Bohéme und Klassenkampf - Deutschlandradio Kultur

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Bohéme und Klassenkampf
Der Schriftsteller Robert Wolfgang Schnell
O-Ton R.W. Schnell CD 008781, Track 2 / 8, 46 min:
„Ich weiß nicht, ob eins meiner – ich darf wohl sagen: moralischen - Bücher erschienen wäre,
wenn ich einem Lektor nicht dreißig Biere ausgegeben hätte, als er gerade klamm war. War
der bestechlich? Ist die Moral auf unmoralischem Wege ans Licht gekommen? Auf jeden Fall
las er, beflügelt durch die Biere, ein bisschen in dem Manuskript und fand mich als Person
interessant, weil ich beim Saufen so entsetzlich viel dummes Zeug geredet hatte.“ (ca. 25 sec)
O-Ton Michael Fisch:
„Zum 70. Geburtstag wurde Schnell gefragt, ob er nicht in der berühmten Kneipe „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz feiern wollte. Und auf der Einladungskarte gab’s so einen schönen
Spruch: Wer bis 15 Uhr nicht besoffen ist, zahlt seine Zeche selber!“ (ca. 15 sec.
O-Ton Klaus Völker:
„Er war zwar – mit dem Herzen sowieso – aber auch mit dem Verstand links, aber nie ideologisch fixiert. Also mit allen Parteibonzen hat er sich wie alle guten Leute sehr schnell angelegt und immer verkracht. (ca. 19 sec.)
Musik:
Unter Sprecherin legen
Sprecherin:
Als Hafenpastor Blacky ist er in der ZDF-Serie „MS Franziska“ einem Millionenpublikum
ans Herz gewachsen. Das war in den Siebzigern - einer Zeit, in der das Multitalent Robert
Wolfgang Schnell nicht nur fürs Fernsehen schauspielerte, sondern auch malte, zeichnete und
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vor allem schrieb: Drehbücher, Hörspiele, Gedichte, Romane, Erzählungen. Sein 1968 erschienener Roman „Erziehung durch Dienstmädchen“ war beim Publikum wie bei der Kritik
ein Erfolg. Das Buch erzählt von Schnells Kindheit im Wuppertaler Stadtteil Barmen, wo er
am 8. März 1916 geboren wurde. Schon als Kind begann Schnell zu schreiben.
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 6,53 min
„Mein erstes Opus war ein Drama, „Moosmädchens Abenteuer“, wurde von meinem Bruder
in Musik gesetzt. Und das wurde von unserer Familie aufgeführt. Und da musste natürlich
alles ganz leise sein. (...) Na ja und wenn dann eener an den Stuhl stieß, meine Schwestern
oder ich, die dazu singen mussten, dann gab’s was hinter die Ohren. So lernte ich gleich, wie
schwer dit ist, Kunst zu machen. (ca. 30 sec)
Sprecherin:
Schnells Vater war Bankdirektor. Für eine bürgerliche Laufbahn, wie sie seine Eltern für ihn
vorgesehen hatten, erwies sich Robert Wolfgang Schnell bereits in der Pubertät als ungeeignet. Er entwickelte einen antibürgerlichen Freiheitsdrang, las Brecht und Hasenclever, die
Schule beendete er ebenso wenig wie ein privates Kompositionsstudium.
Musik:
Unter Zitator und O-Ton legen
Zitator:
„Ich habe vier oder fünf Symphonien geschrieben. Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren.
Auch ein „TeDeum“ für Doppelchor und vier Orchester. Alles voller Terzen und Trompeten.
Das schob ich vor mir her wie eine Schubkarre, und nie hatte ich einen Zweifel über den Weg.
Die Zweifel hatten die anderen. Die Familie. Die Nachbarn. Die Leute über uns und unter uns.
Und wenn abends nach zehn Uhr oder mittags zwischen eins und drei irgend etwas zu hören
war, sollte es auch der schönste Dreiklang gewesen sein, bumsten sie mit Besen an die Decke,
und oben trampelten sie auf dem Fußboden herum.
Nur eine Frau Terborch, eine schwerhörige alte Dame, lobte meine Musik. Alle andere war
für sie nicht laut genug. In ihrer Verehrung ging sie soweit, bei den damaligen Reichspräsidentenwahlen weder Hindenburg noch Thälmann zu wählen: in die freie Zeile trug sie meinen
Namen ein. So dankte sie dem Musiker, der auch für Schwerhörige etwas zu bieten hatte.“
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O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 2,12 min
„Ich habe damals nur komponiert, ununterbrochen. Ich habe eine Fülle von Werken geschrieben, die alle mit großem Misserfolg aufgeführt wurden. Na ja, und dann habe ich eben gemalt,
plötzlich wurde ich Maler.“
Sprecherin:
Robert Wolfgang Schnell trat dem Jugendverband der Anarcho-Syndikalisten bei, und schloss
sich in den dreißiger Jahren der Künstlergruppe „Die Wupper“ an, zu der Else LaskerSchüler, Franz Marc und Luise Rinser zählten. Die Reichskammer der Bildenden Künste
lehnte 1937 einen Aufnahmeantrag Schnells ab, der sich daraufhin in Mühlheim an der Ruhr
als Hilfsarbeiter und Laborant durchschlug, bis er 1939 vom Steueramt der Stadt dienstverpflichtet wurde. 1941 ging er ans Theater und später als Operninspizient und –regisseur nach
Den Haag.
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 3,53 min
„In meinem Haus wohnten oben auf dem Dach sechs geflüchtete holländische Soldaten. Und
die hab ich natürlich nicht angezeigt. Na und dann eines Tages war Hausdurchsuchung bei
mir. Na ja …“ (ca. 17 sec.)
Sprecherin:
Angriffe der Engländer verhinderten den Prozess wegen Defätismus und freundlicher Gesinnung für den Feind“. Schnell floh zurück nach Deutschland, wo er zur Wehrmacht eingezogen
wurde. Seinen Armeedienst beendete er im Februar 1945, indem er desertierte. Über die geistige Verfassung des Nachkriegsdeutschlands schrieb er:
Zitator:
"Schon 1945 bei meinem Wuppertal-Besuch begrub ich meinen jakobinischen Traum von
einem durch Furien moralisch gefestigten Deutschland und irrte unter den Aufgescheuchten
umher, für die der damalige geschichtliche Zustand eine unangenehme Unterbrechung ihres
Erwerbslebens war. ‚Dies Volk ist hoffnungslos‘, las ich bei Heinrich Mann. Das traf mich
zwischen stehen gebliebenen Schornsteinen und Brandmauern."
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Sprecherin:
Schnell zog es wieder zum Theater. 1946 gründete er die Ruhrkammerspiele Witten. Ein Jahr
später lernte er Wolfgang Langhoff in Düsseldorf kennen und folgte ihm nach Berlin.
O-Ton Klaus Völker:
„Er war natürlich als Schriftsteller und Künstler sehr stark geprägt von der unmittelbaren
Nachkriegszeit.
Sprecherin:
Klaus Völker, Autor, Literatur- und Theaterkritiker sowie ehemaliger Rektor der Berliner
Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, hat Robert Wolfgang Schnell in Berlin kennen gelernt.
O-Ton Völker:
„Seine erste Inszenierung, ich glaub, das war „Leonce und Lena“ im Deutschen Theater, in
den Kammerspielen, bei Langhoff, war nicht so ein Erfolg. Und irgendwie hat er sich da, was
bei Schnell öfters passiert ist, er hat sich also verkracht ein bisschen, und die Theaterkarriere
endete dann irgendwie.“ (ca. 20 sec)
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 4,28 min
„Ich hatte mich mit Langhoff verkracht. Das war ganz einfach. Mit dem konnte man sich sehr
leicht verkrachen. Und die wollten mich nicht behalten. Da bin ich eben abgehauen, oder
vielmehr habe ich eine Kündigung gekriegt. (…) Und dann musste ich ja von irjendwat leben.
Und damals waren die Kohlenträger berühmt. Da kriegte man für die Etage fünf Pfennige.
Und wenn die in der 7. Etagen waren, warste froh, kamst zwar oben ungeheuer keuchend an,
aber dann hattste wenigsten ein paar Mark verdient.“ (ca. 40 sec)
Sprecherin:
Schnell arbeitete auch als Drehbuchautor und schrieb und zeichnete für das Satiremagazin
„Eulenspiegel“. Nach Gründung der DDR und einer ideologischen Ausrichtung der Zeitschrift
wurde er arbeitslos. Er konzentrierte sich auf die Malerei, stellte zum ersten Mal aus. 1958
traf er beim Jugendfestspieltreffen in Bayreuth einen Geistesverwandten.
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O-Ton R.W. Schnell CD 101182, 25,49 min:
“Günter Bruno Fuchs, der mich immer Wladimir nannte und ich ihn Regenmaus.“
Musik:
Anspielen, dann unter O-Töne legen
O-Ton R.W. Schnell CD 101182, 28,00 min:
Die erste Nacht, in der wir uns kannten, verbrachten wir eng umschlungen auf einer Bank in
dem kleinen Park vor dem Festspielhaus – mit mehreren Flaschen Bier. Wir hatten uns viel zu
erzählen und schließlich schliefen wir ein. Dehmel, der am Grabe Liliencrons gesprochen hat,
sagte in seiner Rede „Er war immer ein Ritter, manchmal auch ein Strauchritter.“ Den
Strauchritter, den jeder in sich hat, muss man meist verstecken. Nun brauchten wir das nicht
mehr. (ca. 23 sec.)
O-Ton Klaus Völker:
„Günter Bruno Fuchs, der wurde sehr schwer, wenn er viel getrunken hat, langsam, zum
Schluss hat er sich auch zu sehr ruiniert gehabt und war mehr auch faunisch und ein Kobold,
unberechenbar. Da war der Robert Wolfgang Schnell ein Nachdenklicherer, etwas gesetzter.
(…) Robert Wolfgang Schnell verschwand irgendwann nach so einer Phase starken Trinkens was Günter Bruno Fuchs gar nicht mehr schaffte - und saß dann und arbeitete.“ (ca. 40 sec.)
O-Ton R.W. Schnell CD 101182, 36,27 min:
„Wir dichteten uns öfter an. Günter Bruno so: „Der Bernadiner Robert Wolfgang Schnell /
geht durch die Nacht im Kneipenschritt / Ein Mond, der aus den Wolken tritt / blickt ihm mit
kugelrunden Augen ins Gebell / Wie auf dem Bild des Malers Robert Wolfgang Schnell.“
Und ich: „Wenn ich dich sehe, sehe ich mehr / Die voll gestopften Säcke Peter Hilles / Die
Feder der Else Lasker Schüler / in der plötzlich die Tinte stockt und in die Wälder läuft / aus
deren Holz du uns die schwarzen Träume schlägst / die dich selber tragen immer wieder über
unser Dorf Kreuzberg / und alle anderen Berge, die wir verlacht haben, weil keiner sah / dass
schwarze Träume für die Himmel der Unschuldigen geträumt werden.“ (ca. 40 sec)
Sprecherin:
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1959 gründeten Robert Wolfgang Schnell und Günter Bruno Fuchs zusammen mit dem Bildhauer Günter Anlauf in der Kreuzberger Oranienstraße Nr. 27 die Hinterhof–Galerie »Zinke«.
Bis zum Bau der Mauer trafen sich hier Künstler aus Ost und West – Günter Grass und Johannes Bobrowski, Manfred Bieler und Hermann Kant. Der Ort war damals von Schnell, der
sich auch als „Arbeiter im ästhetischen Bereich“ bezeichnete, und seinen Freunden bewusst
gewählt worden: Im damaligen Berliner Arbeiterbezirk Kreuzberg sollten Literatur und Kunst
dem Proletariat nahe gebracht werden.
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 5,28 min
„Bloß, wir hatten ja gar keinen Erfolg, nicht. Die „Zinke“ war immer gefüllt wenn Lesungen
waren oder sowat, aber die Arbeiter, die wir eigentlich ansprechen wollten, die kamen ja gar
nicht.“ Und dann gab es immer ganz große Debatten, gegenüber war so ‚ne Kneipe, die hieß
damals Jägerklause, die jibt dit nich mehr. Und da saßen wir immer rum. Günter Bruno war ja
auch ein berühmter Trinker und schon dadurch berühmt. Ich tat ihm da auch wenig nach.“ (ca.
30 sec)
O-Ton Klaus Völker:
„Berlin hatte ja den Reiz im Unterschied zu Westdeutschland, dass es keine Polizeistunde gab
und die Kneipen alle durchgehend geöffnet waren. (…) Und das war auch nicht teuer. (…)
Geschlafen hat man am Vormittag. (…) Die Nächte waren immer lang.“ (ca. 17 sec)
Kneipenatmo:
Unter Sprecherin / Zitator / Sprecherin legen
Sprecherin
In seinem ersten Roman „Geisterbahn“, der nach dem Erzählband „Mief“ 1964 erschien, setzte Schnell der Kreuzberger Szene rund um die „Zinke“, die ein knappes Jahr nach dem Mauerbau einschlief, ein literarisches Denkmal. Im Nachwort zur Neuausgabe von 1973 schrieb er
rückblickend:
Zitator:
„Im Zuge der Feste und der Gründung einiger Spezialkneipen, in denen man entdeckte, dass
das Sitzen auf kaputten Sofas gemütlicher ist als auf neuen, kamen mehr Leute auf den Gedanken, kleine Galerien in Läden und Kellern zu gründen, und die „Zinke“ musste zwischen
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den Merkantilisten langsam einschlafen. Sie war ein Ballon, der zum Himmel flog und eine
große Vision mitnahm. Die Vision von der „Kunst“ als möglichem Bollwerk des armen Menschen, aus dem er seine Lage als Besonderheit sehen konnte.“
Sprecherin:
In seinem Roman „Geisterbahn“ erzählt Schnell die Geschichte des Kreuzberger Dichters
Märchen, der sein Geld in einer Likörfabrik als Flaschenreiniger verdient, heiratet und betrogen wird. Er erzählt vom Kriegsinvaliden Hassenkamp, dem seine Vermieterin nachts die
Krücken wegnimmt, damit er nicht so oft pinkeln gehen kann, von der Putzfrau Karla, die
sich das Leben nimmt, und von der drallen, ebenso hintertriebenen wie sexuell freizügigen
Veronika, die sich den Trödler Rabenholz angelt, der ihr eine Kneipe schenkt. Das Vorbild für
diese Restauration war der legendäre Kreuzberger „Leierkasten“.
O-Ton Klaus Völker:
Der Wirt war Mühlenhaupt. Der hatte eigentlich da in der Nähe so einen Trödel, wo er auch
seine Bilder verkaufte und andere Bilder bei gutem Wetter und anderer Trödel. Und in der
Nähe war die Kneipe, war neben einem Friedhof. (ca. 18 sec)
Zitator
Rabenholz hatte auch schon ein Lokal in Aussicht. Es hieß „Treffpunkt gegenüber dem Gottesacker“. (…) Dass dieser Treffpunkt verkauft werden sollte, lag nicht an dem Mangel an
Gästen, es lag an der auflösenden Gewalt des Alkohols, der hier die Wirtsleute selbst zum
Opfer Gefallen waren. (…) Selma verschliss in ihrer Kneipe drei Männer. Drei rüstige Herren, die daran kaputt gingen, dass ihre Frau mit dem Tage der Eheschließung die Anstellung
einer Putzfrau als überflüssig ansah. Weiter ging sie davon aus, dass eine Frau nur reizvoll
bleibt, wenn sie nicht zerarbeitet wird, und ohne Reize kann man keinem Mann was sein. Erstaunt und auf massive Art verbittert war Selma dann allerdings, wenn die zerstörten Männer,
nach der Zerstörung, mit Selmas Reizen nichts mehr anzufangen wussten und sich dem Trunk
hingaben. (…) Drei Herren, die vorzeitig, den Busen ihrer Frau verfluchend, geschwollene
Lebern in die Erde legten.
Dann stieß sie auf Innozenz. Innozenz Floher. (…) Floher ließ den Kopf nicht ganz so hängen
und den Schnaps ausschließlich Herr über sich werden (…) und behielt die Kraft zur Rebellion, wenn auch zur negativen.“
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Sprecherin:
In der „Geisterbahn“ traten Schnells Freunde in kaum verschlüsselter Form auf. Der malende
Trödler Mühlenhaupt heißt da „Rabenholz“, Günter Bruno Fuchs „Kuno Wolf“ und Johannes
Bobrowski „Johannes Bosco Bohrbosch. Die Geschichten, die Schnell in dem Buch verarbeitet, konnte man an den Stehtischen rund um das Kottbuser Tor aufschnappen, wo Schnell sich
zum Beispiel mit dem befreundeten Schriftsteller Johannes Schenk traf.
O-Ton Johannes Schenk/R.W. Schnell (Kneipe) CD 101182, 40,04 min:
Schenk: „Ich musste hierher kommen. Und hatte auch so eine ganz romantische Vorstellung
von Kreuzberg. Ich hatte auch schon vom „Leierkasten“ gehört, den Mühlenhaupt damals
noch hatte. Das ging irgendwann von Mühlenhaupt auf einen anderen Wirt über – erst auf die
Rosi, dann gab Rosi das auch auf. Wie Rosi das machte, da war es noch sehr, sehr schön.
Dann machte das irgendein Wirt, an den ich mich nicht mehr richtig erinnere, der hatte
gleichzeitig noch so eine kleine Musikbarkasse. Und der ist irgendwann von seiner Frau,
glaube ich, verlassen worden. Und dann fand man ihn am nächsten Morgen. Der hat sich in
der Kneipe aufgehängt.“ (ca. 40 sec)
Zitator:
„Couragiert war die Selma ja, sie schrie nur ganz kurz, holte ein Messer und schnitt den Strick
durch. Die Decke war so niedrig, dass man sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte.
Dumpf fiel der Körper wie knochenlos auf den Boden. Sie machte es hell und wollt zum Telefon gehen, da sah sie, wie Innozenz die Augen aufschlug. Das war selbst für Selma zu fiel. Sie
brach ohnmächtig neben ihm zusammen.“
Sprecherin:
Ein pittoreskes Panoptikum entwirft Robert Schnell in seiner „Geisterbahn“, grotesk, kraftvoll
und milieugenau, erfahrungssatte Geschichten und Anekdoten. Manchmal vergisst er jedoch
die Fäden seines Romans zusammenzuhalten. Die Enden zerfasern, die Handlung verliert sich
in der Detailfülle.
O-Ton Klaus Völker:
„Er war in dem Sinne ja doch mehr oder minder abgestempelt als Berliner Autor, als Original.
Und sein erfolgreichstes Buch war dann dieser Berlin-Roman „Geisterbahn“ - würde ich jetzt
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sagen: nicht unbedingt sein bestes Buch. Ist natürlich spaßig zu lesen, wenn man die ganzen
Leute kennt und in entsprechenden Lokalitäten verkehrt hat, also es gibt das Milieu so ganz
wieder, aber es ist kein Vergleich zu doch einer ganzen Reihe seiner wunderschönen Erzählungen. (ca. 40 sec)
Sprecherin:
In einer Rezension für den Berliner Tagesspiegel schrieb Klaus Völker über Schnells Erzählband „Mief“ aus dem Jahre 1963:
Zitator:
„Der Stachel, den seine unheimlichen Sätze hinterlassen, soll den Verstand des Lesers schärfen. Bestandsaufnahme des kleinbürgerlichen Bewusstseins, Erschließung der Wirklichkeit
scheint heute die beste Möglichkeit für bedeutende realistische Literatur … Der Erzähler Robert Wolfgang Schnell weiß, was er will. Er gibt kein Rezept, er verordnet keine Moral.
Schnell erzählt Geschichten. Und das ist sehr viel mehr.“
O-Ton Klaus Völker:
„Das ist eben wichtig, dass Erzählungen aus sich heraus, aus den Figuren, das erzählen und
mitteilen, und mir als Leser es überlassen, was ich von den Verhältnissen halte. Also er muss
mir nicht dazu noch den Kommentar liefern, ne Meinung, das sind ja Zeitungssachen. (…)
Das sind einfach so überzeugend wiedergegebene Figuren, mit wenigen Mitteln, also das
spricht für sich, das hat auch eine große gesellschaftskritische Bedeutung, wie er das gemacht
hat.“
Zitator:
„Was ich erzählen kann, hat gewiss nicht viel Tiefsinn. Es ist mehr was vom Saufen oder von
der Liebe, von allen Arten der Unzulänglichkeit, mangelnder Beziehung zur Vernunft. Es
ging, nachdem Schiller auf den Waldwiesen deklamierend genossen war, um die Lust zum
Aufruhr ungebrochen in die Stadt mitnehmen zu können, um die Mädchen. Die Wandlung
kam plötzlich, von einem Tag auf den anderen. (…)
„Panzerkreuzer Potemkin“, den ich sah, ließ mich mein Zuhause hassen. Besonders meines
Vaters Holzrahmen über dem Sofa, aus dem in drei ovalen Ausschnitten Friedrich Zwei von
Preußen, Wilhelm Zwei von Deutschland und Bismarck mich ansahen. Auf unserer Sofalehne
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(roter Plüsch) lag immer die „Bergisch-Märkische Zeitung“. Die unsäglich alberne Kinderseite las ich am Tage vor meinem Besuch des „Panzerkreuzer Potemkin“ zum letzten Mal.“
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 7,52 min
„Alles, was ich da in meinem Schrottkasten hatte, habe ich in meinem ersten Buch „Mief“
herausgegeben und wurde gleich sehr gut kritisiert. Und alle fanden, die wären sehr modern
und träfen das heutige Hinterhofmilieu. Aber teilweise spielen die alle in Wuppertal, die ganzen Geschichten, die dann so als Berlinisch angegeben wurden. Oft ist ja die Kritik sehr dämlich.“ ( ca. 30 sec)
Musik:
(z.B. „Student Demonstration Time“ von den Beach Boys) unter Sprecherin legen
Sprecherin:
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre veröffentlichte Schnell mit „Muzes Flöte“ einen
weiteren Band mit Geschichten über seine Zeit in Wuppertal. Er engagierte sich gegen den
Vietnamkrieg und beteiligte sich an Diskussionen im Audimax der Technischen Universität
Berlin. Wie viele Westberliner Linke vertrat er einen Sozialismus, der mit dem realen auf der
anderen Seite der Mauer wenig gemein hatte.
O-Ton Klaus Völker:
Der offizielle Literaturbetrieb, der war unpolitisch, war auch Anti-DDR, Anti-Brecht. Diesen
Antikommunismus hat Schnell nicht mitgemacht. (…) Die berühmte Literatur vor 33, die aber
in die Emigration ging, also die Autoren, deren Bücher doch bis in die frühen sechziger oder
Mitte der sechziger Jahre nicht gelesen wurden. (…) Anna Seghers, Arnold Zweig, Lion
Feuchtwanger, Leonhard Frank (…), in der Tradition stand er natürlich und das kannte er
auch sehr gut, die Bücher von diesen Autoren. (ca. 40 sec)
Sprecherin:
Robert Wolfgang Schnells wohl bedeutendster Roman „Erziehung durch Dienstmädchen“
steht ganz in der Tradition des gesellschaftskritisch-realistischen Erzählens, natürlich mit dem
für Schnell typischen leicht satirischen Unterton. Das Buch erschien 1968, im Jahr der Studentenunruhen, und handelt von einer anderen Revolte, dem Spartakusaufstand von 1919.
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Wie immer bei Robert Wolfgang Schnell ist es eine Geschichte mit biografischem Hintergund.
O-Ton R.W. Schnell CD 009172, Track2 / 8,40 min
„Mein Vater war ein deutschnationaler Bankdirektor. Und bei den Spartakuskämpfen im
Ruhrgebiet, die spielen ja auch teilweise in Wuppertal. Da legte mein Vater sich auf das Sofa
und sagte gar nichts mehr. Und dann wurde dieses Haus, in dem ich da lebte, zum Hauptquartier der Roten Armee (…) und dann lief das so ab wie in dem Buch.“ (ca. 30 sec)
Zitator:
In der Mitte der Terrasse hatten Carlos und Onkel Kuno einen Tisch gestellt, auf den sie die
Gewehre legten, die nicht in Ordnung waren, Sie öffneten jedes Schloss, schlugen es vier-,
fünfmal hin und her und nahmen jedes Gewehr in den Anschlag. Sie schrieen mich an, weil
ich unten an der Treppe stand und zu ihnen hinaufsah, als sollte ich erschossen werden. (…)
Im Kinderzimmer lag Vater immer noch auf dem Sofa. Er hatte sein viermal geknüpftes Taschentuch auf dem Kopf. Seine Augen waren zu, die Hände auf dem Bauch gefaltet.
„Wo ist Mutter?“, fragte ich.
„Ruhe!“, sagte er, machte die Augen nicht auf und bewegte sich nicht.
Das Schlafzimmer stand voller Möbel aus dem Gartenzimmer. Mutter lag auf ihrem Bett, das
war ein unbekannter Anblick.
„Nun kommt das Unheil bis in die Familien.“ Sie sprach sehr leise. „Du wunderst dich, dass
ich hier liege. Das geht auch nicht, dass eine Mutter am Tag auf dem Bett liegt. Ihr Kinder
müsst alles ausbaden. Ich bete, damit bald wieder Ruhe wird. Glaube mir, Ernstchen, bald ist
alles wieder wie sonst, das geht gar nicht anders.““
Sprecherin:
Der Bürgersohn Ernst Brück gerät in den unruhigen Tagen nach dem Kapp-Putsch zwischen
die Fronten der Spartakisten, die in seinem Elternhaus Posten bezogen haben, und seinen
großbürgerlichen Eltern. Mit seinen Kinderaugen beobachtet er das Geschehen um sich herum, seinen Onkel Kuno, der sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen hat, und vor
allem das Dienstmädchen Anne, die ebenfalls die Rebellen unterstützt und zugleich für die
Erziehung des Jungen zuständig ist. Ernst fühlt sich zu ihr hingezogen, während seine Eltern
unter dem Schock der politischen Ereignisse erstarren.
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O-Ton Michael Fisch:
„Diese Anna, die in der Hierarchie des Elternhauses ganz unten steht als Dienstmädchen, verkörpert für ihn quasi die Arbeiterklasse, wenn man so will. Und die Anna hat darüber hinaus
noch die Funktion, so eine Art L'Éducation sentimentale darzustellen, die ersten Liebeserlebnisse fixiert er auf diese Person.“
Sprecherin:
Michael Fisch ist Herausgeber der Neuausgabe der Bücher Robert Wolfgang Schnells im Berliner Parthas Verlag, die mit „Erziehung durch Dienstmädchen“ eröffnet wurde.
O-Ton Michael Fisch:
Bei der Überlegung, die Ausgabe der Werke von Robert Wolfgang Schnell zu beginnen, war
eigentlich sofort klar, dass wir mit diesem Roman anfangen, (…) weil er der lesbarste ist,
wenn man so will. Man kann ihn wunderbar lesen. Es ist so ein Nachttischbuch, finde ich.
Das heißt, eine Nacht liest man dieses Buch und wenn man’s gelesen hat, wird man’s nicht
mehr vergessen. (…) Das für mich Interessante ist, dass er Geschichte greifbar, erlebbar
macht, dass er die Schicksale der kleinen Menschen illustriert und dadurch aber auch geschichtliche Zusammenhänge wunderbar darstellt, die man dann auch nicht mehr vergisst. Die
bleiben sozusagen eingebrannt. (ca. 45 sec)
Musik:
Unter Sprecherin legen
Sprecherin:
„Erziehung durch Dienstmädchen“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, erschien auch in der
DDR und wurde später verfilmt. Am erfolgreichsten waren jedoch Schnells Kinderbücher
„Pulle und Pummi“ und „Holger wohnt im Zoo“, die Auflagen bis zu 50 000 Exemplaren
erreichten. Die Einkünfte für seine schriftstellerische Arbeit, für die er mit Stipendien unterstützt und mit Preisen geehrt wurde, reichten jedoch nicht für sich und seine Familie. Schnell
entwickelte eine erstaunliche Produktivität als Drehbuchautor, arbeitete als Schauspieler und
Regisseur. 1981 erlitt er einen Schlaganfall, in dessen Folge er vorübergehend halbseitig gelähmt war. Mitte der Achtziger Jahre erschien noch ein Erzählungsband mit dem seltsamen
Titel „Der Weg einer Pastorin ins Bordell“. Als der Herausgeber Michael Fisch für die Neu-
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ausgabe von Schnells Büchern dessen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv sichtete, stellte
er fest, dass es sich bei den Geschichten um Kapitel eines unvollendeten Romans handelte.
O-Ton Michael Fisch:
„Dieses Buch ist wirklich geheimnisumwittert. Es gab immer die Gerüchte, dass es einen letzten großen Roman von Robert Wolfgang Schnell geben würde. (…) Aber es gab niemanden
mehr, der noch ein Typoskript hatte oder eine Kopie oder irgendetwas. So war es fast ein
kleines Wunder, dass ich da in Marbach in einer der 56 grünen Nachlasskisten dann doch dieses Typoskript entdeckt habe (…) Und ich hab natürlich gleich wie besessen angefangen zu
lesen und war sofort ergriffen von diesem Text.“ (ca. 30 sec)
Zitator:
„Als Hermann Katz die Treppe zu seiner Wohnung in der Loherstraße heruntergegangen war,
wusste er nicht, wohin. Er war zu gebildet, seinen Weg nach dem eines gerade vorbeikommenden Hundes zu nehmen. Er wollte leben. So, ohne weiteres. Ungeachtet aller Schwierigkeiten. Ein Hund war ihm schon zu literarisch. Das hatte er bei Unamuno gelesen.“
Sprecherin:
So beginnt der Roman „Das Leben des Heiligen Hermann Katz“, in dem Schnell den Weg
eines gänzlich unheiligen Heranwachsenden – eben jenes Hermann Katz – durch die Wirrnisse der Pubertät beschreibt. Das Buch schließt chronologisch an „Erziehung durch Dienstmädchen“ an und schildert zwischen 1921 und 1932 den Entwicklungsprozess einer für Robert
Wolfgang Schnell typischen Außenseiterfigur. Katz, der in einer Welt aufwächst, die von
Strenge und Pflichtgefühl beherrscht wird, verspürt keinerlei Drang, den Leistungsanforderungen der Erwachsenenwelt gerecht zu werden. Vielmehr fühlt er sich zu den Faulenzern
und Sitzenbleibern hingezogen, die durch familiäres Vermögen weich gepolstert ihre Jugend
verschwenden. Er beginnt mit einer attraktiven Fabrikantengattin, der Mutter eines Schulfreundes, ein Verhältnis. Doch bald stellt er fest, dass die Rolle des jugendlichen Liebhabers
auf Dauer höchst unbefriedigend ist, und bemerkt gegenüber seiner Geliebten:
Zitator:
„Ich kann ja nur hier bei dir liegen, weil ich mich als Drohne auf die Biederkeit dieser unwissenden Narren stütze. Der Mann, der mich gezeugt hat, bezahlt mein Schulgeld, meine Klei13
dung, mein Essen, dabei hat ihm meine Herstellung nicht mal Vergnügen bereitet, davon bin
ich überzeugt. Gegen die Bedürfnislosigkeit ihres Schlafzimmers machst du jeden Raum zur
erotischen Kirche. Dein Mann und du, dein Sohn, mein Freund, wir leben doch alle nur davon, dass diese Leute in ihrem frommen Wahn Frondienste leisten. Wir sind nicht, wie Schiller sagt, Verbrecher aus verlorener Ehre, sondern Räuber aufgrund der Ehrbarkeit anderer.“
O-Ton Michael Fisch:
Der Autor Schnell lehnt jede Moral ab, lehnt jede Pädagogik ab und damit auch jede Psychologie. Das ist ein absolut unpsychologischer Roman, also Bewusstseinsvorgänge seines Protagonisten interessieren ihn nicht, sondern die Frage, halte ich mich offen für die Geschehnisse
dieser Welt, lasse ich mich drauf ein, verarbeite ich sie, oder ziehe ich eine Grenze. Und natürlich gibt es diese Szenen, wo dann Hermann Katz auch ein ganz klares Nein formulieren
kann. Und das wäre die Entwicklungsgeschichte des jungen Mannes, des Pubertierenden, der
rausfinden muss, wo stehe ich. Und die Position, die er einnimmt, ist ja dann die des Autors eine klassenkämpferische.“ (ca. 40 sec)
O-Ton Klaus Völker:
„Aus der heuten, relativ unpolitischen Gegenwart heraus nimmt sich das vielleicht klassenkämpferisch aus. Hätte er auch nichts dagegen gehabt, wenn man Käthe Kollwitz, Zille oder
den Otto Nagel als Klassenkämpfer in dem Sinne bezeichnet, die dieses proletarische Bewusstsein haben, ein Arbeiterbewusstsein haben.“
Musik:
unter Sprecherin und O-Töne legen, ausblenden
Sprecherin:
Robert Wolfgang Schnell starb am 1. August 1986. Knapp zwanzig Jahre lang waren seine
Bücher nicht lieferbar. Nun erscheinen sie wieder im Parthas Verlag. Schnell war ein „etwas
ungeordneter Realist“, wie er einmal schrieb, und hat nach eigener Aussage immer aus dem
„Motiv des eigenen Daseins heraus“ gearbeitet.
O-Ton Michael Fisch:
„Also ich finde, dass Robert Wolfgang Schnell eine ganz eigene dichterische Stimme hat (…)
Und eben ist er ein politisch engagierter Autor, der für die Schwachen eintritt, für die eintritt,
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die man vielleicht entrechtet nennen könnte. Und ich glaube, wir leben in einer Zeit, die an
Widersprüchen stärker ist denn je, die Differenzierung zwischen arm und reich wird immer
deutlicher, und die dazu ruft, die Literatur wieder zu politisieren. Und ich glaube, da hat uns
Robert Wolfgang Schnell auch heute noch sehr viel zu sagen.“
Sprecherin:
Schnells Verdienst ist das teilnahmsvolle Betrachten und Erzählen, das Schildern von Milieus
und Charakteren vor einem sehr genau gezeichneten sozialen und historischen Hintergrund.
Die Schauplätze, die er beschreibt, sind Stationen seiner Biografie, die Sprache wirkt unverstellt und authentisch. Sein Blick auf Randexistenzen und Unterprivilegierte des vergangenen
Jahrhunderts ist bei aller Ironie und allem Sarkasmus liebevoll und wahrhaftig.
O-Ton Michael Fisch:
Ingeborg Drewitz hat das mal so genannt: „Immer ist es die Abwehrhaltung eines, der sich
seiner Menschenliebe kaum erwehren kann und das nicht zugeben will.“
O-Ton Klaus Völker:
„Eine gewisse Melancholie war immer um ihn auch, (…), eine leise Traurigkeit, aber das war
keine Larmoyanz, um das klarzustellen. Das macht ihn mir sehr sympathisch, das war ein sehr
menschlicher Zug an ihm.“ (ca. 15 sec)
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