4 epd sozial ■ Nr. 33. 14.08.2015 MIGRATION »Geflüchtete Mädchen sind oft unsichtbar« Unbegleitete Minderjährige brauchen geschlechtssensible Betreuung der Jugendhilfe Berlin (epd). Die Bundesregierung plant, die »Unbe gleitete minderjährigen Flüchtlinge (UMF) künftig zentral auf alle Bundesländer zu verteilen. Dagegen gibt es bei vielen Sozialverbänden Widerstand. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozi alarbeit (BAG EJSA) sorgt sich besonders um das Wohl geflüchteter Mädchen. Bundesgeschäftsführer Michael Fähndrich erläutert im Interview, worauf es bei der geschlechtsensiblen Betreuung der weibli chen Flüchtlinge vor allem ankommt. Die Fragen stellte Dirk Baas. epd sozial: Die Bundesregierung hat die zentrale Verteilung der UMF beschlossen. Was sagen Sie generell zu dem Vorhaben? Michael Fähndrich: Die Vorgabe, den Königsteiner Schlüssel für die Verteilung zu verwenden, war zwar im ursprünglichen Gesetzentwurf enthalten, wurde aber in den verabschiedeten Gesetzestext nicht über nommen. So gibt es nun auch die Möglichkeit, zu ei ner anderen Verteilungsform zu kommen und die Dis kussion darüber wird weiter geführt. Die BAG EJSA steht in enger Abstimmung mit der Diakonie Deutsch land, die ihre fachliche Expertise in die Positionierung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrts pflege (BAGFW) einbringt. epd: Was ist beim Thema « UMF » auf jeden Fall zu beachten? Fähndrich: Viele UMF fallen mit Vollendung des 18. Lebensjahres aus der Jugendhilfe heraus. Sinnvoll ist, dass sie dann in der Kommune weiter gefördert wer den. Weil nicht geklärt ist, wer dann die Kosten über nimmt, sollten sie zumindest weiterhin auf die UMFQuote angerechnet werden. epd: Und weiter? Fähndrich: Positiv sehen wir, dass nach dem Gesetz bei der Zuweisung in Deutschland lebende Verwandte berücksichtigt werden. Diese Regelung sollte noch erweitert werden: Auch Personen ohne verwandt schaftliche Beziehung, aber mit persönlicher Bindung sollten berücksichtigt werden. Jede Einzelfallentschei dung muss dem Kindeswohl dienen. epd: Viele Jugendverbände verweisen darauf, dass in den allermeisten Jugendämtern weder Know How noch quualifiziertes Personal vorhanden ist. Fähndrich: Die Evangelische Jugendsozialarbeit Bay ern macht zurzeit die Erfahrung, dass ihre Fortbil dungsangebote zur Arbeit mit jungen Flüchtlingen so zusagen überrannt werden. Der Bedarf an Fortbildung ist riesig. Wenn nun die zentrale Verteilung umgesetzt werden wird, wird der Bedarf an Qualifizierung und Fortbildung noch steigen. epd: Das neue Gesetz soll zum 01. Januar 2016 in Michael Fähndrich ist Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemein schaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA). Foto: BAG EJSA Kraft treten. Ist der Zeitplan einzuhalten? Fähndrich: Der Zeitplan ist sehr anspruchsvoll und zeigt, wie groß der Handlungsdruck ist. Trotzdem sollte man nicht übereilt handeln. Um zu vermeiden, dass die jungen Menschen gleichmäßig auf über 600 Jugendamtsbezirke verteilt werden, von denen die Mehrheit keinerlei Erfahrungen im Umgang mit min derjährigen Flüchtlingen hat, hatte die BAGFW bereits im März vorgeschlagen, Kompetenzzentren zu schaf fen. Diesen Vorschlag halten wir für sinnvoll. epd: Warum? Fähnrich: Die BAGFW schlägt vor, für die Einrichtung neuer und die Weiterentwicklung vorhandener Kom petenzzentren die Zuständigkeit von örtlichen Trägern auf den überörtlichen Träger zu verlagern. Bereits be stehende Kompetenzen in den Bundesländern sollten ausgebaut werden. Zudem müssen Regelungen getrof fen werden, die die Refinanzierung der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen über die verpflichtende Kapazität des jeweiligen Landes hi naus sichern. epd: Wie viele Jugendämter Flüchtlinge aufnehmen, entscheiden die Länder selbst. Werden dann überhaupt Jugendliche in der Fläche verteilt oder bleibt es bei einer überschaubaren Zahl an Behörden, die sich vermutlich in den größeren Städten befinden? Fähndrich: Diese Vermutung könnten wir bestätigen. Allerdings hängt es eher an der Freien Jugendhilfe, wo sie qualifizierte Aufnahmeeinrichtungen in Kooperation mit der öffentlichen Jugendhilfe anbietet. Es könnte aber auch gerade umgekehrt sein, dass die Mietpreise in den Ballungsgebieten zu hoch sind und die Einrich tungen sogar auf der « grünen Wiese » entstehen. epd: Die Entscheidung über einen Ortswechsel soll nach spätestens 14 Tagen erfolgen. Fachleute halten das für illusorisch. Fähndrich: Auch hier teilen wir die Einschätzung der BAGFW, die die Frist von 14 Werktagen, innerhalb de rer eine Verteilung aus Gründen des Seuchenschutzes ausgeschlossen sein soll, hinterfragt. Auch aus unse rer Sicht muss es bei der ärztlichen Untersuchung um eine Klärung des gesundheitlichen Allgemeinzu standes gehen. Dazu gehören auch die Frage der ➤ MIGRATION ➤ eine Klärung des gesundheitlichen Allgemeinzu standes gehen. Dazu gehören auch die Frage der Transportfähigkeit, die Feststellung eines Verdachts auf eventuelle Traumatisierungen oder Behinderun gen. Erst dann kann entschieden werden, welches Zu weisungsjugendamt geeignet ist. epd: Was unterscheidet die Schicksale von Mädchen und Jungen durch die Flucht? Fähndrich: Bei Mädchen kommen auf der Flucht vor Gewalt und Krieg auch Erfahrungen von sexueller Ge walt und Fremdbestimmtheit in Bezug auf Lebens konzepte, freie Partner/-innenwahl, Schwangerschaft oder sexuelle Orientierung hinzu. Ihre Fluchterfah rungen, Abhängigkeitsverhältnisse und das Erleben enormen Druckes in scheinbar ausweglosen Situatio nen, verstärken die Gefahr, immer wieder Opfer von sexualisierter Gewalt oder Menschenhandel zu wer den. Diese traumatisierenden Erfahrungen prägen ins besondere Mädchen und jungen Frauen. epd: Haben Sie genaue Zahlen, wie viele Mädchen unter den Flüchtlingen sind? Fähndrich: Wir stützen uns auf die Zahlen von Euro stat. Danach kamen 2014 rund 25.000 (ca. 47 Pro zent) Mädchen und rund 27.000 (ca. 52 Prozent) Jun gen im Alter bis zu 14 Jahren und rund 8.000 (ca 67 Prozent) männliche und 4.000 (etwa 33 Prozent) weibliche Flüchtlinge im Alter von 14 bis 18 Jahren zu uns. Die Jugendsozialarbeit ist für benachteiligte junge Menschen bis zum Alter von 27 Jahren verant wortlich. Rund 20 Prozent der unbegleiteten jungen Flüchtlinge sind weiblich. epd: Warum stellen Mädchen die Kinder- und Jugendhilfe vor besondere Herausforderungen? Fähndrich: Mädchen und junge Frauen, die gemein sam mit ihren Familien geflüchtet sind, werden oft »unsichtbar« , weil sie von ihren Angehörigen abge schirmt und extrem beschützt werden. So treten sie in den Einrichtungen oft gar nicht in Erscheinung. Werden sie dann in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betreut, zeigt sich, dass der Spagat zwi schen den Werten, Normen und Traditionen, die sie aus ihrem Land kennen, und den hiesigen Werten schwer zu bewältigen ist. Den Kontakt oder die Zu sammenarbeit mit Männern kennen viele Mädchen aus ihren Herkunftsländern nicht. Das erschweret den Vertrauensaufbau zu den Mitarbeitenden. epd: Sie fordern spezielle Angebote für deren Betreuung. Wie sollten die aussehen? Fähndrich: Eine adäquate Arbeit mit geflüchteten Mädchen und jungen Frauen in Angeboten der Ju gendsozialarbeit ist wichtig. Geschlechter- und trau masensible Arbeit mit geflüchteten Mädchen und jun gen Frauen schaut gezielt auch auf Mädchen und junge Frauen, die mit ihren Familien geflüchtet sind, um zu verhindern dass sie »unsichtbar« werden. Au ßerdem ist es wichtig, niedrigschwellige Zugänge et wa zu aufsuchenden Angeboten zu schaffen. Unver zichtbar ist fremdsprachliche Elternarbeit sowie die Nr. 33. 14.08.2015 ■ epd sozial 5 Weiterqualifizierung und Fortbildung von Fachkräften (auch Lehrkräften) und Ehrenamtlichen. Ideal ist es, wenn nur weibliches Personal als Bezugspersonen eingesetzt werden kann. Zudem muss versucht wer den, eine (Re-)Traumatisierung zu verhindern. Zudem ist es aus unserer Sicht wichtig, ein Konzept für mädchen- und frauenspezifische Beratung mit fol genden Eckpunkten zu haben: n Beratung und Begleitung durch weibliche Fach kräfte n Berücksichtigung der besonderen Bildungsbedürf nisse von Mädchen und jungen Frauen auch im Hinblick auf die berufliche Orientierung n Netzwerk geschulter weiblicher muttersprachlicher Therapeutinnen bzw. mit weiblichen Übersetzerin nen für Mädchen mit Trauma- und Ausbeutungser fahrungen n Netzwerk geschulter Ärztinnen (z.B. Frauenärztin nen besonders bei Schwangeren, Opfern von sexua lisierter Gewalt und Opfern von Genitalverstümme lungen) epd: Ist denn das Personal dafür vorhanden und bereits hinreichend qualifiziert? Fähndrich: Ohne Fort- und Weiterbildung wird es nicht gehen. Die Tagung »Geflüchtete Mädchen und junge Frauen im Spannungsfeld von Fluchterfahrung, Aufenthaltsrecht und Jugendhilfe« jüngst in Hamburg war mit 150 Personen restlos ausgebucht und es wur de mehrfach der Wunsch geäußert, diese Veranstal tung in Süddeutschland zu wiederholen. Wir schlie ßen daraus, dass der Bedarf an Fortbildung von Fachkräfte sehr hoch ist. epd: Sie beklagen, es fehle den Einrichtungen der Blick auf mädchenspezifische Bedarfe. Fähndrich: Wir fordern, dass mädchenspezifische Be darfe standardmäßig ein Qualitätskriterium von Flüchtlingsarbeit sein muss. Es muss mehr darauf ge achtet werden, dass die Belange von Mädchen und jungen Frauen wahrgenommen werden. Geschlechts homogene Einrichtungen und Angebote sind ein ers ter Schritt, um einen sicheren Zufluchtsort bereitzu stellen. Dazu gehören beispielsweise geschlechterhomogene Sprachkurse, aber auch geschlechtssensible Beratungs- und Freizeitangebote. epd: Viele Expertinnen fordern, dass weibliche Flüchtlinge nur von Frauen betreut werden. Können die Jugendämter das überhaupt leisten? Fähndrich: Auch wir sind der Meinung, dass es bes ser ist, Mädchen und junge Frauen nur von weibli chem Personal betreuen zu lassen. Minderjährige weibliche Flüchtlingen brauchen spezifische Unter stützung von parteilichen, gut vorbereiteten und aus gebildeten weiblichen Fachkräften. Wenn die Jugend ämter meinen, das derzeit noch nicht leisten zu können, müssen entsprechende Maßnahmen wie et wa Nachqualifizierung ergriffen werden. Das bedeutet ja nicht zwingend, dass dadurch eine größere Anzahl von Personen benötigt wird.
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