Schläge kann man gut wegstecken, Emotionen

CHUR
S a m s t a g , 5. S e p te m b e r 2 0 1 5
B ü n d n e r Ta g b l a tt
«Schläge kann man gut wegstecken,
Emotionen nicht»
P O ST P L AT Z
Lieber Sommer,
jetzt bist du
leider weg
Was sind die Folgen von Kindsmisshandlung, und wie wird damit umgegangen? Damit beschäftigte sich
das Wissenschaftscafé im Café «Merz» am vergangenen Donnerstag.
E
mir ein Stück weit geholfen.» Misshandlungen passieren aber jetzt
und überall. Das Schlimmste was
man machen könne, wäre gar nichts
zu machen, so Beeli. Und weiter:
«Einen Täter anzuzeigen, ist oft ein
Meilenstein und es braucht Mut
zum Hinsehen und Handeln. Natürlich gibt es kein Pauschalrezept, wie
man bei einem Verdacht handeln
soll, aber wegsehen ist nicht die Lösung.» Wer einen Verdacht bei der
Polizei meldet, muss davon ausgehen, dass die Polizei ermitteln wird.
Die Opferhilfe dagegen hat keine
Meldepflicht.
▸ TA M A R A P F I S T E R
Es war Donnerstagabend, 18 Uhr.
Das Café «Merz» an der Bahnhofstrasse in Chur füllte sich. Zwar lief
der Kaffeebetrieb im gewohnten
Gange weiter, viele Besucher nahmen jedoch in den Reihen der extra
für den Anlass aufgestellten Stühle
Platz. Zu Vorderst: das Rednerpult.
«Die Folgen und Trauma-Verarbeitung von Kindsmisshandlung», dies war das Thema mit dem
sich das Wissenschaftscafé am besagten Donnerstagabend beschäftigte. Am Podium vertreten waren
Gian Beeli, Leiter der Opferhilfe-Beratungsstelle des Kantons Graubünden, Andres Schneeberger, CoChefarzt der Psychiatrischen Dienste Graubünden und Reto Mischol,
leitender Psychologe an der Kinderund Jugendpsychiatrie Graubünden. Als Direktbetroffener hat der
Bündner Autor, Biograf und Texter
Philipp Gurt das Podium vervollständigt. Geleitet wurde die Gesprächsrunde von Melanie Salis,
Moderatorin und Programmleiterin
von Radio Südostschweiz.
Warum die Podiumsdiskussion
nicht in einem Séparée abgehalten
werde, sondern inmitten des normalen Kaffeebetriebs, erklärte Beeli
folgendermassen: «Wir sind hier im
Café, also mitten im Leben. Aber
auch Gewalt ist mitten im Leben
und passiert genau in diesem Augenblick.»
Selbstzweifel gehören dazu
Gewalt ist auch für Gurt ein bekanntes Thema. Der Vater Alkoholiker,
die Mutter verliess die Familie: Gurt
Melanie Salis (von links) moderiert, Reto Mischol, Philipp Gurt, Andres Schneeberger und Gian Beeli vervollständigen die Gesprächsrunde. (FOTO ZVG)
und seine sieben Geschwister wurden in verschiedenen Kinderheimen platziert. Bereits als vierjähriger Bub musste er sexuellen Missbrauch und Gewalt im Heim am
eigenen Leib erfahren – für Gurt Alltag.
Leider seien bei Opfern bis zirka
zwölf Jahre viele Täter aus dem näheren Bekanntenkreis. Das mache
es umso schlimmer, da der sichere
Bereich der Kinder dann tangieren
werde, erklärte Mischol. «Schläge
kann man gut wegstecken, Emotionen nicht», entgegnete Gurt. «Das
Problem ist, dass das Bild, welches
man anfangs von der Person hatte,
nicht mehr passt, und dann beginnt
man als Kind den Fehler an sich zu
suchen. Man schämt sich sogar.
Denn was will ein Kind in dem Alter?
Es will geliebt werden. Es will gefallen. Das hat fatale Folgen wie beispielsweise Selbstzweifel. Verstanden habe ich das erst viel später»,
fuhr er fort.
Schneeberger, der sich vor allem
auch mit den Spätfolgen im Erwachsenenalter beschäftigt, unterstrich Gurts Aussage: «Eine Misshandlung hat schlimme Auswir-
kungen, die nicht einfach zusammen mit der Kindheit vergehen. Ohne psychiatrische Hilfe haben diese
Menschen später oft Mühe, auf verschiedenen Ebenen im Leben – wie
beispielsweise anderen Menschen
– vertrauen zu können.»
Auf Erwachsenenhilfe angewiesen
Dass sich betroffene Kinder selbst
melden, ist laut Beeli sehr selten der
Fall. «In den meisten Fällen kommt
eine Bezugsperson zusammen mit
dem Kind zur Opferhilfe. Jedoch erweist es sich oft als schwierig, eine
gemeinsame Lösung zu finden. Kinder wollen das Geschehene gerne
ungeschehen machen, Eltern wollen Gerechtigkeit.»
Vor allem missbrauchte Kinder
sind auf Erwachsenenhilfe angewiesen. «Bei vielen Kindern, die mit
ihrem ‘Problem’ selber fertig kommen wollen, treten später Verhaltensstörungen auf», so Mischol.
Gurt kann das selbst bezeugen. «Als
Jugendlicher habe ich mich in viele
Schlägereien verwickelt. Ich wusste
nicht, woher meine Aggressivität
kam. Irgendwann habe ich angefangen Gedichte zu schreiben. Das hat
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Psychotherapien können helfen
«Man wird aufgrund einer Misshandlung nicht automatisch psychisch krank. Es gibt Menschen, die
das Geschehene selbst verarbeiten
können. Wobei eine Psychotherapie
grundsätzlich immer helfen kann.
Oft merken Betroffene auch erst
Jahre später, dass etwas nicht
stimmt», so Schneeberger. Psychotherapien würden aber auch Zeit
beanspruchen. Oft vergingen Jahre,
bis das Opfer das Vertrauen zum
Therapeuten habe, darüber sprechen zu können.
Viele Freunde aus dem Heim
sind laut Gurt heute tot – gestorben
an Aids oder an den Folgen ihrer
Drogenabhängigkeit. Für sie kam
jede Hilfe zu spät. Auch er selbst habe nur durch lange Therapien gelernt, mit seiner Geschichte umzugehen. «Die Geister von damals
werden mich wohl mein Leben lang
immer wieder einholen.» Doch Gurt
will nicht aufhören, an sich zu arbeiten. Noch heute besucht er wöchentlich die Sprechstunde. Und
sogar noch heute kostet es den
47-Jährigen immer wieder Überwindung, auf dem Sofa von Psychotherapeut Hans-Jörg Hahn Platz zu
nehmen.
▸ M U R I E L S T I L L H A R D über den Abschied vom
Sommer 2015
S
chön war es mit dir. Du und Chur, ihr
seid ein gutes Gespann. Du bringst
das Leben in die Strassen und Gassen,
lässt die Menschen durch die Altstadt flanieren,
füllst die Gartenrestaurants und Bars. Lachen,
plaudern, spontan sein, geniessen. Dieses Jahr
hast du dich von der besten Seite gezeigt. Du Sommer 2015, läufst zwar deinem berühmten Vorgänger im Jahr 2003 nicht den Rang ab, aber du gehörst mit Sicherheit auf das Podest. Leider geht es
jetzt ans Abschiednehmen: Die «Höflibeiz» öffnete am Samstag das letzte Mal ihre Tore, die Badi
Sand haben wir am Sonntag bei einem Mojito
wehmütig ihrer menschenleeren Zukunft überlassen. Dank der sommerlichen Zugabe am Montag
konnten wir abends noch einmal den Crestasee
geniessen. Zum Glück bleibt uns wenigstens der
Wochenmarkt noch bis im Oktober erhalten.
Nicht nur der Sommer geht. Jesus verlässt Huonder, Larissa Bieler das «Bündner Tagblatt» und
David Sieber die «Südostschweiz», und die Churer
Bahnhofstrasse musste sich von 16 Bäumen verabschieden. Abschied fällt nicht immer leicht,
doch es ist Veränderung, Bewegung, schafft Platz
für Neues.
Apropos Neues. Tatsächlich hält die unermüdliche Churer Gastroszene Erkundungsfreudige auf
Trab: Das «DOM»-Café habe ich zwar noch nicht
ausprobiert, aber es gehört von aussen betrachtet
hoffentlich in die Abteilung «Guter Kaffee und
Ambiente mit Stil». Vielversprechend erscheint
auch die seit dem Frühsommer offene «Vinoteca»Bar, welche uns sicherlich einige triste Novemberabende mit einem guten Glas Wein aufheitern
wird.
Mein wirkliches Lieblingskaffee aber gehört
nun schon bald zum alten Churer
Eisen. Oder wohl besser zum
Churer Gold? Ich werde
mich hüten, hier den Namen zu verraten, denn
sonst hat es vielleicht
bald keinen Platz mehr
auf dem lauschigen Plätzchen neben dem Brunnen.
M U R I E L S T I L L H A R D ist Inhaberin der Werbeagentur Miux. Sie lebt mit ihrer Familie in Chur.
U M F R AG E Z U R BAU ST E L L E A M C H U R E R P O ST P L AT Z
«Momentan ist es schwierig, eine positive Meinung zu äussern»
Vergangenen Montag wurde mit der Umgestaltung des Postplatzes begonnen. Das Ziel ist es, zum einen mehr Aufenthaltsqualität für Passanten zu schaffen.
Zum anderen soll die Situation für den Langsamverkehr optimiert werden. Das BT hat Passanten nach ihrer Meinung zum Grossprojekt befragt.
URSULA
WAHLEN aus
Chur ist froh,
dass nun endlich mal etwas
verändert
wird. «So wie die
Situation bis anhin
gehandhabt wurde, war wirklich nicht
zufriedenstellend. Es hatte nie wirklich
funktioniert», so die Einheimische.
Man habe immer lange an der Ampel
warten müssen. Die vorherige Situation
habe sie persönlich als «komisch» empfunden. «Teilweise musste man im
Kreisverkehr zwei Runden drehen, um
anschliessend nur gerade in den nächsten zu fahren.» Aus diesen Gründen findet die Churerin es in Ordnung, dass die
Sache nun angegangen wird.
PHILIP
ANKES
fragt sich hingegen, woher
die Stadt Chur
das Geld für
ein
solches
Grossprojekt
nimmt.
«Ich
habe gehört, dass
Chur finanzielle Probleme hat und diesbezüglich frage ich
mich, ob es wirklich eine gute Idee war,
hier eine Baustelle in diesem Ausmass
zu veranstalten», meint der junge Bonaduzer. Grundsätzlich gefalle ihm die
Idee einer grösseren Fussgängerzone
schon, einzig die Baustelle sei etwas
mühsam, aber daran könne man als
Normalbürger schliesslich auch nichts
ändern.
LEA CAMICHEL ist da hingegen anderer Meinung. Sie begrüsse es nicht,
dass es bald schon
wieder mehr Ampeln zur Verkehrsregelung
geben
soll.
«Aus meiner
Sicht ist es
nervend, wenn
man auf den Zug
stressen muss und
noch gezwungen ist, an jeder Verkehrsampel zu halten», erzählt die Churerin.
Ihre gleichaltrige Freundin nickt zustimmend mit dem Kopf.
Auch MARGRETH WEBER aus Furna ist von dem Vorhaben
nicht
wirklich
begeistert. Für
sie war der
Kreisel eine
angenehme
Lösung, um den
Postplatz mit dem
Auto zu überqueren. «Ich finde Ampeln
nicht so gut wie Kreisverkehr. Dadurch
kommen die Fahrzeuge immer wieder
zum Stehen», äussert sich die Prättigauerin. Sie könne sich beim besten
Willen nicht vorstellen, dass der Umbau eine bessere Verkehrslösung sei.
Den Wunsch nach
mehr
öffentlichem
Raum
heisst WILLY
HOCHSTRASSER
sehr willkommen. Somit gebe es schlussendlich auch mehr Platz
für die Fussgänger. Das Einzige, was ihn
an der Sache störe, dass nun weiter der
gesamte Verkehr mitten durch die Stadt
rolle. «Das lässt sich wahrscheinlich
einfach nicht anders lösen», meint der
Churer. Ansonsten müsse wohl der gesamte Strassenverkehr über die Ringstrasse geführt werden, was wiederum
keine
sinnvolle Lösung wäre.
BRIDA
COLOMBI
sieht der neuen
Gestaltung
des
Postplatzes optimistisch entgegen. Es
sei mal etwas Anderes und möglicherweise reduziere sich dadurch auch der
Verkehr. «Das ist sicherlich eine gute
Sache», äussert sich die Churerin. Zudem sei die Bahnhofstrasse ja ebenfalls
autofrei. «Durch den Umbau müssen
die Autofahrer langsamer fahren, was
ich sehr begrüsse». Sie sehne sich vor
allem nach mehr Ruhe, erzählt die Einheimische.
RAMON
SCHMID
aus
Igis ist es sehr
wichtig, dass
der Verkehrsfluss durch die
Erneuerung
des Postplatzes
nicht behindert wird.
«Im Gegenteil, er sollte sogar noch optimiert werden», wie er betont. Die Idee
von einer besseren Aufenthaltsqualität
sehe er positiv. «Solange das eingehalten wird, was einem
versprochen
wurde», fügt
der
Igiser
noch hinzu.
Genauso
ist auch CLAUDIA ZÜND vom
geplanten Endre-
sultat überzeugt. Was die Churerin hingegen eher stört, ist die momentane Situation. «Die Baustelle ist mühsam,
speziell für die Fussgänger, da diese
jetzt um alle Bauarbeiten herumlaufen
müssen», meint sie.
MARCEL
DIETRICH,
ebenfalls aus
Chur,
gibt
ehrlich
zu:
«Zum jetzigen
Zeitpunkt ist es
schwierig, eine
positive
Meinung
zum Projekt zu äussern.» Für ihn bilde
die Baustelle ein Hindernis. Wenn die
Arbeiten jedoch erst mal abgeschlossen
seien, sei es mit Sicherheit eine bessere
Lösung als die vorgängige. «So fliesst
dann hoffentlich der Verkehr flüssiger»,
fügt der Churer abschliessend hinzu.
LEA BÄRTSCH
Umgestaltung des Postplatzes
Im Rahmen des Bauprojekts wurde bereits der Kreisel am Postplatz entfernt.
Später sollen dort Verkehrsampeln zu
stehen kommen. Zudem will die Stadt
den öffentlichen Raum zulasten der
Verkehrsfläche vergrössern. (LEB)