schweren Unfall kann niemand genau bestimmen, auch das ENSI nicht. Die Schweizer Politik setzt
aber ihr vollstes Vertrauen in das ENSI – obwohl dieses
bei der abschliessenden Beurteilung der Sicherheit von
AKW vor einer sehr schwierigen, bzw. unlösbaren Auf­
gabe steht. Für die Bewertung einer ausreichenden
Sicherheit ist insbesondere eine Betrachtung des möglichen Risikos von Bedeutung: Das Risiko einer Atom­
anlage ergibt sich aus dem Produkt von Unfallwahrscheinlichkeit und Schadensausmass. Da der mögliche
Schaden im Falle eines schweren Unfalls im AKW
­Beznau aufgrund des Standorts in einem so dicht
­besiedelten Gebiet katastrophal gross wäre, ist auch
das Risiko, das vom Betrieb des AKW Beznau ausgeht,
in der Tat gross.
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Energie & Umwelt 1/2016 19
SES AKTUELL
Präsidiumswechsel
Sabine von Stockar geht neue Wege
vs. 2016 feiert die SES ihr vierzigjähriges Bestehen. Seit
1976 setzt sich die Fachorganisation für eine nachhaltige
Energie­versorgung der Schweiz ein. Sechs StiftungsratspräsidentInnen haben die SES in dieser Zeit angeführt. Zu Beginn des Jubiläumsjahres ist es nun zur siebten Mandats­
übergabe gekommen.
Foto: © Noemi Tirro
Nach zwölf Jahren an der Spitze der SES tritt der Badener
Stadtammann und alt Nationalrat Geri Müller zurück.
Neu wird der Stiftungsrat vom Basler Nationalrat und
­Energiepolitiker Beat Jans präsidiert.
Geri Müller: Blick für globale Zusammenhänge
Mit dem Austritt aus dem
Nationalrat legt Geri Müller
auch sein Mandat als Präsident des SES-Stiftungsrats
nieder. Seit 2004 hat Müller
den Stiftungsrat mit seiner
Weitsicht geprägt und die
SES durch die energie­po­
litisch turbulenten Jahre
nach der Fukushima-Katas­
trophe geführt. Die SES profitierte auch von Geri Müllers
aussenpolitischer Erfahrung und von seinem grundlegenden
Verständnis für geopolitische Zusammenhänge. Wir danken für die langjährige und gute Zusammenarbeit und
wünschen Geri Müller alles Gute für die Zukunft.
Beat Jans: Erfahrung aus Politik und Praxis
Mit dem Basler SP-Nationalrat Beat Jans gewinnt die SES
einen kompetenten Energiepolitiker und Kenner der
Schweizer Stromwirtschaft.
Der
gelernte
Landwirt,
dip­lomierte Agrotechniker
TTL und Umweltnaturwissenschafter ETH ist als Mitglied der Energiekommission des Nationalrats gut vernetzt und nahe am politischen
Prozess. Durch sein Verwaltungsratsmandat bei den Industriellen Werken Basel IWB kennt der neue SES-Stiftungsratspräsident die Anliegen der Stromwirtschaft aus erster
Hand. Als ehe­maliger Projektleiter Umweltpolitik und Mitglied der Geschäftsleitung bei Pro Natura bringt Jans zudem wertvolle Erfahrungen aus der NGO-Welt mit.
Wir sind hocherfreut und überzeugt, unter der Führung
von Beat Jans bestens für die energiepolitischen Heraus­
forderungen der kommenden Jahre gerüstet zu sein: den
Atomausstieg der Schweiz und den Umbau der Energieversorgung im Rahmen der Energiestrategie 2050.
20 Energie & Umwelt 1/2016
vs. Zehn Jahre lang hat Sabine von Stockar als Projektleiterin
Atom&Strom die SES geprägt. Zahlreich waren Ihre Auftritte vor der Fernsehkamera, an Referaten und Fachveranstaltungen. Mit ihrer Fachkompetenz und ihrer eloquenten
Art hat sie so manchen Journalisten überzeugt und auch
manchen Podiums-Gegner übertrumpft. Vor allem aber ist
sie über die Jahre zu einer ausgewiesenen Fachfrau für
­Fragen rund um die Atomkraft avanciert, sowohl im wissen­
schaftlichen, im wirtschaftlichen wie auch im politischen
Bereich.
Nun wird Sabine von Stockar die Geschäftsstelle auf Ende
März verlassen und sich beruflich neu ausrichten. Wir danken Sabine von Stockar herzlich für die gute Zusammenarbeit und wünschen ihr alles Gute und viel Erfolg für die
Zukunft. Und natürlich hoffen wir, dass sich unsere Wege
auf die eine oder andere Art in Zukunft wieder kreuzen.
Myriam Planzer verstärkt die Geschäftsstelle
mp. Seit Mitte November beschäftigt die SES eine neue
Praktikantin. Myriam Planzer hat in Fribourg Soziale
Probleme und Sozialpolitik
studiert. Dabei hat sie sich
das theoretische Rüstzeug
geholt, um das Handeln von
sozialen Bewegungen besser
zu verstehen. Dieses Wissen
hat sie schon während des Studiums in die Praxis umgesetzt, u.a. bei der Arbeit in verschiedenen NGOs. Sie mischt
seit ihrer Jugend gerne im Hintergrund der Politik mit, war
im Vorstand des Urner Jugendrats tätig und hat sich im Urner Komitee gegen die 2. Röhre engagiert.
Die 28-Jährige spielt in ihrer Freizeit gern Theater und
schreibt Hörspiele. Myriam Planzer unterstützt die SES nun
für ein Jahr. Ihr Themenschwerpunkt ist der Bereich
Atom & Strom. Zudem ist sie für das Organisa­torische rund
um den NPC 2016 verantwortlich.
SES AKTUELL
JUBILÄUMS-JAHRESVERSAMMLUNG 2016
40
Jahre Schweizerische
Energie-Stiftung
Samstag, 18. Juni 2016, 16.15 – 21:00 Uhr,
­Kaufleuten Zürich, Festsaal
Die SES ist 1976 als Stiftung gegründet worden und engagiert sich
seither für eine intelligente, umwelt- und menschengerechte Energie­
politik. 40 Jahre sind seither vergangen. Diesen runden Geburtstag
möchten wir mit Ihnen feiern.
Melden Sie sich jetzt schon an: www.energiestiftung.ch/40
Festrede: alt Bundesrat Moritz Leuenberger
Programm-Block 1
16.15 Uhr: offizielle SES-Jahresversammlung mit Übergabe des
Präsidiums von Geri Müller an Beat Jans
Programm-Block 2
18.15 Uhr: Festrede mit Moritz Leuenberger, anschl. Essen (Buffet)
21.00 Uhr: Ende der Veranstaltung
Zum Tod von Joan S. Davis
rp. Am 10. Januar
2016 ist Joan S. Davis
im Alter von 78
­Jahren unerwartet
verstorben. Vor 40
Jahren hat sie die
SES mitgegründet, zu­
sam­men mit Ursula
Koch, Pierre André
Fornallaz, Theo Ginsburg und weiteren
Persönlichkeiten.
Davis war viele Jahre Mitglied des Stiftungsrats und des
­Beirats. Seit der Gründung der SES hat sie sich für eine
­andere Energiepolitik engagiert, fast jede SES-Veranstaltung besucht und verschiedene Artikel für SES-Publikationen verfasst. 1984 schrieb sie zum Beispiel einen BuchText über «Energieverbrauch und ökologische Auswirkungen der Nahrungsmittelversorgung» oder 2005 das
Editorial im Magazin ENERGIE & UMWELT unter dem Titel
«Gehirnzellen statt Brennstoffzellen».
Joan S. Davis war eine treue, aufmerksame und wohlgesinnte Wegbegleiterin. Wir trauern um eine von vielen
«Müttern» der SES. Sowohl die SES wie auch all ihre weiteren «Kinder» werden in Zukunft in ihrem Sinne tätig sein.
Das würde sie freuen.
IMPRESSUM
ENERGIE & UMWELT Nr. 1, März 2016
Herausgeberin:
Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67, 8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21,
Fax 044 275 21 20, info @ energiestiftung.ch, www.energiestiftung.ch
Spenden-Konto: 80-3230-3
Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum, Telefon 041 870 79 79, info @ scriptum.ch
Redaktionsrat: Jürg Buri (jb), Rafael Brand (rb), Florian Brunner (fb),
Felix Nipkow (fn), Valentin Schmidt (vs), Sabine von Stockar (svs), Myriam Planzer (mp)
Re-Design: fischerdesign, Würenlingen
Korrektorat: Vreni Gassmann, Altdorf
Druck: ropress, Zürich,
Auflage: 11’800, erscheint 4 x jährlich
Abdruck mit Einholung einer Genehmigung und unter Quellenangabe und Zusendung eines
Beleg­exemplares an die Redaktion erwünscht.
Abonnement (4 Nummern):
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Inland-Abo
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Gönner-Ab
SES-Mitgliedschaft (inkl. E & U-Abonnement)
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Nichtverdienende
E&U-Artikel von externen AutorInnen können und dürfen von der SES-Meinung abweichen.
Das E&U wird auf FSC-Papier, klimaneutral und mit erneuerbarer Energie gedruckt.
Energie & Umwelt 1/2016 21
DIE PHOTOVOLTAIK-BREMSE
Wer wie und warum die Eigenproduktion von Solarstrom verhindert
Solarstrom hat Zukunft, er ist günstig und verursacht kaum Konflikte. Aber der Ausbau
wird gebremst, allen voran ist die Stromwirtschaft die grosse PV-Bremse. Aus Angst vor der Konkurrenz werden Privatpersonen, die selber Strom produzieren wollen, Steine
in den Weg gelegt. Die Energiestrategie 2050 löst die Probleme nicht, es braucht weitere
Gesetzesanpassungen.
gerade dann am stärksten, wenn die Nachfrage am
grössten ist, nämlich am Mittag.
Von FELIX NIPKOW
SES-Projektleiter Strom & Erneuerbare
Ökonom und alt Nationalrat Ruedi Rechsteiner kehrt
den Spiess um: «Die wirklich grossen Unsolidaritäten
liegen ganz woanders als bei der Photovoltaik. Die
Stromkonzerne bezahlen für die Belieferung der
Pumpspeicherwerke und für Stromtransite praktisch
keine Netzgebühren. Und den Atomkraftwerken werden jährlich 200 Millionen Franken Vorhaltekosten1
geschenkt. Was der VSE plant, ist die systematische
Verhinderung von neuen Solarstromanlagen durch
eine Gebührenstruktur, die Solarstrom unwirtschaftlich macht.»
Es sind nicht nur die volkswirtschaftlichen Vorteile, die Photovoltaik so überlegen machen. Sie
ist in einem so dicht besiedelten Land wie der
Schweiz geradezu prädestiniert, eine tragende
Rolle im Stromversorgungssystem zu übernehmen. Im Gegensatz zu Wasser- und Windkraftwerken
gibt es kaum Konflikte mit Umwelt-, Vogel- oder Landschaftsschutz. Allerdings werden vielen SolarstromproduzentInnnen von den Elektrizitätswerken administrative, technische und finanzielle Hürden in den
Weg gelegt.
Viel zu tiefe Rückspeisetarife
Falsche Argumente gegen PV
Energieversorgungsunternehmen (EVU) kennen noch
weitere Mittel, um EigenproduzentInnen Steine in
den Weg zu legen. Wer auf seinem Hausdach Strom
produziert, verbraucht einen Teil selber und speist
den Rest ins Netz ein. Viele EVU bezahlen für den in
ihr Netz eingespiesenen Strom aber viel zu tiefe Preise.
Das Bundesamt für Energie (BFE) hat in einer Richt­
linie festgehalten, dass sich der Rückspeisetarif am
Bezugstarif für Haushalte orientieren soll (abzüglich
8 % Verwaltungskosten). Diese Richtlinie wird aber
nicht konsequent durchgesetzt.
Vielleicht fürchtet die Stromwirtschaft die neue Konkurrenz? Jedenfalls fährt der Verband Schweizeri­
scher Elektrizitätsunternehmen (VSE) eine regelrechte
Verunglimpfungskampagne gegen Strom aus Sonne.
Der Begriff der «Entsolidarisierung» wird ins Feld geführt. Gemeint ist, dass Betreiber von Solaranlagen,
die ohne kostendeckende Einspeisevergütung (KEV)
Solarstrom produzieren, einen Teil ihres Bedarfs mit
dem selber produzierten Strom decken. Dadurch bezahlen sie weniger Netzentgelt, tragen also weniger
zur Finanzierung der Netzinfrastruktur bei.
Ein solcher Zähler (Symbolbild) kostet
je nach Energieversorger zwischen
300 und 1440 Franken Miete pro Jahr.
Er kann überall dasselbe: Messen, wie
viel Strom fliesst.
22 Energie & Umwelt 1/2016
Foto: photovoltaik.eu / Heiko Schwarzburger
Was dabei vergessen geht: Eigenproduzenten von Solarstrom helfen mit, die Belastungen im Netz zu reduzieren, weil der Strom da verbraucht wird, wo er entsteht. Das senkt die Kosten. Die Sonne scheint zudem
Der Verband unabhängiger Energieerzeuger (VESE) hat
die Rückspeisetarife schweizweit untersucht und publi­
ziert diese neu auf www.pvtarif.ch. Es herrscht Wildwuchs: Die Jahrestarife für 2016 liegen effektiv
­zwischen 3,9 Rappen pro Kilowattstunde (Rp./kWh)
bei den EW des Kantons Schaffhausen, des Kantons
Nidwalden, Davos sowie Altdorf und 23 Rp./kWh
(IW Basel) bzw. 30 Rp./kWh (EW Windisch, 2015).
VESE-Projektleiter Diego Fischer kritisiert denn auch:
«Der heutige Artikel 7 des Energiegesetzes ist ungenügend. Da der Bundesrat die Einzelheiten nicht geregelt
hat, obwohl es sein gesetzlicher Auftrag ist, sind heute
beliebig tiefe Rückspeisetarife möglich. Falls der
­Gesetzgeber die Energiewende ernst nimmt, muss er
1 Kraftwerkreserve für den Fall, dass ein AKW ausfällt.
Foto: cdm.unfccc.int
dringend für eine klare und faire gesetzliche Re­gu­
lierung der Rückspeisetarife sorgen.» Denn ob ein
­Anlagenbesitzer pro Kilowattstunde 4 oder 20 Rappen
erhält, ist matchentscheidend für die Rentabilität ­einer
Anlage. Der Solarenergie-Branchenverband Swissolar
hat bei der Aufsichtsbehörde Elcom Klage erhoben gegen diese Praxis. David Stickelberger, Geschäfts­leiter
bei Swissolar: «Unsere Klage ist immer noch hängig.
Wir hoffen, dass der Willkür bei der Inter­pre­tation der
BFE-Richtlinie bald ein Ende gesetzt wird.»
Wer selber Strom produziert, braucht ab 30 Kilowatt
Leistung der Anlage einen separaten Stromzähler für
die Abrechnung mit dem EVU. Das Messwesen ist
nicht liberalisiert und so können die EVU die Zählerkosten nach Gutdünken festlegen. Teilweise werden
extrem hohe Zählermieten und Ablesegebühren
­verrechnet. Die BKW verlangt jährlich 888 Franken,
Licht und Wasser Adelboden sogar 1440 Franken, das
ist fast die Hälfte des Verkaufswerts (10 Rp./kWh) des
Stroms einer 30-Kilowatt-Anlage.
Doch es geht auch anders, die EKZ (Kanton Zürich),
ewb (Stadt Bern) und die IBB (Brugg) zum Beispiel
­begnügen sich mit 300 Franken. Gemäss einer Aktennotiz der Elcom von 2011 sind Kosten bis 600 Franken
«nicht auffällig». Diego Fischer findet das jedoch zu
hoch: «Inzwischen ist die Technik viel billiger ge­
worden.» Der Verband unabhängiger Energieerzeuger
­fordert die sofortige Liberalisierung des Messwesens.
«Sobald das Monopol weg ist, fällt der Preis um ein
Vielfaches», ist Fischer überzeugt.
Die KEV ist klamm
Die Stromwirtschaft bremst also, Anlagen ohne Förderung durch die KEV haben es schwer. Das für die
KEV zuständige Bundesamt für Energie (BFE) scheint
auch nicht ernsthaft motiviert, den Ausbau voranzubringen. Im Energiegesetz (Art. 28d, Abs. 3) steht: «Die
periodischen Zubaumengen für die Photovoltaik sind
für die Jahre 2014 bis 2016 so festzulegen, dass sie
kontinuierlich erhöht werden können.» Doch dies
wird nicht eingehalten. Fakt ist, dass das BFE die Kontingente für die KEV laufend senkt: 2014 wurden 165
Megawatt (MW) freigegeben, 2015 100 MW und für
2016 sind noch 50 MW vorgesehen. Hinzu kommen
zwar die Einmalvergütungen (EIV), hier sind die
Freiga­ben aber ebenfalls rückläufig (2015: 90 MW,
2016: 50 MW).
Nicole Lörtscher, Fachspezialistin für Erneuerbare
­E nergien beim BFE erklärt: «Die KEV befindet sich
in einem Liquiditätsengpass. Einerseits sind die Einnahmen zurückgegangen, weil der Stromverbrauch
­gesunken ist und damit weniger Netzabgaben bezahlt
Foto: Felix Nipkow
Zählermieten nach Gutdünken
Auf diesem Dach könnte eine Photovoltaik-Anlage Strom für 100 Haushalte produzieren:
Die Anlage ist möglicherweise ein Opfer der Photovoltaik-Bremse.
wurden. Andererseits sind die Ausgaben gestiegen,
weil der Marktpreis tief war und mehr baureife An­
lagen gefördert wurden.» Die KEV vergütet die Dif­
ferenz zwischen dem Marktpreis und einem fixen
­Vergütungssatz.
Anders gesagt hat das BFE 2015 und 2016 seinen
­Ermessensspielraum so genutzt, dass zu viel Geld der
KEV für Biomasse-, Wind- und Wasserkraftwerke aus­
gegeben wurde. Danach blieb zu wenig für die ge­
setzlich vorgeschriebenen Freigaben der Photovoltaik.
So oder so steht offenbar zu wenig Geld zur Verfügung.
Geringerer Stromverbrauch könnte mit einer höheren
Abgabe kompensiert werden: Endverbraucher bezahlen pro Kilowattstunde eine Netzabgabe für die KEV.
Gesetzlich wäre ein Maximalsatz von 1,5 Rp./kWh mög­
lich, effektiv wurden 2015 nur 1,1 Rp./kWh erhoben,
seit Anfang 2016 sind es 1,3 Rp./kWh. Warum hat der
Bund die Netzabgabe nicht rascher erhöht? Der Bundes­
rat habe damit die energieintensive Wirtschaft schonen wollen, erklärt Nicole Lörtscher.
Halbherziger Einstieg
Unterdessen diskutiert das Parlament über die Energiestrategie 2050. Die Vorlage bringt nach dem heuti­
gen Stand der Beratungen einen halbherzigen Einstieg in die erneuerbaren Energien: Die Förderung ist
auf fünf Jahre begrenzt, und ein Teil der Gelder soll
für bestehende Wasserkraftwerke abgezweigt werden
(dafür ist die ungeliebte KEV auch der Stromwirtschaft
recht). Die oben erwähnten Probleme werden da­mit
nicht gelöst. Doch für den Atomausstieg braucht es
einen konsequenten Ausbau der Solar­energie – und
damit verbunden entsprechende Gesetzes­anpassungen,
um die Handbremse beim Ausbau erneuerbarer Energien endlich zu lösen.
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Energie & Umwelt 1/2016 23
«Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass ein Desaster
wie in Tschernobyl in Japan passieren könnte, da unsere
Technologie sehr fortgeschritten ist. Nach Fukushima musste
ich feststellen, dass meine Meinung falsch war.»
Bitte melden Sie uns Ihre neue Adresse. Danke!
AZB
P.P. / JOURNAL
CH-8005 ZÜRICH
Naoto Kan, japanischer Premierminister während Fukushima,
im Tages-Anzeiger vom 4. Februar 2016.