Energie & Umwelt Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 1/2016 Oyasuminasai Beznau! > Fukushima: Aushalten, was nicht auszuhalten ist > Die japanische Regierung hat aus Fukushima nichts gelernt w N uc 16 le Je ar t z w w Ph t a .e ne as nm rg e o el ie st ut de if tu ng Co n: .c h/ ng np re c2 0 s s > Wie sicher ist das AKW Beznau? INHALTSVERZEICHNIS > Oyasuminasai Beznau! > > 4 Aushalten, was nicht auszuhalten ist 5 Jahre danach: Tausende von Quadratkilometern wurden durch den Nuklearunfall in Fukushima Daiichi verstrahlt. Eine Reportage von Susan Boos (Text) und Fabian Biasio (Fotos). 10 Japans Regierung hat aus Fukushima nichts gelernt Japan hat bewiesen, dass es ohne Atomstrom geht. Doch die japanische Regierung hält gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit an der Kernenergie fest. 12 ENERGIE AKTUELL 14 Fukushima in Beznau? Ein Tsunami in der Schweiz? Ein Hochwasser könnte durchaus die Beznau-Insel überfluten und beim AKW Beznau zu einer heiklen Gefahrensituation führen. 16 Wie wir das Restrisiko der Atomenergie verdrängen > Die Schweizer Bevölkerung erachtet Atomkraftwerke nach wie vor als grösste Gefahr für Mensch und Umwelt. Doch Risiken werden oft einfach verdrängt. weitere Themen > 18 Wie sicher ist das AKW Beznau? Obwohl die gesetzlichen Bestimmungen vermeintlich erfüllt sind: Aufgrund der Faktenlage ist das AKW Beznau alles andere als «sicher». 20 SES AKTUELL 22 Die Photovoltaik-Bremse Wer wie und warum die Eigenproduktion von Solarstrom verhindert. Die Energiestrategie 2050 löst die Probleme nicht, es braucht weitere Gesetzesanpassungen. Schweizerische Energie-Stiftung SES | Telefon 044 275 21 21 | [email protected] | www.energiestiftung.ch Spenden-Konto 80-3230-3 | IBAN CH69 0900 0000 8000 3230 3 2 Energie & Umwelt 1/2016 EDITORIAL Oyasuminasai – Zeit des Abschieds Von SABINE VON STOCKAR SES-Projektleiterin Atom & Strom Liebe Leserinnen und Leser «Oyasuminasai» heisst gute Nacht auf Japanisch und steht für eine Form des Abschieds. Abschied ist das zent rale Thema in diesem Heft. Fünf Jahre nach den tragischen Ereignissen von Fukushima ist es an der Zeit, dass die Schweiz endlich ihren Abschied von der Atomenergie besiegelt. Das Bundesparlament tut sich in dieser Hinsicht leider schwer. Zwar ist das Verbot, neue AKW zu bauen, unbestritten, wann aber die alten Reaktoren vom Netz gehen sollen, bleibt offen. Damit befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass die Schweiz nach Fukushima nicht mit weniger, sondern mit mehr atomaren Risiken leben muss. Die Schweiz betreibt mit Beznau I das älteste AKW der Welt. Es steht zurzeit wegen Anomalien im Reaktordruckbehälter, dem Herzstück der Anlage, still. Mitte Jahr soll der Entscheid fallen, ob wir dem ältesten Reaktor der Welt endlich und endgültig gute Nacht wünschen können. Weshalb dies dringend nötig ist, erklärt die Physikerin Oda Becker in ihrem Artikel. Weitere Beiträge beleuchten die Risiken in Beznau oder die psychologische Verdrängung des Restrisikos. Zudem waren Susanne Boos und Fabio Biasio für uns in Japan und zeigen in ihrer Reportage, dass das Land der aufgehenden Sonne sich von den Folgen von Fuku shima noch lange nicht verabschieden kann. Die Auf- räumarbeiten sind endlos. Japan-Korrespondent Chris toph Neidhart wirft einen Blick hinter die Wirtschaftskulisse und erklärt, weshalb Japan 3 der 48 un beschädigten Reaktoren gegen den Willen der Bevölkerung wieder ans Netz genommen hat. Gerne Abschied von der Atomenergie würde der ehemalige Premierminister von Japan, Naoto Kan, nehmen. Am internationalen Kongress «NPC 2016 – Nuclear Phaseout Congress» der SES im März 2016 wird uns Kan hautnah seine Erlebnisse als oberster Staatsmann während einer nuklearen Katastrophe schildern. Auf www.energiestiftung.ch können Sie sich jetzt für den Kongress anmelden. Abschied nehme nun auch ich. Nach zehn Jahren als SESAnti-Atomfrau ist es für mich an der Zeit, neue berufliche Wege einzuschlagen. Meine Nachfolge steht schon in den Startlöchern. Die SES werde ich vermissen. Es waren für mich persönlich zehn Glanzjahre. Der Abschied von der Atomenergie bleibt mir ein Herzens anliegen und zu meinem Abschied halten Sie ein Heft zu meinem Kernthema in Ihren Händen. Das schönste Abschiedsgeschenk wäre allerdings, wenn noch dieses Jahr zumindest Beznau I nicht wieder ans Netz gehen würde. Oyasuminasai – vielen Dank. < Energie & Umwelt 1/2016 3 FÜNF JAHRE NACH FUKUSHIMA Aushalten, was nicht auszuhalten ist Tausende von Quadratkilometern wurden durch den Nuklearunfall in Fukushima Daiichi verstrahlt. Man hat versucht, alles zu putzen. Das hat aber nur mässig geholfen. Trotzdem sollen jetzt die Evakuierten zurück. Von SUSAN BOOS (Text) und FABIAN BIASIO (Fotos) 2000 bewohnte Quadratkilometer verbleiben, die zu putzen sind. Das ist ein Gebiet grösser als der Kanton Zürich. Am 11. März 2011 bebte an der Küste die Erde, wenig später rollte ein gigantischer Tsunami übers Land und riss 18'000 Menschen in den Tod. Ohne Blindenhund ist man hier verloren. Mein Blinden hund ist ein kleines, gelbes Gerät mit dem Namen «Gamma-Scout». Es misst die radioaktive Strahlung in Mikrosievert pro Stunde (μSv/h). Im Hotel «Ocean View» steht in der Lobby ein Strahlen messgerät mit einem kleinen Monitor, der 0,08 μSv/h anzeigt. Der «Gamma-Scout» gibt etwa denselben Wert an. Oben im Zimmer sind es 0,143 – so viel misst man auch in Luzern. Alles in Ordnung. Draussen grollt der Ozean, hohe Wellen zerstieben an der steilen Küste. Das «Ocean View» ist ein prächtiges Onsen, ein japanisches Thermalbad. Still und gediegen. Wäre da nicht Fukushima Daiichi. Das Atomkraftwerk liegt 17 Kilometer nördlich vom «Ocean View». Am 11. März 2011 bebte hier an der Küste die Erde, wenig später rollte ein gigantischer Tsunami übers Land und riss 18'000 Menschen in den Tod. Das «Ocean View» überstand den Tsunami heil, weil es auf einem Hügel steht. Das AKW Fukushima Daiichi geriet jedoch ausser Kontrolle, drei Reaktoren schmolzen durch. Es entwichen mehrere radioaktive Wolken, die rundherum grosse Gebiete verseuchten. 6 Energie & Umwelt 1/2016 Das Hotel liegt in der Gemeinde Naraha. Im März 2011 wurde sie wegen der Strahlung evakuiert – so wie alle anderen Dörfer, die im Umkreis von zwanzig Kilome tern um das AKW liegen. Im letzten September wurde Naraha wieder freigegeben. Die Leute, die nun über vier Jahre in Containersiedlungen gelebt haben, könnten in ihre Häuser zurückkehren, sagt die Regierung. Die grosse Duldsamkeit In Naraha befindet sich auch das berühmte J-Village. Das Stadion diente einst der japanischen Fussball nationalmannschaft als Trainingscamp. In den ersten Tagen der Nuklearkatastrophe bezogen Daiichi-Arbeiter im J-Village Quartier. Hier schliefen und assen sie. Hier zogen sie die Schutzkleidungen über, bevor sie zum AKW fuhren, um zu retten, was noch zu retten war. Die Schutzkleidung half nicht wirklich gegen die Strahlung, das wussten sie. Shoganai, sagen die JapanerInnen dazu – «das lässt sich nicht ändern», «das muss man erdulden». Sie sagen oft Shoganai, auch im normalen Leben. Doch seit sich der unsichtbare radioaktive Schleier über das Land gelegt hat, ist hier alles Shoganai. Noch immer fahren jeden Tag 7000 Arbeiter von Naraha ins AKW Daiichi und versuchen, die Katastrophe in den drei Reaktorruinen einzudämmen. Einiges haben sie geschafft. Shoganai, sagen die JapanerInnen dazu – «das lässt sich nicht ändern», «das muss man erdulden». Dem Energieunternehmen Tepco gehören die drei durchgeschmolzenen Reaktoren. Wie es im Innersten der Ruinen wirklich aussieht, weiss Tepco nicht, weil die Strahlung dort tödlich hoch ist. Bei Block eins hätten sie festgestellt, dass der gesamte radioaktive Brennstoff geschmolzen und aus dem Reaktor gelaufen sei, hat der Tepco-Pressesprecher in Tokio gesagt. Über die Verhältnisse in Block zwei und drei wüssten sie nichts. Er sagt, in vierzig Jahren hätten sie alles aufgeräumt, dann könnten sich die Menschen dort wieder normal bewegen. Das klingt vermessen, aber er glaubt daran. Berge von strahlendem Müll Die Route 6 ist die Strasse ins Inferno. Wer ins AKW Daiichi will, fährt über die Route 6. Lange war die Strasse wegen der hohen Strahlenbelastung zwischen Naraha und Minamisoma gesperrt. Seit letztem Herbst ist sie wieder offen. Alle können durch die Sperrzone fahren, es gibt keine Checkpoints, keine Kontrollen. Man wähnt sich auf einer normalen Strasse. Doch der «Gamma-Scout» vermeldet, dass die Strahlung steigt. Auf einem grossen, leeren Parkplatz vor einem verlassenen McDonald's und einem abgesperrten Einkaufszentrum arbeiten Männer mit Papiermasken. Mitten auf dem Platz stehen einige schwarze Säcke: Das Symbol der Katastrophe von Fukushima – die Fleconbags. Die schwarzen, überdimensionierten Plastiktüten stehen überall in den kontaminierten Gebieten. Manchmal aufgereiht am Strassenrand, manchmal achtlos abgeladen, doch meist ordentlichen aufeinandergestapelt in langen Reihen auf Feldern deponiert. Ein Sack fasst einen Kubikmeter verstrahlten Dreck. Schon im Herbst 2011 hat man in den verseuchten Gebieten mit dem grossen Saubermachen begonnen. Damals entschied die Regierung: Jeder Fleck, der mehr als 0,23 Mikrosievert pro Stunde strahlt, muss dekontaminiert werden. Nach dieser Definition hat es die Hälfte der Präfektur Fukushima erwischt – das sind 7000 verseuchte Quadratkilometer, was etwa dem Kanton Graubünden entspricht. Die Präfektur besteht zu siebzig Prozent aus dünn besiedeltem, hügligem Waldgebiet. Dieses Gebiet kann nicht dekontaminiert werden. Dann bleiben noch 2000 bewohnte Quadratkilometer, die zu putzen sind. Das ist ein Gebiet grösser als der Kanton Zürich. Und das hat man in den letzten drei Jahren getan. Tausende von Männern putzten jedes kontaminierte Haus, wuschen jedes verstrahlte Dach und trugen die Erde jedes verseuchten Gartens ab. Die Strassen wurden gewischt, die Strassengräben gereinigt und die oberste Erdschicht der Reisfelder abgebaggert. Was an Dreck zusammen kam, wurde in unzählige Fleconbags gepackt. Fleconbag steht für Flexible-Container-Bags, flexible Containersäcke. Energie & Umwelt 1/2016 7 Das Gerippe eines einst modernen Gebäudes: Der Scout piepst und piepst, bis er bei 74 μSv/h verharrt. Kein Ort zum Bleiben. Eine unheimliche Fatalität liegt über dem Sperrgebiet, das eigentlich keines ist. Shoganai. Die Dimension ist unfassbar. Vermutlich schafft das nur ein Land, das im Shoganai-Modus steht. Man hält aus, was nicht auszuhalten ist. Es müssen sich um die zehn Millionen der riesigen Plastiktüten angesammelt haben. Überall tauchen pitoreske Fleconbag-Landschaften auf. Die stark strahlenden Bags sollen einmal ins Zwischen lager kommen, das rund um Fukushima Daiichi er richtet wird. Einen Teil der nicht so stark belasteten Erde möchte die Regierung im Strassenbau einsetzen. Der Rest der Bags wird vermutlich die nächsten Jahrzehnte liegen bleiben, wo sie sind. Fahrt durch die Sperrzone Zurück auf der Route 6. Irgendwo blinkt am Strassenrand ein Schild mit roten und gelben Schriftzeichen. Sie besagen: «Hier beginnt die Sperrzone.» Es ist verboten, die Strasse zu verlassen. Die Häuser sind leer, kalt, kaputt. Gestrüpp hat die Gärten überwuchert. Die Strassen, die früher in die Dörfer führten, sind mit Gittern abgesperrt. In den Zufahrten zu den Parkplätzen der Einkaufszentren stehen Absperrgitter. Der «Gamma-Scout» meldet im Auto 0,42 μSv/h, auf der Strasse geht er hoch. Der Verkehr rauscht vorbei, 8 Energie & Umwelt 1/2016 als sei die Route 6 die gewöhnlichste Strasse der Welt. Dazwischen tauchen immer wieder die weissen Busse mit den Daiichi-Leuten auf, die von der Arbeit kommen oder zur Arbeit fahren. Ein Stück weiter steht das Gerippe eines einst modernen Gebäudes. Das Erdbeben hat es aufgebrochen, ein Teil der vorderen Hauswand ist weg, im zweiten Stock sieht man Spielautomaten stehen. Vor fünf Jahren war das noch die Spielhalle von Futaba. Rechts neben dem Gebäude beginnt der «GammaScout» zu piepsen – ab 5 μSv/h warnt er. Über einer ausgetrockneten Pfütze klettert der Wert höher und höher. Der Scout piepst und piepst, bis er bei 74 μSv/h verharrt. Kein Ort zum Bleiben. Auf der anderen Strassenseite parken vor einer Mall zwei Autos. Im einen hängt ein Stofftierchen am Rückspiegel, auf dem Beifahrersitz liegen eine Zeitung und eine leere Dose. Es wirkt, als sei der Besitzer nur kurz einkaufen gegangen. Doch alle Räder sind platt, das Autos steht seit bald fünf Jahr hier. Neben der Mall beginnt der Wald. Am Waldrand beginnt der «Gamma-Scout» erneut zu piepsen. Die Wälder strahlen immer stärker als offenes Gelände. Das war schon in Tschernobyl so, weil sich im Wald die strahlenden Partikel auf den obersten Zentimetern anreichern, nicht abgewaschen werden und auch nicht in die Erde sinken. Spatenstich für eine neue Siedlung: Der Kindergarten ist schon gebaut. Am Bach schnellt das Messgerät auf 0,6 μSv/h. Da sollten keine Kinder spielen. Ein Polizeiauto rast mit Blaulicht heran. Eine Schrecksekunde lang verharren wir. Aber es fährt vorbei. Irgendwo im Norden der Route 6 ist ein Unfall passiert. Niemand kommt und fragt, was wir da tun. Keiner kontrolliert, wenn wir hinter den Absperrungen herumstreunen. Eine unheimliche Fatalität liegt über diesem Sperrgebiet, das eigentlich keines ist. Shoganai. Das erzwungene Ende Die Regierung hat festgelegt, dass Gebiete, die mit mehr als 4,6 μSv/h strahlen, nicht besiedelt werden dürfen. Die Zeit arbeitet für die Regierung. Denn beim Unfall sind Cäsium-134 und Cäsium-137 ausgetreten. Das eine zerfällt relativ schnell, das andere hat hin gegen eine Halbwertszeit von dreissig Jahren. Deshalb ist die Strahlung in den ersten Jahren nach dem Unfall merklich zurückgegangen. Die Regierung hat das ursprüngliche Sperrgebiet inzwischen stark reduziert, heute ist es noch etwa einen Drittel so gross wie 2011. Im März 2017 sollen die Dekontaminierungsarbeiten abgeschlossen sein, sagt Syunji Miura von der Ver waltung der Präfektur Fukushima. Dann könnten alle Evakuierten – ausser die aus der Restsperrzone – in ihre Häuser zurückkehren. Und das, obwohl der enorme Dekontaminierungseffort die Strahlung im Durchschnitt nur um die Hälfte reduzieren konnte. Wer nicht zurück geht, muss selber schauen, wie er künftig über die Runden kommt. Das «Zurückkehren-Können» ist allerdings mehr ein Müssen. Die Notsiedlungen werden geschlossen, die Kompensationszahlungen beendet. Wer nicht zurück geht, muss selber schauen, wie er künftig über die Runden kommt. Viele Alte werden zurückkehren, darin sind sich alle einig. Aber die Jungen, die Kinder haben, werden es nicht tun, wenn sie nicht müssen. Der Himmel über Naraha strahlt blau an diesem Morgen, ein kalter Wind bläst vom Meer. Auf einem Feld nicht weit von der Route 6 ist ein kleines Podium errichtet. Männer in schwarzen Anzügen schauen vom Podium aus zu, wie zwei Laster und eine Lade raupe eine kleine Choreografie aufführen – zu Ehren des ersten Spatenstichs für eine Siedlung, die hier entstehen wird: hübsche Häuschen, ein künstlicher See, eine neue Mall. Der Kindergarten ist schon gebaut. Auf dem Spielplatz steht auf einem Betonsockel ein Messgerät, das 0,06 μSv/h anzeigt. Der «Gamma-Scout» vermeldet 0,24. Beim Bach schnellt der Scout auf 0,6 hoch. Da sollten keine Kinder spielen. Seit September sind weniger als zwanzig Prozent der Evakuierten in ihre Häuser nach Naraha zurückgekehrt. Naraha wird so schnell nicht auferstehen. < Energie & Umwelt 1/2016 9 JAPANS ENERGIEPOLITIK NACH FUKUSHIMA Die japanische Regierung hat aus Fukushima nichts gelernt Japan hat bewiesen, dass es auch ohne Atomstrom geht. Nach dem GAU von Fukushima war zeitweise kein einziges AKW am Netz, zuletzt während fast zwei Jahren. Doch die japanische Regierung hält gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit an der Kernenergie fest: Dabei geht es nicht um Versorgungssicherheit und Klimaschutz, sondern vor allem um politische, militärische und kommerzielle Vorteile und Überlegungen. so wenig Strom wie seit 17 Jahren nie. Vor allem die Industrie, für etwa die Hälfte des Verbrauchs verantwortlich, reduziert ihren Bedarf stetig. Von CHRISTOPH NEIDHART Tokio-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und des Tages-Anzeigers Kohle statt Klimaschutz Es geht kaum um die Versorgungssicherheit, wenn Japan trotz Fukushima weiterhin auf die Kern energie setzt, und noch weniger um den Klima schutz. Die zwei Argumente, mit denen die Regierung von Premier Shinzo Abe ihre Energiepolitik rechtfertigt, spielen für ihre Entschlossenheit, möglichst viele der 48 intakten Kernkraftwerke gegen den Willen einer Mehrheit der Japaner wieder anzufahren, eine sekundäre Rolle. Drei Reaktoren hängen bereits am Netz. Sendai I und II auf der Insel Kyushu und seit Ende Januar Takahama 3: letzterer mit MOX, dem Brennstoff-Gemisch aus Uran und Plutonium. Wie wenig es ihm ums Klima geht, hat Abe mit der Revision von Japans Klimazielen gezeigt: Bis 2030 will Nippon seinen CO2-Ausstoss um 26 % verringern. Das ist weniger als Tokio im Kyoto-Protokoll 1997 zusagte. Wenn alle Staaten so wenig zum Klimaschutz beitrügen, würde sich die Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um 3 bis 4 Grad Celsius erwärmen. Das wäre eine Katas trophe. Japan, einst ein Klima-Pionier, ist zu einem Nachzügler geworden. Zumal die Regierung mit reduzierten Zöllen die Kohle, die das Klima mehr belastet, gegenüber dem Erdgas begünstigt. Mit 114 Millionen Tonnen hat Japan noch nie so viel Kohle importiert wie 2015, fast doppelt so viel wie im Jahre 2000. Zudem sind 40 neue Kohlekraftwerke geplant. Die Einfuhr von Erdgas dagegen geht zurück. Tokio hofft auf die kaum erprobte Technik der CO2-Speicherung. Es ging – auch ohne Atomstrom Japan hat bewiesen, dass es ohne Atomstrom auskommt – und ohne Einschränkung des Stromkonsums. Zwischen September 2013 und August 2015 war kein einziger Reaktor am Netz, auch in den heissen Sommermonaten nicht, in denen wegen der Klimaanlagen am meisten Strom konsumiert wird. Zudem sinkt die Nachfrage: 2015 verbrauchte Japan Kernkraft versus erneuerbare Energien Weiter hat Abes Regierung die von ihren Vorgängern eingeführten Einspeisetarife für Solar- und Windstrom reduziert. Und lässt es zu, dass die Strommonopolis ten Inhabern grosser Solaranlagen einen Einspeisever trag verweigern, angeblich aus technischen Gründen. In Wirklichkeit sind diese «technischen Gründe» ein Versuch, Netzkapazität für die AKW zu reservieren. Die weitere Entwicklung der Geothermie, mit der sich angesichts der 108 aktiven Vulkane Japans der gesamte Strombedarf decken liesse, wird von der Atom lobby seit dreissig Jahren unterdrückt. Foto: www.opcp.org Der Atomausstieg – nur ein leeres Versprechen? Nach dem GAU in Fukushima: Die Mehrheit der Japaner möchte den Atomausstieg. 10 Energie & Umwelt 1/2016 Als Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf im Herbst 2012 Tokio besuchte, versicherte ihr der damalige Premier Yoshihiko Noda, Japan werde schrittweise aus der Kernenergie aussteigen. Damit gab er im Hinblick auf bevorstehende Wahlen dem Druck der Wähler nach. Allerdings hatte er in der gleichen Woche amerikani schen Regierungsvertretern zugesagt, Japan halte an der Kernenergie fest. Noda steckte in einem Dilemma. Seine Ausstiegspläne hatten Washington alarmiert. Die wichtigsten amerikanischen Reaktorhersteller Westinghouse und General Electric werden heute ganz oder teilweise von japanischen Unternehmen kontrolliert. Westinghouse gehört Toshiba, die AKW-Tochter von General Electric ist eine Partnerschaft mit Hitachi. Falls Japan aus der Kernenergie ausstiege, würde dies die Zukunft der beiden Firmen beeinträchtigen, fürchtet man in Washington. Die Branchenführung dieser auch militärisch wichtigen Technologie könnte an China oder Russland gehen. Der einstige Verteidigungs- und heutige Regionen minister Shigeru Ishiba wird noch deutlicher: «Ich glaube nicht, dass Japan Atomwaffen braucht. Aber es ist wichtig, dass wir unsere kommerziellen Reaktoren behalten. Sie erlauben es uns, in kurzer Zeit Atomsprengköpfe zu bauen», sagte er und nannte die AKW eine «stillschweigende Abschreckung». Japan verfügt über 47 Tonnen waffenfähiges Plutonium, als eines von wenigen Ländern darf es abgebrannte Brennstäbe aufbereiten. Sollte es aus der Kernenergie aussteigen, ginge dieses Privileg verloren. Bei AKW-Ausstieg droht die Pleite Das andere Motiv Abes, an der Kernenergie festzu halten, ist kommerziell. Neun der zehn regionalen Stromkonzerne besitzen Atomkraftwerke. Sollten sie diese auf Null abschreiben und ihren Rückbau budgetieren müssen, gingen sie Pleite. Das würde nicht nur die Stromversorgung gefährden. Da ihre Wertpapiere weit gestreut gehalten werden, würde ihre Pleite den Finanzmarkt belasten. Das will Premier Abe, der mit der Energiewirtschaft verbandelt ist und versucht, die Wirtschaft anzukurbeln, unbedingt vermeiden. Foto: Christoph Neidhart Das Dilemma der verbandelten Atomindustrie Die Energiewende wird in Japan von unten kommen: Im Bild eine grosse Solarstromanlage in Nagasaka zwischen Friedhof und Chuo-Autobahn mit einer Leistung von 1,2 MW. limaanlage. Dafür sind viele Japaner offen für InnoK vationen: Wer durch die Provinzen fährt, stösst auf immer mehr grosse Sonnenkollektoren-Anlagen. Auch auf den Dächern von Privathäusern tauchen stets mehr Sonnenzellen auf. Fukushima hat das Misstrauen gegenüber der Regierung und den Strommonopolisten geschürt. Die Energiewende wird in Japan von unten kommen – vielleicht schneller als erwartet. Premier Abe ruft oft dazu auf, Japan müsse wieder eine Führungsrolle in der Welt übernehmen. Kein Bereich eignet sich dazu so sehr wie die künftige Energie-Revolution. Japans Forschung und Industrie verfügen über die Kapazitäten dazu. Nippon war einst Marktführer der Photovoltaik, hat seinen Vorsprung aber an China und andere Länder verloren. Tokios beste Chance für eine Führungsrolle wäre, Japan zu einem Modell der Postcarbon-Gesellschaft zu machen. Doch Abes Regierung bremst die Energiewende, statt sie zu fördern. < Nichts gelernt Vom Mythos der sicheren Atomenergie Der japanische Staat hat aus Fukushima nichts gelernt, er hält an der Kernkraft fest wie am Walfang, einem anderen Anachronismus und begünstigt die Kohlekraft gegenüber erneuerbaren Energien. Auch deshalb, weil Kohlekraft, anders als Solarenergie, nur von grossen Stromfirmen produziert werden kann. Selbst die beschlossene Entkoppelung von Strom produktion und Netzbetreibern droht verwässert zu werden. Abes Regierung tut alles, die gegenwärtigen Elektrizitätsfirmen am Leben zu erhalten. Die Regierung von Japan war einst weltweit ein Pionier des Energiesparens – im 18. Jahrhundert. Zur Beschränkung des Brennholzverbrauchs galten in Japans Grossstädten damals strenge Bauvorschriften. Auch der über tausend Jahre staat liche Zwang zum Vegetarismus erklärt sich eher mit dem Schutz beschränkter Ressourcen als mit dem Buddhismus, mit dem das Fleischverbot begründet wurde. Viehzucht beansprucht Agrarland, das Nippon für den Reisanbau brauchte. Die Energiewende kommt – aber von unten Ganz anders das Volk, viele Firmen und Gemeinden. Gespart wird zwar noch wenig: Die Häuser sind schlecht isoliert, viele Japaner lassen die Motoren ihrer geparkten Autos stundenlang laufen: für die In der Gegenwart dagegen war Energiesparen nie ein Ziel der Politik. Während die Industrie aus wirtschaftlichen Gründen ihre Effizienz schon lange optimiert, haben die Elektrizitätswerke bis Fukushima sogar für mehr Stromverbrauch geworben. Auch die Klimaziele von Kyoto sollten nicht mit Sparen erreicht werden, sondern mit mehr Kernkraft. Bis 2030 hätte der Anteil des Atomstroms auf 50 Prozent steigen sollen. Die AKW waren absolut sicher, so der Mythos, den Politik und Energiekonzerne wider besseren Wissens predigten. In Wirklichkeit genügten die damaligen Sicherheitsnormen den internationalen Standards nicht – auch die neuen, strengeren Vorschriften tun das noch nicht, wie die Internationale Atom behörde IAEA im Januar festhielt. Energie & Umwelt 1/2016 11 ENERGIE AKTUELL Leere Speicherseen, volle Kassen Steigendes Risiko trotz Atomausstieg vs. Trotz der europaweiten Stromschwemme herrscht in der Schweiz eine angespannte Energie- und Netzsituation. Im Dezember 2015 hat die Netzbetreiberin Swissgrid auf die limitierte Transformatorenkapazität hingewiesen, um den Importstrom aus dem EURaum zu den Schweizer Verbrauchern zu bringen. Verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass auf der Netzebene 3 (220 kV) und darunter potenziell zu wenig Strom vorhanden ist: die trockene Witterung, die Ausfälle im AKW Beznau und die tiefen Füllstände der Speicherseen. In den Seen fehlen rund 800 GWh, was in etwa dem Stromverbrauch der Stadt Zürich während eines Monats entspricht. Im Sommer waren die Seen noch voll. Im Herbst wurden der Speicherstrom nach Italien verkauft und die Kassen aufpoliert. Wer hat profitiert? Wie gehen wir mit dem Klumpenrisiko Alt-AKW und der zunehmenden Pannenanfälligkeit um? Die SES fordert Untersuchungen, um diese Fragen zu klären. vs. Im Rahmen der Differenzbereinigung der Energiestrategie 2050 hat die nationalrätliche Energiekommission zu Jahresbeginn ein gesetzlich verankertes Langzeitbetriebskonzept abgelehnt. Dieses hätte der Atomaufsichtsbehörde ENSI schärfere Kontrollmöglichkeiten für die Schweizer Uralt-AKW ermöglicht. Der Skandal dabei ist: Das ENSI selber hatte ein solches Konzept gefordert. Dass das Parlament dieses Konzept noch ins Gesetz aufnimmt, wird immer unwahrscheinlicher. Das bringt uns in die paradoxe Situation, dass das Risiko eines Atomunfalls trotz Atomausstieg zunimmt. Dass verschärfte Sicherheitsbestimmungen bei alten Reaktoren dringlich sind, belegt die jüngste SES-Studie. Am Beispiel des AKW Beznau zeigt der französische Nuklearexperte Yves Marignac auf, wie die Sicherheitsmarge nach 40 Jahren Laufzeit stetig abnimmt. Während Materialien altern und mögliche Gefahren und Risiken tendenziell zunehmen, wird die Einschätzung des Zustands der Anlage immer schwieriger. Die ursprüngliche Sicherheitsmarge mit Investitionen in Nachrüstungen erhalten zu wollen, ist eine Illusion. Foto: © Greenpeace/Cristien Buysse Warmes Wasser für rissige AKW »Die SES-Studie ist auf unserer Website zu finden unter www.energiestiftung.ch/sicherheitsmargen Sicherheitsmarge nimmt ab Beispiel Beznau I Sicherheitsmarge nimmt ab: Beispiel Beznau I Sicherheitsgebäude nicht verstärkt trotz grösserer Flugzeuge als bei Inbetriebnahme Reaktordruckbehälter geschwächt - spröder - 1000 Anomalien Sicherheitsbehälter geschwächt - Durchbohrung für Deckelwechsel - Korrosionsschäden Brennelementbecken nicht nachgerüstet liegt ausserhalb des Sicherheitsbehälters: ist seit Fukushima als Gefahr annerkannt Sicherheitsmarge Sicherheitsmarge Sicherheitsmarge Sicherheitsmarge Die ursprünglich eingeplante Sicherheitsmarge wird mit dem Alter und trotz Nachrüstungen immer kleiner. vs. In den beiden belgischen Atomkraftwerken Tihange-2 und Doel-3 muss ausgerechnet das Kühlwasser vorgeheizt werden. Üblicherweise hat dieses eine Temperatur von unter zehn Grad. In Tihange und Doel hat die Atomaufsicht jedoch bereits 2012 angeordnet, das Notkühlwasser auf 30 Grad vorzuheizen. Anlass für diese eigentümliche Anordnung sind die Tausenden feinen Risse in den Reaktordruckbehältern der beiden Anlagen. Würde plötzlich und in grosser Menge kaltes Wasser eingefüllt, könnte ein so genannter thermischer Schock die Behälter beschädigen oder gar zerstören. Auch im AKW Beznau I wurden zahlreiche Risse im Reaktordruckbehälter festgestellt. Der Grad der Versprödung bezeichnet SES-Atomexpertin Sabine von Stockar als noch gravierender. Gleichwohl gibt es hier keinen Kühl wasser-Heizbefehl. Wie Franz Hohler vor 30 Jahren schon sagte: «Sie sagen, sie tragen die Verantwortung. Aber wir tragen das Risiko.» 12 Energie & Umwelt 1/2016 Die Grafik zeigt eine Auswahl der grössten Sicherheitsdefizite des AKW Beznau I, die zur Minderung der Sicherheitsmarge beitragen. Gewisse Defizite entstehen durch Materialermüdung, andere durch nicht aktuelle Sicherheitszustände, insbesondere bei der Gebäudehüllendicke. Weitere Defizite sind im Zuge von Nachrüstungen entstanden, etwa die Schwächung des Sicherheitsbehälters durch den Deckelaustausch. Revision der Strahlenschutz-Verordnungen Im Rahmen der Anhörung hat die SES ihre Auffassung eingebracht, dass der Rückbau eines AKW unmittelbar nach der Ausserbetriebnahme beginnen muss. Nur so geht das beim Personal vorhandene Wissen über die Anlage nicht verloren und die Kosten können realistisch beziffert und verursachergerecht überwälzt werden. » SES-Stellungnahme unter www.energiestiftung.ch ENERGIE AKTUELL Dänische Energiewende Filmfestival HALBWERTSZEIT 2016 » www.halbwertszeit-festival.ch vs. Das Königreich zeigt vor, wie die Energiewende und der rasante Ausbau erneuerbarer Energien umgesetzt werden können. Durch Massnahmen wie Energieeinsparungen, Effi zienz und Kraft-Wärme-Kopplung gelang es Dänemark, den Primärenergieeinsatz über 40 Jahre auf gleichem Niveau zu halten, obwohl das BIP um mehr als 100 % wuchs. Zugleich wurden 25 % der Primärenergie durch Erneuerbare ersetzt. Eindrücklich ist der Zubau bei der Windkraft: 2005 hatte diese 18,7 % des inländischen Strombedarfs gedeckt. 2015 waren es bereits 42,1 %. Das ist weltweiter WindenergieRekord. Wie die Schweiz verfolgt Dänemark das Ziel, die Energiewende bis 2050 zu schaffen. Bereits 2030 sollen 90 % der Stromund Wärmeversorgung durch erneuerbare Energien gedeckt sein. Das ist das ehrgeizigste Ausbauziel eines Industrie- oder Schwellenlandes weltweit. Und es funktioniert. vs. Die Ereignisse von Fukushima und Tschernobyl hinterlassen noch immer tiefgreifende Spuren. Die AG Film der Roten Fabrik lädt zum diesjährigen Filmfestival HALBWERTSZEIT ein. Aus Japan berichtet die Journalistin und langjährige Anti-Atom-Aktivistin Yayoi Hitomi über die aktuelle Situation in Fukushima. Ihre Referate in Brugg und Zürich finden in Kombination mit dem Dokumentarfilm TELL THE PRIME MINISTER statt. In Zürich zeigt der dänische Evolutionsbiologe Anders Møller, was bereits mittelstarke Strahlendosen anrichten können. In Basel und Bern sind zwei Spezialprogramme unter dem Motto ATOM & ANIMATION mit animierten Kurzfilmen zu sehen. Wer will die heisse Kartoffel? New Yorker AKW leckt Sind die fetten Jahre endgültig vorbei? Eine Finanzanalyse der Axpo, welche das Beratungsbüro Profundo im Auftrag von Greenpeace Schweiz erstellt hat, legt diesen Schluss nahe. Die alten AKW sind zum Klumpenrisiko geworden. Neue sicherheitstechnische Massnahmen werden für den sicheren Weiterbetrieb notwendig. Steht ein Reaktor wie Beznau I unvorhergesehen still, fallen wichtige Deckungsbeiträge weg. Diese haben das aktuelle Verlustgeschäft immer hin etwas abgefedert. Denn mit den heutigen tiefen Marktpreisen ist der Betrieb der AKW ein Verlustgeschäft. Foto: Daniel Case / Wikipedia, CC BY-SA 3.0 vs. Kürzlich wurde bekannt, dass die Kantone Zürich und Schaffhausen über den Verkauf ihrer Anteile an der Axpo nachdenken. Aus dem Kanton Schaffhausen sind ähnliche Signale zu vernehmen. Hintergrund des beschränkten Interesses an der Axpo ist deren wirtschaftliche Situation. Früher hatte der Konzern den Kantonen Dividenden in Millionenhöhe eingetragen. Seit die Strompreise eingebrochen sind, gibt es die nicht mehr. n Brugg: Kino Odeon, Mi, 9. März n Zürich: Rote Fabrik, Do und Fr, 10./11. März n Basel: neues kino, So, 13. März n Bern: Kinemathek Lichtspiel, Mo, 14. März vs. Bei Grundwassermessungen in der Nähe des AKW Indian Point sind «alarmierend hohe» Strahlungswerte festgestellt worden. Aus dem Kraftwerk ist mit dem radioaktiven Wasserstoffisotop Tritium kontaminiertes Wasser ausgetreten. Das AKW Indian Point gehört mit seinen 40- und 43-jähri gen Reaktoren zu den ältesten in den USA. Es ist vom gleichen Bautyp wie das AKW Beznau und liegt nur 40 Kilometer von der Stadt New York entfernt. 6 % der US-Bevöl kerung leben im Umkreis von 80 Kilometern. Der Genfer Geograph Frédéric-Paul Piguet hat 2015 die Gefährdungen durch AKW weltweit verglichen. Gemäss seiner im Auftrag von Sortir du Nucléaire erstellten Studie zur Ver letzlichkeit bei einem schweren AKW-Unfall liegt die Schweiz mit dem AKW Beznau auf Platz 4, Indian Point auf Platz 29. Energie & Umwelt 1/2016 13 HOCHWASSERGEFÄHRDUNG DER SCHWEIZER AKW Wieso Fukushima in Beznau passieren könnte Ein Tsunami in der Schweiz? Ein Hochwasser könnte durchaus die Beznau-Insel überfluten und beim AKW Beznau zu einer heiklen Gefahrensituation führen. Der Atom-Unfall von Fukushima sollte eine Warnung sein, die Gefahren nicht am sicheren Schreibtisch tief zu rechnen und notwendige Nachrüstungen nicht auf die lange Bank zu schieben. Von SABINE VON STOCKAR SES-Projektleiterin Atom & Strom Zu den Ursachen des Super-GAUs in Fukushima wurden zahlreiche Studien in Japan und in der Schweiz publiziert. Das Gesetz sieht vor, dass nach einem AKW-Unfall die Lehren für das eigene Land zu ziehen sind. Für das ENSI, das für die Sicherheit der Schweizer AKW verantwortlich ist, scheint dies ein endlos holpriger Weg zu sein. Der unterschätzte Tsunami in Japan «Das Erdbeben- und Tsunami-Risiko wurden offensichtlich unterschätzt», schrieb das ENSI über die Flut welle in ihrem ersten Fukushima-Bericht. Anstatt 6,1 Meter kam die Flutwelle 14 Meter hoch. Die Atomaufsicht stellte vor allem zwei Mängel fest: Erstens wurden historische Erdbeben, bzw. Tsunami nur selektiv berücksichtigt. Der Tsunami des Jogan-Erdbebens im Jahr 869 zum Beispiel hätte das Fukushima-Gelände auch schon überflutet. Der Forscher Robert Geller, der an der Universität Tokio lehrt, dazu: «Wenn die japanischen Wissenschaftler historische Aufzeichnungen über Erdbeben mit darauffolgenden Flutwellenkatas trophen ausgewertet hätten (...), wäre die Katastrophe vom 11. März zumindest ‹ vorhersehbar › gewesen.» Zweitens wird vom ENSI die mangelhafte Berechnungsmethode kritisiert: Weil Unsicherheitsfaktoren nicht gebührend berücksichtigt wurden, resultierten zu optimistische Resultate und Annahmen. Die Mängel waren bekannt Die vom japanischen Parlament eingesetzte Kommission NAIIC berichtete schon 2012, dass sich Tepco, der Betreiber der Atomanlage in Fukushima, seit 2006 der Risiken bewusst war, dass bei einem Tsunami die Stromversorgung ausfallen könnte. Die Aufsicht wusste zudem, dass Tepco diesbezüglich nichts unternahm und duldete dies einfach. Genau die «unterschätzte Flutwelle» und mangelhafte Nachrüstungen der Stromversorgung waren der Auslöser des atomaren Super-GAUs: Der Tsunami überschwemmte die Notkühlsysteme in Fukushima, die Stromversorgung fiel aus und die Brennelement lagerbecken konnten nicht mehr gekühlt werden. Es kam zur dreifachen Kernschmelze. 14 Energie & Umwelt 1/2016 Der Schweizer Tsunami Die Schweiz hat kein Meer. Trotzdem sind diese Erkenntnisse für die Schweiz von höchster Relevanz: Denn sämtliche Schweizer AKW befinden sich entlang von Flüssen. Beim Wasserschloss Brugg im Kanton Aargau vereinen sich die Limmat, Reuss und Aare. Und kurz unterhalb des Zusammenflusses trifft die Aare auf die Insel Beznau, wo die beiden Reaktor blöcke Beznau I+II stehen. Eine Verstopfung durch Schwemmholz des Wehrs oberhalb der Insel könnte das AKW-Gelände, ähnlich wie ein Tsunami, meterhoch überfluten. Die Hochwasserrechnerei der Axpo Schon vor Fukushima musste die Beznau-Betreiberin Axpo für den Fall eines Extremereignisses die Wassermengen, die auf die Insel Beznau treffen würden, abschätzen – vom trockenen Büro aus und bevor die «Fukushima-Gefahren» bekannt waren. Die Axpo kam auf eine Überflutungshöhe der Beznau-Insel von gerade mal 37 cm. Das ENSI nickte ab und ging davon aus, dass Beznau vor Hochwasser geschützt sei. Erst zwei Jahre nach Fukushima verlangte das ENSI dann doch neue Berechnungen. Und siehe da: Die Axpo kam auf einen massiv höheren Wert von 60–100 cm. Beim ENSI blieb alles beim alten: «Beznau ist sicher.» Schweiz unterschlägt ebenfalls historische Werte Die neuen Axpo-Berechnungen bleiben allerdings mangelhaft. Denn die Axpo stützt sich hauptsächlich auf die Hochwasserstatistik des Bundesamts für Umwelt (BAFU), die je nach Messstation zwischen 65- und 110-jährige Messdaten beinhalten. Ältere historische Hochwasser werden salopp eingeschätzt, respektive zu tief gehalten. Und das, obwohl Steingravuren unter der alten Brücke in Brugg darauf hinweisen, dass bei Hochwassersituationen schon viel mehr Wasser kam, als von der Axpo einberechnet. Damit aber nicht genug der Schönrechnerei: In den alten wie auch neuen Gefahrenabschätzungen rechnete die Axpo einfach nur mit «Hahnenwasser». Doch Hochwasser werden erst in Kombination mit Geschiebe, Geröll und Baumstämmen katastrophal. Es drohen verstopfte Wehre und eine Überflutung des BeznauGeländes. Bei den Axpo-Berechnungen wurde das einfach weggeblendet. In Fukushima warnen Hunderte von Markierungssteinen mit der Aufschrift «Bau nicht unterhalb dieses Steins! Bei Erdbeben, achte auf Tsunamis!». In Brugg warnt eine Markierung aus dem Jahr 1852 vor extremem Hochwasser. Das ENSI wäre gut beraten, dafür zu sorgen, dass diese Warnung gebührend berücksichtigt wird. Axpo hofft auf gutwilligen Wettergott Die Axpo geht auch davon aus, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass bei einem extremen Hochwasser das gesamte Einzugsgebiet der Aare, Reuss und Limmat in gleichem Ausmass überregnet werde. Kurzum: Im Modell regnet es nur abwechslungsweise im Westen oder im Osten stark. Das Vertrauen in einen gutwilligen Wettergott geht noch weiter: Die Axpo kommt im gleichen Bericht zur vereinfachten Annahme, dass die grossen Hochwasser von 1994, 1999, 2005 und 2007 nur eine zyklische Häufung seien – und nicht etwa eine Folge der Klimaerwärmung. Jetzt werde «eine ruhigere Phase folgen». Die Vermutung liegt nahe, dass solche Tricks nötig sind, damit der Hochwasserschutz bis zu den ursprünlich notwendigen 1,65 Meter gewährleistet ist. Trotzdem verlangte das ENSI 2015 dann Massnahmen zur weiteren Erhöhung der Sicherheitsmargen. Und siehe da: Durch eine verbesserte Dichtheit des Notstandsbrunnens, die Ertüchtigung «der Entlüftungsleitungen und des Mannlochdeckels» stieg die Sicherheitsmarge gegen eine externe Überflutung auf wundersame 6,15 Meter. Nochmals eine neue Studie... Doch richtig gut schlafen, können die zuständigen Behörden offenbar noch immer nicht: Das Bundesamt für Umwelt (BAFU), das ENSI, das Bundesamt für Energie (BFE), das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) und MeteoSchweiz lancierten 2013 eine neue umfassende Studienserie namens EXAR. Das Ziel sei «eine homogene Gefahrengrundlage für Extremereignisse an Aare und Rhein», erklärt Carlo Scapozza, Sektionschef Hochwasserschutz beim BAFU. Es seien letztlich die Verantwortungsträger, die entscheiden, wie mit den neuen Ergebnissen umzugehen ist. Sebastian Hueber, Mediensprecher des verantwortli chen ENSI, meint dazu: «Der Stand von Wissenschaft und Technik entwickelt sich immer weiter. Eine endgültige Gefährdungsbestimmung wird es deshalb nie geben.» Es ist wohl so oder so zu erwarten, dass das ENSI auch nach der EXAR-Studie einmal mehr verkün den wird: «Die AKW sind vor Hochwasser sicher.» Nachrüstungen auf die lange Bank Die EXAR-Studien hätten eigentlich Ende 2016 erscheinen sollen. Nun soll es bis 2018 dauern – also 7 Jahre nach Fukushima. Es brauche Zeit, eine solche umfassende Studie zu lancieren und umzusetzen, erklärt Carlo Scapozza fürs BAFU. Die Atomaufsichtsbehörde stört das wohl kaum: Auch das ENSI ist seit über 15 Jahren daran, die Gefährdungsannahmen zu Erdbeben zu aktualisieren und schiebt – wie beim Hochwasserschutz – eventuell nötige Nachrüstungen einfach auf die lange Bank. Nie zwei Mal derselbe Unfall Selbst wenn die Lehren aus Fukushima zu neuen Hochwasser-Standards in der Schweiz führen werden, ist es damit nicht getan. Denn ein Unfall ereignet sich nie zwei Mal auf gleiche Weise. Es müssen unzählige Unwägbarkeiten, Gefahren und Unfallverläufe richtig eingeschätzt werden. Dazu fehlt offenbar das Vor stellungsvermögen, sonst wären die Mängel der Hochwasserberechnung nicht erst nach Fukushima auf den Tisch gekommen. Das ENSI wäre also gut beraten, über die FukushimaFlutwelle hinaus sämtliche Schwachstellen baldmöglichst unter die Lupe zu nehmen und dabei die nötige Vorsicht bei der Gefahrenabschätzung anzuwenden. Nur immer wieder verlauten zu lassen, dass die «Schweizer AKW sicher sind» hilft in keiner Weise, einen weiteren Atomunfall zu vermeiden. < Energie & Umwelt 1/2016 15 RISIKOWAHRNEHMUNG DER ATOMENERGIE Wie wir das Restrisiko der Atomenergie verdrängen Wenige Jahre nach der AKW-Katastrophe von Fukushima erachtet die Schweizer Bevölkerung laut einer Umfrage Atomkraftwerke nach wie vor als grösste Gefahr für Mensch und Umwelt, dies noch vor weiteren Gefahren wie Klimawandel und Gentechnik. Doch Risiken, auch wenn sie sehr gross sind, werden oft einfach verdrängt. Von FLORIAN BRUNNER SES-Projektleiter Fossile Energien & Klima Atomenergie ist eine hochgefährliche Form der Energiegewinnung, deren Risiken sich nicht komplett eliminieren lassen. Die Sicherheit hängt nicht nur von der Technologie ab, sondern auch vom Menschen, wobei sowohl hochkomplexe Systeme wie auch der Faktor Mensch fehler anfällig sind. Durch einen Fehler kann bekannterweise die Kernspaltung ausser Kontrolle geraten. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Kernschmelze (grösster anzunehmender Unfall: GAU). Austretende Radioaktivität kann die umliegenden Gebiete für Jahrtausende verseuchen und unbewohnbar machen. Das «minimale» Restrisiko ist also eigentlich schlicht zu gross. Und die Folgen sind absolut fatal. Das haben uns die Atom-Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima mehr als deutlich gezeigt. Doch die Risikowahrnehmung bzw. die menschliche Auffassung über Risiken und die daraus abgeleitete Handlung ist etwas Subjektives, bei jedem Menschen ist sie anders ausgeprägt. Das heisst, Risiken werden individuell unterschiedlich wahrgenommen und eingeordnet (siehe Interview nebenan). Einschätzung der Gefahr von AKW für Mensch und Umwelt (Anteil der Wohnbevölkerung) 2015 39,6 % 37,3 % 19,5 % 3,6 2011 46,8 % 34 % 16,2 % 3 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % Sehr gefährlich Eher nicht gefährlich Eher gefährlich Überhaupt nicht gefährlich 16 Energie & Umwelt 1/2016 100 % Fakt ist, dass das nicht beherrschbare Restrisiko der Atomenergie (in der Wahrnehmung und beim Handeln) oft einfach verdrängt wird. Unbegreifbar bleibt, wie wir das schaffen und mit den offensichtlichen atomaren Risiken leben können. Kosten-Nutzen-Überlegungen In einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik1 zur Einschätzung der Gefahren für Mensch und Umwelt (siehe Abbildung) gaben eineinhalb Monate nach Fukushima insgesamt über 80 % der Befragten an, AKW seien als gefährlich einzustufen, 47 % stuften AKW sogar als sehr gefährlich ein. Vier Jahr später scheint Fukushima bereits wieder etwas in Vergessenheit geraten zu sein, denn AKW wurden «nur» noch von 40 % als sehr gefährlich eingestuft. Insgesamt 77 % der Befragten stehen der Atomkraft aber immer noch skeptisch gegenüber. Dennoch nehmen wir das Risiko der Atomenergie auf uns und verdrängen die Gefahr eines AKW-Unfalls. Risikowahrnehmungsforscher Michael Siegrist von der ETH Zürich erklärt diese Diskrepanz u.a. damit, dass wir zwar Risiken wahrnehmen, sie aber tagtäglich auf uns nehmen, weil wir auch einen Nutzen erkennen. Auto fahren ist beispielsweise nicht ungefährlich, wir setzen uns einem Risiko aus. Aber wir kommen auf einfache Art und Weise von A nach B. Für die Frage, ob AKW befürwortet werden oder nicht, ist also nicht allein die Gefahren- bzw. Risikowahrnehmung entscheidend. Für eine Handlung ist relevant, ob man einen Nutzen oder eine Chance erkennt oder nicht. In einer Euro barometer-Studie von 2007 gaben 53 % der Einwohner Innen der EU an, dass Atomkraftwerke ein Risiko für sie und ihre Familien darstellen. Trotzdem gaben ebenso viele Befragte an, dass sie der Meinung sind, die Risiken der Atomenergie seien geringer als ihr Nutzen (53 % ja / 33 % nein). Risiko und Nutzen werden also oft getrennt voneinander eingeschätzt. Das heisst, es fällt den meisten Leuten schwer, beim Einschätzen eines Risikos den Nutzen ganz auszublenden (und auch umgekehrt). So fährt man eben doch Auto und nutzt Atomenergie. NACHGEFRAGT BEI ANNA-LENA KÖNG, STIFTUNG RISIKO-DIALOG «Wahrnehmen heisst noch nicht handeln» Anna-Lena Köng ist Projektleiterin der unabhängigen Stiftung Risiko-Dialog und in den Bereichen Risikowahr nehmung und -kommunikation sowie Umweltverhalten tätig. E&U: Alle reden von «Risiko». Was verstehen Fachleute darunter? Der Risikobegriff wird sehr unter schiedlich verwendet. Generell ‹wagen› Menschen Vorhaben, weil sie sich ei nen Nutzen erhoffen. Dabei gehen sie immer auch Unsicherheiten ein, da wir die Zukunft nicht vorwegnehmen können. Diese Spannung zwischen Gefahr und Chance beschreibt Risiko. Wenn Fachleute die Gefahrenseite betrachten, errechnen sie ein Risiko im einfachsten Fall als erwartetes Schadensausmass multipliziert mit der erwarteten Wahrscheinlichkeit des Eintritts. Neuere Ansätze fragen auch, wie widerstandsfähig ein System ist und wie auf ein Ereignis reagiert werden kann. « » E&U: Was heisst das für den Alltag von Herrn und Frau Müller: Wie sehen und schätzen diese die Risiken ein? Wie wir Menschen Risiken sehen und bewerten, ist ein komplexer Vor gang und von verschiedensten Faktoren abhängig. Habe ich alle Informa tionen? Wie beurteile ich die Gefahren im Vergleich zu meinen Chancen? Kann ich die Auswirkungen wahrnehmen und kontrollieren? Um welchen Risikotyp geht es? Zudem sind wir alle Individuen mit Erfahrungen und Werthaltungen. Wie unser Umfeld, die Medien und andere Akteure Risiken in einen spezifischen Kontext stellen, hat einen wichtigen Einfluss auf unsere Risikowahrnehmung. Nehmen wir das Risiko, welches von Kern kraftwerken ausgeht: Es wird erst einmal von vielen als unkontrollierbar erlebt. Weiter haben mögliche Störfälle ein grosses Katastrophenpoten zial und Radioaktivität ist sensorisch nicht wahrnehmbar. Dies sind alles Faktoren, die zu einer relativ hohen Risikowahrnehmung führen. « » Gewohnheitsfilter – oder die Angst vor Neuem Der Betrieb der Schweizer AKW verläuft vermeintlich störungsarm. Meldungen über kleinere Zwischenfälle wecken zwar immer wieder Zweifel an der Sicherheit von AKW. Doch über die Risikowahrnehmung hinaus existieren auch eine Angst vor Neuem und eine Art Gewohnheitsfilter. Das führt dazu, dass wir das ausgemachte Risiko verdrängen: «Wieso sollen wir etwas ändern, es besteht zwar ein gewisses Risiko, aber es ist ja alles gut und es funktioniert.» Kommt hinzu, dass bei neuen Ideen und Alternativen, wie der Energiewende, schnell die Faktoren Unbekanntheit und Skepsis auftauchen. Dies zeigt sich in verschiedenen Mustern, wie dem erwähnten Gewohnheits filter «Das haben wir noch nie so gemacht, das kann nicht aufgehen!», einem Machbarkeitsfilter «Das ist sowieso zu teuer!» oder auch einem Konkurrenzfilter «Achtung, da will sich einer profilieren!». Man geht zudem davon aus, dass die Menschen gegenüber neuen Technologien (wie z.B. Solarenergie) zu- E&U: Verfügt der Mensch über Daumenregeln zur Risikoeinschätzung? Wir sind nicht immer in der Lage, Risiken rein rational zu beurteilen: Risiken sind oft sehr komplex oder es fehlt schlicht die Zeit, uns aktiv zu informieren und eine Meinung zu bilden. Daher orientieren wir uns an Dau menregeln, um Risiken einzuschätzen. Sehr einfach lässt sich sagen, dass hohe Emotionalität und eine starke Präsenz des Risikothemas ‹im Kopf› zu einer höheren Risikowahrnehmung führen. Allgemein stellen solche Daumenregeln gute Werkzeug dar. Sie können aber im Einzelfall zu Wahr nehmungsverzerrungen führen, weil sie beispielsweise Regeln der Wahr scheinlichkeit nicht beachten, Informationen falsch gewichten oder andere Faktoren ausser Acht lassen. « » E&U: Niemand möchte einen nuklearen GAU erleben: Weshalb verdrängt man dieses Risiko bzw. nimmt es in Kauf? Wie gesagt ist die Relevanz eines Risikos von Mensch zu Mensch unter schiedlich. Niemand befasst sich im Alltag nur mit den grossen gesell schaftlichen Risikothemen. Andere Themen können im Vordergrund stehen, die ebenso einen bedeutenden Einfluss auf das eigene Leben haben. Wahrnehmen heisst zudem noch nicht handeln. Bei der politischen Debatte geht es nicht nur um das potenzielle Unfallrisiko, sondern auch um den Energiepreis, die Lagerung radioaktiver Abfälle, den Aufwand rund um die Etablierung alternativer Energieformen – kurz um den gesamten Ener giekontext mit der Abwägung von Chancen und Gefahren. Generell gesagt: Neben der Wahrnehmung fliesst die Frage nach Alternativen, sozialer Erwünschtheit, Nutzenüberlegungen, aber auch Wertvorstellungen in den politischen Entscheidungsprozess ein. « Gerade auf gesellschaftlicher Ebene geht es bei der Frage nach der Risiko akzeptanz immer auch um Vertrauen und den Dialog mit Interessengruppen für einen Austausch der unterschiedlichen Bewertungen. In der Schweiz ist das Vertrauen in die Behörden, Unternehmen und die Politik vergleichs weise hoch. Politische Entscheide werden generell eher akzeptiert. Das heisst aber nicht, dass alle einer Meinung sind. Es setzt sich also ganz im Sinne der Demokratie vor allem die Mehrheitsmeinung durch. » erst einmal vorsichtig sind und dem Produkt zunächst wenig vertrauen. Dieser Prozess wird stark beeinflusst durch Expertenmeinungen, Wissenschaftler, durch die Industrie und auch die Regierung. Risiko versus Gewohnheit Die Risiken der Atomenergie werden zwar wahrgenom men, doch die Gewohnheit macht der Handlung in Richtung Atomausstieg einen Strich durch die Rechnung. Dieser Gewohnheitsfilter der Atomenergie ist gefährlich. Denn Fakt ist, dass die Kosten der Atom energie – auch im «Normalbetrieb» – den Nutzen klar überwiegen (siehe E&U Nr. 3/2015 «Kostenfalle AKW»). Schlicht untragbar werden die Risiken mit Blick nach Japan, wenn es zur Atomkatastrophe kommt! Intelligent wäre es auszusteigen. Die Alternativen dazu, sprich die erneuerbaren Energien, stehen bereit. < 1 Bundesamt für Statistik, Omnibus-Erhebungen 2011 und 2015: Umweltqualität und Umweltverhalten. Energie & Umwelt 1/2016 17 DIE BEWERTUNG DER AKW-SICHERHEIT IST ERMESSENSSACHE Wie sicher ist das AKW Beznau? Die Sicherheit eines AKW ist keine eindeutig bestimmbare Grösse. Deshalb kann auch niemand die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall genau bestimmen – auch das ENSI nicht. Obwohl die gesetzlichen Bestimmungen vermeintlich erfüllt sind: Aufgrund der Faktenlage ist das AKW Beznau alles andere als «sicher»! Von ODA BECKER Physikerin und unabhängige Expertin im Bereich Sicherheit und Risiken von Atomanlagen In allen AKW sind schwere Unfälle mit weit reichenden Folgen jederzeit möglich. Dies wird von niemandem bestritten, jedoch wird meist auf die geringe Wahrscheinlichkeit eines Unfalls hingewiesen. Die beiden Reaktoren Beznau I+II gehören zu den ältesten der Welt. Doch sie dürfen so lange weiter in Betreib bleiben, wie sie bestimmte gesetzliche Voraussetzungen erfüllen und somit als «sicher» gelten. Zuständig für die Bewertung einer angemessenen Sicherheit eines AKW ist das Eidgenössi sche Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Wie sicher ein AKW einzustufen ist, erfolgt auch mittels kom plexer probabilistischer Sicherheitsanalysen (PSA), welche die Wahrscheinlichkeiten von Unfällen ermitteln (siehe Textbox unten). Vermeintliche Sicherheit durch Probabilistik Das zahlenmässige Gesamtergebnis einer probabilis tischen Sicherheitsanalyse (PSA) für die Unfallwahrscheinlichkeit darf aber lediglich als grober Risikoindikator verstanden werden – und nicht als belastbare Angabe für die tatsächliche Wahrscheinlichkeit von Unfällen. Der Betreiber hat für das AKW Beznau für den Leistungsbetrieb eine mittlere Kernschadenshäufig keit (CDF) von rund etwa 1*10-5 pro Jahr (9,35*10-6/a) ermittelt. Dieser Wert erfüllt zwar die Empfehlungen der IAEO, ist aber vergleichsweise hoch. Probabilistische Sicherheitsanalysen (PSA) Die Unfallhäufigkeiten bzw. Wahrscheinlichkeiten von Unfällen werden in so ge nannten probabilistischen Sicherheitsanalysen (PSA) ermittelt. Zentrale Elemente einer PSA sind Ereignisablaufanalysen. Dazu werden für alle betrachteten Er eignisse, die einen Unfall auslösen können, Ereignisbäume erstellt. Diese sollen jede mögliche Folgeentwicklung nach einem auslösenden Ereignis darstellen. Sie bestehen aus zahlreichen, sich zunehmend verzweigenden, unterschiedlichen Pfaden, die jeweils einem möglichen Ablauf entsprechen. In den Fehlerbaum analysen werden sämtliche (bekannten) Ausfallursachen erfasst und die Wahr scheinlichkeiten bewertet, die zu dem Ausfall führen können. Mit grossen Unsicherheiten behaftet: Es bestehen aber grosse Unsicherheiten bei den ermittelten Werten. Zudem gibt es eine Reihe von auslösenden Ereig nissen, die nicht quantifizierbar sind, wie zum Beispiel komplexes menschliches Fehlverhalten, unerwartete alterungsbedingte Ausfälle oder Terrorangriffe. Aber gerade derartige Ereignisse sind für das alte AKW Beznau relevant. 18 Energie & Umwelt 1/2016 Das AKW Beznau ist aufgrund der Faktenlage alles andere als sicher. Der Nutzen der PSA besteht vor allem darin, vorhandene Schwachstellen in einer Anlage zu identifizieren und daraus ein Verbesserungspotenzial abzuleiten. Eine derartige Schwachstelle ist in Beznau der Schutz vor Erdbeben. Laut PSA liegt der errechnete Beitrag von Erdbeben an der Kernschadenshäufigkeit bei 83 %. Trotz der vorhandenen Gefährdung durch Erdbeben, die bereits 2004 durch das PEGASOS-Projekt deutlich wurde, dauerten die Analysen der Betreiber (PRP) bis Ende 2013 und die Prüfung durch das ENSI nochmals bis Ende 2015. Auch heute ist noch nicht bekannt, welche Nachrüstungen erforderlich sind und in welchem Zeitraum diese zu erfolgen haben. Ein nächster «Fukushima-Unfall» schon bald? PSA errechnen nur die theoretische Unfallwahrschein lichkeit. Wird diese jedoch anhand der bisherigen Erfahrungen ermittelt, ergeben sich ganz andere Werte. Mit einem solchen Verfahren rechnen Wheatley und Sornette (ETH Zürich) und Sovacool (Universität Aarhus). Ihr Fazit: Es gibt eine 50 %-Wahrscheinlichkeit, dass erneut ein Unfall wie in Fukushima in den nächs ten 50 Jahren in einem der heute betriebenen Atomkraftwerke eintritt. Nuclear Phaseout Congress, 21. März 2016 Wie gefährlich ist die Alterung? Die Reaktoren des AKW Beznau sind mit einer Betriebs zeit von 45 und 47 Jahren sehr alt. Mit der Alterung der Werkstoffe sind verschiedenste sicherheitsrelevante Probleme verbunden, welche die Sicherheit gefährden. Einerseits ist bei Alterung zu erwarten, dass die Anzahl von Störungen und Stör fällen zunimmt (kleine Leckagen, Risse, Kurzschlüsse usw.). Andererseits gibt es Effekte, die eine graduelle Schwächung von Werkstoffen bewirken und folglich zu katastrophalem Versagen von Komponenten mit schwerwiegen den radioaktiven Freisetzungen führen können. Der wichtigste dieser Effekte ist die Versprödung des Reaktordruckbehälters, welche die Gefahr eines Berstens des Behälters birgt. Diese Gefahr ist aufgrund der im AKW Beznau aufgefundenen Schwachstellen von besonderer Bedeutung. Foto: SES-Archiv Problematisch ist, dass bisher nicht alle bekannten Alterungseffekte aus reichend verstanden werden und immer wieder neue, unerwartete Alterungseffekte auftreten. Den gefährlichen Folgen der Alterung könnte durch geeignete Massnahmen bis zu einem gewissen Grade entgegengewirkt werden. Eine Überprüfung der internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) im Jahr 2012 im AKW Mühleberg deckte allerdings erhebliche Schwachstellen im Alterungsmanagement und im Umgang mit aufgetretenen Ereignissen auf. Das ENSI betonte dennoch, dass durch die umfangreichen Instandhaltungsund Überwachungsprogramme sichergestellt sei, dass Alterungsschäden frühzeitig erkannt und behoben werden können. Die Aufsichtsbehörde postulierte damit lediglich eine theoretische Anforderung als Beweis für eine vermeintlich vorhandene Sicherheit – statt die Realität ausreichend zur Kenntnis zu nehmen und bei Bedarf entsprechende Anforderungen zu stellen und deren Erfüllung zu kontrollieren. Nachrüstungen beheben das Risiko nicht Bisher war es Praxis der Betreiber, Nachrüstungen über Jahre verteilt in den geplanten Stillstandzeiten für Revision/Brennelementwechsel durchzuführen, um wirtschaftliche Einbussen durch zusätzliche Stillstandzeiten zu vermeiden. Die erforderliche Nachrüs tung der Notstromversorgung (Projekt AUTANOVE) dauerte bis Ende 2015, obwohl bereits im August 2007 durch ein Ereignis die gefährlichen Schwachstellen der Notstromversorgung deutlich wurden. Oda Becker ist deutsche Physikerin, arbeitet als unabhängige Expertin im Bereich Sicherheit und Risiken von Atomanlagen und wird am Nuclear Phaseout Congress als Referentin auftreten. Weitere namhafte Referenten sind ENSI-Direktor Hans Wanner, der japanische Ex-Premierminister Naota Kan und Jürgen Trittin, ehemaliger Deutscher Umweltminister. Jetzt anmelden unter www.energiestiftung.ch/npc2016 Einen erheblichen Ermessungsspielraum hat das ENSI nicht nur bei der Gewährung des Zeitraums für die erforderlichen Nachrüstungen, sondern auch bei den Anforderungen, welche AKW erfüllen müssen. AKW müssen lediglich dem «Stand der Nachrüsttechnik» genügen – ein Standard, der nur in der Schweiz angewendet wird. Weder in der Schweiz noch international werden mit dieser Phrase präzise, konkrete Sicherheits anforderungen verknüpft. So sind die vom ENSI im Einzelfall geforderten Nachrüstungen nicht zwangs läufig das Ergebnis eines systematischen Vergleichs mit den heutigen Sicherheitsanforderungen, sondern basieren zum Teil auf Überlegungen der technischen und ökonomischen Machbarkeit. Vor allem aber lässt sich im AKW Mühleberg und im AKW Beznau die Sicherheit nur dort verbessern, wo es die veraltete Bauweise der Anlagen zulässt. Die Schweiz schneidet schlecht ab Die Western European Nuclear Regulators Association (WENRA) hat im Jahr 2008 insgesamt 295 Referenz level (RL) für die Sicherheit von Atomkraftwerken definiert. Diese basieren auf Empfehlungen der IAEO und «good practice» in den beteiligten Ländern. Im Jahr 2015 haben die meisten Länder alle bzw. fast alle RL umgesetzt. Die Schweiz muss noch 58 RL umsetzen – und ist damit an drittletzter Stelle in Europa. Um die Erfahrungen des Fukushima-Unfalls zu berücksichtigen, wurden die RL inzwischen überarbeitet. Die neue Version enthält 342 RL. Fazit: Das Risiko ist gross! Das AKW Beznau ist aufgrund der Faktenlage also alles andere als «sicher». Die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall kann niemand genau bestimmen, auch das ENSI nicht. Die Schweizer Politik setzt aber ihr vollstes Vertrauen in das ENSI – obwohl dieses bei der abschliessenden Beurteilung der Sicherheit von AKW vor einer sehr schwierigen, bzw. unlösbaren Auf gabe steht. Für die Bewertung einer ausreichenden Sicherheit ist insbesondere eine Betrachtung des möglichen Risikos von Bedeutung: Das Risiko einer Atom anlage ergibt sich aus dem Produkt von Unfallwahrscheinlichkeit und Schadensausmass. Da der mögliche Schaden im Falle eines schweren Unfalls im AKW Beznau aufgrund des Standorts in einem so dicht besiedelten Gebiet katastrophal gross wäre, ist auch das Risiko, das vom Betrieb des AKW Beznau ausgeht, in der Tat gross. < Energie & Umwelt 1/2016 19 SES AKTUELL Präsidiumswechsel Sabine von Stockar geht neue Wege vs. 2016 feiert die SES ihr vierzigjähriges Bestehen. Seit 1976 setzt sich die Fachorganisation für eine nachhaltige Energieversorgung der Schweiz ein. Sechs StiftungsratspräsidentInnen haben die SES in dieser Zeit angeführt. Zu Beginn des Jubiläumsjahres ist es nun zur siebten Mandats übergabe gekommen. Foto: © Noemi Tirro Nach zwölf Jahren an der Spitze der SES tritt der Badener Stadtammann und alt Nationalrat Geri Müller zurück. Neu wird der Stiftungsrat vom Basler Nationalrat und Energiepolitiker Beat Jans präsidiert. Geri Müller: Blick für globale Zusammenhänge Mit dem Austritt aus dem Nationalrat legt Geri Müller auch sein Mandat als Präsident des SES-Stiftungsrats nieder. Seit 2004 hat Müller den Stiftungsrat mit seiner Weitsicht geprägt und die SES durch die energiepo litisch turbulenten Jahre nach der Fukushima-Katas trophe geführt. Die SES profitierte auch von Geri Müllers aussenpolitischer Erfahrung und von seinem grundlegenden Verständnis für geopolitische Zusammenhänge. Wir danken für die langjährige und gute Zusammenarbeit und wünschen Geri Müller alles Gute für die Zukunft. Beat Jans: Erfahrung aus Politik und Praxis Mit dem Basler SP-Nationalrat Beat Jans gewinnt die SES einen kompetenten Energiepolitiker und Kenner der Schweizer Stromwirtschaft. Der gelernte Landwirt, diplomierte Agrotechniker TTL und Umweltnaturwissenschafter ETH ist als Mitglied der Energiekommission des Nationalrats gut vernetzt und nahe am politischen Prozess. Durch sein Verwaltungsratsmandat bei den Industriellen Werken Basel IWB kennt der neue SES-Stiftungsratspräsident die Anliegen der Stromwirtschaft aus erster Hand. Als ehemaliger Projektleiter Umweltpolitik und Mitglied der Geschäftsleitung bei Pro Natura bringt Jans zudem wertvolle Erfahrungen aus der NGO-Welt mit. Wir sind hocherfreut und überzeugt, unter der Führung von Beat Jans bestens für die energiepolitischen Heraus forderungen der kommenden Jahre gerüstet zu sein: den Atomausstieg der Schweiz und den Umbau der Energieversorgung im Rahmen der Energiestrategie 2050. 20 Energie & Umwelt 1/2016 vs. Zehn Jahre lang hat Sabine von Stockar als Projektleiterin Atom&Strom die SES geprägt. Zahlreich waren Ihre Auftritte vor der Fernsehkamera, an Referaten und Fachveranstaltungen. Mit ihrer Fachkompetenz und ihrer eloquenten Art hat sie so manchen Journalisten überzeugt und auch manchen Podiums-Gegner übertrumpft. Vor allem aber ist sie über die Jahre zu einer ausgewiesenen Fachfrau für Fragen rund um die Atomkraft avanciert, sowohl im wissen schaftlichen, im wirtschaftlichen wie auch im politischen Bereich. Nun wird Sabine von Stockar die Geschäftsstelle auf Ende März verlassen und sich beruflich neu ausrichten. Wir danken Sabine von Stockar herzlich für die gute Zusammenarbeit und wünschen ihr alles Gute und viel Erfolg für die Zukunft. Und natürlich hoffen wir, dass sich unsere Wege auf die eine oder andere Art in Zukunft wieder kreuzen. Myriam Planzer verstärkt die Geschäftsstelle mp. Seit Mitte November beschäftigt die SES eine neue Praktikantin. Myriam Planzer hat in Fribourg Soziale Probleme und Sozialpolitik studiert. Dabei hat sie sich das theoretische Rüstzeug geholt, um das Handeln von sozialen Bewegungen besser zu verstehen. Dieses Wissen hat sie schon während des Studiums in die Praxis umgesetzt, u.a. bei der Arbeit in verschiedenen NGOs. Sie mischt seit ihrer Jugend gerne im Hintergrund der Politik mit, war im Vorstand des Urner Jugendrats tätig und hat sich im Urner Komitee gegen die 2. Röhre engagiert. Die 28-Jährige spielt in ihrer Freizeit gern Theater und schreibt Hörspiele. Myriam Planzer unterstützt die SES nun für ein Jahr. Ihr Themenschwerpunkt ist der Bereich Atom & Strom. Zudem ist sie für das Organisatorische rund um den NPC 2016 verantwortlich. SES AKTUELL JUBILÄUMS-JAHRESVERSAMMLUNG 2016 40 Jahre Schweizerische Energie-Stiftung Samstag, 18. Juni 2016, 16.15 – 21:00 Uhr, Kaufleuten Zürich, Festsaal Die SES ist 1976 als Stiftung gegründet worden und engagiert sich seither für eine intelligente, umwelt- und menschengerechte Energie politik. 40 Jahre sind seither vergangen. Diesen runden Geburtstag möchten wir mit Ihnen feiern. Melden Sie sich jetzt schon an: www.energiestiftung.ch/40 Festrede: alt Bundesrat Moritz Leuenberger Programm-Block 1 16.15 Uhr: offizielle SES-Jahresversammlung mit Übergabe des Präsidiums von Geri Müller an Beat Jans Programm-Block 2 18.15 Uhr: Festrede mit Moritz Leuenberger, anschl. Essen (Buffet) 21.00 Uhr: Ende der Veranstaltung Zum Tod von Joan S. Davis rp. Am 10. Januar 2016 ist Joan S. Davis im Alter von 78 Jahren unerwartet verstorben. Vor 40 Jahren hat sie die SES mitgegründet, zu sammen mit Ursula Koch, Pierre André Fornallaz, Theo Ginsburg und weiteren Persönlichkeiten. Davis war viele Jahre Mitglied des Stiftungsrats und des Beirats. Seit der Gründung der SES hat sie sich für eine andere Energiepolitik engagiert, fast jede SES-Veranstaltung besucht und verschiedene Artikel für SES-Publikationen verfasst. 1984 schrieb sie zum Beispiel einen BuchText über «Energieverbrauch und ökologische Auswirkungen der Nahrungsmittelversorgung» oder 2005 das Editorial im Magazin ENERGIE & UMWELT unter dem Titel «Gehirnzellen statt Brennstoffzellen». Joan S. Davis war eine treue, aufmerksame und wohlgesinnte Wegbegleiterin. Wir trauern um eine von vielen «Müttern» der SES. Sowohl die SES wie auch all ihre weiteren «Kinder» werden in Zukunft in ihrem Sinne tätig sein. Das würde sie freuen. IMPRESSUM ENERGIE & UMWELT Nr. 1, März 2016 Herausgeberin: Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67, 8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21, Fax 044 275 21 20, info @ energiestiftung.ch, www.energiestiftung.ch Spenden-Konto: 80-3230-3 Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum, Telefon 041 870 79 79, info @ scriptum.ch Redaktionsrat: Jürg Buri (jb), Rafael Brand (rb), Florian Brunner (fb), Felix Nipkow (fn), Valentin Schmidt (vs), Sabine von Stockar (svs), Myriam Planzer (mp) Re-Design: fischerdesign, Würenlingen Korrektorat: Vreni Gassmann, Altdorf Druck: ropress, Zürich, Auflage: 11’800, erscheint 4 x jährlich Abdruck mit Einholung einer Genehmigung und unter Quellenangabe und Zusendung eines Belegexemplares an die Redaktion erwünscht. Abonnement (4 Nummern): Fr. 30.– Inland-Abo Fr. 40.– Ausland-Abo Fr. 50.– Gönner-Ab SES-Mitgliedschaft (inkl. E & U-Abonnement) Fr. 400.– Kollektivmitglieder Fr. 100.– Paare / Familien Fr. 75.– Verdienende Fr. 30.– Nichtverdienende E&U-Artikel von externen AutorInnen können und dürfen von der SES-Meinung abweichen. Das E&U wird auf FSC-Papier, klimaneutral und mit erneuerbarer Energie gedruckt. Energie & Umwelt 1/2016 21 DIE PHOTOVOLTAIK-BREMSE Wer wie und warum die Eigenproduktion von Solarstrom verhindert Solarstrom hat Zukunft, er ist günstig und verursacht kaum Konflikte. Aber der Ausbau wird gebremst, allen voran ist die Stromwirtschaft die grosse PV-Bremse. Aus Angst vor der Konkurrenz werden Privatpersonen, die selber Strom produzieren wollen, Steine in den Weg gelegt. Die Energiestrategie 2050 löst die Probleme nicht, es braucht weitere Gesetzesanpassungen. gerade dann am stärksten, wenn die Nachfrage am grössten ist, nämlich am Mittag. Von FELIX NIPKOW SES-Projektleiter Strom & Erneuerbare Ökonom und alt Nationalrat Ruedi Rechsteiner kehrt den Spiess um: «Die wirklich grossen Unsolidaritäten liegen ganz woanders als bei der Photovoltaik. Die Stromkonzerne bezahlen für die Belieferung der Pumpspeicherwerke und für Stromtransite praktisch keine Netzgebühren. Und den Atomkraftwerken werden jährlich 200 Millionen Franken Vorhaltekosten1 geschenkt. Was der VSE plant, ist die systematische Verhinderung von neuen Solarstromanlagen durch eine Gebührenstruktur, die Solarstrom unwirtschaftlich macht.» Es sind nicht nur die volkswirtschaftlichen Vorteile, die Photovoltaik so überlegen machen. Sie ist in einem so dicht besiedelten Land wie der Schweiz geradezu prädestiniert, eine tragende Rolle im Stromversorgungssystem zu übernehmen. Im Gegensatz zu Wasser- und Windkraftwerken gibt es kaum Konflikte mit Umwelt-, Vogel- oder Landschaftsschutz. Allerdings werden vielen SolarstromproduzentInnnen von den Elektrizitätswerken administrative, technische und finanzielle Hürden in den Weg gelegt. Viel zu tiefe Rückspeisetarife Falsche Argumente gegen PV Energieversorgungsunternehmen (EVU) kennen noch weitere Mittel, um EigenproduzentInnen Steine in den Weg zu legen. Wer auf seinem Hausdach Strom produziert, verbraucht einen Teil selber und speist den Rest ins Netz ein. Viele EVU bezahlen für den in ihr Netz eingespiesenen Strom aber viel zu tiefe Preise. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat in einer Richt linie festgehalten, dass sich der Rückspeisetarif am Bezugstarif für Haushalte orientieren soll (abzüglich 8 % Verwaltungskosten). Diese Richtlinie wird aber nicht konsequent durchgesetzt. Vielleicht fürchtet die Stromwirtschaft die neue Konkurrenz? Jedenfalls fährt der Verband Schweizeri scher Elektrizitätsunternehmen (VSE) eine regelrechte Verunglimpfungskampagne gegen Strom aus Sonne. Der Begriff der «Entsolidarisierung» wird ins Feld geführt. Gemeint ist, dass Betreiber von Solaranlagen, die ohne kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) Solarstrom produzieren, einen Teil ihres Bedarfs mit dem selber produzierten Strom decken. Dadurch bezahlen sie weniger Netzentgelt, tragen also weniger zur Finanzierung der Netzinfrastruktur bei. Ein solcher Zähler (Symbolbild) kostet je nach Energieversorger zwischen 300 und 1440 Franken Miete pro Jahr. Er kann überall dasselbe: Messen, wie viel Strom fliesst. 22 Energie & Umwelt 1/2016 Foto: photovoltaik.eu / Heiko Schwarzburger Was dabei vergessen geht: Eigenproduzenten von Solarstrom helfen mit, die Belastungen im Netz zu reduzieren, weil der Strom da verbraucht wird, wo er entsteht. Das senkt die Kosten. Die Sonne scheint zudem Der Verband unabhängiger Energieerzeuger (VESE) hat die Rückspeisetarife schweizweit untersucht und publi ziert diese neu auf www.pvtarif.ch. Es herrscht Wildwuchs: Die Jahrestarife für 2016 liegen effektiv zwischen 3,9 Rappen pro Kilowattstunde (Rp./kWh) bei den EW des Kantons Schaffhausen, des Kantons Nidwalden, Davos sowie Altdorf und 23 Rp./kWh (IW Basel) bzw. 30 Rp./kWh (EW Windisch, 2015). VESE-Projektleiter Diego Fischer kritisiert denn auch: «Der heutige Artikel 7 des Energiegesetzes ist ungenügend. Da der Bundesrat die Einzelheiten nicht geregelt hat, obwohl es sein gesetzlicher Auftrag ist, sind heute beliebig tiefe Rückspeisetarife möglich. Falls der Gesetzgeber die Energiewende ernst nimmt, muss er 1 Kraftwerkreserve für den Fall, dass ein AKW ausfällt. Foto: cdm.unfccc.int dringend für eine klare und faire gesetzliche Regu lierung der Rückspeisetarife sorgen.» Denn ob ein Anlagenbesitzer pro Kilowattstunde 4 oder 20 Rappen erhält, ist matchentscheidend für die Rentabilität einer Anlage. Der Solarenergie-Branchenverband Swissolar hat bei der Aufsichtsbehörde Elcom Klage erhoben gegen diese Praxis. David Stickelberger, Geschäftsleiter bei Swissolar: «Unsere Klage ist immer noch hängig. Wir hoffen, dass der Willkür bei der Interpretation der BFE-Richtlinie bald ein Ende gesetzt wird.» Wer selber Strom produziert, braucht ab 30 Kilowatt Leistung der Anlage einen separaten Stromzähler für die Abrechnung mit dem EVU. Das Messwesen ist nicht liberalisiert und so können die EVU die Zählerkosten nach Gutdünken festlegen. Teilweise werden extrem hohe Zählermieten und Ablesegebühren verrechnet. Die BKW verlangt jährlich 888 Franken, Licht und Wasser Adelboden sogar 1440 Franken, das ist fast die Hälfte des Verkaufswerts (10 Rp./kWh) des Stroms einer 30-Kilowatt-Anlage. Doch es geht auch anders, die EKZ (Kanton Zürich), ewb (Stadt Bern) und die IBB (Brugg) zum Beispiel begnügen sich mit 300 Franken. Gemäss einer Aktennotiz der Elcom von 2011 sind Kosten bis 600 Franken «nicht auffällig». Diego Fischer findet das jedoch zu hoch: «Inzwischen ist die Technik viel billiger ge worden.» Der Verband unabhängiger Energieerzeuger fordert die sofortige Liberalisierung des Messwesens. «Sobald das Monopol weg ist, fällt der Preis um ein Vielfaches», ist Fischer überzeugt. Die KEV ist klamm Die Stromwirtschaft bremst also, Anlagen ohne Förderung durch die KEV haben es schwer. Das für die KEV zuständige Bundesamt für Energie (BFE) scheint auch nicht ernsthaft motiviert, den Ausbau voranzubringen. Im Energiegesetz (Art. 28d, Abs. 3) steht: «Die periodischen Zubaumengen für die Photovoltaik sind für die Jahre 2014 bis 2016 so festzulegen, dass sie kontinuierlich erhöht werden können.» Doch dies wird nicht eingehalten. Fakt ist, dass das BFE die Kontingente für die KEV laufend senkt: 2014 wurden 165 Megawatt (MW) freigegeben, 2015 100 MW und für 2016 sind noch 50 MW vorgesehen. Hinzu kommen zwar die Einmalvergütungen (EIV), hier sind die Freigaben aber ebenfalls rückläufig (2015: 90 MW, 2016: 50 MW). Nicole Lörtscher, Fachspezialistin für Erneuerbare E nergien beim BFE erklärt: «Die KEV befindet sich in einem Liquiditätsengpass. Einerseits sind die Einnahmen zurückgegangen, weil der Stromverbrauch gesunken ist und damit weniger Netzabgaben bezahlt Foto: Felix Nipkow Zählermieten nach Gutdünken Auf diesem Dach könnte eine Photovoltaik-Anlage Strom für 100 Haushalte produzieren: Die Anlage ist möglicherweise ein Opfer der Photovoltaik-Bremse. wurden. Andererseits sind die Ausgaben gestiegen, weil der Marktpreis tief war und mehr baureife An lagen gefördert wurden.» Die KEV vergütet die Dif ferenz zwischen dem Marktpreis und einem fixen Vergütungssatz. Anders gesagt hat das BFE 2015 und 2016 seinen Ermessensspielraum so genutzt, dass zu viel Geld der KEV für Biomasse-, Wind- und Wasserkraftwerke aus gegeben wurde. Danach blieb zu wenig für die ge setzlich vorgeschriebenen Freigaben der Photovoltaik. So oder so steht offenbar zu wenig Geld zur Verfügung. Geringerer Stromverbrauch könnte mit einer höheren Abgabe kompensiert werden: Endverbraucher bezahlen pro Kilowattstunde eine Netzabgabe für die KEV. Gesetzlich wäre ein Maximalsatz von 1,5 Rp./kWh mög lich, effektiv wurden 2015 nur 1,1 Rp./kWh erhoben, seit Anfang 2016 sind es 1,3 Rp./kWh. Warum hat der Bund die Netzabgabe nicht rascher erhöht? Der Bundes rat habe damit die energieintensive Wirtschaft schonen wollen, erklärt Nicole Lörtscher. Halbherziger Einstieg Unterdessen diskutiert das Parlament über die Energiestrategie 2050. Die Vorlage bringt nach dem heuti gen Stand der Beratungen einen halbherzigen Einstieg in die erneuerbaren Energien: Die Förderung ist auf fünf Jahre begrenzt, und ein Teil der Gelder soll für bestehende Wasserkraftwerke abgezweigt werden (dafür ist die ungeliebte KEV auch der Stromwirtschaft recht). Die oben erwähnten Probleme werden damit nicht gelöst. Doch für den Atomausstieg braucht es einen konsequenten Ausbau der Solarenergie – und damit verbunden entsprechende Gesetzesanpassungen, um die Handbremse beim Ausbau erneuerbarer Energien endlich zu lösen. < Energie & Umwelt 1/2016 23 «Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass ein Desaster wie in Tschernobyl in Japan passieren könnte, da unsere Technologie sehr fortgeschritten ist. Nach Fukushima musste ich feststellen, dass meine Meinung falsch war.» Bitte melden Sie uns Ihre neue Adresse. Danke! AZB P.P. / JOURNAL CH-8005 ZÜRICH Naoto Kan, japanischer Premierminister während Fukushima, im Tages-Anzeiger vom 4. Februar 2016.
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