Mittelschule Mariengarten (Hrsg.): Wer das liest, ist ... Krasse Geschichten Bozen: Edition Raetia 2015 Mariengarten. Die an das gleichnamige Zisterzienserinnen- Kloster angeschlossene Internatsschule in St. Pauls-Eppan, eine Mittelschule, die sich einem bemerkenswerten Leitbild verschrieben hat (vgl. http://www.mariengarten.it/), hält offenbar nicht viel von der rundherum grassierenden Selbstlob-Sucht. In dieser Schule kommen demnach zuallererst auch nicht die Schulträger oder die Lehrenden, sondern – die Schüler/innen zu Wort. In einem unlängst erschienenen Lesebuch präsentieren Schüler und Absolventen dieser Mittelschule selbst-verfasste Erzählungen: Geschichten, die darauf schließen lassen, dass die jungen Autorinnen und Autoren (zumeist Angehörige der Jahrgänge 2001-2003) von einer intensiven Lernbegleitung profitiert, dabei aber nie Marschrouten kennengelernt haben, die in Schreibseminaren gelegentlich inständig empfohlen, von ernstzunehmenden Schriftstellern jedoch nie beschritten werden. Die Leiter/innen dieses Projekts (Claudia Oberhollenzer, Martin Pichler, Maria Pirpamer) haben offensichtlich den Jugendlichen keine Vorschriften mitgegeben, worüber und wie sie schreiben sollten; und somit schreiben sie Abenteuer- und Detektivgeschichten, Schulgeschichten und Liebesgeschichten, ganz unbekümmert um alle Diskussionen darüber, dass derartige Genres doch längst schon ausgedient hätten. Aber sie thematisieren unverfroren auch Wunsch- und Angstträume, Hoffnungen, Illusionen, Enttäuschungen, das Reden über coole Klamotten und das Schweigen über familiäre Konflikte. Merkwürdig: Die Schauplätze dieser Geschichten, sofern sie explizit genannt werden, liegen zumeist (jedenfalls aus Bozner Perspektive) in weiter Ferne. Die Musik spielt in Berlin, New York oder Las Vegas, wenn nicht sogar auf Reisen durch unser Sonnensystem oder darüber hinaus; Südtirol aber ist augenscheinlich mega-out. Als wäre das Land unzugänglich, bestenfalls peripher wie die Themen, die in der Literatur dieser Region früher einmal intensiv verhandelt worden sind oder auch immer noch eine Rolle spielen: die konservativen Identitätsmuster, die traditionellen Selbst- und Fremdbilder, die längst obsoleten „Wir“-Gefühle. Als wären alle diese Geschichten nicht in einer Landschaft entstanden, in der deutsch- und italienischsprachige und ladinische Texte neben- und mit-einander im Wettstreit stehen. In diesen Geschichten wird ausschließlich Deutsch gesprochen. Anregungen aus der Literatur werden kaum einmal aufgenommen; hin und wieder grüßt Rosamunde Pilcher, Videospiele wirken jedoch bestimmt weit stärker nach: Banditen und Soldaten tummeln sich in diesen Geschichten, Teufelskerle und Siegertypen, soweit das Auge reicht. – Bisweilen wäre es vielleicht doch angezeigt gewesen, da und dort stärker einzugreifen und zu redigieren: z. B. unmissverständlich als Halluzination aufzudecken und zu charakterisieren, was hin und wieder durchaus umsetzbar erscheint (wie der Traum, es wäre fast ohne weiteres möglich, in der Wüstensteppe von Nevada auf zahmen Wildpferden zu reiten und zwischendurch von Zeit zu Zeit aus einem See Trinkwasser zu schöpfen). 18 Autorinnen und Autoren, darunter: Maria Luigia Benvenuti, Amelie Burger, Niklas Foradori, Jürgen Göller, Benedikt Gramm, Leander Gruber, Julian Höller, Lisa Kiem, Maria Malfertheiner, Vanessa Martini, Sidonie Prokopp, Manuel Toni Streiter, Lisa Taferner und Alexandra Zublasing; 18 Geschichten. Ein einziges Mal führt eine dieser Geschichten, wie seinerzeit die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, hin zu einem Merksatz: „Nur wer an Wunder glauben kann, begegnet ihnen irgendwann“; Barbara Kaufmann hält diesen Satz in ihrer Erzählung fest. Ebenso ausgefallen, auch auffallend: das Genre der Satire; die Erzählung Ausdauer und Disziplin von Anja Prünster ist schon deshalb hier herauszuheben. Die Strategie, im rechten Moment eine Pointe zu setzen und lakonisch Kontra zu geben, wo sonst die Worte leicht versagen (so wie die Spartaner das angeblich souverän beherrscht haben), diese Verfahrensweise wird in der Geschichte Herz oder Laub von Anna Zendron besonders wirkungsvoll genutzt. Was aber die Technik der Komprimierung, der Verdichtung, der Reduktion auf das Wesentliche zu leisten vermag, das erweist sich schließlich anschaulich in der short story Die Milchstraße von Lucia Villotti; da steht kein Wort zu viel, stattdessen Vieles, worüber weiterzudenken sich lohnen würde. Eine krasse Geschichte. Johann Holzner
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