Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Inge Kämmerer Hessische Autorinnen im Portrait 05 Ria Endres Von Sylvia Schwab 06.02.2016, 7.45 Uhr, hr2-kultur Sprecherin: Zitatorin: Autorin Yana Robin la Baume Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. O-Ton 01 Für mich ist der Arbeitsplatz überhaupt die Wohnung und das ganze Haus deshalb so angenehm – jetzt für mich als Schriftstellerin, natürlich auch als Metropolenfrau in gewisser Weise – weil ich mitten in der Stadt bin, und die Straße sehr ruhig ist. Sprecherin: Fast ein wenig mediterran wirkt das Frankfurter Nordend mit seinen vielen Bäumen, schmalen Einbahnstraßen, kleinen Lokalen und Geschäften. Ria Endres, die hier seit vielen Jahren wohnt, ist noch immer begeistert von der Lage ihrer Altbau-Wohnung. O-Ton 02 Und ich hab diesen wunderbaren Blick auf zwei Gründerzeithäuser. Also der Blick, der greift sich nie ab: die differenzierten Nischen und die wunderbaren Fenster, und die Bäume davor. also, diese Mischung zwischen grün und weiß, und diese herrlichen Dachgiebel. Und ich weiß, ich bin gleich in der Nähe vom Holzhausenpark. Sprecherin: Mittendrin und doch am Rande – so könnte man ihre Position beschreiben. Nicht nur in Frankfurt, sondern auch im Literaturbetrieb. Seit 1980 schreibt und veröffentlicht Ria Endres unermüdlich. Das Schreiben ist ihr, die 1946 geboren wurde, zur Lebensform geworden. O-Ton 03 Ja, es ist natürlich als Allererstes Arbeit! Das kann man gar nicht anders sagen, es ist ja mein Beruf. Aber Arbeit, das klingt so furchtbar, als würde ich eine Sklavenarbeit unter schrecklicher Fron tun. Das ist es natürlich nicht. Arbeit mäandert in alle Richtungen, ist teilweise schön und teilweise extrem anstrengend, ist teilweise frustrierend. Manchmal hört man auf und will nicht mehr. Aber das fängt dann immer wieder an, es ist ein perpetuum mobile. - Musikakzent - Sprecherin: Um die hundert Titel zählt Ria Endres‘ Bibliographie: Gedicht- und Essaybände, Hörspiele und Theaterstücke, Filme, Erzählungen und zwei längere Prosatexte. Trotzdem ist die Autorin eher ein Geheimtipp geblieben. Was wohl daran liegt, dass sie die kurzen Formen bevorzugt und ihre Texte thematisch und sprachlich anspruchsvoll sind. Ria Endres hat neben Germanistik und Geschichte noch Philosophie studiert – daher ihr großes Interesse an der Sprache, auch als Gegenstand von Literatur. O-Ton 04: Aber natürlich bin ich auch jemand, der sich um äußere Inhalte kümmert, ich bin ja nicht jemand, der sich nur mit den Wörtern beschäftigt. Also, ich hab‘ Themen, die identisch sind quasi mit der Fragestellung, was Sprache ist oder was Nachdenken über Sprache ist und Formulierung. 1 Sprecherin: Wobei Ria Endres Sprach-Begriff sie alle umfasst: die Philosophie und die Psychologie, auch die Musik und die Malerei. In ihrem lesenswerten Essay über „Jacopo Tintoretto und Venedig“ schreibt sie: Zitatorin: Jacopo Tintoretto und Venedig, S. 58 Turner wollte nicht nur der bedeutendste Maler Englands sein, sondern der größte Maler des 19.Jahrhunderts. Dagegen nimmt sich Tintorettos Anspruch bescheiden aus. Er wollte nur Venedigs erster Maler sein; ganz unbeabsichtigt hielt er auch einen Teil des Unbewussten seiner Stadt fest und damit auch Licht und Schatten seines eigenen Lebens. Er konnte noch nicht wie wir heute mit dem Unbewussten reden, aber er malte es. - Musikakzent - Sprecherin: Erzählen und Reflexion sind für Ria Endres beim Schreiben nicht voneinander zu trennen. In ihren Theaterstücken zum Beispiel geht es um die Frage, wie das Denken die Sprache beeinflusst und die Sprache umgekehrt von der jeweiligen Situation manipuliert wird. Um Schein und Sein geht es, um Lüge und Beschwichtigung – und wie die sich in der Sprache spiegeln. In ihren Essays hat Ria Endres sich immer wieder damit auseinandergesetzt, wie Künstler mit dem Scheitern umgehen. O-Ton 05: Es geht doch gar nicht ohne Scheitern. Was ist das Leben langweilig, wenn es immer optimistisch weiter geht! Das interessiert niemanden! Die Künstler interessieren sich für Abgründe, für Sachen, die schwer funktionieren, für Einsamkeit, für Depression – für all diese Dinge, die kompliziert sind! Für das Dunkle. Also, ich kenne keinen Schriftsteller, der keine Abgründe kennt. Sprecherin: Über Beckett und Kafka, Gustav Gründgens und Georg Trakl hat Ria Endres geschrieben. Und über Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek und Lisl Karlstadt. Wie sie sich menschlich und künstlerisch verhedderten, wie sie abstürzten und wieder aufstanden und diese Phasen des Scheiterns auch noch produktiv nutzten. Dass das Scheitern ihr zum zentralen Thema wurde, hängt mit der eigenen Biographie zusammen. O-Ton 06: Für mich ist es natürlich so durch meine Herkunft als amerikanisches Besatzungskind. In einer noch faschistoiden religiösen Welt aufgewachsen habe ich als Kind erfahren, was es heißt, ausgestoßen zu sein. Das hat mich natürlich geprägt, die Nicht-Anerkennung als Kind und das Weggeschubst-Werden! 2 Sprecherin: Wie Ria Endres fünfzig Jahre später den Vater und eine zweite Familie in den USA fand, beschreibt sie in ihrem Feature „Reise nach Michigan. Wie ich die Stimme meines toten Vaters fand“. Doch auch in der Kindheit gab es jemanden, der das kleine Mädchen stärkte: der Großvater. O-Ton 07: Ich hatte also eben im wahrsten Sinne die Musik, und den Großvater, der mir Geige spielen beigebracht hat. Und dann eben im Internat – ich bin ja mit zwölf in ein musisches Gymnasium gekommen – da wurde dann Theater gespielt, da gab es Klavier, da gab es Geige, es gab diese Kunst, wo man sich rein versetzen konnte, und dann auch das Schöne und Ungewöhnliche entdeckt hat. … Und da hab ich mich dann aufgehoben gefühlt. - Musikakzent - Sprecherin: Ria Endres durfte damals die Musik, die Kunst und dann auch die Literatur kennen lernen und fand hier ihre Lebensaufgabe. Sie schreibt über Kunst und Künstler, Literatur und Autoren, sie hört Musik, und die Musik prägt auch ihr Schreiben. Ein Hörspiel komponierte sie wie eine musikalische Fuge, einige Theaterstücke wie eine Sonate. Und auch wenn die Zuhörer oder Zuschauer das nicht genau erkennen, spüren sie doch die Besonderheit von Melodie, Rhythmus oder auch Ton. O-Ton 08: Die Vorstellung, ich müsste jetzt einen 1000-Seiten-Roman schreiben, ist für mich völlig grauenhaft als Vision! Abgesehen davon, dass ich das jetzt energetisch gar nicht zustande bringen könnte. Je älter ich werde, umso deutlicher wird mir eigentlich, dass ich diese kleine Form so liebe. Früher waren meine Sachen länger, jetzt geh ich so in dieses Kürzere. Das ist eigentlich fast ‘ne Neuentdeckung… Zitatorin: RAST im Morgenrot da bist du tot sagte der Reim laß das Reimen sein O-Ton 09: Was ich zum Beispiel nicht verstehe: dass die Lyrik immer noch so ein Stiefkind ist. Denn es ist ja tatsächlich so: kein Mensch hat mehr eine Sekunde Zeit. Die Leute, die die 1000-Seiten-Romane lesen, bewundere ich. Ich kann sie kaum lesen, obwohl ich Spezialistin bin. Aber ein Gedicht kann man lesen, zu einem Gedicht braucht man drei oder fünf Minuten, wenn überhaupt! Und dass diese kurze Form, die eigentlich so gut in diese Zeit der Beschleunigung passen würde, nicht angenommen wird, oder nur sehr sporadisch angenommen wird, das finde ich geradezu rätselhaft. 3 Sprecherin: Ein schwerer Sturz mit schmerzhaften und langwierigen Verletzungen warf Ria Endres zeitweise ganz aus der Bahn. Doch heute möchte sie den Unfall gar nicht missen, denn er hat sie dazu gebracht, anzuhalten und ihr Leben noch einmal neu zu sortieren. Und er hat ihr auch das mögliche Lebensende vor Augen geführt. “Werde, was Du bist“ – unter diesem Titel hat Ria Endres in den Neunzigerjahren eine Reihe von essayistischen Frauenportraits zusammengestellt. Auf die Frage, ob sie in den vergangenen Jahrzehnten schreibend die geworden sei, die sie ist, antwortet sie amüsiert: O-Ton 10: (lacht)… Die Frage wurde mir noch gar nicht gestellt. Ich hab natürlich noch einige dunkle Ecken, wo ich natürlich, wie jeder, nicht der bin, der ich eventuell sein sollte. In gewisser Weise glaube ich schon, dass ich diejenige bin, die ich bin. 4
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