Thema Karl’s kühne Gassenschau Der Landbote Dienstag, 15. März 2016 Müllalarm im Paradies Nachgefragt theaterspektakel Karl’s kühne Gassenschau kehrt nach Winterthur zurück. Auf dem Industriegelände in Oberwinterthur entsteht «Sektor 1», eine spektakuläre Zukunftsvision über ganz gegenwärtige Ängste. Paul Weilenmann Künstlerischer Leiter, Gründer «Sektor 1 ist wie die Schweiz» Die Baumaschinen und Wohnwa gen sind auf die Brache in Neu hegi zurückgekehrt. Seit Wochen rätselt halb Winterthur: Was plant Karl’s kühne Gassenschau diesmal? Das Vorgängerstück «Fabrikk», das 2011 hier Premie re feierte, zog mit Gastspielen in Olten und StTriphon über eine halbe Million Besucher an. Gestern lüfteten die Gassen schauMacher das Geheimnis: Das Stück, das ab 9. Juni hier ge spielt wird, wird «Sektor 1» heis sen. Das Plakat, das der Winter thurer Cartoonist Peter Gut ge staltet hat, zeigt einen Astronau ten, der auf einem Müllsack reitet. Und tatsächlich spielt das Stück in einer nicht allzu fernen Zu kunft. Die Menschheit hat ihren Planeten aufgeräumt und den ganzen Müll in den Orbit geschos sen. Damit sie auf der Erde über leben kann, müssen sich alle Be wohner strikt an die neuen Re geln halten. Dann winkt zum Lohn ein Leben im «Sektor 1», in der verbliebenen Wohlfühloase. Doch die Menschen sind eigen sinnig, und der Orbit beginnt zu rinnen. Die schöne neue Welt droht im Abfall unterzugehen. «Wir versuchten ein Lebens gefühl einzufangen», sagt Paul Weilenmann, Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter (siehe auch Interview rechts). «Der Müll ist eine Metapher für die Überfor derung, die uns angesichts all der Weltprobleme befällt, die in den Medien jeden Tag auf uns einströ men.» Baustellentermin: Der technische Leiter, Markus Heller, zeigt im sechs Meter tiefen Technikgraben das Bühnenmodell für «Sektor 1». Poesie und Grössenwahn Wie immer bei den Produktionen von Karl’s kühner Gassenschau mischen sich Artistik und High tech, Klamauk und Gesellschafts kritik, Poesie und Grössenwahn. Mit welch riesiger Kelle hier ange richtet wird, zeigt sich schon an der Zahl der Techniker, die das fünf Hektaren grosse Gelände in eine zauberhafte Eigenwelt ver wandeln: 30 sind es aktuell, bis zu 50 werden es in den nächsten Mo naten sein. Die Tribüne wird, wie bei «Fabrikk», 1400 Zuschauer fas sen. Das Bühnenbild ist eine sanf te Hügellandschaft voll versteck ter Überraschungen. Allein der Technikgraben im hinteren Teil ist 6,5 Meter tief und gross wie eine Turnhalle. Um die gigantischen Requisiten zu bewegen, sind Kran teile, Seilwinden und tonnen schwere Schienenwagen im Ein satz. «Wir erschrecken manchmal selbst, wie es so weit kommen konnte», sagt Weilenmann, der Karl’s kühne Gassenschau zusam men mit Brigitt Maag, Ernesto Graf und Markus Heller vor 32 Jahren als Strassentheater ins Le ben rief. Heller, gelernter Orgel bauer, überwacht die Technik. «Fast alle unsere Geräte sind Pro totypen.» Doch auch die Gastro nomie oder nur schon die Toilet tenanlage auf der Baubrache si cherzustellen, ist ein Kraftakt. Ein Baugesuch ist noch hängig: Um das Areal mit dem Parkplatz beim Bahnhof Hegi zu verbinden, Patrick Gutenberg ist eine Fussgängerbrücke über die Seenerstrasse geplant. Ab 9. Juni finden Vorstellungen statt. Tickets gibt es ab heute im Vorverkauf, unter anderem bei Ticketcorner und Winterthur Tourismus, sie kosten für Er wachsene 68 bis 78 Franken. Ge spielt wird täglich, ausser Sonn tag und Montag. Michael Graf Ein Strassenzirkus wird zur Spektakelfabrik Geschichte Von der Gasse ins Zirkuszelt und in den Steinbruch: der kühne Aufstieg eines Showphänomens. Als Karl’s kühne Gassenschau 1984 zum ersten Mal in Winter thur auftrat, passten alle Artisten 3 und Requisiten noch in einen CitroënKleinbus Typ H. Inzwi schen müssen die Spielstätten für die Produktionen in monatelan ger Arbeit regelrecht ins Gelände gebaut werden. Was ist passiert? Nach den StrassenvariétéJah ren werden die Produktionen und Bühnenbilder zusehends grösser und spektakulärer: «Baustelle» (ab 1989) setzt mehrstöckige Bau gerüste ein und im Jahr 1994 ver lässt die Truppe mit «Steinbruch» erstmals die Gasse und bespielt einen Steinbruch in der Lägern. Sozialkritisch war man schon damals: Im Steinbruch wur den nämlich Menschen entsorgt, die für die Gesellschaft nicht mehr nützlich waren. Als «Rupture» kam es 1995 auch in der Romandie zur Aufführung, auch das ist eine Tradition geworden. 1997 ist man mit «Grand Paradis» im Zirkus Mensch und Maschine: Die Gassenschau kombiniert Artistik mit Hightech, ob in der Schokoladenfabrik oder im vollautomatischen Altersheim. mad, awo zelt unterwegs und 1999 mit dem Circus Knie – ein Ritterschlag. Nicht der einzige: Nach drei Prix Walo gab es letztes Jahr den Schweizer Theaterpreis. Voraus gegangen waren immer spektaku lärere Programme: «Stau» (ab 1998), das auch im Winterthurer SulzerAreal gastierte und erst mals einen Kran einsetzte. Und «Akua» (ab 2002), das auf einem selbst gebauten See in Würenlos die ganze Bühne versinken liess. «Silo 8» (Bild links) war 2006 das erste Stück, das auf der Ober winterthurer Industriebrache Premiere feierte. Riesige Türme aus rostigen Schiffscontainern stellten hier das Altersheim der Zukunft dar, in dem die Bewohner den Aufstand probten. Bei «Fabrikk» (Bild rechts) ging es dagegen ab 2011 um nationale Identität in Zeiten der Globalisie rung: Eine traditionsreiche Scho koladenfabrik will nach China ex pandieren – doch die Chinesen möchten gleich die ganze Fabrik abzügeln. Ein kleiner Grossbe trieb ist inzwischen auch die Gas senschau: Bei «Sektor 1» werden rund 50 Personen mitwirken, bei Aufbau und Proben sogar doppelt mig so viele. Kurze Frage, kurze Antwort: Was ist der «Sektor 1»? Paul Weilenmann: Er ist eine Art Wohlfühloase der Zukunft. Ob na türlich oder künstlich geschaffen, lassen wir offen. Und wofür stehen die Abfall säcke auf dem Plakat? Der Abfall bildet den Kontrast zu dieser wunderbaren Parkwelt. Wir behaupten im Stück ja, dass die Menschheit beschlossen hat, allen Abfall zusammenzuräumen, den Plastik aus den Meeren auf zusaugen und das alles mit riesi gen Raketen in den Orbit zu schi cken. Von jetzt an ist es sauber auf der Welt, es gibt keinen neuen Ab fall mehr. Dafür müssen sich alle an die Regeln halten. Wenn nicht, geht die Welt unter. Reden wir hier von ganz kommunem Haushaltsabfall? Nein, der Abfall funktioniert auch als Symbol für alle Dinge, die uns Angst machen, die wir gerne los würden. Wir werden diese Dinge im Stück nicht einzeln benennen. Es geht uns um dieses Gefühl der Überforderung, das uns ange sichts der grossen Weltprobleme befällt. Zum Beispiel: Wie soll man mit Krieg und Flüchtlings strömen umgehen, mit den AKW, mit der Klimaerwärmung? Und was ist Ihre Antwort? Wir haben auch keine parat. Un ser Beitrag ist ein fantasievolles, kreatives Stück. Wir haben es auch darum in die Zukunft ver setzt, um dieses Gefühl überspit zen und in fantastischere Bilder packen zu können. Ursprünglich wollten wir das Stück übrigens in einer Müllhalde spielen lassen, auch als Reaktion auf die super saubere Fabrikwelt der letzten Produktion. Doch wir merkten: Um den Abfall zur Geltung zu bringen, braucht es auch einen Kontrapunkt, etwas Schönes. Der Park steht natürlich, wenn man so will, auch für die Schweiz. Wir ha ben im internationalen Vergleich fast null Probleme. Und trotzdem ist jeder Schweizer besorgt ange sichts dessen, was wohl kommt. Wird das neue Stück noch grösser als «Fabrikk»? Zuschauermässig nicht, 1400 scheinen eine gute Grösse für uns. Wir haben aber mehr Schauspie ler, mehr Budget und mehr Vorbe reitungszeit. Natürlich spüren wir den Druck, mit jedem Stück noch eine Schippe draufzulegen. Auch die neueste Produktion feiert in Winterthur Premiere – warum? Winterthur ist einfach super. Nicht weil es nahe an Zürich liegt, es ist für uns sogar besser als Zü rich. Man hätte dort den Platz nicht, dürfte nicht so lange spie len, und es gäbe es viel mehr Auf lagen. In Winterthur fühlen wir uns sehr willkommen und die Zu schauer kennen den Ort bereits. Werden Sie gleich wieder zwei Saisons gastieren? Darüber kann ich noch nichts sa gen, die Abklärungen laufen noch. Hätten Sie gedacht, dass Ihre Kerntruppe auch nach 32 Jah ren noch dabei ist? In unseren Gauklerjahren sicher nicht. Aber so nach zwölf, fünf zehn Jahren wurde uns klar, dass es ein Lebensprojekt wird. Wenn ich heute über den Platz laufe, macht mir das selbst auch Ein druck. Interview: mig
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