1 Atelier Edition Hanus München 1996 : : Copyright Otto Hanus 2013 Alle Rechte, auch das des auszugsweisen Nachdruckes, der auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten 2 Ich will niemanden überzeugen. Ich habe kein Bedürfnis zu belehren, und wenn ich etwas Neues erfahre, verspüre ich nicht den Wunsch, mich anderen mitzuteilen. Es ist mir ziemlich gleich, ob andere Menschen meiner Meinung sind. Es stört mich auch nicht besonders, wenn ich feststelle, dass mein Urteil von dem anderer Menschen abweicht. Ich habe ein gewisses Vertrauen In meinen Instinkt. W . S O M E R S E T M A U G H A M Glaubt nicht, dass ich ein Geheimnis enthüllen oder gar einen Roman schreiben will. E D G A R A L L A N P O E 3 Inhalt Vorwort 6 Erinnerungen in Kathmandu 7 Begegnung mit einer seltsamen Frau 13 Einsicht, Wandlung und Verwirklichung 15 Vom Arbeiten mit Emotionen 26 Ein Ort der Erfahrung 33 Eine problematische Herausforderung 41 Handlungen ohne Nutzen und Sinn 50 Alles ist im Zentrum des Universums 54 Erfahrungen des Tötens 62 Reinkarnation und die Elemente der Erfahrung 71 Das Ich und die Leerheit der Erscheinungen 86 Zwischendurch -‐ eine banale Erkenntnis 98 Das Universum, die Wahrnehmung, das Bewusstsein und das Licht 99 Zwei Dimensionen des Universums Realität und Wirklichkeit 117 Was von der Seele übrig bleibt 131 Wie man das Geistige in einer Welt der Objekte erfährt 149 Der Körper ist mehr als ein biologisches Objekt 158 Wird die Materie von einer universalen Subjektwirklichkeit gestaltet? 167 Der Grundzustand des Universums 181 Meditation und die Essenz von Bewegung 192 Die sieben Erscheinungsformen des Denkens 207 4 Unterschied und Zusammenhang von Realität und Wirklichkeit 221 Man versteht nicht, indem man etwas weiß 234 Tibet – eine Kultur des psychotischen Denkens? 239 Das Universum ist objektiv und subjektiv 248 Geist, Konzept und Körper 258 Materie erscheint als Verräumlichung 263 Die imaginäre Welt kann nicht zerstört werden 269 Imaginationen sind ohne Beweis 277 Wahrheit und Wirklichkeit 288 Die Buddhanatur im Hirnwurm 307 Rituale sind weiße oder schwarze Wege 316 Warum ein Affe kein Guru ist 326 Die Praxis der analytischen Meditation 338 Seele ist keine Substanz -‐ Entscheidungen werden zu Karma 351 Ein Reisender verlässt den Ort 359 Der Geist kann durch jede Tür gehen 369 Shangrila 374 5 Vorwort zu dieser Download-‐Version Dieses Buch ist die Dokumentation eines mehrere Jahre dauernden Prozesses einer Aus-‐ einandersetzung mit dem Geistigen in Raum und Zeit zwischen Realität und Wirklich-‐ keit. Den geografischen Ort und die dort befindliche Hütte, in der die geschilderten Dia-‐ loge stattgefunden haben, hat es tatsächlich gegeben; ebenso die geschilderten Tätigkei-‐ ten und die damit verbundenen außergewöhnlichen Erfahrungen. In diese äußere Reali-‐ tät ist eine subjektive Wirklichkeit eingeblendet, eine personalisierte mentale Entität, die ich aufgrund meiner langjährigen tibetischen Studien "Göden Marpa" genannt habe. Es wäre möglich gewesen, den Verlauf der Gespräche thematisch zu sortieren, um damit eine logische Gliederung zu erreichen. Dies hätte jedoch nicht der Wirklichkeit entspro-‐ chen. Deshalb entschied ich mich dafür, eine solche mögliche Systematik dem tatsächli-‐ chen irrationalen Verlauf zu opfern. Aus diesem Grund entfalten sich die Themen nicht in Form eines chronologischen gedanklichen Zusammenhangs, sondern auf einem eher verschlungenen mentalen Weg mit unvorhersehbaren Wendungen. Die Dialoge zum Geistigen in Raum und Zeit zwischen Realität und Wirklichkeit vermit-‐ teln eine Sichtweise, die weder wissenschaftlich oder philosophisch und auch nicht reli-‐ giös ist. In den Gesprächen offenbart sich eine Sicht auf das Wirkliche jenseits des Wis-‐ sens. Es zeigte sich: Ein Sinn stiftendes Verstehen des Menschen ist nur dann möglich, wenn der Blick auf das Universum ein Blick im Universum und des Universums ist. Kathmandu 2005, München 2013 6 Erinnerungen in Kathmandu Geist -‐ Staub, Asche und Nichts. Ein heißer Tag. Ich sitze in Swayambhunath neben dem ältesten Heiligtum vor dem gerade ein Ritual zelebriert wird. Alles hier ist alt. Sehr alt. Zum Glück ist noch nichts renoviert, restauriert, poliert und für den Tourismus blank geputzt worden. Die Spuren der Zeit transpirieren deshalb gelebte Hingabe an etwas, das über das Sterbliche hinaus reicht. An-‐ und abschwellender Sprechgesang eines Ritu-‐ als vermischt sich mit dem Duft von Räucherungen. In den Räucherpfannen beim klei-‐ nen Tempel züngeln Flammen, und verwandeln die aus vollen Händen hineingeworfe-‐ nen Kräuter in dichte Duftschwaden. Ich erlebe ein riechendes Hören von seltsamem Reiz. Nebenan in einem in den Steinboden versenkten Messingbecken mit gesegnetem Wasser schwimmen einige Blütenblätter. Auf seinem Grund hat sich Schmutz abgelagert. Eine Taube badet. Sie flattert heftig und spritzt mit aufgeplusteten Federn Wasser auf den heißen Boden. Es verdunstet augenblicklich. Um die Stelle herum tappen, schlurfen, gehen und humpeln Beine aller Art und folgen frei von Logik gelebten Spuren in denen sich jede mögliche Variante sich überschneidender Kurven und Geraden verwirklichen. Ohne Hektik und pausenlos lebendig: Dünne, dicke, glatte, schorfige, gesunde, krätzige, hellhäutige, dunkelhäutige, weibliche, männliche, kindliche, alte und junge Beine, barfuß oder mit Sandalen an den Füßen von denen viele nahezu zerfallen sind. Fröhlich wuseln mit Schmutz patinierte Kinder halbnackt durch das Gedränge. Sie sind wie die Tauben: Eben noch da, schon wieder fort. Obwohl viele Menschen um mich herum sind, fühle ich mich angenehm allein. Das suggestive Gemisch der zahlreichen Stimmen betender und schwätzender Menschen wird untermalt von einem beständig sich wiederholenden Ge-‐ sang: Dem Mantra Om Mani Peme Hum. Auf CD gepreßt, wird es an einem Verkaufs-‐ stand, sich immerzu wiederholend abgespielt. Das paßt zu den großen und kleinen Ge-‐ betstrommeln hier, die sich ebenso unaufhörlich drehen, drehen, drehen ... sie scheinen nicht still stehen zu dürfen, entweder damit der Geist nicht zur Ruhe kommt oder aber, daß er beharrlich und mit nicht erlahmender Wirksamkeit in die Welt zentrifugiert wird. Die vergoldete Spitze der großen Stupa reflektiert Sonnenlicht. Es erreicht meine Augen in unregelmäßigen Intervallen, je nachdem ob die davor flatternden Gebetsfahnen die Strahlen verdecken oder nicht. Ich stelle mir vor, daß von den großen Augen Buddhas, die unterhalb des Daches auf die ebenso goldene Wand gemalt sind Lichtbündel aufblit-‐ zen, um die Welt zu erleuchten. An diesem von Vergangenheit gesättigten und zugleich von Zeit befreiten Ort gleiten meine Gedanken in Trance zurück zu jenem raumlosen Punkt an dem meine Reise hierher begann. Plötzlich sehe ich sie wieder. Die Rabenkrähe. Dunkel glänzend steht sie inmitten des Grüns einer Golfwiese. Von Bäumen gefiltertes Sonnenlicht läßt diese grüne Weite in milden Wellen erscheinen. Beinahe unwirklich. Das ruhige, von keiner Aktivität gestörte Ausgedehntsein des Geländes gibt den sparsamen Bewegungen des einsamen Vogels von hier nach da subtile Bedeutung. Etwas an diesem Bild ist von unbestimmbarer Fas-‐ zination. Ist es ein Traum? Ich lasse die Situation auf mich wirken. Plötzlich fliegt der 7 Vogel auf. Im schräg einfallenden Licht leuchten seine ölig schwarzen Flügel auf als wä-‐ ren sie für mich ein Hinweis. Die Ruhe des Bildes ist gebrochen. Es hat feine, in verschiedenste Richtungen verlaufen-‐ de Risse wie eine dünne makellose Eisschicht, die von einem Stein getroffen worden ist. Etwas ist in Bewegung geraten. In diesem Augenblick entscheide ich mich dafür über meine Begegnungen mit Göden Marpa, einer Yogini aus dem tibetischen Kulturkreis zu schreiben. Warum? Ich weiß es nicht. Etwas Irrationales ist geschehen. Zum Glück habe ich es ernst genommen. So kam es, daß ich mit ihr an einem Faden für ein Gewebe sub-‐ jektiver Erkenntnis spinnen durfte. Biographisch gibt es über Göden Marpa wenig zu berichten. Wenn es um ihr persönli-‐ ches Leben ging, war die Yogini nie besonders mitteilsam. Das Wenige was ich weiß, ha-‐ be ich im Verlauf unserer Begegnungen, die sich in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren ereignet haben wie Krumen aufgepickt und die einzelnen Fragmente wie bei einer Colla-‐ ge zu einem Gesamtbild gefügt. 1942 wurde sie in Nordtibet, in einem nahe der damali-‐ gen chinesischen Grenze gelegenen Ort geboren. Als Erstgeborenes von acht Kindern kam sie mit drei Jahren in ein Nyingma-‐Kloster, das dem Ngak-‐phang Sangha, der Ge-‐ meinschaft machtvoll schwingender Mantras angehört haben soll. Deren Lehren wurden von weiblichen Lamas weitergegeben und deshalb auch Mutter-‐Essenz-‐Linie genannt. Über diese Zeit ihrer Kindheit und Jugend hat sie kaum gesprochen. Nur nebenbei konn-‐ te ich andeutungsweise erfahren, daß sie während ihrer Ausbildung durch die Initiation einer drei Jahre, drei Monate und drei Tage dauernden Isolation gegangen ist in der sie in einer kleinen Kammer eingeschlossen von der Umgebung isoliert war. Das ist alles. Es ist kein detailliert gezeichnetes Bild von ihrem Leben in Tibet, aber das Einzige, das ich habe. Mich hat das nie gestört, weil ich darauf eingestellt bin, einen Menschen nicht über die Kenntnis seiner lebensgeschichtlichen Daten, sondern über sein aktuelles Denken, Reden und Handeln kennen zu lernen. Nach der chinesischen Invasion gelang es ihr Tibet zu verlassen. Auch darüber hat sie kaum etwas erzählt und weil ich mich geniert habe, sie nach Einzelheiten zu fragen, so ist auch dieser Teil des Bildes unscharf. In Erinnerung geblieben ist mir in diesem Zu-‐ sammenhang eine Schilderung, wie sie sich während ihrer Flucht von nicht gekochter Gerste ernährt hat, die sie bei sich hatte. Wie ist es weiter gegangen? Ich weiß lediglich, daß Göden Marpa während eines Aufent-‐ halts in Nepal einen österreichischen Physiker kennen lernte. Sie haben geheiratet und zwanzig Jahre zusammen gelebt. Während dieser Zeit bereiste sie Schweden, England, Frankreich und die Schweiz, und führte Gespräche mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen. Es war ihr ein Anliegen, Erkenntnisse buddhistischer Geistespraxis in die In-‐ terpretationen wissenschaftlicher Beobachtungen einzubeziehen. Sie nannte es mentale Weltbildgestaltung. 8 Drei Jahre bevor ich mit Göden Marpa zusammentraf, war ihr Lebenspartner während einer Reise ins Kulu-‐Tal in Nordindien an einer Lebensmittelvergiftung verstorben. "Ga-‐ te gate paragate parasamgate bodhi svaha" sagte sie damals, als sie ein einziges und zu-‐ gleich letztes Mal davon sprach. "Was heißt das?" fragte ich. "Gegangen, gegangen, hinüber gegangen, ans andere Ufer hinüber gegangen, zum Erwa-‐ chen gelangt. Man kann es aber auch anders auslegen, dann heißt es nichts außer: Alles zerfällt und wir können nichts dagegen tun. Es gibt nichts, was man festhalten kann." Die Wahrheit durchdringt alles. Sie ist frei von starren Formen, die aus dem Gehirn ein monoton schwingendes Perpendikel machen, das den Gesetzen der Physik folgt. Nichts ist, das habe ich damals erkannt, ein Psychedelikum von höchster Potenz. Gestalten sind aus Nichts geboren und werden zu Nichts. In den Phasen unseres Zusammenseins hat mir die Yogini eine ungewohnte Sicht auf die innere und äußere Realität vermittelt. Sie führte meine Aufmerksamkeit in neue Räume und leitete mich dazu an Landkarten der Einsicht, Diagramme zu komponieren, die das Verstehen dessen, was sie mir vermitteln wollte erleichtern sollten. Es war ihr wichtig, daß beim Denken auch der visuelle Sinn genutzt wird. Ich habe mir damals gedacht, daß eine zeitgemäße Form eines Mandala gemeint sein könnte. "Meinst du es so?" frage ich sie deshalb. "Das würde durchaus sinnvoll sein", war ihre Antwort. Danach wollte ich es genauer wissen und habe weiter gefragt: "Was verstehst du unter einem Mandala?" Nach einigem Nachdenken antwortete sie: "Es ist ein Diagramm, das die Vernetzungen von Wechselwirkungen zeigt." "Aber", entgegnete ich skeptisch, "dann wäre auch das Diagramm eines Aktienfonds ein Mandala." "Was du Mandala nennst, haben wir in Tibet Dkyil-‐khor genannt; das bedeutet Mittel-‐ punkt im Kreis oder farbiger Kreis. Nur dann, wenn ein Diagramm von einem Zentrum ausgeht, und die Aspekte des Diagramms Vernetzungen von Wechselwirkungen und Zu-‐ sammenhänge zeigen, die mit dem zentralen Thema verbunden sind, könnte das Dia-‐ gramm eines Aktienfonds ein Mandala sein. Ich möchte aber bezweifeln, daß es ein sol-‐ ches Diagramm gibt. Zudem besteht zwischen einem profanen Diagramm und einem Mandala-‐Diagramm sicherlich auch ein wesentlicher Unterschied in den Phänomenen, die aufgezeigt werden und worauf sie verweisen." Akademisches Wissen, das wissenschaftliche Verstehen des Geistes und Bewusstseins, des Lebens und Sterbens, von Traum und Wirklichkeit haben mich nie überzeugt. Es 9 deckte sich nicht mit meinen Erfahrungen. Ebenso wenig konnten mir esoterische Leh-‐ ren befriedigende Einsichten vermitteln. Beides war mir zu seicht. Die Essenz der Phä-‐ nomene blieb entweder unberührt oder deren Beschreibung war logisch nicht befriedi-‐ gend. Bei meiner Suche nach essentiellen Antworten auf Fragen, die sowohl den wissen-‐ schaftlich beobachtbaren Phänomenen, wie den nicht beweisbaren subjektiven Erfah-‐ rungen gerecht werden können verdanke ich Göden Marpa, der Lama-‐Frau wertvolle Einsichten. Ein Lama lehrt den buddhistischen Weg – den Buddha Dharma. Würde sich die Lama-‐ Frau nur in der Tradition dieser Lehren stehend verstanden haben, wäre es für mich überflüssig gewesen, dieses Buch zu schreiben. Es wurde und wird genug über Bud-‐ dhismus geredet und veröffentlicht. Er wird breitgetreten wie ein Kuhfladen und von Fliegen umschwärmt, die seinen Geruch mögen. Obwohl ich mich ein Leben lang mit buddhistischen Studien beschäftigt und mich auch um eine dementsprechende Lebens-‐ führung bemüht habe, interessiert mich der traditionelle Buddhismus nicht mehr. Seine Prämisse, Leben würde auf Leiden beruhen und alle Menschen möchten glücklich sein erscheint mir einseitig und widersprüchlich. Die davon abgeleiteten Ziele einer Über-‐ windung des Leidens und Geborgensein in Glück kommt mir vor wie das Versprechen von Zuckerwatte an Kinder; als würde das Wiedererlangen eines fötalen Glückszustan-‐ des in Aussicht gestellt, in dem sich die schmerzlichen Aspekte des Menschwerdens in der indifferenten Einheit eines geistigen Fruchtwassers auflösen. Ich habe nie das Ver-‐ langen gehabt, in einem mentalen Uterus des Glücks zu schwimmen. Ich finde es span-‐ nender geboren zu werden, Welt zu erfahren und gestaltend zu verwirklichen. Bei Göden Marpa, der Lama-‐Frau habe ich eine andere, eine vielleicht radikale, zu den Wur-‐ zeln der Dinge reichende Form des analytischen Denkens kennen gelernt. Die Yogini vermittelte mir den Eindruck, sich von den buddhistischen Konventionen leidlosen Se-‐ ligseins befreit zu haben. Das hat mich angesprochen. In unseren Begegnungen gab es Augenblicke besonderer Harmonie in der Innen und Außen in einer Weise zur Übereinstimmung kamen, die Göden Marpa Ursache lose Freude nannte. Trotzdem war sie kein farbloser Schöngeist. "Was ist wirklich", hatte ich zu Beginn unserer Gespräche einmal gefragt. Ich erinnere mich, wie sie mich eine Weile schweigend anschaute, sarkastisch grinste und antwortete: "Wenn du Bauchweh hast, und es ist kein Klo in der Nähe." Nur selten bekam ich die Antworten, mit denen ich gerechnet hatte. Meistens waren sie irritierend und überraschend. Ihre Art zu denken vermittelte mir den Eindruck eines Geistes, der frei von Normen und Zwängen ist. Bei Göden Marpa war ich angekommen. Ein glücklicher Zufall hatte uns zusammengeführt. Das Ritual ist zu Ende. Die Schamanen – oder sind es Mönche? – an der Kleidung ist es nicht zu erkennen, haben sich in einem offenen Raum hinter mir nebeneinander auf den staubigen Boden gesetzt. Vor ihnen liegen große grüne Blätter einer Pflanze, die ich nicht kenne. Drei Frauen gehen gebückt von Blatt zu Blatt, schöpfen aus einem Kessel 10 Speise und servieren so ein schlichtes Mahl. Inzwischen ist es etwas kühler geworden. Die Flammen in den Räucherpfannen sind erloschen. Pechschwarz verkrustet stehen sie magischen Skulpturen gleich an ihrem Platz. Sie lassen vielerlei ahnen. Die Wirkung ih-‐ rer Eigenschaften erzeugt eine Resonanz in meinem Gemüt. Die Erinnerungen haben mich angenehm ermüdet. Jetzt möchte ich ein Glas Chai trin-‐ ken. Langsam stehe ich auf. Der Rücken schmerzt mich vom langen Sitzen auf der niedri-‐ gen Mauer. Ich mache ein paar Schritte und tauche ein in den immer noch quirligen Strom der Menschen um mich her, lasse mich zu einer vertrauten Teestube treiben, die von einer Tibeterin geführt wird. Dort angekommen grüße ich mir "namaste", worauf sie mit "tashi delek" antwortet. Damit haben sich unsere sprachlichen Gemeinsamkeiten be-‐ reits erschöpft. Sie spricht kein Englisch, ich weder Nepali noch Tibetisch. So mogeln wir uns durch das Gespräch bei dem jeder mit Intuition und Projektion für sich das ergänzt, von dem er meint, daß der andere es gedacht oder gesagt hat. Der eigentliche Austausch findet auf einer unbewussten Ebene statt. Einen Meter neben der groben Holzbank auf der ich an einem ebenso grob gezimmerten Tisch sitze versinken die Dinge in dunkelgrau melierten Schatten, die nach hinten zu immer dunkler werden und mir den Eindruck einer Höhle vermitteln. Aus diesem finste-‐ ren Hintergrund hervor kommt sie nun und bringt mir ein Glas heißen Chai. Vorsichtig fasse ich es am oberen Rand an, um mir nicht die Finger zu verbrennen. Mit Genuss schlürfe ich das Getränk indem ich es mit den Lippen saugend über den Glasrand ziehe und damit auf dem Weg in den Mund ein wenig kühle. Ich bin der einzige Gast. Seltsam. Draußen laufen die Menschen hin und her – ein Strom der nicht weniger wird; und den-‐ noch scheint niemand das Bedürfnis zu haben herein zu kommen. Einige Zeit später kommt dann doch jemand. Ein älterer Mönch im rostroten Gewand setzt sich nahe dem Eingang hin und bestellt eine Cola, die er mit einigen Münzen bezahlt. Umständlich, fast bedächtig holt er sie aus einem verschlissenen Beutel, legt sie vor sich auf den Tisch, wartet in sich gekehrt, daß sie genommen werden. Auch ich bezahle, verabschiede mich und gehe. Vor mir liegen dreihundertfünfundsechzig ausgetretene Stufen, die ich nach Kathmandu hinabsteigen muss. Auf der linken Seite hocken, stehen oder liegen Händlerinnen und Händler, die nepalesische und tibetische Waren minderwertiger Qualität zu verhökern versuchen. Viele, nicht alle sind wie Fliegen, die in meine Geldbörse umschwirren, aus der sie sich um jeden Preis bedienen möchten. Obwohl ich das verstehen kann, nervt mich die Beharrlichkeit. Manchmal möchte ich gerne verweilen, möchte eine am Rande liegende Kleinigkeit, die mein Interesse geweckt hat näher betrachten. Es geht nicht. So-‐ fort werde ich angesprochen und von einem Geist penetriert, der mir Übelkeit verur-‐ sacht. Ohne weiter zu schauen, gehe ich schnell vorbei und lasse das Objekt meiner Auf-‐ merksamkeit zurück. Wenn ich mir im vorüber Hasten, die angebotenen Objekte be-‐ trachte, kann ich es nicht verstehen, warum die Menschen, die all diese Dinge schaffen mit ihrem unübersehbar handwerklichen Geschick eine derart gesichtslose Massenware 11 herstellen. Es stimmt mich traurig, diese kulturelle Regression zu sehen. Vielleicht, sin-‐ niere ich weiter, ist es der Massentourismus der seine Geschmack-‐ und Kulturlosigkeit an diesen und andere Orte transportiert, so daß sich für diese begabten Menschen nur die lieblose Produktion billiger Artefakte lohnt. Unten angekommen, ist die Luft schwül und stickig. Ein von Abgasen vollgesogenes Lei-‐ chentuch in dem die Stadt wie ein Untoter zuckt, weil er noch nicht sterben will. Neben einem, in geruhsamer Hektik stehenden Shiva-‐Schrein, hockt ein kleines Mädchen. Es pieselt ungeniert. Wie ein Kalb. Völlig pragmatisch und unerotisch. Aufmerksam schaut sie nach unten und beobachtet das Geschehen. Dicht an ihr vorbei schieben sich schwe-‐ re, mit Stahlträgern armierte Motorräder, deren schwarze Auspuffgase die Kleine in dunkle Schleier eines profanen Mysteriums hüllen. Dann führen mich meine Schritte zum Bishnumati-‐Fluß. Sein flaches, breit gedehntes Bett ist über weite Strecken mit Abfällen aller Art angefüllt. Zwischendrin suchen sich magere Rinder, schmutzstarrende Schweine und Aasvögel etwas zu fressen. So sieht es aus. Auch Kinder spielen da und dort. Der Fluss ist um diese regenarme Jahreszeit ein spärliches, vor sich hin dümpelndes Rinnsal ohne erkennbare Strömung. Es rinnt gerade so viel Wasser, daß sich der Unrat mit Feuchtigkeit vollsau-‐ gen kann. In der Hitze verdunstet sie und verbreitet einen bestialischen Gestank dessen Schwaden sich träge und unbeirrbar durch jede Pore der Haut in mein Riechhirn drän-‐ gen. Schlimmer kann es nicht mehr sein, denke ich mir. Das ist ein Irrtum. Einige hun-‐ dert Meter weiter steigert sich der Gestank dermaßen, daß sich mir das Atmen verwei-‐ gert und die Augen tränen. Die höllische Pestilenz muss ein aus dem After eines Teufels entwichener Furz des Bösen sein. Ein Pesthauch des Todes. Ein nicht weiter potenzier-‐ barer Angriff auf alles, das mit dem Hauch des Reinen bekleidet ist. Über einer hügelig aufgeschichteten, ölig glänzend schwarzen Masse aus abgehackten Rinderbeinen surren tausende fette Fliegen, die im Schwarm immer wieder auffliegen und sich niederlassen und festsaugen am dunkel geronnenen Blut. In der Sonnenhitze wabert und schmort dieses in Auflösung befindliche biologische Konzentrat. Es schreit seine Wahrheit in die Welt der Sinne hinein. Dieser Ort ist schaurig. Er wäre nur noch zu überbieten, wenn es sich statt der Rinderbeine um Menschenfleisch handeln würde. Ich gehe so rasch ich kann weiter. Im Guesthouse angekommen begrüßen mich üppig farbige Blüten, sobald ich die mit Ei-‐ senblech beschlagene Türe durchschritten habe. Für einen Moment bleibe ich stehen, atme die wohltuende, mit Blütenduft parfumierte Luft. Dann gehe ich auf mein Zimmer, wasche mich gründlich und ziehe mich um. Abends sitze ich am offenen Fenster. Ich schaue auf Swayambhunath, dessen Bild trotz Ferne und Dunst meine Augen erreicht. Irgendwo in der Nachbarschaft steht ein Tempel der Sikhs. Regelmäßig morgens und abends ist ritueller Gesang zu hören der sich sanft, unaufdringlich und dennoch be-‐ stimmt zu Gehör bringt. Es ist ein meditativer Gesang dessen monotone Rhythmik meine 12 Aufmerksamkeit auf sich zieht, mich in träumerische Stimmung bringt und die Gegen-‐ wart vergessen läßt. Wie von selbst gleiten meine Gedanken in der Zeit zurück. Begegnung mit einer seltsamen Frau Manchmal bringt auch Salzburg im Februar einen wunderbaren Tag zustande. Dann verblassen die kitschig renovierten rosarot, hellblau und eierschalengelb angemalten Fassaden, und die zur Puppenstubenromatik verklärte Architektur wird überlagert von einem siechen, aber sehr ehrlichen Genius loci der aus den alten Fundamenten hervor kriecht. Dann sieht mein inneres Auge durch die merkantile Tünche hindurch: Heiter-‐ keit. Glasklar ist die Luft und dennoch warm. Sie weckt Sehnsucht nach Ferne. Ich sitze auf einer Bank im Sebastian-‐Friedhof. Schaue auf das Mausoleum des Fürsterzbischofs Wolf-‐Dietrich. Tauben gurren von den umliegenden Dächern herunter. Dieser, aus ei-‐ nem Geviert von Bogengängen gestaltete Ort ist eine Oase der Stille und des Friedens. Hier bin ich aus der Banaliät des Alltagslebens in eine Enklave der Ruhe versetzt. Dicht nebeneinander reihen sich den Wänden entlang alte, bizarr gestaltete Grabsteine. Aus Stein gemeißelte, inzwischen verwitterte Totenschädel aus deren Augenhöhlen Würmer kriechen, Skelette mit Sanduhr und von Jahrzehnten angestaubte Kränze verleihen die-‐ sem Ort eine besondere Aura der Wahrheit. Er ist von vergessenen Erinnerungen, ver-‐ blichenen Lebensgeschichten und ausgelöschten Namen geprägt. Ich fühle mich zu Hau-‐ se. Die Uhr der Kirche schlägt zweimal. Zeit zu gehen, denke ich mir, als vom Grabmal des Paracelsus her Schritte zu hören sind. Ein dumpfes Stapfen von Stiefeln auf Marmorstu-‐ fen, die hinunter in meine Richtung führen. Ohne eine Grund benennen zu können, habe ich das Gefühl warten zu müssen, um zu sehen wer außer mir hierher kommt. Es ist eine Frau. In einen langhaarig zotteligen schwarzen Pelz gehüllt, der mich an ein Yak erin-‐ nert, und einem seltsam geformtem Hut auf dem Kopf schreitet sie langsam den Wan-‐ delgang entlang. Wir sind die einzigen hier Anwesenden. Es ist unvermeidlich, daß wir uns ansehen und grüßen. In einem kurzen Verstehen klären wir die Präliminarien der Höflichkeit und die Frau setzt sich neben mich. Eine andere Bank gibt es hier nicht. Nach einer Phase des Schweigens kommen wir ins Gespräch. Wir merken rasch, daß wir uns manches zu sagen haben. Ich schlage vor, den spürbar kühl gewordenen Ort zu verlas-‐ sen. Nicht weit von hier Ecke Linzergasse Lederergasse kenne ich ein von Gästen verges-‐ senes Kaffeehaus mit Plüschsofas, das ich gerne besuche. Dort gehen wir hin. Wir sitzen uns schräg gegenüber. Dadurch habe ich Gelegenheit, das Gesicht der Frau unauffällig, doch aufmerksam zu betrachten. Es mutet mich asiatisch an. Im Verlauf des Gesprächs wird meine Ahnung bestätigt. Sie stammt aus Tibet. Obwohl es warm im Raum ist hat sie ihren zotteligen Pelz anbehalten und bietet mir deshalb ein eigenartiges Bild: als würde ein Tier mit einem menschlichen Kopf vor mir 13 sitzen. Dabei merke ich, daß sie einen Geruch verströmt der mich an Rauch von Holzfeu-‐ er erinnert, vermischt mit anderen Nuancen, die ich mit nichts mir Bekannten in Verbin-‐ dung bringen kann. Den seltsamen Hut hat sie neben sich auf der gepolsterten Bank lie-‐ gen. Glatt zurückgekämmte rabenschwarze Haare, die am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden sind lenken meinen Blick auf zwei eng am Kopf anliegende schön geformte Ohren, die mit kleinen, aus alten Korallen und Türkisen gestalteten Gehängen geschmückt sind. Nein, eigentlich wirkt das auf mich gar nicht wie Schmuck. Es vermit-‐ telt mir eher den Eindruck, daß sie ganz natürlich zu ihr gehören, wie das Haar. Diese Frau, denke ich intuitiv würde sich nie schmücken, um schön auszusehen. Sie wirkt ge-‐ schmückt, weil sie von innen her das Schöne verwirklicht. Sie hat schwarzen Tee bestellt. Ich auch. Es gibt Augenblicke in denen meine Beobach-‐ tung von transparenter Schärfe und geschliffener Klarheit ist, die über das real Sichtbare hinaus in etwas anderes hinein reicht. Solche Momente kommen und gehen – ich weiß nicht wie und wodurch. Eben jetzt, als ich auf die Hände der Tibeterin schaue und sehe, wie sie mit ihren schlanken kräftigen Fingern das Glas nimmt und zum Trinken an die Lippen führt, schaue ich durch dieses Sehen hindurch auf die in der äußeren Form ver-‐ borgene innere Gestalt ihrer Hände und bin einen dunklen Augenblick lang in ein archa-‐ isches Bild getaucht in dem ich sehe, wie diese Hände eine mit einem vibrierenden Ge-‐ hirn gefüllte Schädelschale halten. Ein Geräusch lenkt mich ab. Die Vision erlischt. Die Frau hat ein Blatt Papier vor sich liegen und scheint etwas zu notieren. Das Kratzen der Füllfeder beim Schreiben hat meine Aufmerksamkeit wieder zurückgeholt. Am Mittelfinger ihrer linken Hand trägt sie einen goldenen Ring mit einem unregelmä-‐ ßig ovalen flachen Stein der seine Farbe verändert, sobald sich die Hand bewegt. Manchmal leuchtet er im astralen Blau eines überirdischen Seelenlichts. Im nächsten Augenblick erscheint er wieder schwarz. Das hängt davon ab, in welchem Winkel Licht auf den Ring fällt. Der Wechsel zwischen Aufleuchten und Erlöschen ist mit den Bewe-‐ gungen der Hand verknüpft. Gerne würde ich wissen, um welchen Stein es sich handelt, traue mich jedoch nicht danach zu fragen. In seiner schnörkellosen Fassung aus warm schimmerndem Gold gibt er den Händen der tibetischen Frau eine besondere Würde. Sie scheint bemerkt zu haben, wie fasziniert ich ihren Ring betrachte. "Nepal Gold", sagt sie, und lächelt mich – so kommt es mir vor – ironisch an. Zum ersten Mal schaue ich ihr direkt in die Augen. Diese Augen zu beschreiben, wäre ein müßiges Bemühen mit einem bedeutungslosen Resultat. Denn ich erfahre eines jener in-‐ tensiven Erlebnisse in denen ich eindeutig und bar jeden Zweifels einer Dimension ge-‐ wahr werde, die das begrenzte biologische Existieren überschreitet. Die Augen, in die ich schaue sind keine passiven Organe, die Lichtreize aufnehmen. Es sind Lebewesen einer hintergründigen Wirklichkeit, die sich in die Welt hinein vermittelt. Ich werde von etwas angeschaut, was jenseits aller vordergründig beschreibbarer Eindrücke ist. Zwingend, bannend, unerbittlich, unpersönlich, grenzenlos und zugleich liebevoll intensiv. So erle-‐ be ich den Blick der Frau. Dann ist es vorbei. Ich schaue sie an, sie schaut mich an; wir 14 schauen uns beide an, wie ich es gewohnt bin. Trotzdem. Ich habe das Gefühl, nein, ei-‐ gentlich ist es eine intuitive Gewissheit, daß sie auf eigentümliche Weise eine über ihre sinnlichen Wahrnehmungen hinaus reichendes Sehen in Seiten meines Geistes liest, oh-‐ ne daß ich darauf Einfluss habe. Ich fühle mich dabei ein wenig unbehaglich. Unsere biologischen Gehirne haben zweifellos nichts Geradliniges an sich. Auch das, was wir miteinander reden führt uns in seltsamen Windungen hierhin und dorthin. Ich fühle, daß ein -‐ unser verbales Gespräch überschreitender -‐ nonverbaler Austausch eine men-‐ tale Verbindung schafft, die mehr ist als eine zufällige Begegnung auf dem Friedhof und unser Beisammensein im Kaffee. Ich erfahre, daß sie in Tirol eine alte Almhütte gepach-‐ tet hat, und diese als Gompa, einen Ort spirituellen Rückzugs nutzt. Gleichzeitig spüre ich, daß etwas in mir das weitere Gespräch in die Richtung einer Bitte lenkt, so daß ich mich entgegen meiner gewohnten Zurückhaltung überrascht fragen höre, ob ich sie eventuell auf dieser Gompa-‐Hütte besuchen dürfe. Etwas in ihrem Blick verändert sich. Er wirkt auf mich als würde sie mich von weit her betrachten, ohne mich dabei direkt anzusehen. Er irritiert mich. Er verunsichert mich. Er macht mich nervös. Plötzlich und übergangslos winkt sie den Ober zu sich heran, bezahlt, legt mir das Blatt auf das sie zu-‐ vor etwas notiert hat gefaltet auf den Tisch, und geht. Zurück bleibt ein Duft von Strenge und Besonderheit, Weite und Frische. Als sich meine Benommenheit löst, falte ich den Zettel auseinander. Vor mir liegt die Wegbeschreibung zur Hütte und eine Handynum-‐ mer. Einige Herzschläge lang dauert es, bis diese Botschaft in mein Gehirn gelangt. Dann fühle ich freudige Erregung. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich nichts von dem, was Göden Marpa offenbar bereits zu diesem Zeitpunkt für mich vorgesehen hatte: "Solange du nicht durch das Nadelöhr der Schwierigkeiten im Verwirklichen deiner Einsichten gegangen bist, hast du geistig nichts erreicht." Einsicht, Wandlung und Verwirklichung Die Landschaft ist ein weißer Brei in dem die Konturen ineinander fließen, sodass links und rechts, vorne und hinten austauschbar erscheinen. Seit vier Stunden bin ich unter-‐ wegs. Jetzt raste ich und schaue. Nachdem sich mein keuchender Atem beruhigt hat, er-‐ fahre ich eine makellose allseitig ausgedehnte Stille. Wo ist sie? Drinnen? Draußen? Hat Stille einen Ort? Es ist ein Tag im Januar des Jahres 1988. Ein Jahr zuvor, vergangenen Februar habe ich Göden Marpa kennengelernt. Nun bin ich auf dem Weg zu ihr. Mein erster Besuch bei der Yogini. Früher ging es nicht, weil sie nach Indien verreist war. Ich muss verrückt sein, die Yogini im Winter aufzusuchen. Mein Orientierungssinn ist nicht besonders ausgeprägt. Hinter mir liegen zurück gelassene Spuren. Sie werden verwehen. Vor mir dehnt sich eine weite Fläche von unberührtem Weiß. Ein über den 15 Körper des Geländes geworfenes Leintuch. Bald wird es durch meine Schritte Reinheit verlieren. Die Wegbeschreibung auf dem Zettel ist gut gemeint, in der aktuellen Situation aber kei-‐ ne große Hilfe. Besondere Geländemerkmale sind kaum zu erkennen. Wie soll ich mich hier zurecht zu finden? Langsam beschleicht mich ein Gefühl der Panik. Es heißt: Sich orientieren können gleicht dem Wissen, wo sich der innere Orient befin-‐ det. Das ist eine schöne Metapher. Pragmatisch ist sie nicht. Oder doch? Hat mich das unbewusste Selbst in diese winterliche Orientierungslosigkeit geführt, um mich den Weg zum inneren Orient suchen zu lassen? Wird mein psychischer Kompass aktiviert? Schritt für Schritt sinke ich tief in den frisch gefallenen Schnee. Ich keuche. Es ist un-‐ glaublich mühsam den Fuß aus dem Tiefschnee zu ziehen, um weiter vorne wieder ein-‐ zusinken. Wieder und wieder. Meine Beine werden kraftlos. Die Energie, die ich aufwen-‐ de wird vom Schnee verschlungen. Ich fühle mich sehr allein. Kein Laut ist zu hören. Es ist diese besondere Stille, in der jedes Geräusch in Watte verpackt scheint. Alles wirkt gedämpft. Man könnte meinen, der einzige Mensch zu sein. Ich bin auch der Einzige im Umkreis von mehreren Kilometern, außer der Yogini, die irgendwo da unten in ihrer Hütte hockt. Auf was habe ich mich eingelassen? Mir kommt alles total abwegig vor. Das trübe blaugraue Licht drückt mich ebenso nieder, wie die Last des Traggestells auf mei-‐ nem Rücken. Ich zwinge mich zum Weitergehen. Ich fluche auf mich, auf das Wetter, auf die Lama-‐Frau und die Situation in der ich mich befinde. Wind kommt auf. Einer jener beharrlichen Winde, die mehr streichen als wehen. In kur-‐ zer Zeit hat er das Kalt sein in ein durchdringend scharfes Frieren verwandelt. Der Weg-‐ beschreibung nach kann es nicht mehr weit sein bis zu einer freistehenden Tanne, an der ich nach rechts abbiegen und einen Hang hinunter steigen muss. Mehr instinktiv als bewusst habe ich den richtigen Weg eingeschlagen. Plötzlich kann ich zwischen den mit Schnee beladenen Tannen hindurch die Hütte sehen. Daneben steht eine große Scheune oder Stall, ein wuchtiges Balkengebilde, das die Hütte von sich weg-‐ zudrücken scheint. Je näher ich darauf zugehe, umso dunkler wirkt dieses Gebäude auf mich. Unselig. Die Hütte gegenüber wirkt dagegen heiter. Schlicht. Irgendwie gesund und freundlich. Aus dem Kamin kräuselt Rauch. Die Szenerie wirkt ruhig und einsam. Als ich vor dem Eingang stehe, habe ich Scheu davor mich laut bemerkbar zu machen. Leise klopfe ich an. Nichts geschieht. Schließlich überwinde ich meine Hemmung und schlage mit der Faust gegen die Tür. Ein zu locker eingesetztes Fenster scheppert. Dann höre ich, wie ein Stuhl gerückt und danach eine Klinke niedergedrückt wird. Ein schnappendes Geräusch. Hinter dem Glasfenster wird es hell. Ein Gesicht ist schemenhaft und leicht verzerrt durch das alte Glas zu sehen. Der Eingang wird geöffnet und Göden Marpa steht vor mir. 16 Wir begrüßen uns, dann bittet sie mich einzutreten. Ich werde in einen Vorraum geführt, in dem ich mein Gepäck abstelle. Die Flamme der hoch gehaltenen Kerze in der Hand der Lama-‐Frau bewegt sich unruhig im kalten Luftstrom, der von draußen nachdrängt. Ein kleiner Hackstock steht neben einem Stapel Brennholz. Ich setze mich darauf und ziehe die Bergschuhe aus. Erst jetzt wird mir bewusst, daß ich vergessen habe Hüttenschuhe mit zu nehmen. Fragend schaue ich zu Göden Marpa hoch. Sie deutet in eine Ecke in de-‐ ren schwach ausgeleuchtetem Dunkel ich zwei Schaufeln, einen Krampen, mehrere Stö-‐ cke, einen Rechen und eine Heugabel sehe. Dann fällt mein Blick auf ein Paar dicke, mit Edelweiß bestickte Filzpatschen, die mir bestimmt drei Nummern zu groß sind. "Du wirst dich daran gewöhnen", sagt sie. "Die Mäuse haben die Sohle angenagt. Wenn du di-‐ cke Socken anziehst, wirst du es nicht bemerken." "Nein, das stört mich bestimmt nicht. Danke", sage ich. Mit der hoch gehaltenen Kerze deren Licht von oben nach unten leuchtet sieht die Lama-‐Frau wie ein materialisierter Schatten aus. "Komm", sagt der Schatten. Er bewegt sich und führt mich in eine gemüt-‐ lich warme Küche. Ein kleiner Raum, eher eine Kammer. Ich sehe einen Tisch, drei Stüh-‐ le und einen alten Herd mit Ofenringen aus deren Ritzen heraus es orangefarben fla-‐ ckert. Der Tisch steht an einem Fenster dessen Scheiben schwarze Spiegel sind. Einer einladenden Geste folgend setze ich mich neben den Herd. Auf dem Tisch steht ein ange-‐ rostetes filigranes Gestell. Es sieht wie eine indische Antiquität aus, in der drei Haus-‐ haltskerzen brennen. In dem von dunklen Holzwänden umschlossenen Raum wirken die Kerzenflammen beinahe sakral. Das Licht strömt in den Schoß satter Dunkelheit deren Uterus der Samen des Lichts bedarf, um Einsicht zu zeugen. Meine Aufmerksamkeit glei-‐ tet weiter zum Gesicht der Lama-‐Frau. Ich sehe streng modellierte Konturen mit einer glatten, von feinen Falten durchzogenen Haut. Erhellt vom Licht der Kerzen, läßt es mich an polierte Bronze denken oder an ein antikes japanisches Netsuke, eine filigran gear-‐ beitete Skulptur an der jedes Detail liebevoll und übergenau gestaltet ist. Die vorausset-‐ zungslose Ruhe ihres Ausdrucks beeindruckt mich. Zugleich wirkt sie wachsam. Wie ein nicht domestiziertes Tier, bei dem ich mir nicht sicher sein kann: Läßt es sich streicheln oder beißt es? Unter einem verbeulten schwarzen Hut schaut mich die Yogini unbeweg-‐ lich und ohne Anzeichen eines freundlichen Lächelns an. Dann wendet sie sich ab. Es zischt scharf als sie beim Eingießen von Wasser in einen auf der Herdplatte stehen-‐ den Topf etwas verschüttet. Eine Dampfwolke steigt auf. Plötzlich fühle ich mich er-‐ schöpft. Die wohltuende Wärme, das sanfte Licht in der Dunkelheit, das Vertraute und zugleich befremdlich Unbekannte, das ich ahne – es weicht mich auf, es durchdringt meine Grenzen, sickert in mich ein. Einerseits ist das ein angenehmer Zustand. Anderer-‐ seits habe ich dabei den Eindruck meine Konturen zu verlieren und fühle mich etwas schutzlos. Die Lama-‐Frau fragt: "Wie bist du mit dem Weg hierher zurecht gekommen? Im Winter kann es mühsam sein." 17 "Es geht", antworte ich. "Zwischendurch wusste ich nicht in welche Richtung ich gehen soll. Die Orientierung war schwierig. Es gab einen Moment, da wollte ich mich in den Schnee setzen und nicht mehr aufstehen, weil mir alles gleichgültig war." "Ja, das kann ich mir vorstellen." Nachdenklich sieht sie mich an. "Wenn du dich umzie-‐ hen möchtest, zeige ich dir deine Kammer." Sie deutet auf eine massive Holztür, die im Kerzenlicht speckig glänzt. Ohne meine Antwort abzuwarten steht sie auf, nimmt das Gestell mit den Kerzen und öffnet die Tür. Ein Schwall eiskalter Luft strömt in die Küche und klatscht mir ins Gesicht wie ein nasser Lappen. "Gib acht, daß du nicht stolperst", sagt sie. "Hier ist eine hohe Schwelle." Ich steige über das Hindernis. Dann stehe ich in einer länglichen Kammer mit zwei klei-‐ nen quadratischen Fenstern. In der hinteren linken Ecke liegen drei Matratzen auf dem Boden. Die Luft riecht modrig feucht und läßt mich an eine Gruft denken. Die Lama-‐Frau räuspert sich. "Im Augenblick wirkt diese Kammer sicher ungemütlich. Sie ist bisher von mir nie beheizt worden. Aber hier steht ein Eisenofen." Mit einer Wendung nach hinten deutet sie auf ein rostiges Ding rechts vom Eingang. Dann zündet sie eine Kerze an, die auf einem Bord zwischen den Fenstern in einer Flasche steckt. Die klamme Kälte hat meine Knochen erreicht. Das wird eine angenehme erste Nacht werden, denke ich iro-‐ nisch und sage: "Gut. Dann hole ich jetzt meine Sachen aus dem Vorraum und richte mich ein." "Das kannst du tun", erwidert sie. "Danach sehen wir uns in der Küche wieder. Ich bin inzwischen oben in meiner Kammer. Rufe, wenn du fertig bist." "Ist gut", sage ich "aber ... wie darf ich dich rufen?" "Marpa" antwortet sie und geht. Außer den Matratzen und dem Ofen befindet sich nur noch ein wackeliger Bauernstuhl im Raum. Wohin soll ich meine Kleidung tun? Aus dem Vorraum hole ich mir einen der Stöcke, die ich gesehen habe und klemme ihn so in eine Ecke, daß er als Kleiderstange zu benutzen ist. Das ist praktisch. Jetzt kann ich meine Kleider ablegen und mich umziehen. Ich ziehe mich aus. Halbnackt in dieser frostgesättigten Kammer verbeißt sich die Kälte mit spitzen Zähnen in meine Haut wie eine hungrige Ratte, die ich nicht abschütteln kann. Ich atme tief in den Unterbauch, konzentriere meine Energie, versuche einen Har-‐ nisch von Empfindungslosigkeit zu schaffen bis ich von frischer Kleidung umhüllt bin. Auch sie fühlt sich im ersten Moment an wie eine kalte Folie aus Metall von der sich mein nach Wärme sehnender Köper einen Augenblick lang abgestoßen fühlt. Aber es geht schnell vorüber. Was ich ausgezogen habe lege ich über die Stange. Die restliche Kleidung zum Wechseln, darüber. Es ist nicht viel. Zwei Pullover, zwei Hosen, einige Polartekshirts und Socken. Meine Schreibsachen und Bücher werde ich später auspacken. Es gibt keinen geeigneten Ort, wo ich sie hinlegen könnte. Etwas irritiert mich. 18 Ich versuche herauszufinden, was es ist. Ein Geruch. Ja, das ist es! Es riecht nach dem Urin von Mäusen. Sobald ich den Duft identifiziert habe saugt er sich an meiner Auf-‐ merksamkeit fest. Ein Blutegel des Riechens. Es dauert nicht lange, bis sich die Quelle of-‐ fenbart. Die Matratzen. Ich zünde eines der Räucherstäbchen an, die ich mitgebracht ha-‐ be. Jetzt riecht es wie in einer indischen Tempelkammer. Mehr kann ich im Augenblick nicht ausrichten. "Marpa", rufe ich von der mich in wohltuende Wärme hüllende Küche aus. Sie antwortet nicht. Ich höre sie die Treppe herunter steigen, dann kommt sie herein. "Hast du dich eingerichtet?" fragt sie. "Ja. Ich komme zurecht", erwidere ich und ahne zugleich, daß sich bald etwas Wesentli-‐ ches ereignen wird. Marpa schaut zum Fenster in dessen schwarzen Glas sie nichts an-‐ deres sehen kann als ihr Spiegelbild. Dann schaut sie mich an. "Offensichtlich hast du den Weg hierher gefunden. Jetzt bist du da. Aber warum bist du hier?" fragt sie. Auf diese Frage bin ich vorbereitet. "Würdest du mich unterrichten?" "Oh ... was soll ich unterrichten?" "Das, was du weißt. Ich stelle mir vor, daß ich von dir vieles lernen kann." "Deine Bemerkung deutet darauf hin, daß ich etwas anderes weiß als das, was du weißt. Viele Menschen sind fasziniert von dem, was aus Tibet kommt. Vielleicht ist es bei dir auch so. Vielleicht erwartest du von mir etwas Außergewöhnliches weil ich eine Tibete-‐ rin bin und einen Weg hinter mir habe, den du möglicherweise geheimnisvoll findest. Es ist gut, wenn ich für dich ein Geheimnis bin. Dadurch kannst du das Unbekannte in dir auf mich projizieren, ihm dadurch begegnen und dich damit auseinander setzen. Das ist das Eine. Das Andere ist das Wissen, von dem du annimmst, daß ich es dich lehren könn-‐ te. Aber Wissen ist nicht das Wesentliche." Die Yogini bückt sich, hebt ein Scheit auf und schiebt es in den Herd. Ihr Gesicht flackert im Rhythmus des Feuers dessen Glut sie schürt. Ich nutze die Pause, um zu überlegen. "Was ist wesentlich?" frage ich nach. "Erfahrung und Einsicht sind es, worum es letztlich geht." "Gut. Dann frage ich dich anders. Würdest du mir Einsichten vermitteln?" "Einsichten. Welche Einsichten meinst du?" Nachdem ich kurz darüber nachgedacht habe, antworte ich: "Einsichten in die Wirklich-‐ keit." 19 "Warum willst du das?" "Weil es mich interessiert", sage ich und schaue an ihr vorbei in eine dunkle Ecke in der ein abgenutzter Korbstuhl steht. "Mit Interesse allein kommst du nicht weit. Das reicht nicht, um Einsichten zu bekom-‐ men." "Wie ist das zu verstehen? Geht es darum, daß ich etwas dafür bezahlen soll?" Jetzt lacht die Yogini. "Ja. Du musst bezahlen. Aber nicht so, wie du dir das vielleicht vor-‐ stellst." "Wie oder womit muss ich bezahlen, damit du mir zu Einsichten verhilfst?" Jetzt ist sie wieder ernst. "Deine Motive sind das Geld, das du investieren musst. Psychi-‐ sches Geld." Plötzlich komme ich mir mit meiner Frage vor wie ein Insekt, das sich im Netz einer un-‐ sichtbaren Spinne verfangen hat. Je mehr ich nachdenke, umso mehr zapple ich und ver-‐ fange mich in den klebrigen Fäden des feinen Gespinstes. Ich hoffe, die Spinne ist freund-‐ lich und saugt mich nicht aus. "Du musst dich von falschen Erwartungen lösen", höre ich sie sagen. "Erwartungen hal-‐ ten dich im Netz eines Wissens fest und schränken deine geistige Beweglichkeit ein." "Und wie komme ich davon los?" "Wir werden sehen. Auf jeden Fall wirst du die Netze der Betörungen und Illusionen zer-‐ reißen müssen." Ich habe das Gefühl, als ob eine kalte Hand von meinem Nacken aus den Rücken herun-‐ ter streicht. "Wie kannst du von dem Bild wissen, das ich eben gesehen habe?" "Was für ein Bild? Ich habe von keinem Bild gewusst." "Ich habe ein Spinnennetz gesehen als ich gefragt habe, ob ich etwas bezahlen muss; und du hast auch dieses Bild vom Netz gebraucht." Göden Marpa wirkt überrascht. "Solche Dinge geschehen manchmal. Aber nicht auf-‐ grund von Wissen. Lassen wir es dabei." Sie steht auf und geht hinaus in den Vorraum. Ich höre es rumpeln. Dann kommt sie mit einem Stapel Scheite auf dem Arm wieder her-‐ ein. Sorgfältig schichtet sie das Brennholz unter den Herd, dann öffnet sie mit einem Lappen die Ofentür und legt noch einmal nach. Inzwischen habe ich meine Erwartungen sortiert. "Es gibt vieles, das ich verstehen möchte. Geistiges und Seelisches. Fragen, die den Buddhismus aber auch das wissen-‐ schaftliche Weltbild betreffen. Ich möchte die Dissonanzen meines Wissens auflösen. Ich 20 möchte mich und das Leben besser verstehen. Vielleicht kannst du mir helfen, Antwor-‐ ten zu finden." Die Yogini wischt sich den Ruß von den Fingern und zieht Ihre Augenbrauen nach oben. Ihr Gesicht bekommt einen fragenden Ausdruck. Ein Luftstrom, der vom undichten Hüt-‐ tenfenster her durch die Kammer zieht, läßt die Kerzen flackern. Mich fröstelt. Ein eigen-‐ tümliches Gefühl psychischen Unbehagens breitet sich in mir aus. Wie von weit her höre ich sie sagen: "Woran kannst du eine Antwort erkennen?" Eine seltsame Frage. Sie trifft mich völlig unvorbereitet. "Ich weiß es nicht; vielleicht da-‐ ran, daß ich damit zufrieden bin?" Zweifelnd fragt Göden Marpa nach. "Du erkennst eine Antwort daran, daß du mit ihr zu-‐ frieden bist? Habe ich dich richtig verstanden?" "Hm, ja" sage ich unsicher und ergänze: "Ich bin selten zufrieden. Aber wenn ich dieses Zufriedensein erfahre, hat es für mich Bedeutung. Meistens ist nämlich ein langer Pro-‐ zess des Zweifelns vorausgegangen." Als ich merke, daß die Lama-‐Frau etwas sagen will hebe ich meine Hand, um sie zu unterbrechen. "Darf ich etwas ergänzen?" "Nur zu", sagt sie und wartet ab. "Dieses Zufriedensein muss selbstverständlich mit der Suche nach einer Antwort auf ei-‐ ne Frage in Zusammenhang stehen. Es kann lange dauern, bis ich bei einer Antwort Zu-‐ friedenheit fühle." "Ja sicher. Ich habe das verstanden. Das ist gut", meint sie. "Wenn du schnell zufrieden bist, könnte es sein, daß du seicht bist; und wenn du seicht bist, kann ich dir nichts ge-‐ ben, was in die Tiefe sinken kann." Das hat sie so lapidar gesagt, daß mir nichts dazu ein-‐ fällt. Ich sitze da und schweige. Die Yogini stellt eine Teekanne auf den Tisch. Ein dun-‐ kelgrün glasiertes Gefäß mit Flecken, die aussehen wie Schmutz. Hoffentlich ist das kein Dreck, denke ich mir und verspürte leichten Ekel. Der Henkel besteht aus einer gefloch-‐ tenen Schnur, die wie eine Halskette um den Körper der bauchigen Kanne liegt. Über-‐ rascht merke ich, daß trotz meines ersten Unbehagens das Gefühl überwiegt, einer guten Freundin zu begegnen. Ich mag sie. Die Kanne. Göden Marpa schenkt daraus grünen Tee in zwei Tassen. Es ist schön, den aufsteigenden Dampf zu sehen und meine Finger wär-‐ men zu können. "Du bist hungrig", sagt sie als mein Magen knurrt. "Ja, das ist nicht zu überhören. Wenn du möchtest, kann ich das Essen auspacken, das ich mitgebracht habe." "Oh, das ist gut." Die Yogini reibt sich die Hände. 21 Ich habe Walnussbrot, verschiedene Käsesorten, Butter, Wurst und Sojamilch dabei. Au-‐ ßerdem noch diverse Grundnahrungsmittel zum Kochen. Es war mir wichtig dafür zu sorgen, daß ich etwas essen kann, was mir bekommt. Ich fand es wenig attraktiv mir vorzustellen, daß ich mich währen der Zeit meines Aufenthalts von braunem Reis, Grüt-‐ ze oder sonstigen gesunden Körnern ernähren muss. Ich packe die Lebensmittel aus und lege sie auf den Tisch. Die Lama-‐Frau schaut zu. Dann lächelt sie. "Ich bin keine Vegeta-‐ rierin und glaube nicht, daß ich einen verstorbenen Verwandten esse, wenn ich ein Stück Kalbfleisch verspeise. Andererseits bin ich auch nicht von Fleisch abhängig. Ich es-‐ se, was mir verträglich ist und ernähre mich genügsam. Du brauchst also nicht zu be-‐ fürchten, daß du dich hier nur von Körnern ernähren musst. Wir sind keine Hühner." Ich fühle mich erleichtert. Es wäre mir äußerst unangenehm gewesen, als Gast das ange-‐ botene Essen nicht zu mögen. "Was wir jetzt nicht benötigen, kannst du draußen im Vorraum in den Bauernschrank tun. Ich leuchte dir." Sie nimmt den Kerzenleuchter packt sich einige Sachen auf den Arm und geht vor. Ich nehme das Übrige. Die Schranktür quietscht, als ich sie öffne. Drinnen befinden sich bereits etliche Büchsen, Schachteln und Tüten, Kerzen und Streichhölzer. Zusammen mit meinen Vorräten ist der Schrank jetzt voll. Wir gehen in die Küche zu-‐ rück. "Außer drei Suppentellern, einigen Gläsern, Tassen und Besteck gibt es kein Geschirr. Wir werden die Tischplatte als Unterlage verwenden", erklärt die Yogini. "Das macht mir nichts aus. Ich habe es gern archaisch", erwidere ich, wickle den Käse aus dem Papier, schneide Putenwurst auf und das Brot in Scheiben. "Wie groß ist die Hütte?", fange ich ein harmloses Gespräch an, als wir zu essen begin-‐ nen. Ich bekomme keine Antwort. Beide kauen wir schweigend. Als die Lama-‐Frau ge-‐ schluckt hat, sagt sie: "Während des Essens rede ich nicht. Das solltest du dir auch an-‐ gewöhnen. Essen ist Essen, und Reden ist Reden. Es ist nicht gut, beides zu vermischen. Ich weiß, in der Gesellschaft hält man es für kultiviert, wenn man sich während des Es-‐ sens unterhält. Offenbar findet man Essen ohne Unterhaltung langweilig. Mich interes-‐ siert die Gesellschaft nicht. Ich halte mich an das, was nützlich und sinnvoll ist. Deshalb rede ich nicht, wenn ich esse." Ich antworte nichts darauf. Schweigend gehe ich meinen Gedanken nach. Schiebe mir ein mit Bergkäse belegtes Brot in den Mund. Dabei wird mir bewusst, daß ich sogar beim schweigenden Essen nicht mit Essen allein beschäftigt bin. Ich denke, während ich esse. Schließlich kann ich es nicht lassen zu fragen: "Soll man während des ganzen Essens nicht reden, oder nur dann nicht, wenn man kaut?" Die Yogini lacht verhalten. "Es genügt, wenn du dir angewöhnst schweigend zu kauen. In den Pausen zwischen dem Kauen kannst du reden, wenn du unbedingt etwas sagen musst. Aber du solltest den anderen fertig kauen lassen, bevor du von ihm eine Antwort 22 erwartest. Das hört sich einfach an, erfordert jedoch eine gewisse zwischenmenschliche Kultur bei der man gegenseitig aufeinander achtet." Vor mir steht ein mit Wasser gefüllter Krug. Ich gieße mir davon in ein Glas. "Das ist Quellwasser vom Brunnen", kommentiert Göden Marpa das plätschernde Einschenken. "Wir haben hier alles, was man für ein gesundes Leben braucht. Gute Luft, Ruhe und herrliches Wasser. Genieße es, solange du hier bist." Dann spricht sie übergangslos et-‐ was Anderes an. "Ich kann dir keine Theorien beibringen. Von mir bekommst du kein Wissen im her-‐ kömmlichen Sinn. Ich werde dir auch keine vorgefertigten Antworten geben. Wenn ich dich etwas lehre, werde ich für dich eine andere Art Lehrer sein wie du sie in der Schule oder während irgendeiner deiner Ausbildungen kennengelernt hast. Was für ein Lehrer bin ich?" Nachdenklich schaut sie mich an, sucht vielleicht nach geeigneten Worten. "Vermutlich bin ich gar kein Lehrer, sondern ein Katalysator. Ja, das ist es", meint sie nun bestimmt. "Ich bin ein Katalysator. Ein Lama-‐Katalysator oder Katalysator-‐Lama. Wie gefällt dir das? Sagt dir das etwas? Nein?" Verwirrt verneine ich. "Dieses Wort wirkt in diesem Zusammenhang fremd auf mich. Es läßt mich an einen Auspuff bei einem Auto denken. Das irritiert mich." "Das habe ich nicht bedacht. Aber es ist naheliegend. Davon abgesehen: Ich verstehe die-‐ ses Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung. "Und was für eine Bedeutung ist das?" "Seinem griechischen Ursprung nach meint katalyein etwas auflösen, losbinden oder aufheben. In dem Zusammenhang, den ich vor Augen habe wird über einen bestimmten Vorgang eine Reaktion herbei geführt, durch die eine psychische oder mentale Erschei-‐ nungsform auflöst, in seine Zusammenhänge zerlegt und danach wieder zu einer Einheit zusammengefügt wird." "Meinst du damit eine Analyse?" "Nein. In einer Analyse bleiben die Bestandteile, die untersucht werden unverändert. Durch eine Katalyse werden sie gewandelt. Das ist der Unterschied." "Demnach gibt es etwas, das diese Wandlung herbeiführt." "Ja. Genau darum geht es. Wandlung. Deshalb ist mir die Katalyse eingefallen, um dir zu erklären, weshalb ich keine Lehrerin bin." "Vielleicht bist du eine katalysierende Lehrerin." "Oh nein!" Abwehrend hebt sie die Hände. "Offenbar kannst du dich nicht vom Lehrer trennen." 23 "Aber ein Lama ist ein Lehrer -‐ ein spiritueller Lehrer." "Also gut. Vielleicht bin ich jemand, der dich etwas lehrt indem er sich katalytischer Me-‐ thoden bedient. Bist du damit zufrieden?" "Ich bin nicht sicher ob ich dich verstehe. Aber es klingt interessant." Draußen hat jetzt ein dichtes Schneetreiben eingesetzt. Vor dem Fenster wirbelt es weiß. Zwischendurch drücken Windböen gegen die Scheiben. Dann pfeift es durch die Ritzen. Die herein gepresste kalte Luft sinkt zu Boden. Aber die Filzpatschen halten mei-‐ ne Füße warm. Noch einmal versucht mir Göden Marpa verständlich zu machen, was sie meint. "Was ist es, das mich – im besten Fall -‐ zu einem Katalysator für dich macht? Mein Kontakt zur Metaebene. Sie löst alles auf. Gleichzeitig wird alles neu, obwohl es in seiner Essenz nicht verändert wird." Jetzt beginnt sie den Tisch abzuräumen. Ich helfe ihr dabei. Dann holt sie aus dem Vor-‐ raum eine Flasche Bommerlunder. Ich bin überrascht. Es dämmert mir, dass ich mich von vielen Erwartungen und falschen Annahmen verabschieden muss. Sie schenkt zwei kleine Gläser voll, die sie aus einem Regal hinter mir hervor geholt hat. Der Schnaps ist eiskalt. Wir trinken ex. Mein Gesicht verzieht sich. Ihres bleibt entspannt. "Was ist eine Metaebene?" frage ich als der Alkohol meine Magenwände erwärmt und sich im Körper ausbreitet. Die Yogini schaut aufmerksam auf die Fingerspitzen ihrer gefalteten Hände. "Metaebene ist Geist. Geist ist Leerheit. Leerheit ist Nichts. Nichts ist Raum. Raum ist Beziehung. Be-‐ ziehung ist Wechselwirkung. Wechselwirkung ist Geist. Geist ist Nichts. Folgendes will ich dir damit sagen: Der Geist ist das, was wahrnimmt. Das, was wahrnimmt ist mit den psychischen und gedanklichen Phänomenen, die wahrgenommen werden identifiziert. Der Geist haftet an diesen Phänomenen. Er scheint damit identisch zu sein. Das Lösen dieser Verhaftung führt dich in die Metaebene. Die psychischen und gedanklichen Phä-‐ nomene mit denen der Geist verhaftet war, bleiben wie sie sind. Man könnte sagen, so wie sie sind, siehst du sie im Licht. Die Metaebene hat mit Sehen zu tun. Nicht mit Wis-‐ sen." Göden Marpa hält inne und trinkt einen Schluck Tee. Das gibt mir die Gelegenheit gibt, meine Gedanken zu ordnen. "Was meinst du mit Wissen, im Unterschied zum Sehen", frage ich nach. "Wissen ist nichts Besonderes. Auf einer Computer-‐Festplatte kann sehr viel mehr an Wissen gespeichert sein als das, was du jemals wissen wirst. Aber die Festplatte kann nicht sehen, was sie weiß. Und in gewisser Weise gilt das ebenso für Menschen. Sie sind wie biologische Festplatten; Speicher, die eine Menge Informationen mit sich herumtra-‐ gen ohne jedoch sehen zu können, was sie wissen. Die meisten Menschen wissen nicht 24 einmal, dass sie nicht sehen, abgesehen davon, dass sie nicht sehen und nicht wissen, dass sie nicht sehen." Wir schweigen. Im Herd knistert das Feuer. Ein Falter, der die Kälte überlebt hat flattert immer wieder in die Flamme einer Kerze, bis er versengt liegenbleibt. Zuviel des Einen, denke ich ist ebenso tödlich, wie ein Zuviel des Anderen. "Bitte entschuldige die banale Frage: Wer bist du? Alles, was du mir bis jetzt über dich gesagt hast lässt das Bild, das ich mir von dir gemacht habe zersplittern wie die Spiegelung im Wasser durch einen hinein geworfenen Stein." "Ich? Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin niemand. Ich bin eine geistige Struktur ohne so-‐ zialen Hintergrund. Ich habe keine soziale Kompetenz. Jedenfalls nicht in eurem gesell-‐ schaftlichen Wertesystem. Ich bin ein gesellschaftliches Nichts. Bestenfalls akzeptiert man mich als ein kulturelles Relikt. Meine familiäre Herkunft ist bedeutungslos. Die so-‐ zialen Netze sind zerrissen, zerstört, unwiederbringlich aufgelöst. Ich bewege mich in geistigen Feldern, die grundsätzlich ohne Herkunft und ohne Heimat sind. Die Wahrheit kennt keinen geographischen Ort und keinen familiären Schoß. Sie ist da wo du bist, o-‐ der nirgendwo. Meine Familie besteht aus den Knotenpunkten der Wahrheit. Die Schnü-‐ re, die dieses Netzt knüpfen sind aus dem Fasern der Einsicht gefertigt. Was meinst du über mich wissen zu können? Was denkst du wer dir fehlen wird? Meinst du es sagt et-‐ was über mich aus, wenn du wüsstest welche Lehrer ich gehabt habe? Ich könnte mich von ihnen gedanklich entfernt haben. Meint du etwas über mich zu wissen, wenn du den kargen Ort kennst an dem ich zwischen Yaks, Dreck und Rauch in die Welt gekommen bin? Ich könnte ihn innerlich verlassen haben. Die abstruse Vorstellung man würde ei-‐ nen Menschen kennen indem man seine Zeugnisse und Anmeldedaten gesehen hat und seinen Namen und Berufsbezeichnung weiß, ist kümmerlich und irreführend. Damit be-‐ trügt man sich selbst und weiß es nicht einmal! Die Menschen haben es verlernt, gründ-‐ lich verlernt einen Menschen zu erfahren. Die Kunst der Erfahrung wurde verloren, die Werte sind verramscht worden. Was ist geblieben? Zahlen. Wenn du keine Plastikkarte mit Zahlen hast existierst du nicht. Selbstverständlich habe ich auch solche Zahlen. Sonst könnte ich nicht hier sein und mit dir reden. Aber bin ich das? Wer bin ich also? Was bin ich? Ich habe es dir schon früher einmal angedeutet. Vielleicht hast du es nicht verstan-‐ den. Deshalb sage ich dir noch einmal. Ich bin grundsätzlich nur das, als was ich erschei-‐ ne. Für den Bauern bin ich nicht mehr als eine komische ältere Frau. Im Supermarkt bin ich nichts anderes als eine Kundin mit Einkaufskorb. Auf der Straße bin ich nicht mehr als eine Passantin. Auf dem Einwohnermeldeamt bin ich eine Antragstellerin. Für einen Arzt bin ich eine von vielen Patientinnen. Auf dem Klo bin ich jemand der scheißt, wie Millionen andere auch. Für dich bin ich was du dir unter einer Yogini vorstellst. Ver-‐ stehst du, was ich dir damit sagen will?" "Ich nehme an, du willst mir damit sagen, dass meine Vorstellung von dir auf falschen Voraussetzungen beruht." Göden Marpa lacht und sagt "so ist es." 25 Vom Arbeiten mit Emotionen Mitternacht ist vorüber. Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Der Yogini ist keine Müdigkeit anzumerken. Dass es mir nicht möglich ist, mich zurück zu ziehen wie ich will, stört mich. Ich mag mich nicht von Höflichkeit abhängig fühlen. Vielleicht ahnt sie es als sie sagt: "Es ist genug. Morgen sehen wir weiter. Wenn du möchtest, gebe ich dir eine Daunendecke, die ich nicht verwende. Damit hast du es dann sicher warm." Ich bedanke mich dafür und gehe mit ihr nach oben. Mit der bauschigen aus meinen Armen quellenden Decke steige ich dann die wieder die Treppe hinunter und begebe mich in meine Kammer, lege meinen Schlafsack auf die Matratzen und die Decke oben drauf. In-‐ zwischen bin ich so erschöpft, dass mich der penetrante Mausgeruch nicht mehr stört. Jetzt liege ich in der Dunkelheit und horche in die neue Umgebung hinein. Es ist sehr still. Ich habe den Eindruck, ich schlafe in einer Grabkammer aus Holz. In einer ausgedehnten Berglandschaft wandere ich auf einer Hochebene unter einem satten indigoblauen Himmel. Die Steine, der Sand und die Felsen ringsum erscheinen in Farbtönen von Ocker bis Siena vermischt mit jenem stumpfen weißlichen Grün, wie es für Flechten typisch ist. Es gibt keinen Weg. Ich schreite dahin ohne zu wissen wohin, doch mit der Gewissheit eines Ziels. Dann erreiche ich einen ehrwürdig wirkenden Stu-‐ pa, gemauert aus kalkigem Stein. Einsam und erhaben steht sie in der Einöde. Langsam gehe ich darauf zu und bemerke ein kleines Fenster durch das ich ins Innere schauen kann. Die Wände sind mit vielen kleinen Bildern behängt. Deren magisch wirkende Far-‐ ben scheinen von innen heraus zu leuchten und den kleinen Raum zu erhellen. Mir ist zumute als würde ich in ein goldenes Licht hinein sehen, und ein vertrautes Gefühl von Ehrfurcht breitet sich in mir aus. Ich fühle, hier bin ich mit etwas in Kontakt, das über die Begrenztheit durch die Zeit hinaus reicht. Ich wache auf. Gerne hätte ich diesen Traum weiter geträumt. Ist die Nacht schon zu En-‐ de? In der Kammer schwebt fahles Morgenlicht. Eine Weile pendle ich hin und her zwi-‐ schen dem Nacherleben des Traumgeschehens und der Entscheidung aufzustehen. Die Kälte umhüllt wie ein lähmender Panzer meine Absicht diesen Tag zu beginnen. Außer-‐ dem ist mir als hätte ich mich eben erst zum Schlafen hingelegt. Göden Marpa gegenüber nicht verweichlicht erscheinen zu wollen, gibt mir den nötigen Antrieb mich aus dem Bett zu schälen. Der Weg zum Brunnen führt durch gefrorenen Schnee. Meine Schritte knirschen als ich auf der glatt geschliffenen Oberfläche entlang gehe. Am Brunnen ist ein Ofenrohr befes-‐ tigt welches das Wasser seitwärts vom Trog ableitet. Wo es heraus fließt haben sich bi-‐ zarre Formen aus Eis gebildet. Ich lasse es in meine zu einer Schale geformten Hände fließen und wasche mir das Gesicht. Sofort dringen tausende glühender Nadeln in meine Haut. Ich erlebe brennende Kälte, die mich schockartig ins Wachsein katapultiert. Es dauert eine Weile bevor ich mich wirklich erfrischt fühle. 26 Das Anheizen des Küchenherdes dämpft meine Morgenstimmung. Aus allen Ritzen quillt Rauch. In dem kleinen Raum fühle ich mich wie in einer Selchkammer. Um Abhilfe zu schaffen, öffne ich ein Fenster und die Türen nach draußen. Eiskalte Zugluft befreit die Küche vom Rauch. Dafür friere ich jetzt mehr als vorher. Später erst hat sich gezeigt, dass dieses morgendliche Heizen lehrreich war. "Du musst damit arbeiten", sagt die Lama-‐Frau eines Tages zu mir, als sie meinen Ärger bemerkt. "Wie soll das gehen?" will ich wissen. Inzwischen hatte ich bereits verschiedene Sorten Dichtmasse verarbeitet, und die Ritzen damit ausgeschmiert. Der Rauch findet trotzdem – nicht immer, aber oft genug – Wege nach draußen. "Wie das gehen soll?" wiederholt sie. "Ich sehe zwei Möglichkeiten. Du tauscht dein Ag-‐ gressiv Sein aus gegen friedliches Gelassen Sein aus, oder du akzeptierst deine aggressi-‐ ve Reaktion." "Als ob das so einfach wäre", brause ich auf. "Meine Bemühungen waren alle Erfolglos." "Wer hat dir gesagt oder versprochen, dass es einfach ist? Du musst viel dafür tun. Ver-‐ mutlich hast du bis jetzt das Falsche getan." "Aber", verteidige ich mich, "wie kann ich meine Aggressionen loswerden, wenn es im-‐ mer wieder raucht. Ich habe alles versucht mit diesem Herd." Von meiner Reaktion unbeeindruckt sagt sie: "Ja. Du hast dich um den Herd gekümmert. Und was dich betrifft, wolltest du etwas loszuwerden. Du hast gegen dich und die Situa-‐ tion gearbeitet. Du willst den Herd und deine Aggressionen nicht haben wie sie sind." "Natürlich will ich sie nicht haben. Mir wäre es viel lieber, wenn ich gelassen sein könn-‐ te", antworte ich. "Gelassen Sein entwickelst du nur im Dafür sein. Nicht im Dagegen sein. Das betrifft so-‐ wohl die äußeren wie die inneren Phänomene", antwortet Göden Marpa mit eindringli-‐ cher Stimme. Sie spricht langsam und schaut mich konzentriert an; als ob sie mir etwas geben will, das mit Worten allein nicht zu geben ist. "Gut", sage ich. " Was kann ich tun, wenn es so ist?" "Du musst lernen, den Rauch zuzulassen", sagt sie lächelnd und verlässt den Raum. Als wir später wieder zusammensitzen sagt die Lama-‐Frau: "Dieser Rauch hat auf dich eine negative Wirkung. Du solltest dich damit auseinandersetzen." "Das ist wahr", gebe ich zu. "Vielleicht sollte ich der Sache nachgehen und erst einmal verstehen, was eine Wirkung ist." 27 "Ja. Vielleicht ist es hilfreich, das zu verstehen", bestätigt sie mich. "Gut. Aber was ist eine Wirkung?" frage ich sofort. "Ist das jetzt nur so daher gesagt, oder ist es für sich eine ernsthafte Frage?" "Nun – ja, es ist eine ernst gemeinte Frage." "Eine Wirkung ist eine Veränderung durch einen Einfluss", antwortet sie darauf. "Jetzt kommt es darauf an, was du aus dieser Antwort machst." Ich denke nach. Dann sage ich: Wenn eine Wirkung eine Veränderung durch einen Ein-‐ fluss ist, dann ist der Ofenrauch ein Einfluss der bei mir eine Veränderung bewirkt." "Ja. Das ist ein folgerichtiger Zusammenhang. Aber damit kommst du noch nicht weiter. Du musst dich fragen: Worin besteht dieser Einfluss? Es reicht nicht zu erkennen, dass der Qualm des Ofens ein Einfluss ist. Wie sieht dieser Einfluss aus? Wie kommt er zu-‐ stande?" "Meinst du ich soll der Frage nachgehen, ob ich in einem früheren Leben bei einem ähn-‐ lichen Einfluss etwas Unangenehmes erlebt habe?" Göden Marpa klatscht die Hände zusammen. "Auf gar keinen Fall. Was denkst du nur? Wir betreiben hier keine Psychoanalyse oder so etwas wie eine Reinkarnationstherapie. Wir experimentieren ein bisschen mit analytischem Buddhismus." Es gelingt mir gerade noch rechtzeitig das Taschentuch herauszuziehen, dann muss ich heftig nießen. "Was muss ich tun, um zu erkennen, wie der Einfluss zustande kommt?" frage ich. "Lasse den Rauch an dich heran kommen. Entweder in deiner Vorstellung oder in der Realität. Jetzt raucht es nicht, also musst du mit der Vorstellung arbeiten." "Gut, das kann ich. Ich stelle mir den Qualm vor." "Aha. Du siehst den Rauch wie er aus den Ritzen des Ofens quillt? Ja? Kannst du ihn viel-‐ leicht sogar riechen?" "Ja, und dann ärgere ich mich und ..." "Halt", sagt die Yogini energisch und unterbricht mich. "Gehe zurück zu dem Moment wo du dich noch nicht ärgerst. Es geht um den Einfluss. Du willst den Einfluss erkennen. Du willst Einsicht in den Einfluss bekommen. Darum geht es. Also, was ist?" "Ich sehe, wie es qualmt und bin noch nicht verärgert. Aber dann ... aha, das ist interes-‐ sant: Sobald ich rieche, werde ich verärgert und ..." 28 Abermals hebt die Yogini die Hand und unterbricht mich. "Gehe zurück zu dem Punkt an dem du den Qualm riechst, aber noch nicht verärgert bist. Achte darauf, was geschieht." "Nichts. Es geschieht nichts. Ich rieche den Rauch und dann kommt der Ärger." "Nein, so ist es nicht", entgegnet sie bestimmt. "Wie kannst du das wissen", verteidige ich mich. "Es ist mein Erleben, nicht deines." "Selbstverständlich", sagt sie ungerührt. "Trotzdem weiß ich, dass etwas geschieht, ge-‐ schehen muss bevor du dich ärgerst, sobald du den Qualm riechst." Sie schaut sie mich konzentriert an und wartet ab. "Also", beginne ich, und versuche es noch einmal. "Ich rieche den Rauch und will ihn nicht haben." "Eben", sagt sie laut und bestimmt. "Das ist es!" "Was?" frage ich überrascht. "Du willst den Rauch nicht haben." "Aber natürlich nicht. Darum geht es doch. Deshalb ärgere ich mich ja", antworte ich leicht genervt und zunehmend irritiert. "Ich könnte dir sagen, wodurch du dich beeinflusst. Aber das wäre für dich ohne Bedeu-‐ tung. Bedeutsam wird es dadurch, dass du es selbst erkennst." "Das sehe ich ein. Aber ich kann beim besten Willen nicht sehen, was ich erkennen soll." "Sollen ist eine falsche Einstellung. Mir zuliebe brauchst du nichts zu sollen. Mir ist es gleichgültig wie du auf den Rauch in der Küche reagierst." "Aber du erwartest doch von mir, dass ich etwas ganz Bestimmtes erkenne", versuche ich es erneut. "Wie kommst du darauf? Nein. Ich erwarte nichts von dir. Ich lenke deine Aufmerksam-‐ keit lediglich in eine bestimmte Richtung, damit du etwas sehen kannst, was dich be-‐ trifft. Dabei beobachte ich dich. Das Ganze ist sozusagen eine erste Lektion in buddhisti-‐ scher Mentalpraxis." "Hat das etwas mit dem katalytischen Lehren zu tun von dem wir gesprochen haben?" "Das kann man sagen. Aber jetzt redest du von etwas anderem." Göden Marpas Augen blicken klar und durchdringend. … 29 Ich verstehe, dass sich die Situation für mich nur dann zufriedenstellend weiter entwi-‐ ckeln kann, wenn ich mich darauf einlasse, was mir die Yogini sagt. Deshalb stelle ich mir noch einmal Rauch vor der aus dem Ofen quillt. Sobald ich seinen Geruch wahrneh-‐ me reagiere ich ärgerlich. Zugleich bemerke ich, wie etwas in mir nein dazu sagt. Sobald mein Gehirn ich will den Rauch nicht haben denkt, werde ich ärgerlich. Ist es so einfach? Nein, antworte ich mir selbst. Einfach ist das keineswegs. Im Gegenteil. Dieser ganze Zu-‐ sammenhang erscheint deshalb so kompliziert, weil er unmittelbar vor Augen liegt. Aufmerksam gehe ich noch einmal zurück. Es ist wirklich so. Wenn es mir gelingt mein Gehirn etwas anderes denken zu lassen als ich will den Rauch nicht haben, dann entsteht auch kein Ärger. Das Ganze beeindruckt mich sehr. Mir ist das Gefühl für Zeit abhanden-‐ gekommen. Ich weiß nicht: Hat das alles fünf Minuten gedauert oder eine Stunde? Marpa sitzt still in sich gekehrt in kühler Distanz neben mir. "Du hast intensiv gearbei-‐ tet", sagt sie. "Das Gefühl habe ich auch", antworte ich daraufhin. "Hast du etwas für dich Wichtiges erfahren?" "Ja, ganz bestimmt." "Was hast du erfahren?" "Wenn ich darauf Einfluss nehme, was mein Gehirn denkt, entsteht eine Veränderung in meinem Erleben des rauchenden Ofens. Das wirkt sich dahingehend aus, dass ich ver-‐ mutlich gelassen bleiben kann." "Ja, das ist eine Möglichkeit, damit umzugehen. Eine andere ist, dass du beim Riechen von Rauch ausatmest und dir dabei Gelassenheit vorstellst." "Dann hätte ich mir diese mühsame Arbeit vorhin ersparen können." "Das ist ein Irrtum. Durch diese Arbeit hast du eine wichtige und sehr wirkungsvolle Me-‐ thode kennen gelernt, die du auf alle Phänomene anwenden kannst, die dich betreffen und dir zu Einsichten verhelfen. Die andere Variante ist rein pragmatisch. Sie funktio-‐ niert, aber Einsichten vermittelt sie dir nicht." Göden Marpa hat sich die Hüttenschuhe ausgezogen. Aufmerksam und gründlich mas-‐ siert sie sich die Fußsohlen. Erst den linken, dann den rechten Fuß. Ich schaue ihr dabei zu und lasse mich von meinen Gedanken dahin und dorthin treiben. Mir fällt auf, wie selbstverständlich es für mich ist, dass mich meine Füße überall hintragen, dass ich ihnen jede Anstrengung zumute, ohne mich beim ihnen zu bedanken oder ihnen etwas Gutes zu tun. Jetzt mache ich es der Lama-‐Frau nach. Lege meinen linken Fuß auf den rechten Schenkel und fange an, Zehen und Sohle zu bearbeiten. Dabei habe ich das Ge-‐ fühl, dass ich mich sehr viel mehr als ich es gewohnt bin meinem Körper zuwenden soll-‐ 30 te. Wir sitzen in der Küche. Der Herd ist warm, beide sind wir mit unseren Füßen be-‐ schäftigt. Die Situation ist sehr vertraulich. "Du scheinst es nicht zu mögen, dich zu ärgern. Was stört dich daran?" "Vielleicht habe ich ein Idealbild. Ein geistiger Mensch ärgert sich nicht." "Sprich weiter", fordert sie mich auf. "Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte ich immer noch Ideale, die in keinem Ver-‐ hältnis zur Realität stehen. Dann erlebe ich einen Widerspruch in mir, eine Dissonanz, die mich vom Erleben innerer Harmonie abhält. Vielleicht ist bereits dieses Bedürfnis nach Harmonie ein solches Ideal, das nicht der Realität entspricht. Andererseits ist es mir im Lauf meines bisherigen Lebens bereits gelungen, viele Ideale und Vorstellungen aufzugeben. Sie waren eher hinderlich, als dass sie mich weitergebracht hätten. Was er-‐ warte ich also? Es fällt mir schwer, das zu benennen. Einerseits geht es mir um Erfah-‐ rung, andererseits bin ich auch auf der Suche nach Erkenntnis. Ich will mich verstehen, um über mich hinausgehen zu können. Vielleicht bin ich mir nicht genug? Ich weiß es nicht. Vielleicht suche ich ein Wissen, mit dem ich mich selbst aus den eigenen Stiefeln in denen ich stecke herausziehen kann." Die Yogini sieht mich schweigend an. Es ist mir nicht möglich zu erkennen, was sie denkt. Ihr Gesicht gibt keine Zeichen preis an denen ich ablesen kann, wie sie das Gesag-‐ te aufnimmt. Ich fühle mich dadurch verunsichert. Als ich weiterreden will, kommt sie mir mit einer Frage zuvor. "Woran glaubst du? Was meinst du, woran du glaubst?" "Ich glaube", antworte ich ihr, "dass ich mehr bin als mein biologisches Gehirn. Ich bin nicht das Produkt seiner physikalischen Funktionen. Je nachdem, wie ich denke ermög-‐ licht es mir Zugang zu inneren Räumen, die sich von den gewohnten Räumen in denen ich mein Leben verbringe unterscheiden. Ich glaube, dass unser Gehirn Möglichkeiten bereitstellt in andere Welten gehen zu können und Einsichten zu erfahren, die über das Gewohnte hinausgehen und es transzendieren. Das nehme ich aufgrund eigener Erfah-‐ rungen an, und glaube daran. Das heißt: eigentlich glaube ich es nicht – es ist für mich eine Gewissheit, die ich nicht Glauben nennen würde." Göden Marpa steht auf und legt Holzscheite in den Ofen. Ein angenehmer Geruch von Harz breitet sich aus. In Gedanken frage ich mich welchen Sinn es hat, bei einem anderen Menschen nach Antworten zu suchen, wenn ich mir die Fragen nicht selbst beantworten kann? Sind nicht die einzig authentischen Antworten jene, auf die man durch intensives Fragen selbst gekommen ist? Und wenn es so ist: Hat mein Hiersein dann irgendeinen Sinn? Bin ich einer Illusion gefolgt? Mir wird plötzlich bewusst, dass ich der Vorstellung erlegen bin, die Lama-‐Frau könnte mir etwas sagen, was ich alleine nicht finden würde. 31 Ich identifiziere sie mit Tiefgründigkeit aus dem Bedürfnis heraus, in ihr dem Unge-‐ wöhnlichen zu begegnen. "Worüber hast du nachgedacht?" unterbricht sie meine Gedanken. "Ich habe mir eben überlegt, ob es Sinn macht hier zu sein", antworte ich. "Diese Frage, ob etwas Sinn macht oder nicht, ist mir schon oft gestellt worden. Wenn mich jemand danach gefragt hat, habe ich jedes Mal darauf geantwortet: Nichts hat Sinn. Dann hat mich der Betreffenden meistens angeschaut als ob ich ihn verraten hätte. Die Menschen meinen, dass alles im Leben einen Sinn haben muss." "So sehe ich das aber auch", entgegne ich. "Dann müssen wir danach fragen, was du unter Sinn verstehst." "Sinn", antwortete ich "hat für mich mit Bedeutung zu tun." "Damit hast du ein unklares Wort gegen ein anderes ersetzt, und ich frage deshalb wei-‐ ter: Was meinst du mit Bedeutung?" "Ich verbinde damit die Idee eines Hinweises – ein Hinweisen, Hindeuten auf etwas, als würde man mit dem Finger auf etwas zeigen. Ich meine damit aber nicht einen solchen Hinweis, wie das Zeigen auf ein Objekt, sondern das Aufzeigen, das Hinweisen auf einen Zusammenhang den einen Sinn verleiht." "Du meinst also, dass etwas ohne einen solchen Hinweis auf einen Zusammenhang kei-‐ nen Sinn hat?" "Ja, ich denke schon. Eine Sache -‐ egal welche -‐ ist ohne Sinn, wenn sie nur für sich selbst existiert. Der Sinn eines Phänomens ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang in den es eingebunden ist." "Gut. Wenn du Sinn so verstehst: Wie ist deine Antwort auf die Frage, ob es Sinn macht, hier zu sein?" "Dann muss ich sagen, dass mein Hiersein nur dann sinnvoll ist, wenn ich es in einem größeren Zusammenhang sehen kann." "In diesem Fall wirst du dich fragen müssen, ob du einen solchen Zusammenhang er-‐ kennen oder herstellen kannst." "Ich kann sehen, dass es darauf hinaus läuft", bestätige ich die Schlussfolgerung der La-‐ ma-‐Frau. Nach einer Weile komme ich auf Marpas Bemerkung von vorhin zurück, weil ich sie sie nicht unwidersprochen hinnehmen will. "Hast du es wirklich so gemeint, als du gesagt hast nichts hat Sinn?" "Ja und nein." 32 "Wie ist das zu verstehen?" "Verstehe es, indem du Nichts groß schreibst. Was ergibt sich daraus?" Ich fühle mich verwirrt und kann nicht erkennen, worauf sie mich hinweisen will. Dann stelle ich mir den Satz nichts hat Sinn mit einem groß geschriebenen Nichts vor. Plötz-‐ lich entsteht ohne meine Absicht eine kleine Gedankenkette: Nichts hat Sinn -‐ Sinn ist Nichts -‐ Im Nichts ist Sinn -‐ Sinn ist im Nichts -‐ Nichts ist nicht nichts -‐ wenn Nichts nicht nichts ist, ist es alles. Ein Ort der Erfahrung Die Hütte ist vor ungefähr einhundert Jahren auf einem steilen Hang errichtet worden. Bei näherer Betrachtung macht sie einen verwahrlosten Eindruck. Offenbar haben sich die Pächter, die vor Göden Marpa dieses Objekt für sich genutzt hatten, um nichts ge-‐ kümmert und alles dem natürlichen Prozess der Auflösung überlassen. Danach sieht es jedenfalls aus. Von Ferne gesehen zeigt die Hütte jedoch einen besonderen Charme und macht auf mich den Eindruck, als würde sie darauf warten, dass sich jemand ihrer an-‐ nimmt und ihre schönen Seiten zum Leben erweckt. Sie spricht meine Vorliebe für eine Ästhetik an, die den Zen-‐Idealen entspricht. Etwas ist, wie es ist. Auch wenn der Zerfall seinen Reiz hat, sehe ich überall dringend erforderliche handwerkliche Aufgaben. Göden Marpa sieht es auch so. In einem Gespräch sagt sie: "Wenn du mir helfen möchtest und die nötige Zeit dafür aufbringen kannst, überlasse 33 ich es dir, die Hütte zu renovieren und zu gestalten. Das wäre für mich eine große Ent-‐ lastung." Ohne viel nachzudenken entscheide ich mich dafür, diese Herausforderung an-‐ zunehmen. Man kann sich hier zu zweit aufhalten ohne sich gegenseitig allzu nahe zu kommen, wenn man nicht will. Die Yogini bewohnt den oberen Teil und ich den unteren; die Kü-‐ che, mit der daneben liegender Kammer. Neben dem Stall gibt es einen Brunnen mit Quellwasser. Der Abort befindet sich in einem seitlich am Stall angebauten Verschlag. Drinnen steht ein Eimer mit Asche und ein zweiter mit einer grob gezimmerten Klobril-‐ le. Daneben ist ein Trichter mit einem Schlauch, der nach unten in die Erde führt. Mir ist es peinlich, als mir Göden Marpa den Gebrauch dieser Einrichtung, die sie biodynami-‐ scher Kübel nennt, ausführlich schildert. Ich bin es nicht gewohnt mit Regeln über das Austreten konfrontiert zu werden. Mehr noch befremdet es mich bei einer Yogini von der ich spirituelle Dinge erwarte. Sie erklärt, dass sich bei wild lebenden Tieren der Urin nicht mit dem Kot vermischt. Dadurch soll es nicht zu jenen Zersetzungsprozessen kommen, die sich als Gestank be-‐ merkbar machen. Man kann diesen Zusammenhang in Ställen beobachten, meint sie. "Aus diesem Grund leiten wir unseren Urin über einen Trichter ab, so dass er nicht mit den festen Ausscheidungen in Berührung kommt, die mit Asche oder Sägespänen be-‐ deckt werden. Was dann im Kübel verbleibt ist nahezu geruchlos. Alles ist sehr hygie-‐ nisch. Wenn du in Zukunft öfter hierher kommst, hast du die Aufgabe den Kübelinhalt von Zeit zu Zeit zu vergraben. Du wirst sehen: Das ist nichts Unangenehmes." Zögernd erwidere ich: "Im Wesentlichen habe ich verstanden, um was es geht. Aber ich habe keine Vorstellung, wie das in der Praxis vor sich gehen soll. Muss ich zuerst in den Trichter pinkeln bevor ich mich auf den Kübel setze?" "Nein, so geht das nicht", korrigiert mich die Yogini. "Du sitzt auf dem Kübel und hast den Trichter zwischen den Beinen. Anfangs ist das etwas ungewohnt, aber du wirst dich bald daran gewöhnen. Wenn ich keine Probleme damit habe, dann sollte es für dich ebenso unproblematisch sein. Ich bin sicher, dass du diese Herausforderung kreativ lö-‐ sen wirst". Die Lama-‐Frau unterbricht ihre seltsame Einweisung und schaut mich fra-‐ gend an. Mir fällt nichts ein, was ich dazu sagen soll. "Du wirst beobachten", fährt sie fort, "dass selbst bei größter Sommerhitze kein unangenehmer Geruch entsteht. Außer-‐ dem sind keine Fliegen oder sonstiges Ungeziefer um diesen Eimer herum zu sehen. Die Praxis zeigt also eindeutig, dass die Sache funktioniert. Das alles ist dir peinlich, nicht wahr?" sagt sie herausfordernd. "Man kann diesen Aspekt der biologischen Existenz aber nicht leugnen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn man sich damit kreativ auseinander-‐ setzt." "Das leuchtet mir ein", sage ich. "Hast du dir das selbst ausgedacht?" 34 "Nein. Ich war einmal zu Gast bei einem Bauern in Nizza, der sich mit biologischen Kreis-‐ läufen und Yogapraxis beschäftigt hat. Von ihm stammt diese Idee. Ich habe sie mir nur angeeignet." Nach einer Weile des Nachdenkens fährt sie fort: "Weißt du, ich war damals genauso skeptisch, wie du. Aber dann hat mir dieser Yoga-‐Bauer erzählt, wie sich seine über achtzig Jahre alte Schwiegermutter täglich auf den Kübel setzt und es genießt." Wir lachen beide und ich fühle mich von einer Hemmung befreit. "Es überrascht mich, dass du dich als Lama mit so etwas beschäftigst." "Oh -‐ was hast du erwartet, womit ich mich beschäftige?" "Das weiß ich nicht genau. Vielleicht verstehe ich nicht, warum du dich mit solchen Sa-‐ chen befasst." "Aha -‐ mit solchen Sachen also", erwidert sie sarkastisch. "Mit was für Sachen sollte sich ein Lama deiner Meinung nach befassen?" "Mit geistigen", antworte ich und merke sofort wie schal das klingt. Es entspricht auch nicht meiner Einstellung. Im Gegenteil. Ich sehe durchaus, dass sich Körper und Geist gegenseitig nicht ausschließen. Ich erinnere mich an ein japanisches Gedicht in dem die Zeile vorkommt: Der Meister sitzt auf seinem Arsch und betrachtet die abendliche Stille des Sees. Die deutsche Übersetzung sieht so aus: Der Meister sitzt auf einem Lotusblatt und meditiert die Abendliche Stille des Sees. "Ich habe soeben gemerkt", erkläre ich Göden Marpa, "dass ich vorhin nicht genügend nachgedacht habe. Es stimmt zwar, dass ich von dir etwas Geistiges erwarte; aber nicht in der Weise, dass Lebensbereiche aus-‐ geklammert werden." "Gut, dass du das so siehst. Andernfalls hätte ich mit dir nicht viel anfangen können. Es wäre für mich zu mühsam gewesen, ein solches Entweder-‐Oder-‐Denken korrigieren zu müssen." "Das kann ich gut verstehen. Deshalb war es mir auch wichtig, meine Antwort zu korri-‐ gieren." Nur ein Abort. Und doch: Was für eine andere Welt des Empfindens erfahre ich an die-‐ sem Ort des Abtritts. Nie zuvor habe ich die alltägliche Notwendigkeit vegetativer Be-‐ freiung so direkt mit poetischen Eindrücken verbinden können. Bei Kerzenlicht im Halbdunkel auf dem Kübel sitzen und durch ein kleines Fenster hindurch die davor lie-‐ gende Landschaft zu betrachten vermittelt mir ein besonderes Gefühl von Harmonie. Na-‐ türlich ist das Aufsuchen dieser Örtlichkeit in der Nacht bei frostiger Kälte mit Unbeha-‐ gen verbunden. Aber sobald ich hier bin und auf dem Kübel kauere, entschädigt mich das Erleben für die vorhergegangenen unbequemen Aspekte. Der eigentümliche Reiz dieses Ortes ist schwer zu vermitteln. 35 Diffus und flackernd verbreiten sich die spärlichen Lichtstrahlen einer mit klammen Fingern entzündeten Kerze. Sie erhellen nur die unmittelbare Umgebung, die etwas wei-‐ ter von meinem Körper entfernt im Dunkel versinkt. Ich werde auf mich selbst zurück geworfen. Während ich meinen Hintern in seiner nackten Blöße spüre, weil ein kalter Wind durch die Ritzen der Bretter fegt, sehe ich rechts von mir ein im Kerzenlicht silbrig schimmerndes Spinnennetz auf dem ein welkes Blatt im Luftzug schaukelt. Ich habe ein Geist und Körper betreffendes Wohlgefühl und erfahre eine seltsame Harmonie der Er-‐ leichterung. Ja. Dies ist ein Ort der Ruhe und Wahrheit. Ein Refugium spiritualisierter Körperlichkeit. Die Hütte hat fünf Kammern, die wir uns einrichten können. Im derzeitigen Zustand sind sie nahezu leer und ungestaltet. "Ich möchte daraus eine Gompa für mich machen", sagt die Yogini, als wir darüber sprechen, wie sie sich die Einrichtung vorstellt. "Du willst also die Hütte so herrichten, dass sie ein Ort des Rückzugs wird", frage ich nach. "Ja. Im Wesentlichen schon. Ich würde eher sagen, dass ich hier ein geistiges Lebensfeld schaffen möchte. Das gefällt mir besser als Rückzug." "Ein geistiges Lebensfeld auf der Basis des Rückzugs", wiederhole ich mein Verständnis und versuche zu erklären: "Ich würde diesen Aspekt des Rückzug aus dem Alltagsleben nicht ausschließen. Ich halte ihn für eine wichtige Option. Deshalb hat man ja auch Klös-‐ ter geschaffen." "Ja", sagt Göden Marpa. "Du hast Recht. Eine Gompa war immer ein Ort des Rückzugs. Man hat die Zurückgezogenheit genutzt, um ein geistiges Lebensfeld aufzubauen." "So habe ich es gemeint." Nachdenklich schweigen wir. Dann frage ich: "Hast du bereits bestimmte Vorstellungen, wie die Hütte oder die Gompa aussehen soll?" "Schlicht", sagt die Yogini knapp. "Kannst du damit etwas anfangen?" "Aber ja, auf jeden Fall", beeile ich mich zu antworten und beschreibe meine Idee. "Ver-‐ rückt", sagt sie. "Aber interessant. Ich überlasse es dir, zu tun, was dafür nötig ist." Die Hütte schlicht zu gestalten ermöglicht mir, Vorstellungen von Zen-‐Ästhetik zu ver-‐ wirklichen. Vor meinem geistigen Auge entsteht vage das Bild einer tibetischen Almhüt-‐ te im Zen-‐Stil. Bei Tibet denke ich an Rauch, Ruß, Fett und Farben. Bei Zen an Reduktion und Einfachheit. Der Zusammenhang von Zen und Ästhetik zeigt sich im Anspruch maximaler Reduktion. Die Gestaltung eines Zen-‐Gartens zum Beispiel folgt der Maxime: Erst dann, wenn man aus dem Garten nichts mehr entfernen kann, ohne dessen Harmonie zu stören, ist er fer-‐ tig. Auch die Haiku-‐Dichtung folgt diesem Anspruch. Henry Miller hat einmal gesagt, sein Leben im Stil eines Haiku zu leben sei für ihn das Äußerste an Kultur. Für den tibeti-‐ 36 schen Aspekt der Hütte habe ich ein anderes Ideal: kultivierter Schmutz. Im Westen ten-‐ diert man dazu jeglichen Schmutz und das, was man dafür hält aufzudecken und zu ent-‐ fernen. Das Ergebnis ist eine Form von Sauberkeit, die alle davon betroffenen Dinge ih-‐ res Charmes entkleidet. Was ist Schmutz? Etwas, was im Auge des Betrachters aus des-‐ sen Geist heraus entsteht. Innerhalb gewisser notwendiger Voraussetzungen für Sau-‐ berkeit lassen sich gewisse Erscheinungen von Schmutz durchaus ästhetisieren. Man kann sie auch als Ausdruck von Geschichte sehen. Schichten gelebter Zeit. Die rigorose Tendenz Schmutz zu eliminieren führt zu eigentümlichen Verästelungen, die sogar – so scheint es mir – das Licht betreffen. Unsere Lebensräume sind inzwischen so beschaffen, dass jeder Winkel ausgeleuchtet und seiner Schatten beraubt ist. Als ob Schatten und dämmerige Winkel etwas wären, das es auszumerzen gilt. In einer ringsum ausgeleuchteten Welt ziehen sich die Nuancen zurück. Die stillen Töne schweigen. Ich genieße es in meiner Kammer aus altem Holz zu sitzen in der es keine Wände und Gegenstände gibt, die Licht reflektieren. Ein gewisses Maß an Dunkelheit ist Vorausset-‐ zung dafür, das subtile Erleben schattiger Nuancen in alten Materialien zu ermöglichen. Deren Qualitäten von Tiefe und Bedeutsamkeit werden erst bei reduziertem Licht le-‐ bendig. Vielleicht entstehen sie sogar erst dadurch. Der Rückzug äußeren Lichts ermög-‐ licht das Erleben inneren Lichts. In einer bis in die verborgenen Winkel hinein illumi-‐ nierten Welt löst sich das Erfahren von Innenwelt auf. Sie wird zur Illusion. Mit welchem Verlust des Erlebens ist das verbunden! Ich schaue aus dem Kammerfenster hinaus in eine vom Schnee reflektierte Helligkeit. Sie ist unangenehm grell und kaum zu ertragen. Als ich mich vom Fenster abwende sehe ich nur satte Dunkelheit. Als ich wieder normal sehen kann gehe ich in die Küche und setze mich zu Göden Marpa. "Wenn du Zeit dafür hast, möchte ich die Idee vom Ort des Rückzugs mit dir besprechen. Ich finde es wichtig, dass wir von gemeinsamen Vorstellungen ausgehen." "Ich verstehe", sagt sie nachdenklich. "An dieser Idee ist nichts kompliziert. Ich bringe dir dafür ein Beispiel. Besondere Pflanzen benötigen für ihr Wachstum einen geschütz-‐ ten Lebensraum, der ihre Entfaltung unterstützt. Ebenso ist ein Ort des Rückzugs und die damit verbundene Lebensweise ein geschützter Raum, um geistige Phänomene zu kultivieren, die sich sonst nicht entfalten können. Die Hütte kann so ein Ort sein. Gleich-‐ gültig ob wir sie gestalten oder belassen, wie sie ist: Sie wird durch deine Einstellung zu einem Ort des Rückzugs, zu einer Gompa in der wir uns auf Dinge besinnen und Dinge tun kann, die an anderen Orten nicht möglich sind. Ich brauche nur an die Pflanzen in meinem Garten zu denken. Jetzt ist nichts davon zu ahnen. Im Sommer wirst du sie se-‐ hen. Würde ich nicht regelmäßig die Brennnesseln entfernen, was bei der Vitalität dieser Gewächse jedes Mal eine mühsame Arbeit ist, hätten die meisten Pflanzen, die uns nach und nach mit ihren Blüten und Farben erfreuen, keine Chance zu wachsen. Sie würden hoffnungslos überwuchert und abgewürgt werden." 37 Skeptisch sage ich: "Jeder Gärtner weiß, dass er seinen Garten regelmäßig bearbeiten muss, wenn er bestimmte Pflanzen ziehen will. Was hat das mit der Hütte als Ort des Rückzugs zu tun?" "Sobald die Hütte eine Gompa geworden ist bekommt alles, was hier geschieht, die Funktion einer Metapher, die sich auf deinen Geist auswirkt." "Meinst du, wenn ein Gärtner die Brennessel rupft, ist das pragmatisch; und wenn wir hier dasselbe machen ist es eine Metapher, und hat eine Wirkung auf unseren Geist?" "So ist es." Jetzt bin ich überrascht und fasziniert zugleich. "Ich kann mir nicht erklären", sage ich, "wie eine Handlung zu einer Metapher wird. Wie geht das vor sich?" "Das geht so vor sich", antwortet die Lama-‐Frau. "Weil wir hier kein Interesse daran ha-‐ ben aus Erwägungen der Nützlichkeit einen Garten zu erhalten oder sonst irgendetwas zu tun, was die persönlichen Eitelkeiten betrifft und das Ego nährt, deshalb sprechen die Handlungen eine andere Sprache und wirken sich anders aus. Die Tatsache wie und wozu wir diesen Ort für uns nutzen, ist mit völlig anderen Motiven verbunden als bei Menschen, der hier nur einen angenehmen Urlaub verbringen möchten." "Jetzt verstehe ich, wie du es meinst", antworte ich. "Es ist die Grundeinstellung des Hierseins. Aufgrund unserer Motive werden aus den Tätigkeiten Metaphern, die eine geistige Wirkung haben." "Ja. Genau das meine ich." "Das ist interessant. Es bedeutet: Zwei gleiche Handlungen können sich dadurch vonei-‐ nander unterscheiden, dass sie mit unterschiedlichen Motiven ausgeführt worden sind." "Genau so ist es. Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass Handlungen mit Motiven verknüpft sind. Pragmatisch gesehen, zählt nur die Handlung und das damit einherge-‐ hende äußeres Ergebnis. Aber geistig ist das einer Handlung zugrunde liegende Motiv bedeutsam." Die schräg stehende Wintersonne leuchtet in einen Winkel der Küche und lässt die Pati-‐ na der Holzwand geheimnisvoll schimmern. Für einen Augenblick wird die Maserung le-‐ bendig und vermittelt die Schönheit ihrer gewachsenen Struktur. Langsam wandert der Lichtstreifen nach unten, bis er den abgetretenen Boden berührt, auf dessen altersgrau-‐ en Bohlen eine kleine Spinne ins schützende Dunkel eines benachbarten Schattens läuft. Das Wasser beginnt zu kochen. Es singt bereits. In unregelmäßigen Abständen pafft Dampf aus dem rußigen Wasserkessel. Der Deckel hebt sich dabei ein wenig und fällt wieder zurück. Sein metallisches Klappern ergibt einen eigenwilligen Rhythmus. Das vom Fenster her einfallende Licht formt den Dampf zu tänzerischen Skulpturen, die sich 38 wie Ektoplasma im Raum winden. Diese Beobachtung lässt plötzlich etwas in mir ge-‐ genwärtig werden, was ich vor Jahrzehnten erlebt habe. … Über der Kühlanlage einer Metzgerei bewohne ich zwei Zimmer. Eines Nachts befinde ich mich in einem Trancezustand und sehe, wie sich vom Fenster her eine milchig aus-‐ sehende dichte Masse langsam auf mich zu bewegt. Sie verändert ihre Gestalt wie Dampf, ohne sich dabei aufzulösen. Näher und näher quillt und gleitet Es auf mich zu. Lebendig! Und je näher es kommt, umso mehr würgt es mich. Körperlich und psychisch. Ich bekomme keine Luft und nur mit äußerster Anstrengung gelingt es mir diesen An-‐ griff abzuwehren. Ich fühle, wie ich panisch werde vor lauter Grauen und Angst. Mein Herz pocht bei der Erinnerung an dieses Erlebnis. Es fällt mir schwer in die Reali-‐ tät der Küche zurück zu finden. Die Yogini muss gemerkt haben, wie mir zumute ist. Prü-‐ fend schaut sie mich an. Ihr Blick geht durch mich hindurch als wäre ich ein Stück nasses Seidenpapier, das von einem spitzen Stift durchbohrt wird. "Manchmal begegnest du einer feinstofflichen Zwischenwelt", höre ich sie leise sagen. "Hast du Angst davor?" Sie überrascht mich damit, dass sie intuitiv wahrgenommen hat, ohne Wissen zu können was in mir vorgegangen ist. Ich fühle mich unmittelbar verstanden ohne etwas erklären zu müssen und erzählte ihr nun von meinem damaligen Erlebnis. Während sie mir zu-‐ hört weicht ihr Ausdruck des Zurückgezogen Seins in sich selbst einer gefühlvollen geis-‐ tigen Nähe. Später sitzen wir vor der Hütte und schauen auf den mit Schnee bedeckten Berg gegen-‐ über. Sein strahlendes Weiß dringt in die Ferne. Da und dort fällt Schnee von Tannen-‐ baumzweigen. Die verschneite Landschaft vermittelt ihr winterliches Wesen der Stille. Göden Marpa räuspert sich. "Wenn du hierher kommen willst, musst du bereit sein Din-‐ ge zu tun von denen du denkst, sie würden weder Sinn noch Zweck haben. Du solltest bedenken: Diese Gompa ist zwar ein Ort des Rückzugs aus der Welt der Betriebsamkeit. Aber die kleinste und abgeschiedene Gompa bist du selbst. Diesen Ort in dir selbst, die-‐ sen inneren Raum hast du immer und überall verfügbar. Er kostet dich keine Miete und macht dich von niemandem abhängig. Genau das ist ein Gompa – ein Ort des Rückzugs auf dich selbst. Ein Raum, in dem du an dir und mit dir selbst arbeiten kannst. In dieser kleinen Almhütte hier wirst du dich zwar vorübergehend immer wieder von der Welt zurückziehen können, aber sie wird für dich dennoch kein Ort der Gemütlichkeit sein. Glaube nicht, dass du hier herumsitzen und besinnlichen Gedanken nachhängen kannst." "Darauf kann ich mich einlassen", erwidere ich. "Mir geht es nicht um meditative Gemüt-‐ lichkeit." 39 Ernst schaut sie mich an, scheint mein inneres Gewicht zu schätzen. Dann sagt sie: "Du kannst kommen, wann immer du willst. Unser Zusammensein ist ein Experiment. Weder du noch ich wissen, was sein wird." Die Lama-‐Frau blickt in die Ferne. Auf der Tanne ge-‐ genüber hat sich ein Schwarm Kreuzschnäbler niedergelassen. Sie hocken in den Ästen und zwitschern laut. "Eine Frage sollten wir noch klären", nimmt sie das Gespräch wie-‐ der auf. "Was möchtest du hier bei mir erreichen?" Du hast gesagt, dass du Antworten auf Fragen finden möchtest – ist das alles?" "Nein, eigentlich nicht. Es geht mir auch darum, mein Leben so zu leben, dass ich mich selbst verwirkliche." Göden Marpa neigt den Kopf und scheint dem Gezwitscher der Vögel intensiv zu lau-‐ schen. Dann sagt sie: "Also du willst dich verwirklichen. Was soll das sein? Vielleicht ver-‐ stehe ich etwas nicht. Immerhin komme ich aus einer anderen Kultur mit einer anderen Psychologie. Wie kannst du leben, und dich dabei nicht verwirklichen? Du verwirklichst dich in allem, was du denkst und tust. Oder irre ich mich?" "Was du das sagst verunsichert mich. Sich verwirklichen, das bedeutet für mich so zu le-‐ ben, dass ich nicht an dem vorbei lebe, was ich bin." "Gut – und was bist du?" "Auf jeden Fall bin ich ein Mensch mit vielen Möglichkeiten, die ich entfalten möchte." "Von welchen Möglichkeiten redest du? Das klingt für mich sehr unbestimmt. Ich kann mir unter deinen Möglichkeiten nichts vorstellen." "Deine Fragen irritieren mich. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich mir unter Verwirk-‐ lichung vorgestellt habe." Darauf reagiert die Yogini vehement. "Aber nein", sagt sie laut. "Du bist nicht wegen meiner Fragen verunsichert. Du bist dir vorher schon nicht sicher gewesen, sonst könn-‐ test du mir eine Antwort geben. Du klebst an einem Klischee: Dich verwirklichen. Was soll das?" "Ich denke, dass der Buddhismus einen Weg der Verwirklichung lehrt." "Der Buddhismus lehrt dich keinen Weg, um dich selbst zu verwirklichen. Er zeigt dir zunächst einmal, dass du eine Illusion deiner selbst bist. Wenn du das eingesehen hast: Was willst du dann verwirklichen? Wer will sich dann noch verwirklichen?" 40 Eine problematische Herausforderung Eine beklemmend düstere Stimmung löst sich auf. Es wird wieder hell. Das Sommerge-‐ witter hat sich ausgetobt. Es bewegt mich jedes Mal, wenn der graphitschwarze Himmel das Licht wieder freigibt. In solchen Momenten kommt mir die erste Zeile eines alten Kirchenliedes in den Sinn: Oh' Heiland, reiß' die Himmel auf! Seit meinem letzten Aufenthalt ist einige Zeit vergangen in der ich aus beruflichen Grün-‐ den nicht hier sein konnte. Auch Göden Marpa bewohnt die Hütte nicht kontinuierlich. Genau wie sie musste ich auch meinen Aufenthalt am Gemeindeamt als Ferienwohnsitz anmelden. Göden Marpa hat mir gesagt, dass sie eine Aufgabe für mich hat. Auf meine Frage, um was es sich handelt, ist sie aber nicht eingegangen. Jetzt bin ich schon einige Tage hier und weiß immer noch nicht, um was es geht. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich der Lama-‐Frau aus dem Weg gehe, um sie nicht zu stören. Jedenfalls denke ich, dass ich stören könnte, wenn sie in der Nähe ist. Im Unterschied zum letzten Mal ist sie bisher auf keinen meiner Versuche eingegangen, ein Gespräch zu führen. Erwartet sie von mir et-‐ was Bestimmtes? Ich befinde mich in einem unangenehmen diffusen Zustand. Der Stall glänzt nass und dunkel. In seiner Masse wirkt er wie ein Urtier, das regungslos und unverrückbar auf dem Boden kauert. Sein Schindeldach ist mit großen Steinen be-‐ schwert, die ihn zusätzlich zum eigenen Balkengewicht auf den Boden drücken. Er be-‐ eindruckt mich. Seit einer halben Stunde stehe ich im feuchten Gras und betrachte ihn. 41 Etwas zieht mich in seinen Bann. Ist es seine brutal wirkende Masse? Sind es die wuchti-‐ gen Balken, von denen ich mir nicht vorstellen kann, wie man sie transportiert und zu-‐ sammengefügt hat? Erlebe ich eine Faszination durch all den Unrat der um den Stall herum liegt? Faules Holz, rostiger Stacheldraht, Scherben, undefinierbares von Brennes-‐ sel überwuchertes Zeug. Es ist mir nicht aufgefallen, dass sich die Yogini neben mich gestellt hat, und ich erschre-‐ cke, als ich sie plötzlich sagen höre: "Dieser Stall wird dich in Zukunft beschäftigen." Sie lacht, als sie meine schreckhafte Reaktion bemerkt, wendet sich wieder von mir ab und verschwindet in der Hütte. Das regennasse Gras ist inzwischen getrocknet. Die Luft, angenehm frisch und warm, stimmt mich heiter. Am Himmel ziehen weiße Wolken vorbei. Langsam, aber stetig. Das Krächzen einer Krähe ist zu hören, der eine andere antwortet. Dann fliegen beide Vögel gleichzeitig von einer Tanne auf. In engen Kreisen segeln sie elegant nach unten. Zwei dynamische Schatten. Inzwischen ist es Mittag geworden. Ich stelle einen Tisch auf das flache Wiesenstück nahe am Brunnen. Hier sitzen wir jetzt bei Brot und Käse und einer Kanne grünen Tee. Die intensive Bergsonne lässt die restliche Feuchtigkeit des Bodens verdampfen und trocknet die vollgesogenen Balken des Stalls. Er sieht aus als ob er dampfen würde. Je trockener er wird, umso mehr kommen vielfältige Nuancen von Grün durch den Bewuchs von Moosen und Flechten zum Vorschein. An den Wänden gibt es Stellen, die aussehen wir oxydiertes Kupfer. Nach einer Weile des nebeneinander Sitzens und schweigenden Essens fragt Göden Marpa plötzlich: "Wie hast du dir das Hiersein vorgestellt? Was möchtest du tun?" "Über diese Frage habe ich schon nachgedacht", beginne ich meine Antwort. "Außerdem haben wir ja bereits letztes Mal davon gesprochen. Ich möchte von dir lernen, wie ich mich spirituell erfahren kann. Außerdem interessiert mich, wie du als Lama über ver-‐ schiedene Dinge denkst, die mich beschäftigen. Vielleicht kannst du wie angedeutet, als Katalysator auf mein Denken Einfluss nehmen, damit es sich ändert, falls es nötig ist." Prüfend und unerträglich lange schaut sie mich an wie ein Metzger der sich überlegt wie viele brauchbare Stücke er einem Tier herausschneiden kann. Endlich sagt sie: "Bist du über deine geistigen Ansprüche hinaus auch dazu bereit existentiell zu lernen?" Sie be-‐ tont dieses Wort auf eine Weise als wollte sie mir damit eine tiefere Bedeutung vermit-‐ teln. "Was meinst du mit existentiell?" frage ich deshalb nach. "Ich meine etwas Leibhaftiges, das nicht bloß gedanklich ist. Etwas, das dein Fühlen und Empfinden, dein Denken, Wollen und deine Entscheidungen beansprucht. Das übliche Lernen beruht auf Worten. Existentielles Lernen beruht auf Einsicht. Einsicht beruht auf Wahrnehmen und Erfahren. Wahrnehmen und Erfahren beruhen auf Leben. Leben be-‐ ruht auf Handeln. Handeln beruht schließlich auf alledem, was und wie du bist – es ist 42 existentiell, weil es wirklich ist. Die Wirklichkeit ist eine Wechselwirkung. Sie spricht dich in deiner körperlichen, seelischen und geistigen Gesamtheit an. Theoretisches Ler-‐ nen ist saftlos, wenn das Gelernte nicht in Handlungen einfließt. Davon wirst du nicht bewegt. Existentielles Lernen erfasst komplexere Schichten als theoretisches Lernen. Es findet im Bereich der Handlungen statt. Du siehst, Lernen ist nicht gleich Lernen. Am besten ist es, wenn du beide Formen nutzt. Theoretisches und existentielles Lernen. Wenn dir also daran gelegen ist zu lernen, dann wirst du dich auf dieses komplexe Form, die für mich die einzig nützliche ist einlassen müssen. Das solltest du dir gut überlegen." Inzwischen sind wir mit unserer kleinen Mahlzeit fertig. Auch der Stall hat aufgehört zu dampfen. Ein intensiver Geruch von Kuhdung geht von ihm aus und das Summen unzäh-‐ liger Fliegen erfüllt die Luft. "Schau ihn dir genau an", sagt die Yogini und deutet mit ei-‐ nem Nicken des Kopfes zu ihm hin. "Du wirst diesen Stall abbauen. Allein und ohne Hilfe. Das wird für dich ein existentielles Lernen sein. Es wird dich mit handfesten Realitäten konfrontieren, mit denen du dich auseinandersetzen musst. Das wird dir gut tun. Es wird dich auf die Erde stellen." "Den Stall soll ich abbauen?" wiederhole ich. "Hat das einen bestimmten Grund? Will es der Bauer?" "Nein. Dem ist es egal, ob dieser Stall weiterhin stehen bleibt oder nicht. Er hat seit zwei Jahren keine Funktion mehr. Du siehst es ja selbst." Das stimmt. Der Eingang ist mit Brettern vernagelt. Nichts deutet darauf hin, dass er von Tieren genutzt wird. "Aber ich verstehe nicht warum ich ihn abbauen soll, wenn er auch weiterhin so bleiben kann, wie er ist." "Um existentiell zu lernen", bekomme ich zur Antwort. "Dazu bin ich ja auch bereit", sage ich. "Nur -‐ was genau soll ich dabei lernen?" Nachdenklich schaut sie mir in die Augen. "Ich denke, das wirst du erfahren, wenn es soweit ist. Darüber zu reden hat keinen Sinn. Entweder du lässt dich darauf ein, oder du lässt es." Zwischen uns breitet sich ein unbehagliches Schweigen aus. Jedenfalls kommt es mir so vor. Dann spricht sie weiter. "Etwas kann ich dir doch dazu sagen. Du sollst lernen, einer Sache Sinn zu geben, die realistisch gesehen völlig sinnlos ist." Ich bin verblüfft, irritiert und verwirrt. Was soll ich dazu sagen? Meine Gedanken über-‐ stürzen sich. Eine leise Andeutung von Lächeln streift das Gesicht Göden Marpas. Die Augen erreicht es nicht. Sie sind weiterhin ernst und aufmerksam auf mich gerichtet. Ich ahne das unterschwellige Wissen einer Bedeutung, die bereits vorhanden ist, aber mein Bewusstsein noch nicht erreicht hat. Könnte diese absurde Tätigkeit eine Geburtshilfe für einen Prozess des Wandels sein? Die Stimme der Lama-‐Frau unterbricht meinen in-‐ 43 neren Dialog. "Die Grenzen denen du begegnen wirst, sind die Grenzen deiner Überzeu-‐ gungen. Wenn du meinst, einen zweihundert Kilogramm schweren Balken nicht bewe-‐ gen zu können, weil du ihn für zu schwer hältst oder befürchtest, er könnte dich erschla-‐ gen, dann werden dir diese Befürchtungen Grenzen setzen. Das kann für dich gefährlich sein." "Gefährlich?" frage ich irritiert. Warum?". "Weil du solchen Befürchtungen über dein Handeln die Möglichkeit gibst sich zu mani-‐ festieren." Was hat die Yogini mit mir vor? frage ich mich. Will sie mir Angst machen, um mich zu testen? "Ich habe keine Ahnung, was du damit andeutest", sage ich zu ihr. "Was meinst du damit, dass sich meine Befürchtungen manifestieren können?" "Ich meine, dass sich deine Befürchtungen und unbewussten Überzeugungen auswirken können. Das ist alles." "Wenn ich daran zweifle, dass ich es auch zuwege bringe, dann wirken sich diese Be-‐ fürchtungen aus. Ist es so gemeint?" "Deine Skepsis ist offensichtlich. Trotzdem: Du musst dich um eine konsequente und ehrliche Erkenntnis deiner Überzeugungen bemühen. Sie bestimmen, wie weit du gehen kannst. Du darfst die Arbeit am Stall nicht leichtfertig angehen. Wenn du unbewusste Programme, Muster, Intentionen, Glaubenssätze – nenne es wie du willst -‐ in dir hast, die gegen dich gerichtet sind, können sie sich die Bedingungen unter denen du tätig sein wirst zunutze machen, um dich zu zerstören. Das solltest du bedenken, bevor du mit die-‐ ser schweren und für dich ungewohnten Aufgabe beginnst." Diese sinistren Andeutungen stimmen mich nachdenklich. Wie kann ich mir sicher sein nichts Zerstörerisches in mir zu haben? Aufgrund welcher Gewissheiten kann ich mich auf dieses Projekt einlassen? Gibt es diese Gewissheit? "Wie kann ich wissen, dass ich mich nicht leichtfertig auf diese Aufgabe einlasse?" frage ich deshalb nach. "Du bekommst die Antwort über das Wahrnehmen. Fühlst du ein inneres Ja oder Nein? Das musst du herausfinden. Das wird dir nicht durch Denken gelingen. Es erfordert ein aufmerksames Wahrnehmen deiner Motive. Horche in dich hinein, achte darauf, was deine innere Stimme sagt. Das ist es, worauf es ankommt. Alles andere, die Probleme, die du haben wirst und lösen musst sind Teil des Prozesses den du in Bewegung setzt, so-‐ bald du mit dieser Arbeit beginnst. Jeder Außenraum ist zugleich Innenraum. Deine Aus-‐ einandersetzung mit dem Stall ist deshalb eine Auseinandersetzung mit dem Raum in dir. "Woran kann ich erkennen, dass ich eine Antwort erhalten habe?" 44 "Richte deine Aufmerksamkeit wie einen Scheinwerfer auf die Frage. Im Licht dieser nach innen gerichteten Aufmerksamkeit kannst du Empfindungen wahrnehmen. Dein Körper ist ein sehr differenziertes Denkorgan. Ja, auch dein Körper denkt. Nicht nur das Gehirn. Wenn du eine Frage hast, kannst du darauf achten, wie dein Körper darauf ant-‐ wortet. Nur Gehirnfetischisten meinen, dass sie ausschließlich über das begriffliche Denken Antworten auf Fragen bekommen. Antworten, die dir dein Körper gibt unterlie-‐ gen nicht den üblichen Gedankenspielchen, die auf den Grundlagen von Begründung und Rechtfertigung beruhen. Außerdem bekommst du die wichtigen Antworten selten über das begriffliche Denken allein. Du musst den unbewussten Geist einbeziehen, ihm eine Chance geben, dass er sich dir mitteilen kann. Dieser unbewusste Geist geht seine eige-‐ nen Wege. Er kümmert sich nicht darum, wie oder was du denkst. Er hat seine eigenen Absichten und Ziele und lässt sich von dir nicht vorschreiben, was er tun oder nicht tun soll. In den meisten Fällen dominiert er sogar dein bewusstes Denken. Es ist deshalb sinnvoll, wenn du dir diesen unbewussten Geist zum Partner machst. Jetzt sage ich dir, worauf es dabei ankommt. Worauf du achten musst. Finde heraus, woran du erkennst, dass du ganz und gar bei dir bist. Dieses bei dir Sein ist mit feinen Empfindungen ver-‐ bunden. Du kannst es fühlen." "Entschuldige bitte, wenn ich dich hier unterbreche. Du sprichst von Empfindungen und vom Fühlen. Sind damit körperliche Empfindungen und Gefühle gemeint? Soll ich darauf achten, welche Gefühle ich bei meiner Frage habe?" "Nein. Gut, dass du mich unterbrochen hast und fragst. Gefühle und Fühlen ist nicht Das-‐ selbe. Unter Fühlen verstehe ich – wie kann ich sagen – Empfindungen, die nicht über die äußeren Sinne zustande kommen, sondern über die inneren Sinne. Welche Sinne sind das? Ich kann nicht sagen, wie es bei dir ist. Bei mir ist es ein Spüren von eng oder weit, hell oder dunkel, klar oder dumpf. Solche Eigenschaften nehme ich wahr und na-‐ türlich die Nuancen dazwischen. Kannst du damit etwas anfangen?" "Ja. Jetzt verstehe ich besser, was du mit Fühlen meinst. Es ist mir nicht fremd. Der Ort dieses Fühlens sitzt bei mir im Bereich der Thymusdrüse. Ich erfahre das Fühlen in Form von graduell unterschiedlicher Spannungen oder Freude." "Dann haben wir etwas gemeinsam. Um meine unterbrochene Erklärung von vorhin zu Ende zu bringen möchte ich dir noch sagen, dass du an dem Ort des Fühlens im bei dir Sein die Antworten auf deine Fragen findest. Ich hoffe, du bist nicht so naiv anzunehmen, dass du deswegen auf das Denken verzichten kannst. Das kannst du nicht, das darfst du nicht, das sollst du nicht. Über das Denken werden wir früher oder später ausführlich sprechen." … In dieser Nacht schlafe ich unruhig. Halbwach höre ich es hinter den Holzwänden nagen und rascheln. Öffne ich die Augen, sehe ich in pechschwarze Finsternis. Am Morgen fühle 45 ich mich unentschlossen und unzufrieden. Beim Frühstück sprechen wir über das Wet-‐ ter und die Einkäufe, die zu erledigen sind. Hinter allem sehe ich die Frage lauern: Soll ich mich auf diese verrückte Aufgabe der Yogini einlassen? Inzwischen ist sie in den Gar-‐ ten gegangen und schnipselt mit der Schere am Gras herum. Ich sehe mir den Stall genau an. Stelle mir vor, wie ich seine wuchtigen Balken ohne Hilfe auseinander nehme. Dabei fühle ich mich wie eine Ameise, die schnell und mühelos zer-‐ quetscht werden kann. Trotzdem – vielleicht deswegen – entschließe ich mich, diese Herausforderung anzunehmen. Ich erinnere mich: Früher war es üblich, einen Jiu-‐Jitsu Kämpfer in seiner letzten Initiation durch einen Gang zu schicken, der so konstruiert war, dass irgendwann ein schweres Balkengefüge über ihm zusammenstürzte. Wach, schnell und geistesgegenwärtig musste er das Richtige tun, um nicht verletzt oder getö-‐ tet zu werden. Ohne Illusionen gestehe ich mir ein, dass mich bei diesem Projekt etwas Ähnliches erwartet. Das schreckt mich nicht ab. Im Gegenteil, es fasziniert mich. Waches Gegenwärtig Sein wird nicht durch theoretisches Spekulieren gefördert, sondern in der Bereitschaft zum Risiko. Als ich der Yogini meinen Entschluss mitteilte nickt sie. Es ist eine sparsame Bewegung. Ihre Augen wirken wie zwei dunkle Trichter. Unergründlich. Ich fühle mich etwas ent-‐ täuscht. Ich habe mir eine etwas freudigere Zuwendung erwartet. Dann sage ich mir: Warum soll sie Freude zeigen, wenn ich mich für diese Aufgabe entscheide? Die Freude über meinen Entschluss liegt bei mir. Nicht bei ihr. Der Stall ist groß. Er besteht aus zwei Etagen. Die untere war für die Kühe bestimmt. In der oberen, einem Heuboden ist seit Jahrzehnten kein Heu mehr gelagert worden. Hier liegt stattdessen jede Menge Gerümpel herum. Rostige Sensen, schartige Sicheln, große Brocken Teer, gebrochene Fensterscheiben, ein alter Pferdeschlitten. Krumme Rohre, zerfledderte Fetzen, leere Gasflaschen, unbrauchbar gewordene Bettgestelle, etliche Krampen und weiterer Krempel. Das sieht entmutigend aus. Alles muss entsorgt wer-‐ den. Unten ist es ähnlich. Ich empfinde Übelkeit bei der Vorstellung all die Dinge anfas-‐ sen zu müssen, die mit Dreck verkrustet, über Jahre hinweg sich selbst überlassen wa-‐ ren. Wie ich die Situation auch drehen und wenden mag, sie zeigt mir direkt und unbe-‐ schönigt: Ich bin damit konfrontiert etwas tun zu müssen, was ich bisher mein Leben lang umgangen und vermieden habe. Die Auseinandersetzung mit Dreck. Das bereitet mir Unbehagen und mir ist klar: Ich muss da durch. Nie zuvor in meinem Leben habe ich eine derart große und tiefe Grube gegraben. Das war nötig, damit ich den Stall ausräumen und alles entsorgen kann. Danach bin ich stolz auf meine geleistete Arbeit. Beinahe entzückt schaue ich mir die Balkenkonstruktion an, die nun von allem Plunder befreit irgendwie nackt vor mir steht. Jedoch: Was ich sehe entmutigt mich. Die stützenden und das Dachgewicht tragenden Teile sind im Laufe der Zeit immer wieder ausgebessert und ergänzt worden. Sie sehen aus wie Krücken, mit denen andere Krücken gestützt werden. Ich kann nicht erkennen von welchen der ange-‐ stückelten Balken das Dach getragen wird. Wie werden diese physikalischen Unwägbar-‐ 46 keiten reagieren? Auch hier sehe ich deutlich: Da muss ich durch. Ich klettere hinauf. Manche Holzteile sind derart vermodert, dass ich meine Finger hineindrücken kann wie in einen Schwamm. Bei jeder Gelegenheit bin ich mit der Frage konfrontiert: Hält es oder gibt es nach? Ist es noch fest oder wird es brechen? Dabei erfahre ich wie sich die Intui-‐ tion seismografisch über feinste Empfindungen mitteilt und sofort in einem unzugängli-‐ chen Schneckenhaus verschwindet, sobald ich rational dagegen argumentiere. Ich muss lernen der Intuition zu vertrauen. Das hier ist kein Spiel. Als ich im Dachgebälk einen si-‐ cher scheinenden Stand gefunden habe und mir zugleich vergegenwärtige wie ich rea-‐ giere, falls der Halt nicht hält, was er verspricht, wälze ich einen der mir am nächsten liegenden Steine weg mit denen die Schindeln beschwert werden. Augenblicklich hu-‐ schen dutzende dunkelgraue Asseln in alle Richtungen davon. Ekelpanik ist meine un-‐ mittelbare Reaktion. An so etwas muss ich mich erst gewöhnen. Dem Alter der Hütte entsprechend liegen die Schindeln bereits einhundert Jahre da oben. Ich habe mir keine Vorstellung davon gemacht, was das bedeutet. Jetzt erfahre ich es. Nicht nur wegen der Asseln. Zwischen den Schindeln haben sich alle möglichen schleimig glitschigen Gebilde eingenistet. Auch wenn die Sonne scheint bleiben diese Zwischenschichten davon unberührt und trocknen nicht völlig aus. Es ist nicht zu umge-‐ hen, dass meine Hände damit in Kontakt kommen. Handschuhe sind keine Lösung. Sie nehmen mir das Gefühl, sicher greifen zu können. Nach und nach begreife ich, was die Lama-‐Frau unter existentiellem Lernen versteht. Nachdem die Steine alle unten liegen fange ich damit an, die Schindeln abzudecken. Wie ein verklebtes Kartenspiel müssen sie Schicht für Schicht voneinander gelöst werden. Ich werfe sie auf den Heuboden unter mir. Als die Arbeit getan ist erscheint mir das Dach als Fischskelett zwischen dessen Gräten ich den blauen Himmel sehe. Damit ist es nicht getan. Je mehr ich arbeite, umso mehr Arbeit kommt nach. Jetzt muss der ganze Schindelhaufen nach und nach vom Heuboden herunter transportiert und hin-‐ ter dem Stall aufgeschichtet werden. Mit einem schweren Stapel in beiden Händen steige ich die Leiter wie auf einer Stiege hinunter. Festhalten kann ich mich nicht. Eine vage Er-‐ innerung beschäftigte mich. Ein innerer Dialog, der mit unangenehmen Gefühlen ver-‐ bunden ist. Plötzlich stürze ich kopfüber nach unten als hätte mich jemand gestoßen. Nur um wenige Zentimeter verfehlt mein Kopf einen Stein. "Ist es das, was du mit destruktiven Programmen gemeint hast, die sich manifestieren können?" frage ich Göden Marpa bei der nächsten Gelegenheit. "Es scheint so", antwortet sie lakonisch und schaut mich prüfend an. "Willst du nun auf-‐ hören oder weitermachen?" "Ich will auf jeden Fall weitermachen", gebe ich zur Antwort. "Aber wie kann ich solche Zwischenfälle vermeiden?" 47 "Du bist schon mehrmals mit Schindeln bepackt die Leiter hinunter gestiegen. Jedes Mal ging es gut. Du bist nie gestürzt. Auf mich hast du einen sehr sicheren Eindruck gemacht. Also schauen wir uns genau an, was in dem Moment vor diesem Sturz vor sich gegangen ist." Das weiß ich bereits und kann es sagen. "Demnach warst du während des Hinuntersteigens auf der Leiter mit Gefühlen einer Er-‐ innerung beschäftigt und in innere Dialoge verstrickt", wiederholt sie. "Das ist das Prob-‐ lem. Deshalb ist die Arbeit am Stall für dich eine gute Übung. Unter Anderem. Sobald du mit deiner Aufmerksamkeit von dem abweichst was du tust und dein Aufmerksam Sein verlagerst, indem du sie zum Beispiel auf eine Erinnerung, ein Gefühl oder irgendeinen Gedanken richtest, verlierst du die Kontrolle über die Situation. Dadurch können de-‐ struktive Programme aktiviert werden." "Es scheint mir schwierig zu sein, so zu leben", wende ich ein. "Wer hat gesagt, dass du so leben sollst? Darum geht es nicht. Es geht um die Steuerung deiner Aufmerksamkeit, wenn du eine Handlung ausführst, die mit Gefahr verbunden ist." "Willst du mir damit sagen, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit besser umgehen soll?" "So ist es. Dann fällst du nicht mehr von der Leiter. Das betrifft selbstverständlich auch ähnliche Situationen. Bevor du mit einer Arbeit beginnst, solltest du dir Zeit nehmen und meditieren was und wie du etwas tun willst." Wir sitzen in der Wiese. Das Gras ist trocken und warm. Der Wasserfall vom Hang ge-‐ genüber rauscht stärker als sonst. Der Gewitterregen hat ihn anschwellen lassen. Braune Wassermassen donnern in den Bach in dem entwurzelte Bäume liegen. "Wie kann mir die Meditation helfen, den Stall auseinander zu nehmen?" Die Yogini seufzt. Sie atmet langsam und hörbar ein und aus. "Wenn ich meditieren sage, meine ich eine bestimmte Form des Visualisierens und des Einfühlens in Bedingungen, um deren mögliche Entwicklungen vorherzusehen", antwortet sie. Mit dem Zeigefinger deutet sie auf die Dachbalken. "Schaue dir genau an, wie sie aufeinander liegen. Fühle dich in die Balken ein. Spüre, wie deren Gewicht verteilt ist und auf die Umgebung wirkt. Du musst vorhersehen können, wie das Umfeld reagieren wird, wenn du einen Balken bewegst und entfernst. Dieses einfühlsame Imaginieren meine ich mit Meditation. Sie ist hilfreich, wenn du Überraschungen vermeiden willst." "Das kommt mir seltsam vor", wage ich zu widersprechen. "Ein Bauarbeiter würde doch auch nicht meditieren." 48 "Wahrscheinlich nicht. Aber er verfügt über Erfahrungen. Außerdem würde er bestimmt mit allen möglichen großen Werkzeugen daherkommen und sich rundum absichern, be-‐ vor er mit einer gefährlichen Arbeit beginnt." "Dann kann es aber ziemlich lange dauern, bis ich mit allem fertig bin", wende ich skep-‐ tisch ein. "Na und? Du hast Zeit. Niemand drängt dich. Du wirst damit zurechtkommen, wenn du dich auf das besinnst, was ich dir gesagt habe." "Ich soll mir also alles vorstellen, was passieren könnte?" frage ich nochmals nach. Mein Zweifel ist nicht zu überhören. Die Yogini lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. "Nein, nicht alles. Nur das, was die ak-‐ tuelle Handlung betrifft. Es geht darum, die Realität zu erfühlen. Sie von innen her zu er-‐ fassen damit du ableiten kannst, wie etwas reagieren könnte oder reagieren wird. Denke darüber nach." Ich denke an ein Mikado Spiel. Es kommt mir ähnlich vor. Man muss sich genau an-‐ schauen und sich vorstellen, was man tun wird. Und nicht nur das. Wenn man sicher sein will, dass sich die Nachbarstäbchen nicht bewegen, muss man sich irgendwie in das ganze Stäbchendurcheinander einfühlen, muss vorausahnen, was geschehen könnte so-‐ bald man handelt. In meinem Fall kann eine falsche Ahnung ein zerquetschtes Bein be-‐ deuten. Ich verstehe jetzt, was mir Göden Marpa sagen will und stimme mit ihr überein. "Aha – und worin stimmen wir überein?" fragt sie mich gleich, nachdem ich ihr das mit-‐ geteilt habe." "Wenn ich einen der schweren Balken von dort oben nach unten befördern will, bringe ich damit die ganze Statik durcheinander. Deshalb werde ich mir vorher sehr genau vor-‐ stellen, wie sich meine Handlung auswirken wird, damit ich nicht von den Reaktionen überrascht werde." "Aber ich habe nicht von Vorstellungen gesprochen." "Ich weiß. Ich meine damit eine Vorstellung aufgrund von Einfühlung, Intuition und kri-‐ tischem Denken." "Gut. Damit könntest du Erfolg haben." Nach einem späten Abendessen ziehe ich mich in meine Kammer zurück. Es ist ein war-‐ mer Abend. Die Holzwände knistern und geben etwas von der tagsüber aufgespeicher-‐ ten Wärme ab. Das ist mit einem wunderbaren Geruch von Alter und Kuh verbunden. Ein jahrzehntelanges Leben der Almbauern mit ihren Kühen und deren Ausdünstungen hat sich in jede Holzfaser eingesaugt. Ich rieche gespeicherte Geschichte. Es ist friedlich. 49 Vor mir brennt eine Kerze bei offenem Fenster, obwohl es noch nicht dunkel ist. Ich mag es, wenn sich ihr Schein mit dem sanft farbigen Licht des Sonnenuntergangs vermischt. Handlungen ohne Nutzen und Sinn Inzwischen habe ich alle möglichen Variationen an Holzstadien kennengelernt. Schwer, sehr schwer, leicht, vermodert, verfault, mit schleimigen Pilzen und ohne, Moos bewach-‐ sen, ohne Moos, mit Flechten, ohne Flechten, glitschig, glatt, schiefrig, gesägt, gebrochen, gesplittert, durcheinander, aufeinander, geschichtet, nass und getrocknet. Ist es das, was zu erfahren ich mir erhoffe? Meine anfängliche Zuversicht zerfließt auf einem Fließpa-‐ pier des Zweifels. Die Gespräche, die ich bisher im Verlauf dieser Arbeit mit Göden Mar-‐ pa führen konnte, haben mir zweifellos Einsichten vermittelt. Auch körperlich, psychisch und mental bin ich ungewöhnlich gefordert worden. Es ist spannend, an den Grenzen meiner Belastbarkeit entlang zu gehen und zu erfahren, wie sich meditatives Denken und Handeln auf unbezwingbar scheinende Situationen auswirkt. Doch ich verlange mehr! Mehr Geist. Mehr Einsicht. Mehr Orientierung. Mehr Wissen. Ich will der Yogini gegenüber nicht undankbar erscheinen. Trotzdem spreche ich sie jetzt darauf an, auch wenn ich mich sehr überwinden muss. Ich will von ihr hören, ob ich auch noch etwas Anderes erwarten kann als das, was sie mein existentielles Lernen nennt. Überrascht schaut sie mich an. "Du neigst zu geistigen Höhenflügen, bist sehr intuitiv und kannst dich mühelos in men-‐ talen Bereichen bewegen", sagt sie lächelnd. "Deshalb hole ich dich mit der Arbeit am 50 Stall auf den Boden. Das ist keine Sache, die du schnell und nebenbei machen kannst, wie du es von deiner Intuition gewohnt bist. Es ist leicht, eine Idee zu haben. Das geht schnell. Etwas ganz anderes ist es jedoch eine Idee zu inkorporieren, sie in der Welt der harten Fakten und ihrer Gesetze zu verwirklichen. Dazu musst du dich auf einen Prozess mit vielen Unwägbarkeiten einlassen. Das dauert. Du musst dich der Materie stellen und wirst von ihr zurecht geschliffen. Intuitiv kennst du den Endzustand dieses leidigen Stalls natürlich schon lange. Daran zweifle ich nicht. Du hast ein Bild davon, wie es hier aussehen wird, wenn du ihn endgültig abgebaut haben wirst. Aber du hast diesen Zu-‐ stand noch nicht herbei geführt. Das ist es, worum es geht. Das ist die Aufgabe." "Es ist so, wie du sagst", antworte ich. "Aber wenn ich ein Bild male oder schreibe, habe ich diese Auseinandersetzung auch und verwirkliche eine Idee in einem Prozess des Handelns." "Das schon. Aber dabei wirst du anders gefordert als hier. Außerdem erschaffst du beim Malen oder Schreiben etwas. Was den Stall betrifft, erschaffst du nichts. Im Gegenteil. Du baust etwas ab. Du musst deine Energie, deine Kreativität und Geschicklichkeit dazu verwenden, um etwas aufzulösen. Bis nichts mehr davon übrig ist. Du erfährst einen umgekehrten Weg. Er führt vom Vorhandensein einer Formation zur De-‐formation. Shi-‐ va tanzt." Ich bin beeindruckt. So habe ich es nicht gesehen. "Geht es darum, dass ich meine Ener-‐ gie in die Erfahrung der Auflösung investiere? Ist Shivas Tanz so zu verstehen? Es wäre wirklich das Gegenteil von dem, was ich bisher gemacht habe." "Das ist es. Deshalb ist dieser stinkende Stall ein prachtvolles Objekt für dich, um eine mit Destruktion verbundene Zweckfreiheit des Handelns zu praktizieren." Etwas daran irritiert mich. "Aber so ist es nicht!" widerspreche ich deshalb. "Mein Han-‐ deln war von Anfang an mit einem Zweck verbunden. Ich will den Stall abbauen. Das ist das Ziel. Meine Arbeit kann deshalb nicht zweckfrei sein." Daraufhin fragst sie: "Was verstehst du unter Zweck?" "Spontan denke ich dabei an Nutzen", gebe ich zur Antwort. "Zweck und Nutzen schei-‐ nen irgendwie zusammen zu hängen – aber, was ist nützlich ...?" sinniere ich weiter. "Vielleicht ist nützlich, was einem Zweck dient?" "Finde ein Beispiel", fordert mich Göden Marpa auf. "Ich weiß nicht -‐ wenn ein katholischer Priester mit Weihwasser Autos segnet, würde ich eine solche Handlung nicht als nützlich bezeichnen. Sie bewirkt nichts, obwohl sie Schutz und Sicherheit bezweckt. Aber es gibt keine Einwirkung oder Auswirkung auf die Materie, die man beobachten könnte. Nützlich wären Handlungen, deren Wirkungen auch beobachtbar sind. Ein Beispiel für eine nützliche Handlung ist das Hacken von Holz. 51 Man zerkleinert es, um damit den Ofen zu heizen. Mit dem Hacken bezweckt man die Zerkleinerung. Mit der Zerkleinerung bezweckt man das Heizen-‐können. Das Heizen nutzt mir, indem es mich wärmt. Nutzen und Zweck sind beobachtbar. Tätigkeiten, die einem Zweck dienen der beobachtbar ist, sind dem zufolge nützlich." "Gut. Und welche Konsequenzen hat das für die Zweckfreiheit des Handelns?" "Mir fällt auf, dass zwischen zwecklos und zweckfrei ein Unterschied bestehen könnte. Du sprichst sicher mit Bedacht von Zweckfreiheit und nicht von Zwecklosigkeit. Für mich schwingt beim Zwecklosen etwas Negatives mit. Das Zweckfreie erlebe ich anders. Ich ahne dabei etwas Positives. Ich kann dir aber nicht sagen, was es ist." Marpa lehnt sich in ihrem alten Korbstuhl zurück. Sie kippt damit nach hinten und legt ihre Füße auf den Zaun. "Als zwecklos würde eine Handlung gelten", führt sie meine Überlegungen weiter, "die niemandem nutzt oder deren Nutzen nicht erreicht wird. Zweckfrei, also frei von Zwecken wären Handlungen, die nicht wegen eines Nutzens ausgeführt werden. Der Bau einer Brücke kann eine nützliche Handlung sein wenn sie dem Zweck dient, Menschen und Orte sicher miteinander zu verbinden. Wenn man für die Ausführung minderwertiges Material verwendet, wären die Bauarbeiten nutzlos. Der Zweck, Menschen und Orte miteinander zu verbinden, würde nicht erfüllt. Wenn du aber eine Brücke baust ohne den Zweck zu verfolgen eine sichere Verbindung zu schaffen, wäre dies eine zweckfreie Tat, die möglicherweise ihre eigene Schönheit und Dynamik entfaltet ohne nützlich zu sein. Die Brücke wäre dann lediglich eine Skulptur." "Meine Arbeit am Stall ist also deshalb zweckfrei, weil sie niemandem nutzt?" will ich genauer wissen. "Sie ist absolut nutzlos. Ob dieser Stall stehen bleibt oder nicht, interessiert niemanden. Auch den Bauern nicht, dem er gehört. Das wissen wir. Zwecklos ist deine Arbeit kei-‐ neswegs. Du hast ja nicht die Absicht damit etwas Nützliches erreichen zu wollen. Man könnte sagen: Die Zweckfreiheit deines Handelns hat zwar keinen Nutzen, aber einen Wert. Es wirkt sich auf dich aus." "Was habe ich davon?" "Das ist es ja!" Göden Marpa lacht herzhaft. "Nichts hast du davon." Listig schaut sie zu mir her. "Du musst dich investieren, ohne etwas dafür zu bekommen. Das gelingt dir nur, wenn du ich-‐frei handelst. Kein egozentrischer Mensch würde Zeit und Energie für eine Sache aufbringen von der er mit Sicherheit weiß, dass er definitiv nichts dafür be-‐ kommt. Das ist der Zeitgeist. Wenn du weiterhin tust, was du bereits getan hast, katapul-‐ tierst du dich aus diesem Zeitgeist heraus. Darum geht es. In der Zweckfreiheit des Han-‐ delns erfährst du die Hingabe an diese Handlung um ihrer selbst willen. Sobald du dich am Zweck orientierst, bist du im Ego, das etwas für sich haben will. Das ist Berechnung. Überlegung, ob sich der Einsatz lohnt. Das Ego lässt sich selten freiwillig auf etwas ein, das den Einsatz aller Kräfte verlangt ohne etwas dafür zu bekommen. Hier begegnest du 52 einem Dilemma. Einerseits brauchst du das Ego, wenn du in der Welt etwas verwirkli-‐ chen willst. Andererseits darfst du dich von ihm nicht dominieren oder korrumpieren lassen. Sobald das Ego dominiert wirst du kleinlich und verletzbar. Du wirst von seinen drei Lieblingsgiften zerstört: Gier, Geiz und Ignoranz. Das alles macht dich eng." Die Yo-‐ gini starrt vor sich hin, als würde ihr Blick in der Ferne etwas suchen. Ich schüttle mei-‐ nen Kopf, um eine leichte Benommenheit zu verscheuchen. … Der Tag hat heiß begonnen. Jetzt ist es Mittag. Die angestaute Hitze lässt die Luft über dem Gras flimmern. Laut zirpende Zikaden steigern die brütende Stille. Kein Hauch, nichts. Die Natur ist eine luftdicht abgeschlossene Glaskuppel, in die nichts hinein und nichts heraus kommt. Mir ist heiß. Sehr heiß. Mit der Hand schütze ich meine Augen vor der Sonne und suche den Himmel nach Anzeichen von Wolken ab. Ich gehe in die Küche und koche uns Kaffee in einer Dampfdruckkanne, die ich auf einen Gaskocher stelle. Der Herd ist kalt. Sobald es zischt und blubbert verbreitet sich ein an-‐ genehmer Duft. Ich stelle den Kaffee, zwei Tassen, Zucker und Kondensmilch auf ein Tablett – eine große Schindel, und trage alles zu Göden Marpa hinaus. Als wir es uns ge-‐ mütlich gemacht haben, kommt frischer Wind auf. Im Westen beginnen sich Wolken zu ballen. Sie schieben sich vor die Sonne und überziehen das unter ihnen liegende Land mit einem Muster aus Schatten. Wenn ich meine Augen halb schließe, sieht es danach aus als ob eine Herde dunkler Schafe vorbeiziehen würde. Von Augenblick zu Augenblick wird das Grün der Tannen dunkler. Dann beginnen sie wild zu schaukeln. Jetzt sehen sie aus wie dunkle Gespenster, die ein vom Wind gepeitschtes Schicksal über sich ergehen lassen müssen. Sie können den Ort nicht verlassen. Zerfetzte Wolken rasen über den Himmel. In der Ferne dröhnt eine Motorsäge. Ihr auf-‐ und abschwellendes Geräusch gleicht einem durchdringend plärrenden Kind, das Aufmerksamkeit haben will. Es überrascht mich, wie schnell es dunkel wird, sobald ein Gewitter aufzieht. Tinten-‐ schwarze Schlieren schieben sich ineinander, verdichten sich übereinander und malen ein düsteres Bild. Die ersten Tropfen klatschen. Das Gewitter bricht los. Im Schein der Blitze wirkt der Stall wie ein verlassener Wohnsitz von Geistern. Beklemmend. Regen peitscht. Eine voll aufgedrehte Dusche, deren verkalkte Löcher die Wasserstrahlen zu dünnen und schmerzhaften Pfeilen machen, die stechend auf die Haut prallen. Ebenso schnell, wie es gekommen ist, zieht das Gewitter vorüber. Zwischen dem bereits helleren Schiefergrau der Wolken zeigt sich schon ein schmaler Spalt helles Blau. Es hört auf zu regnen. 53 Alles ist im Zentrum des Universums "Darf ich dich etwas fragen, was mich in den letzten Tagen immer wieder beschäftigt hat?" "Habe ich dir schon einmal verboten, etwas zu fragen?" "Nein." "Warum fragst du dann, ob du fragen darfst?" "Gut. Ich habe verstanden. Als du mir die Aufgabe gegeben hast, diesen Stall zu demon-‐ tieren, hast du gesagt, diese Tätigkeit wäre zugleich eine Arbeit an einem Raum in mir. Obwohl ich mich bemüht habe heraus zu finden, was damit gemeint sein könnte, bin ich zu keinem Resultat gekommen. Inzwischen habe ich viel gearbeitet. Vom Heuboden exis-‐ tiert nur noch eine Seitenwand, mit der ich Probleme habe. Einige Balken stehen und liegen derart seltsam aufeinander, dass es mir trotz meditativer Betrachtung schwer fällt ein Gefühl dafür zu bekommen, an welcher Stelle ich gefahrlos weiter arbeiten kann. Ich weiß nicht – vielleicht ist es diese problematische Situation, weshalb ich dich fragen möchte, was du mit dem inneren Raum gemeint hast." "Raum. Was könnte damit gemeint sein? Gleichgültig, wo du dich aufhältst: Du befindest dich immer in irgendeinem Raum. Da, wo du gerade bist, hast du unbewusst oder be-‐ wusst den Eindruck, dass du dich in einem Raum befindest. Das ist eine vollkommen selbstverständliche Alltagserfahrung. Kannst du dich an irgendeine Lebenssituation er-‐ innern, in der du in keinem Raum gewesen bist?" 54 "Interessant", sage ich. "Das kann ich tatsächlich nicht." "Eben. Aber was ist Raum? Wie kommst du dazu völlig selbstverständlich anzunehmen, dass du dich in einem Raum befindest? Kannst du dir einen Ort vorstellen, an dem es keinen Raum gibt? Wenn du diese Frage sehr genau betrachtest, wirst du feststellen, dass bereits die Worte einen Ort vorstellen ohne die Vorstellung von einem Raum kei-‐ nen Sinn ergeben. Es sei denn, wir unterstellen einen Ort losen Raum, einen raumlosen Ort, einen Raum, in dem es keine Orte gibt. Ort und Raum hängen also irgendwie zu-‐ sammen." Nachdenklich blickt die Lama-‐Frau über mich hinweg. "Schau ihn dir an", sagt sie dann und deutet auf einen alten Ziegelstein, den ich gestern vom Stall in die Wiese geworfen habe. Da liegt er inmitten von Grün an einem unpassenden Ort. "Du kannst diesen Stein messen und seine Länge, Breite und Höhe in Zahlen ausdrücken. Damit hast du die Ausdehnung seines Objektseins definiert. Du hast die Maße seines Körpers fest-‐ gestellt. Was sagst du dazu, dass man den Raum selbst ebenso definiert indem man ihn mit Zahlen seine Länge, Breite und Höhe beschreibt, wie ein Objekt? Ist der Raum ein Objekt?" Göden Marpa lässt diese Frage im Raum schweben, bevor sie weiter spricht. "Das führt uns zu einer nächsten Frage." Wenn Raum kein Objekt ist: Was ist er dann?" Mit diesen Fragen rührt die Yogini in meinem Gehirn herum wie mit einem Kochlöffel im Suppentopf. Alles kommt in Bewegung und schwimmt aufgerührt durcheinander. Kein angenehmer Zustand bei meinem Bedürfnis nach Klarheit. "Das Wesen, die Essenz des Raumes muss etwas sein, das über diese abstrakte Definiti-‐ on von Höhe, Länge und Breite hinausreicht. Was wird erlebt, wenn man Raum meint? Ausdehnung. Was liegt dem Erleben von Ausdehnung zugrunde? Die Entfernung zwi-‐ schen Orten und Objekten. Einen Ort im Raum erkennst du daran, dass dort etwas ist, dem du begegnen kannst. Wenn da nichts ist, erfährst du auch keinen Ort. Das Vorhan-‐ densein von etwas ist ein Hindernis. Ein Ort im Raum ist deshalb ein Hindernis im Raum. Bewegst du dich im Raum, bewegst du dich von einem Hindernis zu einem anderen. Die-‐ se Hindernisse sind mehr oder weniger weit voneinander entfernt. Die Entfernung lässt sich als Maß angeben. So und so viele Schritte, Meter oder Kilometer. Je größer dieses Maß ist, um so ausgedehnter wird der dazwischen liegende Raum erfahren." Ich lasse das eben Gehörte auf mich wirken und erinnere mich, ähnliches in der Medita-‐ tion erfahren zu haben. Vorstellungen von Grenzen im Raum ergeben sich aus Erfahrun-‐ gen von Hindernissen durch dreidimensionale Objekte. Nehme ich sie aus dem Raum heraus, lösen sich die Grenzen auf und ich befinde mich in einem unbegrenzten grenzen-‐ losen Raum. Die Orte in diesem Raumerleben sind keine Hindernisse mehr. Ich erfahre sie als Punkte. Etwas Seltsames wird mir bewusst: Jeder Punkt dieses grenzenlosen Raumes ist zugleich sein Zentrum. Und von jedem Punkt, von jedem Raumzentrum aus ist der Raum unbegrenzt ausgedehnt. Ich sitze unter einer Fichte, deren schwere Äste bis an den Boden reichen. Unter diesem Schatten spendenden Schirm lasse ich diese Einsicht nachwirken. Das Rauschen des 55 Windes ist von beruhigender Wirkung. Deutlich fühle ich: Innerer Raum ist identisch mit Stille. Ruhe. Freisein von jeglichem Bewegt sein. Als es dämmert gehe ich zu Göden Mar-‐ pa und erzähle ich von meinen Überlegungen. Aufmerksam hört sie zu. "Ja", sagt sie dann, "du hast etwas Wichtiges erkannt. Aber was ist das Entscheidende daran? Du musst dich bewegen, wenn du einen Ort im Raum erreichen willst. Du be-‐ wegst dich immer auf etwas zu oder von etwas weg. Das, worauf du dich zu-‐ oder weg-‐ bewegst ist jedes Mal ein Hindernis, das deine Bewegung anhält. Es ist eine Barriere, durch die du nicht hindurchgehen kannst. Dieses Anhalten führt zur Erfahrung von Ort und Grenze. Gäbe es kein Hindernis im Raum, könntest du dich ungehindert bewegen. Dann würdest du aber nicht erfahren können, dass du dich bewegst. Dein Erleben von Bewegung kommt dadurch zustande, dass du dich in Bezug auf ein Hindernis bewegst. Das Phänomen von Raumerfahrung entsteht aus Bewegung und Hindernis. Der essenti-‐ elle Raum, der Innenraum ist frei von Hindernis, Grenze und Bewegung." Einige Tage nach diesem Gespräch ist mir klar geworden, dass der Raum aus zwei As-‐ pekten besteht. Zum einen erfahren wir ihn rational, messbar und somit real. Zum ande-‐ ren erfahren wir ihn aber auch imaginativ und nicht messbar. Also subjektiv. Weder in der einen noch in der anderen Form der Erfahrung ist der Raum eine vom Menschen un-‐ abhängige Realität. Sowohl der Realraum wie der Imaginationsraum ist ein Phänomen, das in Wechselwirkung mit einem wahrnehmenden Menschen zustande kommt. Ist das möglich? Oder ist es falsch gedacht? Jeder denkt vermutlich, dass Raum auch dann vor-‐ handen ist, wenn es keine Menschen gibt. Ist das so? Von welcher Tatsache kann man ausgehen? Tatsache ist, dass wir Raum deshalb erfahren, weil es Menschen gibt, die ihn erfahren können. Man kann denken, Raum existiert auch dann, wenn es keine Menschen gibt. Aber dann muss man sich weiter fragen, ob ein Raum ohne Menschen als Raum er-‐ scheinen kann. Zum Wesen des Raumes gehört das Wahrnehmungsfeld eines Subjekts. Ohne Menschen gibt es keinen Raum. Nur Bewegung. Als ich die Yogini darauf anspreche, meint sie kurz angebunden: "Die Wirklichkeit ist ei-‐ ne Wechselwirkung, die den Menschen mit einbezieht. Es gibt uns. Deshalb sind wir Teil der Wirklichkeit. Daran kann auch der objektive Realismus nichts ändern, der nur ein zwanghafter Versuch ist, den Menschen aus der Erkenntnis des Universums heraus zu filtern. Aber ohne den Menschen gibt es das Beobachten, Beschreiben und die davon ab-‐ geleiteten Abstraktionen nicht." "Dann gibt es für dich also keinen objektiven Raum", wende ich ein. "Ja und nein. Der objektive Raum ist die Projektion einer gedanklichen Abstraktion und beruht auf drei Voraussetzungen: Sensorischen, psychischen und rationalen Funktio-‐ nen." "Meinst du ohne Sinneswahrnehmungen und ohne Denken gibt es keinen Raum?" 56 "Ich meine, dass es ohne Sinneswahrnehmungen keine Erfahrung von Raum geben kann. Kein Raumphänomen." "Gibt es denn überhaupt einen Unterschied zwischen dem realen Raum und dem Raum als Phänomen? Ist beides nicht dasselbe?" "Nein", ist die überraschende Antwort. "Beides ist nicht dasselbe. Ein Phänomen ist eine Erscheinung. Sie entsteht dadurch, dass die mit den Sinnen beobachtbare Realität der Objekte mit der Wahrnehmung eines Subjekts wechselwirkt." "Demnach ist ein Phänomen eine Wechselwirkung zwischen einem Subjekt und einem Objekt", wiederhole ich. "Kannst du mir in diesem Zusammenhang auch sagen, was du unter Phänomenologie verstehst? Dieser Begriff taucht immer wieder auf. Ich vermute, dass du ihn anders verstehst als die Philosophie." "Als Phänomenologie bezeichne ich das Wahrnehmen und Beobachten von Wechselwir-‐ kungen und deren angemessenes Beschreiben und Benennen. Die buddhistische Phä-‐ nomenologie ist nicht philosophisch, sondern existentiell." "Das habe ich vermutet. Aber was ist in diesem Zusammenhang angemessen?" "Wenn du nichts dazu tust, was nicht dazu gehört. Wenn du nichts wegnimmst, was dazu gehört." "Damit sagst du, die Beschreibung eines Phänomens sollte nichts beinhalten, was nicht dazu gehört." "Ja. So sollte es sein." "Wie kann man erkennen, dass etwas nicht zum Phänomen gehört?" will ich genauer wissen. "Das ist nicht ganz einfach. Das subjektive Beobachten ist selbst ein Phänomen, das wahrgenommen werden kann und unterscheidet sich vom Interpretieren des Beobach-‐ teten. Du musst das Beobachten vom Interpretieren unterscheiden und trennen. Dazu bedarf es einer gewissen Schulung. Niemandem gelingt das ohne Training. Dafür medi-‐ tieren wir. Man muss sich darin üben zu erkennen: Unmittelbares Beobachten und Er-‐ fahren ist etwas anderes, als die damit verbundene interpretierende Deutung. Die Men-‐ schen interpretieren sich die Welt. Auf diese Weise organisieren sie ihre Erfahrungen und schaffen sich eine gewisse Sicherheit. Jeder hat persönliche Anschauungen und Meinungen. Das sind Muster des Denkens und Fühlens, die dadurch entstehen, dass Be-‐ obachtungen interpretiert werden. Sie strukturieren den Prozess des Erfahrens und len-‐ ken ihn in gewohnte Bahnen des Verstehens. Jedes Phänomen ist das Resultat einer sol-‐ chen Wechselwirkung. Es ist diese Wechselwirkung. Du kannst auch Beziehung dazu sa-‐ gen. Eine Beziehung ist nichts, was du festhalten kannst. Sie ist kein Ding. Sie geschieht. Das Geschehen wandelt sich und ist immer neu. Alle an einer Beziehung beteiligten Ele-‐ 57 mente sind miteinander vernetzt. Sie wechselwirken. Deshalb ist auch der Raum kein Ding, das aus Länge, Breite und Höhe besteht, wie eine Schachtel." "Du meinst, er ist ein Geschehen. Eine Wechselwirkung mit dem Subjekt." "So sehe ich das. Ein Raumphänomen entsteht, indem Wechselwirkungen von Menschen abstrahiert und projiziert werden. Dadurch kommt es zur Vorstellung eines äußeren und vom Menschen unabhängigen Raumes." "Habe ich das jetzt verstanden? Der physikalische Raum wechselwirkt mit einem Sub-‐ jekt und dadurch entsteht die Raumerfahrung als Phänomen." "Nein. Das hast du falsch verstanden." "Aber genau das hast du eben gesagt", verteidige ich mich. "Hättest du aufmerksam zugehört, hättest du verstanden, was ich gesagt habe", kontert die Lama-‐Frau ungerührt. "Ich habe nicht gesagt, dass der Raum eine physikalische Rea-‐ lität ist. Ich habe gesagt, physikalische Realitäten führen in Wechselwirkung mit einem Menschen zur Erfahrung des Raumes. Das ist etwas anderes." Verwirrt und verwundert frage ich nach: "Nicht die Realität eines physikalischen Rau-‐ mes lässt die Raumerfahrung entstehen, sondern etwas anderes? Was ist es dann, was diese Erfahrung entstehen lässt?" "Darüber haben wir doch ausführlich geredet", entgegnet sie leicht gereizt. "Du selbst hast es erkannt. Du erfährst den äußeren Raum aufgrund von Hindernissen. Du erfährst die Entfernung zwischen Hindernissen aufgrund von Bewegung. Weil du dich von einem Hindernis zu einem anderen bewegst, erlebst du Distanzen. Das Erleben der Distanzen zwischen Orten interpretierst du als äußeren Raum. Das ist die Alltagserfahrung des be-‐ obachtbaren Raumes." "Was hat das Beobachten damit zu tun", frage ich dazwischen. "Beobachten sage ich deshalb, weil Hindernisse von jedem Menschen sensorisch wahr-‐ genommen und gemessen werden können. Nur die Interpretation dieser sensorischen Wechselwirkungen als Raum kann nicht beobachtet werden, weil sie eine Abstraktion ist." "Und wie sieht deiner Meinung nach diese Interpretation aus?" "Das sollte dir inzwischen verständlich geworden sein: Ein vom Menschen unabhängiger Raum. Er ist irgendwo dort draußen ohne Menschen vorhanden. Das ist die Interpretati-‐ on." "Das möchte ich gerne zusammenfassen und wiederholen, um zu sehen ob ich dich ver-‐ standen habe", sage ich zu Göden Marpa. 58 "Das ist eine gute Idee", erwidert sie. "Ich fände es aber viel interessanter, wenn du ein Diagramm zeichnen würdest. Dann kannst du mir zeigen, wie diese Zusammenhänge aussehen." Diese Aufgabe fasziniert mich. Ich ziehe mich in meine Kammer zurück und beginne meine eben gewonnenen Einsichten über das Wesen des Raumes zu Papier zu bringen. Es ist unerwartet schwierig. Erst nach vielen unbefriedigenden Versuchen gelingt es mir, die Zusammenhänge so zu strukturieren, dass ich ein logisches Diagramm erhalte. Am nächsten Tag zeige ich der Yogini das Resultat meiner Bemühungen. Sie schaut es kurz an, sagt aber nichts dazu. Statt dessen fragt sie mich: "Wie groß ist dieser Balken?" "Was für ein Balken?" Ich habe keine Ahnung, was sie meint. "Dieser hier." Sie zeigt mit dem Finger darauf. Er liegt in der Wiese und ist noch feucht vom Tau. Ich bin verwirrt und weiß nicht, was sie von mir erwartet. "Nun sag schon", drängt sie. "Wie groß ist er?" "Ich schätze, dass er vermutlich sieben Meter lang ist", antworte ich ihr. "Und wie lang sind sieben Meter?" fragt sie weiter. "Das ist die Entfernung von einem Ende bis zum Anderen", sage ich irritiert ohne zu ah-‐ nen, was sie mit diesen Fragen bezweckt. "Gut. Dann sage mir: Wie groß ist diese Entfernung?" "Wenn ich sie nicht mit einem Maß angeben kann, dann kann ich auch sagen, die Entfer-‐ nung von einem Ende bis zum anderen beträgt vielleicht sieben große oder zehn kleine Schritte." "Ich verstehe. Wie lange brauchst du für sieben große Schritte?" fragt sie beharrlich. "Vielleicht würde ich dafür sieben Sekunden benötigen – ich weiß es nicht; man müsste es messen." "Und wie lange brauchst du für zehn kleine Schritte?" "Möglicherweise zwei Sekunden länger. Um was geht es dir dabei?" will ich wissen. "Warte ab", sagt sie. "Dieser Balken ist also entweder sieben Sekunden lang oder neun Sekunden, je nachdem wie groß oder schnell die Schritte sind mit denen du von einem Ende bis zum, anderen gehst." "Das stimmt so nicht", verteidige ich mich. "Dieser Balken ist real sieben Meter lang. Je-‐ der, der ihn misst, wird dasselbe Maß finden." 59 "Aber sicher", erwidert die Lama-‐Frau ungerührt. "Ich will aber wissen: Wie lang sind sieben Meter? Sicher fragst du dich schon die ganze Zeit wozu ich diese seltsamen Fra-‐ gen stelle. Das ist ganz einfach. Wenn du sagst, etwas sei so und so viele Meter lang, dann ist das ein Raummaß, von dem du denkst, du würdest damit die räumliche Existenz ei-‐ nes Objekts objektiv beschreiben. Wenn ich das in Frage stellen kann, wird damit die so-‐ genannte objektive Raumrealität in Frage gestellt. Verstehst du?" "Ja", sage ich. "Jetzt verstehe ich dich besser." "Was sagt uns das, wenn wir angeben, dass dieser Balken sieben Meter lang ist? Wenn ich mir vorstelle, ein Regenwurm kriecht diesen Balken entlang und ich vergleiche das mit einer Ameise, dann kommt die Ameise schneller von einem Ende zum anderen als der Regenwurm. Wenn beide ein Bewusstsein ihres Bewegungserlebens haben, wird dieser Balken für die Ameise wesentlich kürzer sein als für den Wurm. Deshalb stelle ich dieselbe Frage noch einmal: Wie groß ist der Balken?" "Nun, die Antwort müsste sein: Für den Regenwurm ist der Balken größer als für die Ameise." "Genau. Und was sagt dir das?" "Meinst du, dass es keine objektive Größe gibt? Könnte es sein, dass das Raummaß ein subjektives Zeitmaß ist? "Beachte Folgendes: Raum wird von einem Hindernis zum anderen gemessen, weil es ohne Hindernisse keine Abstände gibt." "So stimmt das nicht", unterbreche ich die Lama-‐Frau. "Ein Abstand muss nicht unbe-‐ dingt ein Hindernis sein. Anfang und Ende dieses Balkens sind keine Hindernisse. Nur der Balken als Ganzes ist es." "Einverstanden. Sagen wir also, dass ein Abstand eine Distanz zwischen markierten Or-‐ ten ist. Die linke Seite des Balkens sieht etwas anders aus als die rechte. Deshalb können wir an ihm zwei Orte unterscheiden, die einen Abstand haben. Damit etwas von einem Ort zu einem anderen gelangt, muss es sich bewegen. Bewegungen werden mit einem Zeitmesser gemessen, der ein Zeitmaß anzeigt. Deshalb hängen Raummaße und Zeitma-‐ ße zusammen. Sie sind identisch." "Dann gibt es demzufolge keine objektive Größe? Keine objektive Dauer? "Was ist denn unter objektiv zu verstehen? Etwas vom Menschen Unabhängiges? Das ist entweder Spekulation oder gedankliche Abstraktion. Alle sogenannten objektiven Aus-‐ sagen, die über Dinge gemacht werden, sind Aussagen von Menschen. Objektivität ist ei-‐ ne Idee, die nur als Intersubjektivität verwirklicht wird. Und damit kommen wir wieder zu unserem Balken zurück." Göden Marpa lacht. Findet sie meinen Ausdruck verwirrten Erstaunens lustig? 60 "Das musst du mir genauer erklären", bitte ich sie. "Das ist einfach. Die Beobachtungen eines Menschen und seine Erkenntnisse sind sub-‐ jektiv. Das Subjektive kann autosubjektiv oder intersubjektiv sein. Als autosubjektiv be-‐ zeichne ich jene Beobachtungen und Erkenntnisse, die ausschließlich für das Individu-‐ um gültig sind. Intersubjektiv dagegen sind solche Beobachtungen und Erkenntnisse, die von allen Menschen beobachtet und erfahren werden können. Dass sich zum Beispiel ein Felsen nicht von sich aus in die Höhe hebt, kann intersubjektiv beobachtet werden, und ist demnach für alle, so individuell sie auch sein mögen gültig. Dass derselbe Felsen ehr-‐ furchtgebietend im Feld liegt, lässt sich dagegen nur individuell und somit autosubjektiv erfahren. Diese Erfahrung ist keineswegs für alle Menschen gültig; auch dann nicht, wenn Mehrere dieselbe Erfahrung miteinander teilen würden." "Ich glaube, das habe ich verstanden." "Gut. Dann sage mir jetzt: Wie groß ist der Balken?" Etwas geschieht mit meinem Gehirn. Es windet sich wie eine Schlange, die sich nicht ausreichend bewegen kann, weil der Raum in dem sie eingeschlossen ist nicht groß ge-‐ nug für ihren Drang nach Freiheit ist. Bläst die Yogini auf einer mentalen Schalmei mit der sie die Schlange in meinem Kopf suggestiv in ihren Bann zieht und nach ihrer Melo-‐ die zucken lässt? Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, lasse ich mich auf die Frage ein. "Aufgrund unserer Erörterungen kann der Balken keine objektive Größe haben. Seine Beschreibung in Form von Länge, Höhe und Breite kann bestenfalls intersubjektiv sein. Seine Maße sind nicht wirklich real. Stimmst du mir bis jetzt zu?" "Ja. Mach weiter." "Wenn die Maße -‐ wenn die Raummaße nicht wirklich real sind: Was sagen sie dann über die Realität aus?" Fragend schaue ich zur Yogini hin und hoffe, dass sie etwas dazu sagt. Das tut sie nicht. Geduldig wartet sie ab. Schließlich ringe ich mich zu sagen: "Mar-‐ pa, ich verstehe den Sinn all dieser Fragen nicht. Deshalb fällt es mir schwer mich ge-‐ danklich darauf einzulassen." Die Yogini schaut eine Weile versonnen auf das Objekt meiner Probleme, bevor sie ant-‐ wortet. "Das All offenbart den Körper des Buddha in seiner realen Existenz. Dieser Bal-‐ ken hier und das All sind nicht voneinander getrennt. Also zeigt sich uns Buddha auch in diesem Stück Holz. Wie kannst du den essentiellen Geist des Buddha in diesem Ding hier erfahren? Indem du dich von allen konditionierten Denkformen löst, mit denen du die-‐ ses Objekt interpretierst. Nur so kannst du seine wahre Natur erkennen." Mir ist zumute als wäre ein Vorhang vor meinen Augen weg gezerrt und mein Blick in die Weite frei gelegt worden. Jetzt ist mein Gehirn keine sich windende Schlange mehr, 61 sondern ein Gebilde aus Kristall, in dessen Facetten sich das Licht der Wirklichkeit viel-‐ farbig bricht. Ich könnte weinen. "Verstehst du den Sinn meiner Fragen jetzt? Kannst du sehen, dass ich dich damit in die Richtung des Erkennens der Wirklichkeit führen will? Ich werde dazu nichts weiter sa-‐ gen. Du kannst die Frage: Wie groß ist der Balken zum Inhalt einer Meditation machen. Erfahrungen des Tötens Der Geruch und saugt sich an mir fest. Eine unsichtbare olfaktorische Krake. Widerwär-‐ tig und süßlich. Eigentlich nichts Besonderes. Nur eine Andeutung aus den Tiefen der Natur, für die meine Sinne nicht geschaffen sind. In der Ecke meiner Kammer, die von der Sonne aufgeheizt ist, liegt eine verwesende Maus. Ich öffne beide Fenster. Dann ent-‐ sorge ich mit Besen und Schaufel den von Fliegen besetzten Kadaver. Werfe ihn in das Brennesselfeld hinter der Hütte. Fressen für einen Bussard. Danach setze ich mich drau-‐ ßen auf die Bank und atme den Duft der Sommer-‐wiese tief in mich ein. "Du könntest dich um die Mäuse kümmern", meint Göden Marpa. "Alles ist angenagt. Schau dir einmal die Sachen in der Werkstatt an." Ich finde eine aufgedunsene Maus in einem Kanister mit biologischer Farbe. Ihr Ausse-‐ hen würgt mich, als ich den von Dämpfen aufgeblähten Körper und das zersetzte Fell se-‐ he. Plastikverschlüsse an diversen Behältern sind angenagt, Gips und Zementpackungen unbrauchbar geworden. Selbst die Abfalltüte, die an einem dünnen Draht am Decken-‐ balken hängt, wurde nicht verschont. Ich frage Marpa: "Was ist zu tun?" "Das ist doch offensichtlich", antwortet sie mir. "Du musst Mäuse töten". Ihr Blick ist herausfordernd neugierig auf mich gerichtet. So etwas habe ich nicht erwartet. Mir ist bekannt, dass Lamas das Verbot des Tötens umgehen, indem sie andere diese Tätigkeit für sich ausführen lassen, um nicht mit schlechtem Karma belastet zu werden. "Wie kannst du als Buddhistin von mir verlangen, Mäuse zu töten?" will ich wissen. "Machst du das, um es nicht selbst tun zu müssen?" "Dann wäre ich verlogen und inkonsequent. Das meinst du doch – oder?" "Ja", gebe ich zu. "Wenn du aus ethischen Gründen das Töten ablehnst, weshalb sollte ich es dann tun? Dann würdest du von mir etwas verlangen, wozu du selbst nicht bereit bist." "Wenn ich dir rate, Mäuse zu töten, dann deshalb, weil ich dich existentiell lernen lasse", ist die überraschende Antwort. "Aber verstößt das nicht gegen die buddhistische Ethik?" frage ich. 62 "Wie kommst du darauf?" "Soweit mir bekannt ist", entgegne ich "gibt es im Buddhismus eine grundlegende Ver-‐ haltensmaxime: Man soll vermeiden, anderen Lebewesen Leid zuzufügen." "Das ist auch so. Wenn du tötest, verstößt du damit nicht notwendigerweise gegen das Gebot vom Vermeiden von Leid." Ich bin sprachlos. Brauche Zeit, um nachzudenken. Offenbar sehr mit sich zufrieden, wartet die Lama-‐Frau auf eine Reaktion von mir. Dann habe ich eine Idee. "Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Töten und Zufü-‐ gen von Leid?" will ich wissen. "So ist es", bestätigt sie meine Vermutung. "Solange du diesen wichtigen Unterschied nicht erkennst, gerätst du in Konflikt mit deinen Gefühlen. Außerdem: Wenn du dich konsequent weigerst, irgendetwas zu töten, tötest du dich dadurch selbst. Dann hast du das Ideal, nicht zu töten, am Ende doch verletzt. Das macht keinen Sinn. Du musst ein-‐ sehen, dass Leidvermeiden und nicht Töten zwei verschiedene Phänomene sind." "Wenn es so ist, wie du sagst, wäre das mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Es würde bedeuten, dass ich die Mäuse guten Gewissens töten kann, wenn ich dabei vermeide, dass sie leiden." "Sobald du ein Lebewesen effizient tötest, leidet es nicht. Ein guter Jäger ist ein Meister des Tötens. Wenn du aber den Prozess des Tötens in die Länge ziehst, sei es absichtlich oder unabsichtlich, erzeugst du damit Leid." "Das führt aber zu der paradoxen Situation, dass man Leid erzeugt oder aufrecht er-‐hält, wenn man aus sogenannten Gründen der Humanität das Töten vermeidet." Die Lama-‐Frau bestätigt diesen Gedanken. "Dann haben wir es mit einer völlig verdrehten Ethik zu tun", erwidere ich darauf. "Völlig verdreht, ja. Das kann man wohl sagen." "Aber zwischen dem Töten von Menschen und dem Töten von Mäusen oder anderen Tieren gibt es doch einen Unterschied? Meinst du nicht?" "Was für einen Unterschied?" wiederholt Göden Marpa meine Frage und fährt fort: "Wenn das Töten von Lebewesen ein Sakrileg ist, dann betrifft es die gesamte Lebens-‐ sphäre. Ohne Ausnahme. Jedes Lebewesen will am Leben bleiben. So gesehen ist zwi-‐ schen einer Maus und einem Menschen kein Unterschied. Beide leben. Beide wollen ihr Leben erhalten. Wenn Mäuse nicht am Leben bleiben wollten, würde es sie schon lange nicht mehr geben." 63 "Was du sagst klingt eigentlich logisch", gebe ich zu. "Unterscheidest du dann viel-‐leicht niedere und höhere Lebensformen?" "Nein. Es gibt kein niederes oder höheres Leben. Leben ist Leben oder kein Leben. Wie ich bereits gesagt habe: Jedes Lebewesen will am Leben bleiben. Eine Maus wird sicher-‐ lich merken, wenn du sie abmurksen willst. Dann kannst du erfahren, dass sie alles tun wird, um ihr Leben zu erhalten. Das ist auch nicht anders als bei Menschen." "Aber es muss doch einen Unterschied geben zwischen dem Töten von Mäusen und dem Töten von Menschen", wende ich irritiert ein. "Da bin ich mir nicht so sicher", bekomme ich zur Antwort. "Schaue dir die Lebensreali-‐ tät an. Du wirst keinen Unterschied feststellen. Menschen töten einander und rotten sich gegenseitig aus, genauso wie sie auch massenweise Tiere töten und ausrotten. Wo ist der Unterschied? Wenn es um einen kollektiven Nutzen oder um das Durchsetzen einer fanatischen Idee geht, haben die Menschen keinerlei Hemmungen. Sie töten. Aber wenn ein hilfloser Mensch auf Grund unerträglichen Leidens Sterbehilfe haben möchte, wird von Ethik und Ehrfurcht dem Leben gegenüber geredet. In Ländern, die hochtechnisierte Waffensysteme entwickeln, produzieren und verkaufen, mit denen wiederum tausende von Menschen getötet oder grausam verstümmelt werden. Wird auf dieses profitable Geschäft mit dem Tod verzichtet?" "Mag sein", entgegne ich. "Ist es nicht so, dass wir gerade deshalb eine Handlungsmaxi-‐ me brauchen, wenn es um das Töten geht? Eine grundlegende Orientierung, die in Har-‐ monie mit der Wirklichkeit ist?" "Genau darum geht es. Kann man in dieser Lebensrealität, die uns von den Voraus-‐ setzungen her vorgegeben ist, das Töten von Lebewesen vermeiden? Offenbar nicht. Die Spielregeln des Lebens zwingen uns zu töten. Wenn du am Leben bleiben willst, musst du töten. Daran ändert sich auch nichts, wenn du Vegetarier bist. Wenn du ausschließ-‐ lich Gemüse isst, tötest du auch. Nur ist es nicht so offensichtlich. Mit jedem Salatblatt isst du Kleinstlebewesen mit, die von deinen Verdauungssäften getötet werden. Sogar dein Immunsystem ist ein hochintelligentes Tötungssystem, das permanent damit be-‐ schäftigt ist, Lebensformen zu eliminieren, die deinem Körper Schaden zufügen würden. Intakte Lymphozyten sind Killerzellen, die alle körperfremden Eindringlinge vernichten, um dich damit am Leben zu erhalten. In deinem Körper findet also ein permanentes Tö-‐ ten statt. Er fragt dich nicht, ob dir das Recht ist oder nicht." Aufrecht und in sich gekehrt sitzt die Lama-‐Frau am Tisch. Sie schaut ins Leere. So kommt es mir vor. Ein Käfer ist ins Wasserglas gefallen. Er schwimmt zappelnd im Kreis herum. Auf der glatten Oberfläche findet er keinen Halt. Immer wieder versucht er hin-‐ auf zu klettern. Jedes Mal rutscht er ab. Göden Marpa sieht es. Sie nimmt einen Grashalm aus einem Blumenstrauß, der neben ihr steht und hält ihn dem Käfer hin. Er krabbelt darauf. Dann fliegt er fort. Mir ist plötzlich schwindelig und ich verspüre eine leichte 64 Übelkeit. Im Zusammenhang mit dem Gespräch über das Töten ist dieses Erlebnis jetzt zu viel für mich. Ich gehe nach draußen. Grillen zirpen in allen Tonlagen. Die Hitze des Tages löste sich langsam auf. Ich kann die-‐ se beschauliche Stimmung nicht wie sonst genießen. In mir ist etwas Unruhiges, das mich zurück in meine Kammer treibt. Ich möchte nichts sehen oder hören. Nachdem ei-‐ nige Zeit vergangen ist und ich mich beruhigt habe, denke ich mir: Ohne Gewissensbisse kann ich Mücken erschlagen, von denen ich mich belästigt fühle. Nie habe ich dabei ein unangenehmes Gefühl gehabt. Nun muss ich mir eingestehen, dass ich dabei getötet ha-‐ be, ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein. Irgendetwas kommt mir dabei eigenartig vor. Ich komme nicht dahinter, was es ist. Plötzlich sehe ich, dass meine Selbstverständ-‐ lichkeit beim Töten von Mücken damit zu tun hat, dass diese Tiere so klein sind! Ich stel-‐ le mir eine Mücke groß wie eine Maus vor. Sofort fühle ich die mir vertraute Hemmung, sie zu töten. Woran liegt das? Ich gehe dieser Frage nach und bekomme die Antwort. Es ist mein ästhetisches Empfinden. Bei einer erschlagenen Mücke sehe ich nicht viel. Vor einer zerquetschten Ratte mit all dem Blut und heraus quellenden Innereien ist es an-‐ ders. Es würde mich ekeln. Das finde ich interessant. Dann überlege ich weiter, dass auch ein kleines Lebewesen, ebenso wie ein großes am Leben bleiben will. Eine Ameise will leben. Ein Elefant auch. Besteht zwischen dem Tö-‐ ten eines Elefanten und dem Töten einer Ameise ein essentieller Unterschied? In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Nach dem Aufwachen fühle ich mich unzufrieden und mürrisch. Die Yogini sitzt bereits draußen und genießt den kühlen Morgen. Ein hei-‐ ßer Tag steht uns bevor. Der Himmel ist wolkenlos und von einem transparenten Blau. Es wird noch eine halbe Stunde dauern, bis die Sonne hinter dem Berg aufgestiegen ist und damit beginnen wird, den Tag aufzuheizen. Göden Marpa sitzt ruhig auf ihrem klei-‐ nen Holzstuhl, den ich ihr letztes Mal gebaut habe, und ist in eine stille Betrachtung der wirr durcheinander liegenden Balken vertieft. Alles wirkt friedlich. Doch mir ist nicht nach Ruhe. Ich will etwas tun, will etwas in Bewegung setzen. Nachdem wir gefrühstückt haben, beginne ich, die Balken umzuschichten, um sie zur weiteren Verarbeitung aus dem Stall besser herausziehen zu können. Eine anstrengende Arbeit. Am Rand meines Sehfeldes bemerke ich, wie etwas hin und her huscht, das ich nicht fixieren und deutlich wahrnehmen kann. Dann sehe ich eine kleine Maus, die auf-‐ geregt unter dem Balken, an dem ich gerade arbeite, nach etwas zu suchen scheint. Sie läuft hierhin und dorthin und wieder zurück und versucht hektisch -‐ so kommt es mir vor – unterhalb des Balkens Erde weg zu graben. Einmal an dieser Stelle, dann wieder an einer anderen. Schließlich ist sie fündig geworden und zieht ein totes Junges heraus. Es hat noch kein Fell. Winzig und nackt sieht es aus. Es ist blutig. Vom Balken zerdrückt. Die Maus hält das tote Junge im Maul und trägt es an eine andere Stelle. Ich kann nicht er-‐ kennen, wohin. Diese Beobachtung erfüllt mich mit Schmerz. Ich erlebe Mitgefühl. 65 Die Yogini ist damit beschäftigt, um die Blumen herum Gras wegzuschneiden. Das macht sie mit einer Haushaltsschere. Ich weiß, dass sie diese mühevolle Arbeit als ihre persön-‐ liche Demutsübung betrachtet. Inmitten von Grün ist nur ihr schwarzer Rücken zu se-‐ hen, der sich langsam wie eine Riesenschildkröte von hier nach dort bewegt. Schnapp macht die Schere. Wieder fliegt ein Büschel Gras oder Unkraut über den Zaun. Mit einer Sense oder Sichel wäre es nicht möglich gewesen derart schonend um die Blumen her-‐ um zu schneiden. Ich erkenne: Kultur ist ohne Mühe nicht zu haben. Obwohl es mich nach meinem Erlebnis sehr danach drängt, mit Göden Marpa weiter über das Töten zu reden, will ich sie bei ihrer Gartenmeditation nicht stören. Ich setze mich an einen schattigen Ort. Konzentriere mich auf mein Gefühle. Vieles ist in mir auf-‐ gerührt worden. Was die Aufgabe betrifft, Mäuse zu töten, bin ich von einer mich befrie-‐ digenden Einstellung weiter entfernt als zuvor. Einerseits kann ich die Notwendigkeit sachlich erkennen, andererseits sind meine Gefühle nicht in Übereinstimmung mit dem Erkannten. Der Himmel bewölkt sich. Es weht ein kühler Wind. Zeit für eine Kanne heißen Tee. Die Yogini hat sich bei ihrer Gartenarbeit an der Innenseite des Daumens die Haut aufge-‐ scheuert. Ich versorge die Stelle mit einem Stück Papiertaschentuch, das ich mit Isolier-‐ band umwickle. Wir haben keinen Hansaplast, und unsere Möglichkeiten sind äußerst eingeschränkt. Eine Weile sitzen wir schweigend beisammen. Der Wind wird intensiver und zerrt die Tannenbäume hin und her. Schließlich spreche ich über meinen Konflikt. Es kommt mir so vor, als würde ich ein konfuses Konglomerat von Gedanken, Gefühlen, Befürchtungen, Phantasien, Sinn und Bedeutung von mir geben. Göden Marpa hört aufmerksam zu. Sie lässt sich von meinen wirren Gedankensplitter nicht beirren und kommt sofort zur Sache. "Wenn du Mäuse töten willst, musst du es so machen, dass sie nicht leiden müssen". Bemerkenswert interessiert schaut sie auf das schwarze Isolierband an ihrem Daumen. Dann streift mich ein kühler Blick, der mich zu sondieren scheint. "Wie geht das?" will ich von ihr wissen. "Ich habe damit keine Erfahrung." Lächelnd sagt sie: "Versuche es mit einer Mausefalle. Du bist nicht der Erste, der Mäuse töten muss. Wenn du zweifelsfrei erkannt hast, dass du die Mäuse hier nicht am Leben lassen kannst, dann wirst du auch die dazu erforderlichen Mittel und Wege finden", ist ihre Antwort. Tatsächlich sehe ich keine Möglichkeit, alle für das Leben in der Hütte erforderlichen Materialien vor Mäusen sicher aufzubewahren. Wir können die Hütte nicht in einen engmaschigen Käfig stellen. Bei der Nageintensität dieser Tiere wäre das der einzig wir-‐ kungsvolle Schutz. Ich muss einsehen, dass ich mich der Notwendigkeit, Mäuse zu töten, nicht entziehen kann. Das bringt mich in ein Dilemma: Entscheide ich mich für die Vernunft, habe ich das 66 Gefühl gegen mich. Entscheide ich mich für das Gefühl, habe ich die Vernunft gegen mich. Da erinnere ich mich an das Koan eines Zen-‐Meisters: Wenn du schreist, stürzt du in den Tod. Wenn du nicht schreist, stürzt du auch in den Tod. Was tust du? Antworte schnell. Du hast keine Zeit, um zu warten! Wofür soll ich mich entscheiden? Wofür will ich mich entscheiden? Je mehr ich mich auf diese Frage einlasse, umso deutlicher verschiebt sich das Gewicht auf die Seite der Ver-‐ nunft. Ich erkenne, dass sich meine Gefühle unterordnen und sich von Vernunft leiten lassen müssen. Nun fühle ich mich nicht mehr so zwiespältig wie zuvor. Zugleich taucht aber eine andere Erkenntnis aus den unbewussten Schichten meiner Seele auf. Ein dunkler Felsen dringt aus einem schwarzen Meer nach oben. Unübersehbar. Kompro-‐ misslos. Wenn ich mein Gefühl der Vernunft unterordne, lösche ich mein Mitgefühl aus. Lösche aus, was als das Wesentlichste im Leben gilt, gelten sollte. Das kann ich nicht wollen. Wieder finde ich mich in einem bedrückenden Widerspruch gefangen. Übergehe ich das Gefühl, übergehe ich das Mitgefühl. Bleibe ich beim Gefühl, kann ich nicht ver-‐ nünftig handeln. Als ich der Yogini von meinem Dilemma berichte, sagt sie: "Du wirst lernen müssen, mit Mitgefühl vernünftig zu handeln. Es geht nicht um Entweder – Oder. Die Lösung deines Problems kann nicht darin liegen, dass du dich für deine Vernunft und damit gegen dei-‐ ne Gefühle entscheidest. Die Lösung kann nur eine Synthese sein, eine Verschmelzung der Gegensätze. Du musst das Sowohl-‐als-‐auch im Auge behalten. Vernunft und Gefühl. Das ist der tantrische Weg. Darum geht es: Um Verschmelzung der Gegensätze. Wahres Lernen besteht darin, scheinbar Unvereinbares zusammen zu bringen. Sie zu einen. Dadurch entsteht etwas Neues in dir. Das ist Wandlung. Alles andere bleibt Spaltung, Abspaltung und unvereinbarer Gegensatz. Wir sind an Nuancen interessiert. Sie entste-‐ hen dann, wenn du Schwarz und Weiß vermischen kannst. Erst das ergibt die Vielzahl möglicher Grautöne, die im Gegensatz enthalten sind. Den Menschen fällt es schwer, in Nuancen zu denken. Das verlangt von ihnen Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit. So etwas lernen sie nicht. Den Weg der Verschmelzung der Gegensätze sind immer nur Wenige gegangen. Es ist ein einsamer Weg, auf dem du dich an keinen Vorschriften ori-‐ entieren kannst." Nachdem ich das eingesehen habe, besorge ich eine Mausefalle. Ein kleines Gestell mit einem Drahtbügel, der durch eine Spiralfeder gespannt wird. Sobald eine Maus den da-‐ runter liegenden Köder berührt, schnappt der Bügel nach unten und bricht ihr Genick. Das ist ein schneller Tod ohne Leiden. Es ist mir unangenehm, den Bügel vom toten Kör-‐ per hoch zu ziehen, den Kadaver am Schwanz anzufassen und in die Wiese zu werfen. Diese Berührung mit der getöteten Maus bereitet mir Unbehagen. Kann ich es nicht er-‐ tragen, dem Resultat meines indirekten Handelns so nahe zu sein?" Eines Abends, es ist bereits dunkel, sitze ich in der Kammer und denke über verschiede-‐ nes nach. Plötzlich höre ich, wie die Falle zuschnappt. Normalerweise ist es danach still. Diesmal nicht. Es scheppert und scharrt und hört nicht auf. Mit der Taschenlampe gehe 67 ich in den Vorraum, um nachzusehen. Dann sehe ich es. Eine Maus hat den Kopf im Bügel eingeklemmt, ist aber nicht tot. Verzweifelt versucht sie sich zu befreien. Es gelingt ihr nicht. Mit dem hinteren Teil ihres Körpers heftig um sich schlagend, schiebt sie sich mit-‐ samt der Falle hierhin und dorthin und überschlägt sich, ohne etwas bewirken zu kön-‐ nen. Ich stehe wie gelähmt und weiß nicht, was ich tun soll. Einerseits leide ich an dem unerträglichen Zustand, in dem sich die Maus befindet, andererseits weiß ich nicht, wie ich ihn beenden kann. Ich kann sie nicht erschlagen. Ich kann es nicht! Von Mitgefühl ge-‐ fesselt bin ich gefangen in mir selbst, unfähig, das Leiden des Tieres zu beenden. Dies hätte einer Grobheit bedurft, zu der ich nicht fähig war. Am nächsten Tag war die Maus verendet. Ich fühle mich schuldig und von Zweifeln zer-‐ rissen. Ich fühle mich, als hätte ich nicht nur ihr, sondern auch mir selbst etwas Übles angetan. "Du wirkst sehr niedergeschlagen", sagt Göden Marpa zu mir, als wir uns sehen. "Ja, genau so fühle ich mich auch", erwidere ich und berichte ihr von meinem Erlebnis. Jetzt hat die Lama-‐Frau wieder ihren sie schaut durch mich hindurch Blick während sie sagt: "Kannst du dir vorstellen, wie sich eine Maus im Maul einer Katze fühlt? Sie ist nicht tot. Du siehst, wie sie zappelt. Dann lässt die Katze die Maus wieder laufen. Aber nicht lange. Dann schlägt sie mit ihren Pfoten wieder zu. Die Maus quiekt erbärmlich. Was sagt dir das?" "Ich habe wirklich keine Ahnung", antworte ich. "Menschlich gedacht ist es grausam. Aber die Katze hat vermutlich kein Gefühl dabei. Außerdem weiß sie nichts über das Vermeiden von Leid. Ihr fehlt das Mitgefühl." "Du hast Probleme mit deinen Schuldgefühlen, weil die Maus in der Falle nicht sofort tot war und sicherlich gelitten hat. Nun habe ich dir dieses Beispiel von der Katze und der Maus geschildert, und frage dich wieder: Was sagt es dir?" "Mein Kopf ist leer gefegt. Ich habe keine Ahnung, was ich dazu sagen könnte." "Kannst du wenigstens noch zuhören? Oder ist es dir lieber, wenn wir später weiter re-‐ den?" "Nein. Ich möchte gerne hören, was du dazu sagst", bitte ich Marpa. "Also gut", sagt sie. "Dann zeige ich dir, wie ich das sehe. Es ist das Karma der Maus, je-‐ der Maus, dass sie gejagt, gefangen und getötet werden kann. Du hast dieses Karma nicht geschaffen. In gewisser Weise bist du lediglich Teil ein Teil davon, genauso wie die Kat-‐ ze. Das Karma der Katze wiederum sieht so aus, dass sie jagen und töten muss. Woher kommt das Karma? Der Geist der Erde hat es geschaffen. Oder? Was meinst du?" 68 "Das ist ein völlig neuer Gedanke für mich. Verblüffend, aber nachvollziehbar. Du meinst sicher nicht die Evolution, wenn du vom Geist der Erde sprichst." "Natürlich nicht. Damit hat es nichts zu tun. Deshalb habe ich ja Geist der Erde gesagt. Vielleicht kann ich diesen Zusammenhang noch weiter ausführen. Der Geist der Erde schafft das Karma der Maus, habe ich gesagt und ..." "... entschuldige bitte, dass ich dich unterbreche. Was ist das Karma der Maus? Wenn du sagst, es besteht darin, dass sie gejagt, gefangen und getötet werden kann, so ist das ihre biologische Bestimmung. Abgesehen davon, dass sie sich auch reproduzieren und am Leben bleiben will." "Wenn dir biologische Bestimmung besser gefällt als Karma, dann sage ich: Der Geist der Erde hat die biologischen Bestimmungen der Maus geschaffen. Was sagst du jetzt?" "Damit ist auch nicht viel gewonnen. Aber ich sehe jetzt einen anderen interessanten Zu-‐ sammenhang. Wenn der Geist des terrestrischen Systems das Karma oder die biologi-‐ sche Bestimmung der Maus schafft, dann kann man ebenso gut sagen: Dieser Geist schafft das Leiden der Lebewesen. Wobei ich dieses Leiden nicht psychisch, sondern elementar körperbezogen verstehe." Nach einigen Minuten nachdenklichen Schweigens antwortet die Yogini. "Es gibt kein elementar körperbezogenes Leiden. Zum Leiden gehört das Wahrnehmen." "Dann hat der terrestrische Geist die Wahrnehmung geschaffen, damit Lebewesen lei-‐ den können?" "Nein. So ist es natürlich nicht. Er hat die Wahrnehmung geschaffen, damit Lebewesen leben können." Als ich darauf etwas erwidern will, unterbricht mich Göden Marpa. "Ich muss das, was ich eben gesagt habe, korrigieren. Der Geist hat die Wahrnehmung nicht geschaffen. Er ist Wahrnehmung. Verstehst du den Unterschied?" "Das geht mir alles zu schnell. Ich bin nicht sicher, ob ich es verstehe. Du meinst, die Wahrnehmung und der terrestrische Geist sind identisch. Der terrestrische Geist er-‐ schafft die Wahrnehmung nicht, weil er wahrnehmend ist." "Genau das will ich sagen. Es gibt keinen nicht wahrnehmenden Geist. Geist ist Wahr-‐ nehmung und Wahrnehmung ist Geist." "Eigentlich ist das logisch. Ohne Wahrnehmung kann es kein Leiden geben, wenn dem Lebewesen etwas Unangenehmes widerfährt. Aber das erklärt mir trotzdem das Verhal-‐ ten der Katze nicht. Du hast gesagt, ihr Karma bestünde darin, die Maus zu jagen, zu fan-‐ gen, zu töten und mit ihr zu spielen. Solange die Katze mit der Maus spielt, bis sie tot ist, leidet sie, weil sie wahrnehmen kann." 69 "Das ist richtig. Was verstehst du dabei nicht?" "Ich verstehe nicht, warum der Geist der Erde so etwas ermöglicht, indem er die Voraus-‐ setzungen dafür schafft." "Oh ja – was für ein böser Geist muss das sein, der eine Katze jagen und eine Maus leiden lässt." "Vielleicht sind meine Fragen lächerlich", beginne ich etwas beleidigt zu erwidern, "aber ich kann den Sinn hinter alledem nicht verstehen." "Damit sich etwas verfeinern kann, muss es erst grob gewesen sein. Die Wirklichkeit ist nicht einseitig, sondern allseitig. Brutalität, Verletzen und Leiden sind der Gegenpol zu Sanftheit, Heilen und Freude. Erst diese Polarität – du kannst sie auch existentielle Dia-‐ lektik nennen – ermöglicht die Phänomenologie des Erlebens und gibt den jeweiligen Phänomenen Wert, Sinn und Bedeutung. Ohne das gäbe es keine Wahlmöglichkeiten, und ohne diese wiederum gäbe es keine Entfaltung des Menschlichen im Menschen." "Der terrestrische Geist hat die Voraussetzungen zum Leiden deshalb geschaffen, da-‐mit sich der biologische Mensch vermenschlichen kann? Ist es das, was du mir sagen willst?" "Jetzt hast du es erkannt." "Vielleicht habe ich es gedanklich erkannt; aber verinnerlicht ist es noch nicht." Ich nehme mir Zeit und denke noch einmal darüber nach, wie ich Mäuse töten kann, oh-‐ ne dass sie leiden müssen. Eine genaue Betrachtung der Zusammenhänge zeigt mir: Wenn eine Maus seitlich an den Köder in der Falle herangeht und der Bügel nach unten schnappt, wird das Tier nicht getötet, sondern verletzt. Die Maus ist hoffnungslos gefan-‐ gen, aber nicht tot. Das bringt mich auf eine Idee. Von einer Konservendose schneide ich der Länge nach das untere Viertel ab, und stülpte das übrige Teil über die Mausefalle. Dadurch entsteht ein Tunnel, der vorne offen und hinten geschlossen ist. Jetzt kann eine Maus nur frontal an den Köder herangehen. Ich erinnere mich gut an diesen Sommer, in dem ich auf diese Weise dreißig Mäuse töten konnte, ohne dass sie leiden mussten. Würde ich es nicht getan haben, hätten wir uns in der Hütte nicht aufhalten können. Aber weil ich es getan habe, dominieren sie jetzt mein Denken und Fühlen. Ich habe das Gefühl, dass ich mit jeder getöteten Maus auch etwas in mir selbst töte. Eines Tages stand ich klar vor der Entscheidung: Die oder ich? Natürlich habe ich mich gegen die Mäuse entschieden und mich weiterhin – wenn auch in gemilderter Form – dem Gefühl der Schuld ausgesetzt. Diese Auseinandersetzung hat zu einem seltsamen Vorgang geführt. Im darauffolgenden Herbst dieses erwähnten Sommers -‐ Göden Marpa wollte einige Tage nach mir eintref-‐ fen -‐ betrete ich die Küche und bin schockiert. Es sieht aus, als wären Vandalen einge-‐ drungen und hätten zugeschlagen. Jeder noch so kleine Fetzen Papier ist in kleinste Stü-‐ 70 cke zernagt. Die Schnipsel sind überall verstreut. Alle Lebensmittelpackungen liegen vom Regal herunter geworfen am Boden. Deren Inhalt ist nicht etwas gefressen, son-‐ dern mit dem Kot der Mäuse vermischt. Die hölzernen Kochutensilien sind bis zur Un-‐ kenntlichkeit angenagt. Nur die Stiele sind noch übrig und nicht mehr zu gebrauchen. In jedem Teller, in jeder Tasse, in jeder Schüssel finde ich Urin und Kot. Ich bin fassungslos. Die Botschaft der Mäuse ist eindeutig. In der darauf folgenden Zeit haben wir uns einen Kampf geliefert, bei dem ich Sieger ge-‐ blieben bin. Was mich nicht mit Stolz erfüllt. Schließlich hat sich die Beziehung zwischen den Mäusen und mir insofern etwas harmonischer entwickelt, weil sie sich nach vier o-‐ der fünf solcher Jahre offenbar dafür entschieden haben, sich nicht mehr zu ver.-‐mehren. Von da an haben wir nie mehr als drei Mäuse in der Hütte gehabt. Ich habe sie gefüttert und wir sind respektvoll freundlich miteinander umgegangen. Ich mochte sie. Einmal habe ich eine kleine Maus im Vorraum überrascht. Aus einem schokoladenbraunen Fell schauten mich zwei kleine wache Augen aufmerksam an. Regungslos wartete sie auf ei-‐ ne Reaktion von mir. Auch ich stand still und schaute nur. Beide standen wir uns kon-‐ zentriert gegenüber. Ich fühlte liebevolle Zuwendung. Dann ein Husch -‐ die Maus ist fort. Reinkarnation und die Elemente der Erfahrung Seelenwanderung. Ist es sinnvoll, daran zu glauben, ein Mensch könnte in einem ande-‐ ren Leben als Tier wiedergeboren werden? Mir ist nichts bekannt, was einen solchen Zusammenhang bestätigen würde. Abgesehen davon, dass er gar nicht bestätigt werden könnte. Welche Ratte könnte uns sagen, dass sie in einem früheren Leben als Beamter gelebt hat? Welcher Politiker würde sich erinnern, dass er einmal als Frosch auf der Welt war? Wozu haben Menschen die Vorstellung von Seelenwanderung erfunden? Aus dem Bedürfnis heraus, die Realität des Absurden besser ertragen zu können? Die Erfahrungen des Absurden sind die Tatsachen des Lebens, die am schwierigsten zu akzeptieren sind. Erfahrungen, in denen alles in dir Nein sagt. Erfahrungen, die du nicht annehmen kannst und willst. Du willst das Absurde nicht annehmen, weil dieses unan-‐ nehmbar Scheinende jedem Gefühl für Gerechtigkeit widerspricht. Ich stelle mir vor, dass man sich mit der Idee der Seelenwanderung ein Gefühl für einen gerechten Aus-‐ gleich schafft. Das Muster ist einfach. Wenn ein Mensch in diesem Leben für seine mie-‐ sen Taten nicht bestraft wird, kommt er im nächsten Leben als Versuchsratte in einem Kosmetiklabor zur Welt. Das schafft eine gewisse Genugtuung. Göden Marpa stimmt mir zu. Das überrascht mich, weil sie damit vom traditionellen buddhistischen Denken ab-‐ weicht. Als ich sie darauf anspreche, sagt sie: "Wenn ein gedankliches Modell nicht mit den Phänomenen übereinstimmt, muss es aufgegeben werden. Man kann wohl an Rein-‐ karnationen glauben. Aber dieser Glaube sagt nichts über die Realität aus." 71 Obwohl ich das auch so sehe, will ich von ihr genauer wissen, aus welchen Gründen oder Erfahrungen sie die Reinkarnation ablehnt. "Wie ist das zu verstehen", beginne ich zu fragen: "Die Buddhisten sagen, selbst einen Regenwurm soll man nicht töten, weil er in einem anderen Leben deine Mutter gewesen sein könnte. Wenn es so ist, mache ich mich schuldig, weil ich Mäuse töte. Auch du wärst an dieser Schuld beteiligt, weil du es mir aufgetragen hast." Göden Marpa dreht mir den Rücken zu und holt ein Buch vom Regal, während sie erwi-‐ dert: "Das sollten wir uns kritisch und unvoreingenommen anschauen." Die Yogini wirkt müde. Obwohl es ein trüber und kühler Tag ist hat sie mehrere Stunden im Garten gear-‐ beitet und ein großes Brennnesselfeld umgegraben. Trotzdem ist sie jetzt bereit, sich auch noch meinem geistigen Unkraut zu widmen und den Boden meines Denkens zu jä-‐ ten. "Du sagst, du glaubst nicht an Reinkarnation. Aber du bist dir doch nicht ganz sicher. Wenn du Gewissheit hättest, würdest du nicht danach fragen. Ist es so?" "Ich glaube nicht an Reinkarnation, die Tiere, Pflanzen oder sogar Steine mit einbezieht. Bei der Reinkarnation, die sich auf Menschen beschränkt, zweifle ich. Aber du hast schon Recht. Irgendwie fühle ich mich bei diesem Thema unsicher. Vieles spricht eindeutig da-‐ gegen, aber manches könnte vielleicht ein Hinweis sein, dass es sie doch gibt." Die Yogini blickt über mich hinweg, atmet tief aus und wieder ein. Dann schaut sie mich wieder direkt an und sagt: "Auch wenn es so wäre, dass ein Regenwurm vorher einmal deine Mutter gewesen ist, zu einer Zeit, in der auch du ein anderer warst als der, der du jetzt bist, wäre dieser Wurm in seinem Hiersein dennoch nichts weiter als ein Wurm, der am Leben bleiben will und sich krümmt, wenn du ihm etwas antust, was ihm nicht be-‐ hagt. Ganz sicher behagt es ihm nicht, wenn du ihn zum Beispiel bei lebendigem Leib an einem Haken aufspießt, um damit Fische zu angeln. Ebenso sicher ist auch, dass du dabei keine verstorbene Mutter am Haken hast, wenn du es tust." "Ja, das denke ich auch. Du hast diesen Zusammenhang sehr überzeugend dargestellt. Aber ist die Reinkarnation ebenso auszuschließen, wenn es um Menschen geht? Es gibt psychische und mentale Phänomene, die sich nicht von der persönlichen Biografie her-‐ leiten lassen. Außerdem gibt es Berichte über Vorleben, die trotz kritischer Analyse eine Reinkarnation nahe legen." Dazu meint Marpa: "Es kommt ganz darauf an, wie wir den Begriff Reinkarnation defi-‐ nieren. Welche seelisch-‐geistigen Erscheinungsformen benennen wir damit? Da gibt es Missverständnisse. Völlig abwegig ist zum Beispiel die Meinung, dass sich jemand als Person reinkarnieren könnte. Niemand kommt als dieselbe Person in einem anderen Körper wieder auf die Welt. Die Person, die sich von dieser Welt verabschiedet hat, ist ein für alle Mal fort. Was wir als Person bezeichnen, ist das Resultat einer Wechselwir-‐ kung, die sich beim Sterben eindeutig auflöst. Sie ist nach dem Tod des Körpers definitiv nicht mehr vorhanden. Mit dem Erlöschen der Wechselwirkungen hat die Person aufge-‐ hört zu sein. Sie existiert nicht mehr. Nirgendwo." 72 Habe ich das verstanden? Ich nicht sicher. Um mehr Klarheit zu gewinnen, beginne ich mit der Idee der Reinkarnation zu spielen und benutze den Stall als Metapher. Durch das Abbauen der Balken sind seine materiellen Wechselwirkungen aufgelöst worden. Der Stall als Individualität, der Stall als Person existiert nicht mehr. Er könnte sich nun inso-‐ fern reinkarnieren, wenn aufgrund der Idee eines Stalls ein neuer gebaut werden würde. Das wäre dann aber nicht die Reinkarnation seiner demolierten Existenz, sondern eines Konzepts. Der Stall hätte dann dieselbe Funktion, wäre aber dennoch etwas völlig Neues. Denke ich diese Metapher weiter, folgere ich daraus: Es reinkarnieren sich Konzepte und keine Existenzen. "Genau so ist es", bestätigt die Lama-‐Frau, nachdem ich ihr diese Gedanken mitgeteilt habe. Der Stall selbst reinkarniert nicht. Aber sein Konzept kann unter anderen Voraus-‐ setzungen reinkarniert werden." "So meine ich das", sage ich und stelle gleich eine weitere Frage, die ich sehr gewagt fin-‐ de. "Könnte man dieses Beispiel auch auf den Dalai Lama übertragen?" "Warum nicht? Wenn der Zusammenhang stimmt, muss er auf alles anwendbar sein. Auch auf den Dalai Lama. Folgende Tatsachen sind phänomenologisch zweifelsfrei gege-‐ ben: Er ist als Kleinkind unter vielen anderen Kindern sorgfältig ausgesucht und in ein Kloster gebracht worden. Dort wurde er in größter Abgeschiedenheit von der Außen-‐ welt erzogen und unterrichtet. Der Dalai Lama, den wir vor uns haben, ist also das Er-‐ gebnis einer sehr speziellen Erziehung und Ausbildung. Infolge dieser geistig-‐seelischen Erziehung ist ein transpersonales geistiges Muster reinkarniert worden: Das Muster Tschenresis, des Buddhas der Barmherzigkeit oder des Mitgefühls. Die besten Mönchs-‐ lehrer haben im Kindes-‐, Jugend-‐ und Erwachsenenalter des Dalai Lama dieses geistige Muster kontinuierlich und systematisch erweckt und entfaltet. Das ist eine Tatsache. Zu behaupten, der gegenwärtige 14. Dalai Lama hätte als diese Person, die er aktuell ist, zu-‐ vor als 13. Dalai Lama gelebt, ist eine Behauptung, die lediglich auf Glauben beruht. Ebenso ist es mit den Karmapa und Linienhaltern, von denen es in Tibet ausreichend viele gibt." "Das hört sich vernünftig an. Demnach wird nicht die individuelle Struktur einer Person reinkarniert, sondern ein geistiges Muster." "So ist es. Achte darauf, was ich dir jetzt sage: Jede Erziehung, die einem geistigen Mus-‐ ter folgt, entfaltet Wirkungen, die sich in den Strukturen und Funktionen des Körpers verfestigen. Dieser Vorgang ist eine Inkarnation. Wenn sich dieses geistige Muster zu ei-‐ ner anderen Zeit und an einem anderen Ort wiederholt, entsteht eine Reinkarnation die-‐ ses Musters. Ich habe von Erziehung gesprochen und sehe drei Möglichkeiten. Eine Er-‐ ziehung durch die Eltern, die Erziehung durch andere Personen als die Eltern und die Selbsterziehung. Es ist gleichgültig, wer dich erzieht. Zwei Voraussetzungen sind aller-‐ dings dafür erforderlich: eine für diese Erziehung geeignete geistige Disposition und das transpersonale Muster." 73 "Das kann ich verstehen. Aber woher kommt die geistige Disposition, von der du sprichst?" "Sie findet sich in der Struktur der Gene oder kommt durch Inkarnation zustande. Dar-‐ über werden wir später noch ausführlich reden." "Gut. Mir ist soeben ein einfaches Gedankenexperiment eingefallen. Angenommen, der Dalai Lama müsste sich in einem kleinen Buschdorf im Amazonas reinkarnieren. Könnte er das? Sicher nicht. Die dafür erforderlichen soziokulturellen Voraussetzungen würden fehlen. Er hat sich selbst einmal dazu geäußert und gesagt, dass es nach ihm wahrschein-‐ lich keine weitere Inkarnation eines Dalai Lama mehr geben wird. Natürlich nicht. Die Chinesen haben gründlich und nachhaltig dafür gesorgt, dass alle dazu erforderlichen sozialen und kulturellen Voraussetzungen zerstört sind." "Traurig, aber wahr", sagt Göden Marpa. Beide reden wir eine Weile nichts. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. "Dann brauche ich mir also keine Sorgen deswegen zu machen, dass ich im nächsten Leben als Maus zur Welt zu komme, die in einem Labor gequält wird." "Deswegen, weil du Mäuse tötest?" "Ja." "Ich hoffe, dass du das nicht wirklich geglaubt hast." "Nein, eigentlich nicht. Was den Zusammenhang von Mensch und Tier betrifft, so ist die-‐ se Frage für mich geklärt. Aber es bleibt immer noch die andere Möglichkeit einer Rein-‐ karnation von Mensch zu Mensch übrig", sage ich und argumentiere: "Wenn es keine Ge-‐ rechtigkeit in Form eines Ausgleichs über die Reinkarnation gibt, kann es auch keine Strafe geben, die sich über das Karma auswirken könnte." "So ist es", bestätigt die Yogini sofort. "Das haben alle Verbrecher, Quäler und Folterer der Menschheit unbewusst auch deutlich erkannt. So abscheulich sich jemand anderen Menschen gegenüber auch verhalten mag – seelisch-‐geistig wird er dafür nicht bestraft; und der eventuelle juristische Aspekt von Strafe interessiert uns hier nicht. Auch dann, wenn ein Verbrecher am Menschlichen in eine so genannte niedrigere Lebensform, sei sie tierisch oder human, reinkarnieren würde, wäre das für ihn keine Strafe, weil er in seiner reinkarnierten Existenz keine Erinnerung an sein verbrecherisches tun haben könnte. Deshalb würde er auch die Unbill, die er in einer niedrigeren Lebensform zu er-‐ leiden hätte, nicht als Strafe für seine in einem anderen Leben begangenen Taten emp-‐ finden. Sie wären keine Strafe." "Natürlich nicht. Weil man Strafe nur dann als Strafe empfinden kann, wenn sie in einem kausalen Zusammenhang zur Handlung erfahren wird", führe ich Göden Marpas Überle-‐ gungen weiter. 74 "Ja. Darauf kommt es an", sagt sie. "Wie wir bereits festgestellt haben: Die Person rein-‐ karniert nicht. Aber nur in der Person gibt es Erinnerungen und kausale Verknüpfungen in der Zeit, und dazu bedarf es des Gehirns der betreffenden Person. Das Gehirn einer anderen Person oder eines anderen Lebewesens hätte andere Speicherungen." Ich warte ab und will keine voreiligen Schlussfolgerungen aus dem Gesagten ziehen. Manchmal ist Warten ein guter Lehrer. Inzwischen hat es zu regnen begonnen. Die Feuchtigkeit eines feinen Nieselregens schmiegt sich an Blüten, Blätter und Gräser. "Wir können einen Spaziergang über die Almwiese machen", schlägt Göden Marpa vor. "Gerne. Das ist eine gute Idee", sage ich. Sobald wir draußen sind, hüllen uns feine Was-‐ serschleier ein. Nasse Seide, die sich an unsere Körper klebt. Keine Chance, irgend-‐wo trocken zu bleiben. Der Weg führt uns hügelabwärts durch eine dicht mit hohem Farn bewachsene Stelle. Nach einigen Metern ist alles an mir klatschnass. Bei der Lama-‐Frau kann es nicht anders sein. Trotzdem wandern wir bis zum Einbruch der Dunkelheit um-‐ her. Steigen hinauf und wieder hinunter, gehen in den Wald hinein und wieder heraus, bis uns das Bedürfnis nach Trockenheit und Wärme zurück in die Hütte treibt. Nachdem wir unsere nasse Kleidung gewechselt haben, sitzen wir wieder in der Küche zusammen. "Schau genau hin", fordert die Yogini mich auf und befeuchtet Daumen und Zeigefinger mit Spucke. Mit suggestiver Stimme sagt sie: "Ich lösche diese Kerzenflamme aus. Das Licht ist fort." Jetzt nimmt sie die Zündhölzer vom Herd und streicht ein Zündholz an. Leichter Schwefelgeruch verbreitet sich. "Siehst du? Ich zünde die Kerze wieder an. Ist das jetzt dieselbe Flamme wie vorhin?", fragt Marpa. Im Schein der Kerze bekommen ih-‐ re Augen einen magischen Blick. Wieder einmal fühle ich mich im Innersten angespro-‐ chen und habe dieses seltsame Gefühl, das sich jedes Mal einstellt, wenn ich an der Schwelle einer bedeutsamen Einsicht stehe. "Das ist keine einfache Frage", antworte ich darauf. "Was ist dieselbe Flamme?" "Eben darum geht es. Was ist dieselbe Flamme im Unterschied zu einer anderen? Wodurch unterscheidet sich diese Flamme hier von derjenigen, die vorher gebrannt hat? Darauf möchte ich von dir eine Antwort." "Das ist etwas kompliziert. Ist dieselbe Flamme das Gleiche wie die gleiche Flamme?" "Interessant, nicht wahr? Was meinst du?" "Intuitiv würde ich sagen, dass diese Flamme dieselbe ist wie die von vorhin; aber es nicht die gleiche." "Aha – und was macht den Unterschied aus?" 75 Zögernd antworte ich: "Das ahne ich mehr, als dass ich es deutlich verstehe. Der Unter-‐ schied zwischen die Gleiche und dieselbe könnte mit dem Erleben der Zeit zusammen-‐ hängen." "Gut; und weiter?" "Wenn ich sage, es ist dieselbe Flamme, aber nicht die gleiche wie die vorhin erloschene, dann ist das mit meiner Vorstellung von Zeit verbunden. Eigentlich haben wir es im Hin-‐ blick auf die Zeit mit drei Varianten von Kerzenflammen zu tun. Die Flamme, die gegen-‐ wärtig brennt, die Flamme, die gebrannt hat und die Flamme, die vielleicht später ein-‐ mal brennen wird." "Sehr gut. Wir sind uns also darin einig, dass die Flamme einer Kerze stets die Erschei-‐ nung einer Wechselwirkung im Zusammenhang mit deiner Zeitvorstellung und deines Zeiterlebens ist. Erlischt die Flamme, ist dieser Zusammenhang unterbrochen. Wird die Flamme neu entzündet, beginnt eine neue Wechselwirkung. Ist das verständlich?" "Ja, das ist offensichtlich so." "Also gut. Wir haben erkannt, dass die gleiche Flamme nur im Vergleich zu der von vor-‐ hin existiert. Wenn du dich an unsere Gespräche über die Zeit erinnerst: Was er-‐kennst du dann?" Vorsichtig taste ich mich an die Antwort heran. "Dann erkenne ich, dass ich aufgrund meiner Erinnerung an die gelöschte Flamme im Vergleich mit der aktuell brennenden einen Unterschied zwischen beiden konstruiere. Die Wechselwirkungen, die beiden Flammen zugrunde liegenden, sind dieselben. Sie haben nichts mit meiner Erinnerung zu tun, weil sie sich in einem zeitfreien Gegenwärtig Sein ereignen." Ein intensives Schweigen der Yogini ist ihre Antwort auf diese Überlegung. Dann sagt sie: "Diese Flamme erlischt. Eine neue erscheint. Als Wechselwirkung ist diese Flamme dieselbe wie jene. Was alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Flammen ver-‐ bindet, ist deren Licht; die Funktion des Erhellens und Leuchtens. Dieses Erhellen und Leuchten entsteht und vergeht, entsteht und vergeht ... und ist dennoch immer das Glei-‐ che." Plötzlich habe ich eine Idee. "Marpa", sage ich, "es gibt unzählige Formen des Erhellens und Leuchtens. Sie reichen vom rußenden Kienspan bis zum Laserlicht." Sie schließt die Augen und sieht aus wie ein meditierender Buddha. "Natürlich. Was fol-‐ gerst du daraus?" "Alle diese vielfältigen Möglichkeiten, in denen uns das Erhellen und Leuchten er-‐ scheinen kann, sind durch ein graduell unterschiedliches Lichtsein verbunden. Anders gesagt: Die verschiedenen Erscheinungen des Erhellens und Leuchtens sind eins im Lichtsein, und dieses Lichtsein entfaltet sich in unendlich differenzierten Formen." Plötz-‐ 76 lich durchströmt mich ein intensives Glücksgefühl. Ich fühle und sehe Korrespondenzen und Resonanzen zwischen all den möglichen vielfältigen Erscheinungsweisen des Lichts. Licht-‐Familien. Diffuses Licht fühlt sich zu diffusem Licht hingezogen, helles Licht zu hel-‐ lem, grelles zu grellem, farbiges zu farbigem – die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. "Ja, das ist eine schöne Metapher. Gleich, wie das Erhellen und Leuchten die erloschene, die brennende und künftige Flamme verbindet, wird auch unser erloschenes, unser ak-‐ tuell gelebtes und unser künftiges Leben durch das Licht unserer Motive verbunden. Je-‐ dem Gedanken, jeder Rede, jeder Handlung liegt ein dir unbewusstes oder bewusstes Motiv zugrunde. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind über deine Motive mitei-‐ nander verbunden. Was reinkarniert wird, was wieder und wieder in die Welt der Er-‐ scheinungen eintritt, wie die neu entzündete Flamme der Kerze vorhin, ist das Licht dei-‐ ner Motive." … Ich sitze in meiner Kammer und schaue aus dem Fenster einem Gewitter zu. Wenn ich Blitze lange beobachte, verlieren sie ihren attraktiven Erlebniswert. Dann ziehe ich mich wieder in den Alltagszustand meiner Aufmerksamkeit zurück. Geblendet von den grellen Erscheinungen, die sich in die Augen graviert haben, brauche ich eine Weile, bis ich im Kerzenlicht wieder normal sehen kann. Trotzdem schaue ich zwischendurch immer wieder aus dem Fenster. Gewitter faszinieren mich. Der Stall leuchtet für kurze Augen-‐ blicke gespenstisch auf und versinkt dann wieder in der Dunkelheit. Das Bild ist von ei-‐ nem infernalischen Hämmern des Regens auf das Dach begleitet. Als würden Tausende kleine Dämonen mit Nagelschuhen darüber laufen, ohne jemals damit aufhören zu wol-‐ len. Das zerrt an meinen Nerven. Schließlich hat sich das Gewitter ausgetobt. Auch das Trippeln auf dem Dach ist endlich vorbei. Ruhe breitet sich aus. Über das nächtliche Firmament treiben Wolkenfetzen, deren Ränder ein aufgehender Mond mit fahlem Licht bescheint. Dadurch entsteht ein sanftes, aber auch hintergründig wirkendes Wolkenbild. Wie von einem Künstler der Romantik gemalt, so sieht es aus. Die gereinigt wirkende Nacht wird vom furiosen Tosen des gegenüber liegenden Wasserfalls erfüllt. Wäre es Tag, könnte man seine braunen Wassermassen nach unten stürzen sehen. Die Grillen dagegen sind stumm. Ihnen ist es zu nass und zu kalt, um zu zirpen. Für morgen hat der Wetterbericht wieder Sonne angesagt. Gewitter entstehen und vergehen. Immer wieder. Ist diese Wiederkehr eine Reinkarna-‐ tion? Schon der Begriff Wiederkehr ist falsch. Er suggeriert, dass etwas wieder kommt, was vorher schon einmal gewesen ist. Hat es dieses Gewitter, das ich jetzt erlebe, vorher schon einmal gegeben? Natürlich nicht. Es ist eine Wechselwirkung aus Bedingungen, wie ein Regenbogen oder meine Existenz. Ich weiß: Nach diesem Gewitter wird es wie-‐ der ein Gewitter geben. Doch dieses wird anders verlaufen als jenes. Was sich wieder-‐ holt, sind Wechselwirkungen, die sich in unterschiedlichen Erscheinungen zeigen. Ist es beim Menschen ähnlich? 77 Ich bin früh aufgestanden. Das hat sich gelohnt. Der Morgen ist frisch und beginnt mit kühler Schärfe. "Heute wird ein heißer Tag", höre ich die Yogini von der Hütte her sagen. Ich stehe in der feuchten Wiese im Garten und habe sie nicht die Treppe herunter-‐ kommen hören. Das frühe Sonnenlicht modelliert den Berg gegenüber zu einer Skulptur weicher Formen und koloriert sie mit transparenten Grüntönen. Auch die Schatten sei-‐ ner vielfältigen Falten sind grün getönt. Chromoxidgrün. "Womit wirst du dich heute beschäftigen?", fragt Göden Marpa mich. Ich deute mit meiner Hand zum Stall und sage: "Es liegen jede Menge Balken herum, die ich in Stücke schneiden und stapeln muss. Das werde ich tun. "Dann schlage ich vor, dass wir am späteren Nachmittag, wenn es kühler geworden ist, unser Gespräch weiterführen." Das ist mir recht. Die körperliche Arbeit lenkt mich vom Denken ab und sorgt dafür, dass sich meine tieferen Schichten ungestört mit dem bisher Erkannten befassen können. Während ich säge, staple und schichte, plätschern meine Gedankenwellen zur Reinkar-‐ nation trotzdem immer wieder gegen die Mauer meiner Skepsis. Auch die schwere Ar-‐ beit vermag den Sog meiner gedanklichen Gezeiten offenbar nicht zu beenden. Warum auch? Soll es sein, wie es ist. Der Geruch von frischen Sägespänen vermengt sich mit dem Duft frisch geschnittenen Grases, das die Yogini zum Trocknen an diversen Stellen auf-‐ gehäuft hat. Zwischendurch gehe ich immer wieder zum Brunnen und trinke vom kalten Wasser unserer Quelle. So vergeht der Tag. Nachdem wir zu Abend gegessen haben und vor der Hütte sitzen, komme ich wieder zu unserem Thema zurück. "Wenn es keine Reinkarnation einer Person gibt, kann es auch keine Reinkarnation geistiger Eigenschaften geben." "Was willst du damit sagen?", will Marpa wissen. "Ich möchte wissen, ob geistige Eigenschaften an physikalische Bedingungen gebunden sind, wie die Erscheinungen eines Gewitters." "Du fragst dich, ob geistige Eigenschaften mit dem Körper eines Menschen zusammen-‐ hängen. Diese Vorstellung einer Verbindung beruht auf der Annahme einer Trennung. Trennung. Kannst du das sehen? Hier ist ein körperlicher Mensch, dort sind seine geisti-‐ gen Eigenschaften, und beide sind miteinander verbunden. Wenn du das weiter-‐denkst, musst du annehmen, dass die geistigen Eigenschaften irgendwo umherschwirren, wenn der Körper nicht mehr existiert. Meinst du, dass es so ist? "Das hört sich seltsam an", antworte ich. "Ja, das wäre äußerst seltsam", wiederholt sie. "Eine Eigenschaft – jede Eigenschaft er-‐ scheint ausschließlich als Wechselwirkung." 78 "Das ist mir zu abstrakt. Könntest du das bitte anschaulicher erklären?" "Aber sicher. Nehmen wir wieder einmal einen Balken als Beispiel. Seine Eigenschaften erscheinen grundsätzlich nur in Beziehung zu dir als beobachtendes und erfahrendes Subjekt." "Gut. Das verstehe ich. Trifft das auch auf den Menschen zu? Kann man sagen, dass menschliche Eigenschaften ebenso nur in Bezug zu einem erlebenden Menschen er-‐ scheinen." "Ja und nein. Das stimmt nur zum Teil", entgegnet Göden Marpa. Menschliche Eigen-‐ schaften erscheinen nämlich auch in Bezug auf nicht menschliche Objekte." "Das verstehe ich jetzt nicht." "Wenn du dich über den Balken ärgerst, weil du dich infolge von Unachtsamkeit da-‐ran stößt, ist das eine Beziehung zwischen dir und einem Objekt. Es ist eine Beziehung zwi-‐ schen einer Handlung, einer Empfindung, einem Gefühl und deinem Denken. Diese Be-‐ ziehung lässt Ärger als Emotion entstehen. Und dazu sage ich dir gleich: Dieser Ärger ist nicht vorhanden. Er ist ein Entstehen und Vergehen, Erscheinen und Verschwinden ..." "... und zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Zusammenhang erscheint er wieder. Aber dieses wiederholte Erscheinen ist kein Vorhandensein. Was wir Vorhan-‐ densein nennen, ist etwas, was immer wieder aufs Neue zustande kommt." "Genau so ist es", bekräftigt die Yogini. "Das heißt: Nichts ist vorhanden. Was wir uns als vorhanden vorstellen, ist stets ein Er-‐ eignis. Aber was ereignet sich, wenn ich Ärger habe?", frage ich hartnäckig weiter. "Wenn du dich aufmerksam wahrnimmst, müsstest du sehen, dass du keinen Ärger ha-‐ ben kannst. Du bist in deiner Gesamtheit so eingestellt, dass ein Ärgerlich-‐sein entsteht. Und ebenso, wie es entsteht, vergeht es auch wieder." "Gut. Aber wo kommen die verschiedenen Eigenschaften her, die wir an einem Men-‐ schen beobachten können?" "Jetzt machst du denselben Fehler. Es gibt kein Woher. Es gibt keinen Ort, von dem eine Eigenschaft herkommen könnte." "Jetzt, wo du es sagst, habe ich es verstanden. Du hast Recht. Ich verfalle immer wie-‐der in unangemessene Sprachmuster." "Wenn du es eingesehen hast, kannst du jetzt deine Frage neu formulieren", fordert mich Marpa auf. 79 "Wie kommen die menschlichen Eigenschaften zustande? Wie entstehen sie? Ich meine, wenn ich weiß, wie sie entstehen, dann kann ich auch Einfluss darauf nehmen, dass sie nicht entstehen." "Was du wissen willst, hängt damit zusammen, was man im Buddhismus Dharmas nennt." "Davon habe ich schon gelesen. Verstanden habe ich es bisher nicht. Vielleicht kannst du mir erklären, was damit gemeint ist." Göden Marpa wirkt zerstreut und innerlich abwesend, als sie sagt: "Dharmas sind Ele-‐ mente, aus denen eine Erfahrung zusammengesetzt ist. Diese Elemente kombinieren und entkombinieren sich immerzu. Entweder in gewohnter Weise oder aber neu. Sie entstehen und vergehen.“ Abwartend schaut sie mich an. "Ich habe gedacht, dass man unter Dharma den buddhistischen Weg versteht. Offenbar ist das falsch." "Nein, das ist nicht falsch", korrigiert mich die Yogini. "Es gibt nämlich einen Unter-‐ schied zwischen dem Dharma und den Dharmas. Das ist sprachlich etwas verwirrend. Wie ich vorhin gesagt habe, sind Dharmas Elemente der Erfahrung. Der Dharma dagegen ist die große Ordnung, die Ordnung des Universums. Auch die Gesamtheit der buddhisti-‐ schen Lehre wird so genannt. Und noch etwas: Der Dharma, der Buddhadharma ist auch die Fähigkeit des Unterscheidens zwischen dem Heilsamen und dem Unheilsamen. Dar-‐ aus leitet sich die Ethik des buddhistischen Weges ab." "Und worauf bezieht sich diese Fähigkeit des Unterscheidens?" "Sie bezieht sich auf das Denken, Reden und Handeln." "Dann habe ich jetzt verstanden, dass man das unterscheiden zwischen heilsamen und unheilsamen Denken, Reden und Handeln als Dharma bezeichnet." "Außer der universalen Ordnung ist der Dharma auch diese Fähigkeit des Unterschei-‐ dens. Ja." "Mir erscheint dieser Gegensatz zwischen dem Dharma und den Dharmas verwirrend. Vor allem deshalb, weil die Dharmas offenbar das Gegenteil der großen universalen Ordnung sind." "Wenn du es verstanden hast, wird es dich nicht mehr verwirren." "Dann werde ich später in Ruhe darüber nachdenken. Du hast gesagt, dass unsere Erfah-‐ rungen aus Elementen zusammengesetzt sind. Woraus bestehen diese Elemente, die Dharmas genannt werden?" 80 "Man kann sie in Skandhas einteilen. Anders gesagt: Skandhas sind die Grundlage je-‐der Erfahrung." "Ebenso wie die Dharmas?", frage ich verwirrt. "Das scheint dich jetzt durcheinander zu bringen. Es ist so: Erfahrungen kommen durch Dharmas zustande. Diese Dharmas teilt man in Skandhas ein, um sie besser zu verste-‐ hen." "Gut. Dann brauchen wir uns nicht mit den Dharmas zu befassen, sondern können uns gleich den Skandhas zuwenden. Richtig?" "Wenn es dir hilft, denke nicht mehr daran. Befassen wir uns mit den Skandhas. Sie zu verstehen ist wichtig, wenn du den Vorgang des Erfahrens begreifen willst. Was ich dir nun beschreiben werde, weicht von der buddhistischen Tradition ab. Ich hoffe, das stört dich nicht." "Nein, sicher nicht. Mich würde nur interessieren, aus welchen Gründen du davon ab-‐ weichst." "Manchmal muss man den traditionellen Buddhismus verlassen. Vor allem, wenn dadurch möglich wird, die Erscheinungen angemessener zu erklären und zu beschrei-‐ ben. Wir müssen die zeitgemäßen Erkenntnisse mit berücksichtigen. Auch Buddha hätte es so gemacht." "Damit willst du sagen, dass deine Darstellung der Skandhas von der üblichen Beschrei-‐ bung abweicht, weil du sie aufgrund deiner Einsichten korrigiert hast." "So ist es." "Das finde ich sehr gut. Ich bin ohnehin mehr daran interessiert, wie du die Dinge siehst." "Es gibt sechs Skandhas. Sie sind die Grundlage jeder Erfahrung: Empfindung, Gefühl, Sprache, Emotion, Beobachtung und Wahrnehmung. Der sechste Skandha, die Wahr-‐ nehmung, bezieht sich auf die anderen fünf. Daraus ergibt sich das Wahrnehmen einer Empfindung, das Wahrnehmen eines Gefühls, das Wahrnehmen der Sprache, das Wahr-‐ nehmen einer Emotion und das Wahrnehmen einer Beobachtung. Keinen dieser Skand-‐ has darfst du dir jedoch als vorhanden vorstellen. Es sind Ereignisse. Wechselwirkun-‐ gen." "Einen Augenblick bitte", unterbreche ich die Yogini. "Jetzt muss ich erst ein wenig dar-‐ über nachdenken, bevor du dieses Thema weiterentwickelst." "Kein Problem", sagt sie, steht auf und geht in die Hütte. Ich warte, bis sie wieder her-‐ auskommt. 81 Die untergehende Sonne lässt die Landschaft wie von innen her aufglühen. Manche Blu-‐ men wirken wie mit Gold überzogen. Ich schaue auf einen Tabernakel der Natur. Dieser Moment hat etwas Heiliges. Zikaden zirpen in verschiedenen Tonlagen. Ihre Hingabe an die Wärme ist nicht zu überhören. Manche Töne sind beinahe unerträglich intensiv. Sin-‐ gen sie einen Choral zu Ehren der Wandlung des Lichts? Bald wird es dunkel sein. Die Yogini hat den Kerzenleuchter mitgebracht, in dem drei neue Kerzen stecken. Eine davon fällt beim Anzünden herunter. Marpa tropft Wachs in die Halterung, dann drückt sie die Kerze hinein. Jetzt hält sie. Wind weht und lässt die Flammen flackern. Wachs fließt, dessen Rinnsale erstarren. "Du hast von den sechs Skandhas gesagt, sie würden allen Erfahrungen zugrunde liegen. Jede Erfahrung soll daraus bestehen. Das möchte ich gerne vertiefen." "Wie möchtest du es vertiefen?" "Fangen wir mit den Empfindungen an. Woraus bestehen sie?" "Empfindungen bestehen aus den fünf Funktionen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Davon werden die fünf Formen Gestalt, Laut, Geruch, Geschmack und Be-‐ rührung abgeleitet." "Warum sagst du Formen? Unter Form verstehe ich etwas, was man sehen kann. Aber das kann nicht gemeint sein. Oder kann man einen Geruch sehen? Hat Geruch eine Form?" "Verständlicherweise bist du irritiert. Aber im Buddhismus wird Form anders aufge-‐ fasst. Man könnte anstelle von Form auch Phänomen oder Erscheinungsform sagen. Ein Geschmack wäre demnach eine Erscheinungsform. Ja, du hast Recht. Der Begriff Form ist irritierend und irreführend. Sagen wir statt dessen Erscheinungsform oder Phänomen." "Jetzt sehe ich wieder klar. Aus den fünf Sinnesfunktionen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten entstehen die Erscheinungsformen Gestalt, Laut, Geruch, Ge-‐ schmack und Berührung." "Ja. Dieser Zusammenhang ist zutreffend." "Die Berührung verstehe ich noch nicht. Meinst du damit jene Erfahrung, die über das Tasten entsteht?" "Ja. Sie beinhaltet aber auch die inneren Körperempfindungen, die vom Tasten unab-‐ hängig sind. Etwa die Erfahrung von Wärme im Herzbereich." "Wie unterscheidet sich dieser erste Skandha der Empfindung vom zweiten Skandha des Gefühls? Ist ein Gefühl nicht das Gleiche wie eine Empfindung?" 82 "Das ist keinesfalls das Gleiche. Ein Gefühl ist nämlich die Reaktion auf eine Empfin-‐ dung." "... also eine Reaktion auf den ersten Skandha." "Ja. Ein Gefühl ist eine Reaktion auf die fünf Erscheinungsformen." "Wenn ich auf eine Gestalt, einen Laut, einen Geruch, einen Geschmack oder eine Berüh-‐ rung reagiere, wäre es demnach ein Gefühl. Das verstehe ich immer noch nicht. Wie sieht eine solche Reaktion aus, die du Gefühl nennst?" "Zwei Reaktionen sind möglich: annehmen und abweisen, angenehm erleben oder un-‐ angenehm erleben. Wir haben in Tibet kein Wort für Gefühl. Wir sprechen statt dessen von diesen Reaktionen." "Marpa", sage ich jetzt, "du hast eben meine Vermutung bestätigt, dass du Begriffe ver-‐ wendest, die es im Tibetischen nicht gibt. Hat das einen bestimmten Grund?" "Warum sollte ich diese Begriffe nicht verwenden? Wir denken und sprechen ja nicht ti-‐ betisch, sondern deutsch. Außerdem unterliegt auch der Buddhismus einem Prozess; nicht in seiner Essenz, aber in der Art und Weise, wie man seine Einsichten strukturiert und vermittelt." "Ja, das kann ich nachvollziehen. Können wir uns nach diesem kleinen Umweg jetzt dem dritten Skandha zuwenden? Das Beobachten." "Sicher. Was möchtest du wissen?" "Wie funktioniert Beobachtung?" "Das Beobachten ist ein Verknüpfen der fünf Funktionen Sehen, Hören, Riechen, Schme-‐ cken, Tasten und der fünf Erscheinungsformen Gestalt, Laut, Geruch, Geschmack und Berührung des ersten Skandha des Empfindens. Diese Verknüpfungen sind außerdem mit dem Erleben der Zeit verbunden, die auf Erinnerung beruht. Ohne Erinnern gibt es nämlich auch kein Erleben der Zeit in Form von ist jetzt, ist vergangen und wird sein." "Zum Beobachten gehört also das Erleben der Zeit, die auf Erinnerung beruht. Ohne Er-‐ innerung kann man nicht zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem un-‐ terscheiden." "So ist es." "Kann man daraus folgern, dass es ohne Erinnerung auch kein Beobachten gibt? Hängen Zeiterleben und Beobachten zusammen?" "Ja, das hast du klar erkannt." 83 Von Göden Marpas Zuspruch ermuntert, formuliere ich weiter. "Das Beobachten ent-‐ steht aus dem ersten Skandha des Empfindens, dessen Funktionen und Phänomene wir durch unser Erinnerungsvermögen in Form einer zeitlichen Abfolge strukturieren." Die Yogini sagt nichts. Wir sitzen immer noch draußen. Es ist kühler geworden. Der Zikadengesang hat an In-‐ tensität verloren. Ein leichter Wind weht. Ich gehe in die Hütte und hole uns zwei De-‐ cken, die wir uns um die Schultern legen. Über uns flackern bereits die Sterne wie ver-‐ schwenderisch ausgestreute kristalline Splitter auf schwarzem Samt. Vom Stall her ist das Plätschern des Brunnens zu hören. Es ist eine Nacht, in der man schweigen sollte. Trotzdem beginne ich wieder zu sprechen. "Der vierte Skandha ist die Sprache. Und weil unser begriffliches Denken auf Sprache be-‐ ruht, deshalb nehme ich an, dass auch das Denken dazugehört." "Nicht nur das", fährt Marpa fort. „Sprache besteht aus Begriffssprache und Bildsprache. Wir denken nicht nur in Begriffen, sondern auch in Bildern. Und weil wir auch in Bildern denken, deshalb gehören auch die Vorstellungen dazu. Die tibetische Meditationspraxis ist ohne Bildsprache nicht zu verstehen. Vor allem in den höheren Formen tantrischer Übungen ist sie von grundlegender Bedeutung." Die Yogini zieht die Decke fester um ih-‐ re Schultern. "Bringen wir es zu Ende. Sicher willst du mich noch nach dem fünften und sechsten Skandha fragen. Ich kann es dir, auch wenn es dunkel ist, ansehen." "Ich gebe zu, dass ich eben daran gedacht habe", sage ich darauf. "Vor allem, weil mir völlig unklar ist, wie du die Emotion vom Gefühl unterscheiden wirst." "Oh, das ist nicht schwierig, wenn du davon ausgehst, dass es sich um eine Wechsel-‐ wirkung mit den anderen Elementen des Erfahrens handelt, die wir bereits besprochen haben. Du musst verstehen: Kein Skandha existiert für sich allein. Alle stehen zueinan-‐ der in Beziehung. Was folgt daraus? Emotionen sind Wechselwirkungen zwischen den Skandhas Empfinden, Beobachten, Sprache und Gefühl." "Einen Augenblick bitte", unterbreche ich Marpas Erklärung. "Ich habe bisher ange-‐ nommen, ein Gefühl wäre dasselbe wie eine Emotion." "Viele nehmen das an. Dir müsste aber bereits andeutungsweise verständlich sein, dass es nicht so sein kann. Warum nicht? Denke nach." "Du hast das Gefühl als eine Reaktion des Annehmens oder Zurückweisens definiert. Ei-‐ ne Emotion ist aber sicher mehr als das." "Damit bist du auf der richtigen Spur. Entwickle diesen Gedanken weiter", fordert sie mich auf. 84 "Dann wiederhole ich am besten, was du vorhin gesagt hast: Emotionen sind Wechsel-‐ wirkungen zwischen Empfindung, Beobachtung, Sprache und einer annehmenden o-‐der zurückweisenden Reaktion." "Genau. An einer Emotion sind alle diese Skandhas beteiligt. Das ist nicht schwer zu ver-‐ stehen." "Verwirrend ist es deshalb", gebe ich zu bedenken, "weil wir es in der Alltagssprache gewohnt sind, Gefühl zu sagen, wenn wir es mit einer Emotion zu tun haben." "Das ist mir auch schon aufgefallen. Von mir aus kannst du weiterhin zu einer Emotion Gefühl sagen. Wichtig ist nur, dass du in der Praxis deiner Arbeit mit Gefühlen und Emo-‐ tionen diesen Unterschied nicht vergisst." "Ja, das sehe ich ein", stimme ich zu. "Könntest du mir bitte noch ein Beispiel dafür ge-‐ ben, wie eine Emotion aus den Wechselwirkungen der Skandhas entsteht?" "Das ist nicht schwierig. Komponieren wir ein Beispiel für diese Situation hier. Du hörst etwas, was ich sage. Das ist eine Empfindung über das Hören und betrifft den ersten Skandha. Zugleich wird über das, was du hörst, über die Funktion der Sprache ein Ge-‐ danke von mir zu dir transportiert. Das ist der Skandha der Sprache. Nun nehmen wir weiter an, dass du auf das, was ich gesagt habe, zurückweisend reagierst. Das ist der Skandha des Gefühls. All das zusammen wechselwirkt zudem mit gewissen gedanklichen Mustern in dir. Das ist wieder der Skandha der Sprache, der dein Denken ermöglicht. Schließlich fühlst du dich missverstanden und ärgerst dich. Das ist der Skandha der Emotion. Dazu kommt vielleicht noch der Skandha der Beobachtung. Möglicherweise hast du gesehen, dass ich meine Mundwinkel nach unten ziehe oder dass mein Gesicht irgendwie anders aussieht, als du es von mir gewohnt bist. Du kannst dieses Beispiel be-‐ liebig variieren. In jedem Fall wirst du sehen, dass die Emotion ein Netz ist, das von den Skandhas geknüpft wird. Reicht dir das?" "Ja, auf jeden Fall. Ich bin verblüfft." "Gut, dann beschließen wir dieses schöne Nachtgespräch mit dem letzten Skandha der Wahrnehmung. Hast du eine Idee dazu?" "Ohne Wahrnehmung gibt es keine Erfahrung", sage ich spontan. "Sehr gut", meint die Yogini. "Du hast das Wesentliche erfasst. Das Wahrnehmen wech-‐ selwirkt mit allen fünf Skandhas. Dadurch entsteht ein Wahrnehmen des Empfindens, ein Wahrnehmen des Gefühls, ein Wahrnehmen des Beobachtens, ein Wahrnehmen in der Sprache und ein Wahrnehmen in der Emotion. Ohne Wahrnehmen gibt es keine Er-‐ fahrung. So einfach ist das." "So einfach ist es für mich nicht", erwidere ich. "Sind Beobachten und Wahrnehmen nicht dasselbe?" 85 "Erinnere dich, was ich über das Beobachten gesagt habe." "Daran erinnere ich mich gut", sage ich. "Das Beobachten beruht auf Unterscheidungen beim Empfinden im Zusammenhang mit dem Erleben von Zeit." "Richtig. Und jetzt frage dich: Wie kannst du diese Unterschiede erfahren, wenn du sie nicht wahrnimmst?" Ich sage nichts. Es ist so offensichtlich, dass ich mich schäme, es nicht selbst erkannt zu haben. "Störe dich nicht daran", tröstet mich Marpa. "Diese Analysen sind nicht selbstverständ-‐ lich. Du musst vieles infrage stellen, was dir vertraut ist. Ich werde mich jetzt zu-‐ rückziehen. Wir haben noch viele Tage, an denen du deine Lust am Fragen ausleben kannst." Die Yogini steht auf. Ich wünsche ihr eine gute Nacht. Für eine Weile sitze ich noch allein und schaue in die Nacht. Die Kerzen hat Marpa mit-‐ genommen. Dann löscht hypnotische Müdigkeit mein Denken aus. Mit einem letzten Ge-‐ danken gehe ich zu Bett: Wer bin ich, wenn meine Eigenschaften nicht vorhanden sind? Das Ich und die Leerheit der Erscheinungen Manchmal vergehen die Minuten wie Stunden. Dann erlebe ich die Zeit als eine sich aus-‐ dehnende Blase, in deren Zentrum ich mich befinde, ohne den geringsten Einfluss auf das der Zeit unterworfene Erleben haben Unerträglich langsam und schmerzhaft ruhig beginnt die Yogini einzuheizen. Ich vermag meine innere Stimme nicht zum Schweigen zu bringen, die mir penetrant zuflüstert, dieser Handgriff und jener könnte schneller und effizienter gemacht werden. Warum trödelt sie herum? Das Feuer würde schon längst brennen, wenn ich es gemacht hätte. Ich sitze unruhig da und warte. Worauf? Was will ich? Umständlich wischt sie sich den Ruß von den Fingern. Sie hat einen sicheren Blick für meine psychischen Spannungen. Ich habe dann eine dunkle Wolke um mich, sagt sie. Das ärgert mich. Meistens hat sie Recht damit. Sobald ich mich in diesem Zustand befin-‐ de, muss ich aufpassen. Lehne ich ihn ab, lehne ich mich ab. Lehne ich mich ab, dehnt sich diese seltsame Blase der Zeit noch weiter aus. Dann versinke ich in einem orientie-‐ rungslosen Zeit-‐Raum wie in einem kosmischen Schwarzen Loch, das alles Licht ver-‐ schluckt. Heute ist ein trüber Tag. Beide haben wir uns mit diesem und jenem beschäftigt. Jetzt ist es Zeit für das tägliche Kochritual. Die Lama-‐Frau hat einen Topf mit Wasser gefüllt. Sie entfernt zwei Ofenringe und stellt den Topf über das Feuer. Sie wird Hörnchen nudeln kochen, die ich dann für unser Abendessen weiterverarbeiten werde. Umständlich zün-‐ det sie drei Kerzen an. Das erste Streichholz erlischt. Das zweite bricht beim Anstreichen ab. Das dritte verbrennt ihr beinahe die Finger, weil es abgebrannt ist, bevor die Kerze 86 brennt. Mit dem vierten gelingt es ihr, die erste Kerze anzuzünden. Die beiden anderen sitzen nicht fest im Halter und fallen herunter. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Rhythmus des Lebens auf der Hütte vom Anzünden und Erlöschen der Kerzen struk-‐ turiert wird. Inzwischen habe ich den Widerstand gegen meine dunkle Wolke aufgege-‐ ben. Als alles so ist, wie es offenbar sein soll, faltet die Yogini ihre Hände im Schoß. Mit geneigtem Kopf schaut sie mich von unten her an. Ein fragender und zugleich wissender Blick gleitet über mich hinweg. Sie wartet. Ich auch. Warten wir wirklich? Das ist keines-‐ falls gewiss. Als das Wasser kocht, habe ich mich wieder in den Zustand meiner gewohn-‐ ten Harmonie eingependelt. "Wer bin ich", beginne ich zu fragen, "wenn meine Eigenschaften lediglich immer wieder vorübergehende Wechselwirkungen von Skandhas sind? Bin ich eigentlich vorhanden? Ist überhaupt irgendetwas in mir vorhanden?" Göden Marpa streift mich mit einem mitfühlenden Blick, bevor sie sagt: "Dein Problem hängt mit dem Verständnis des Vorhandenseins zusammen." "Aber ja, sicher. Das meine ich. Bin ich vorhanden oder nicht vorhanden?" "Wenn du mit Vorhandensein die Idee eines unveränderlichen Vorhandenseins meinst, muss ich dir sagen, dass du nicht vorhanden bist. Wenn du aber das Vorhandensein als dynamische Wechselwirkungen verstehst, dann bist du natürlich schon vorhanden." "Soweit kann ich das verstehen. Aber du sagst damit, dass mein Vorhandensein von der Dauer einer Wechselwirkung abhängt." "Das ist wahr. Alles hängt von der Dauer der Wechselwirkungen ab." "Wie kann das sein", will ich genauer von Marpa wissen. "Ich erfahre mich doch als be-‐ ständig." "Als beständig erfährst du dich?" Göden Marpa atmet tief und hörbar aus. "Diese Erfah-‐ rung kommt dadurch zustande, weil du unbewusst und völlig automatisch mit jeder Wechselwirkung identifiziert bist. Du kannst nicht sehen, wie du von einer Wechselwir-‐ kung zu einer anderen gleitest, wie die eine in die andere übergeht. Was habe ich dir ge-‐ sagt? Jede Erfahrung beruht auf Skandhas. Demnach ist die Erfahrung deiner selbst und die damit verbundene Idee der Kontinuität in Form eines Ich ebenfalls das Resultat der wechselwirkenden Elemente der Erfahrung: den Skandhas." … Inzwischen sind die Nudeln fertig. Wir unterbrechen das Gespräch, damit ich kochen kann. Als ich den Bauernschrank im Vorraum öffne, um Wurst und Gewürze herauszu-‐ nehmen, sehe ich, dass die Lebensmittel angenagt sind. Ich kann mir nicht erklären, wie die Mäuse in den geschlossenen Schrank hineingekommen sind. Das ist neu. Das ist läs-‐ tig. Ich schiebe den Schrank von der Balkenwand weg und sehe, dass sich die Tierchen 87 an einer Stelle wo das Holz am dünnsten ist, durchgenagt haben. Ich gehe in die Werk-‐ statt, klopfe eine Konservendose flach und nagele sie über diese Stelle. Mir bereitet es kein Unbehagen, die angenagten Sachen zum Kochen zu verwenden. Auch der Yogini macht das nichts aus. Ich schneide Putenwurst in kleine Würfel, zerstoße schwarzen Kümmel, den ich mit Kräutern der Provence mische. Dann brate ich die Hörnchen nudeln in Kochbutter an, gebe die Wurst und die Gewürze dazu. Das Ganze brate ich so lange durch, bis die Nu-‐ deln goldbraun geworden sind. Das Essen ist fertig. Wir setzen uns zu Tisch. Die Pfanne steht in der Mitte. Mit einer Handbewegung bedeute ich Marpa, sich zu bedienen. Da-‐ nach nehme ich mir. Jeder von uns isst von einem Bauernteller mit Blümchenmuster. Durch den Dampf der heißen Nudeln beschlägt der Krug mit dem frischen Wasser, das ich vorher vom Brunnen geholt habe. Nach diesem Abendmahl gehen wir nach draußen. Die Wolken haben sich verzogen. Es ist kühl und bereits dunkel. Unpersönlich glitzert der Abendstern. In Decken gehüllt set-‐ zen wir unseren Dialog fort. "Ja, ja – das Vorhandensein deiner Existenz", nimmt Marpa den Faden des Gesprächs auf. "Du möchtest sicher sein, dass es dich gibt. Wer bist du, wenn du nicht vorhanden bist? Die meisten Menschen haben dieses Problem nicht. Sie kämen nicht auf die Idee, eine solche Frage zu stellen. Jemand hat einmal gesagt: Die Menschen essen, scheißen und vögeln und sind damit zufrieden. Diejenigen, die Geld haben, tun es unter Bedingungen, die teuer sind; aber sie tun im Wesentlichen das Gleiche wie diejenigen, die wenig Geld haben." Die Yogini lacht. "Als kritische Buddhistin sage ich dir: Du existierst nicht sub-‐ stanziell, sondern dynamisch. Deshalb kannst du dich nur in Form von Wechselwirkun-‐ gen verstehen. Sie sind leer." "Wie kann ich dieses Leer sein meiner Existenz verstehen? Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Was sagt mir das, dass ich leer bin? Das macht für mich keinen Sinn." "Sicher bringt es dir nichts, wenn du dir sagst, dass du leer bist. Das sind nur bedeu-‐ tungslose Worte. Versuchen wir es mit einem Beispiel. Das anschaulichste Beispiel für die Leerheit ist für mich die Praxis eines Sand-‐Mandalas. Vielleicht hast du schon davon gehört oder eines gesehen. Es besteht aus Milliarden feinster farbiger Sandpartikel, die in einem schöpferischen Prozess so zueinander in Beziehung gebracht werden, dass eine visuelle Wechselwirkung entsteht. Ist ein solches Gebilde fertig, wird es später rituell zerstört. Die Wechselwirkungen der farbigen Sandpartikel werden aufgelöst. Jetzt frage dich: In welcher Form ist so ein Sandmandala vorhanden? Es existiert nicht aus sich selbst heraus, es existiert auch nicht beständig, es existiert nicht unabhängig und es exis-‐ tiert nicht dauerhaft. Wenn du die Erscheinungsform eines Sandmandalas genau analy-‐ sierst, wirst du wieder die Wechselwirkungen der Skandhas finden." 88 "Aber das zeigt uns doch", meine ich darauf hinweisen zu müssen, "dass diesen Wech-‐ selwirkungen ein Konzept zugrunde liegen muss. Von selbst können sich die Sandparti-‐ kel nicht zu einem Mandala ordnen." "Genau so ist es auch", bestätigt Göden Marpa. "Was meinst du, wie das Konzept in die Wechselwirkung kommt?" "Das hat mit einer Zufuhr von Information zu tun. Dem Sandmandala wird im Prozess des Gestaltens Information zugeführt, und zwar so, dass die Sandpartikel nicht wahllos ausgeschüttet, sondern sorgfältig ausgewählt und an bestimmten Orten positioniert werden." Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens sagt die Yogini: "So ist es. Im Vorgang des Gestaltens wird die Beziehung der materiellen Sandpartikel unter Zufuhr von Informati-‐ on gestaltet. Was fällt dir dazu ein?" "Mir fällt auf, dass die Beschreibung wieder zur Wechselwirkung der Skandhas zurück-‐ führt." "Das meine ich auch", sagt Marpa. "Ist ein Sandmandala nun vorhanden oder nicht?" "Aufgrund unserer Überlegungen kann ich nur sagen, es ist als Wechselwirkung vorhan-‐ den. Und sobald der Sand rituell zusammengekehrt wird, lösen sich diese Wechselwir-‐ kungen auf und das Mandala ist nicht mehr vorhanden." "Das ist die Realität", kommentiert die Yogini meine Antwort. "Das bringt mich wieder zurück zur Idee der Reinkarnation", sage ich. "Reicht es dir immer noch nicht?", fragt sie lächelnd. "Wessen möchtest du dir sicher sein? Ob du wiedergeboren wirst? Oder ob die Sache mit dem Sterben und inkarniert Werden vielleicht doch ganz anders ist? Wonach verlangst du?" "Ich möchte deine persönliche Meinung zur Reinkarnation kennen lernen. Wie sieht dei-‐ ne Erfahrung damit aus?" "Nun ja, Reinkarnation ist ein schlecht durchgekneteter Teig, in dem Tod, Leben, Be-‐ wusstsein und anderes vermengt sind. Manche mögen das. Wenn du die Dinge verstehen willst, musst du sie erst voneinander lösen. Danach kannst du sie wieder zueinander in Beziehung setzen. Vielleicht hast du danach etwas verstanden. Vielleicht nicht. Wenn du die Reinkarnation verstehen willst, musst zu zuerst das Bewusstsein verstehen. Be-‐ wusstsein. Was ist das? Wenn die Psychologen über Bewusstsein reden, meinen sie das Bewusstsein einer Person, also Ich-‐Bewusstsein. In diesem Zusammenhang wird auch vom Unbewussten oder Unterbewusstsein eines Menschen gesprochen. Wenn es ein persönliches Ich-‐Bewusstsein gibt, unterscheidet es sich dahingehend, dass dir mit Si-‐ cherheit andere Dinge bewusst sind als mir. Das gilt ebenso für das, was dir oder mir 89 unbewusst, das heißt nicht bewusst ist. So gesehen haben die Unterschiede des Be-‐ wusstseins mit Inhalten zu tun, die jemandem bewusst oder nicht bewusst sind. Sie be-‐ treffen aber nicht das Bewusstsein selbst. Das ist das Erste, was du deutlich erkennen musst. Vielleicht kannst du dir das, was ich meine, mit einer Metapher veranschaulichen. Stelle dir vor, Wasser ist Bewusstsein. Jetzt füllst du Wasser in ein Bierglas und in ein Weinglas. Nun könnte man sagen, Wasser erscheint in zweierlei Formen: in einer Bier-‐ glasform und in einer Weinglasform. Das Wasser selbst bleibt davon unberührt. Es ist in beiden Fällen dasselbe." "Interessant", sage ich. "Diese Metapher möchte ich weiter ausführen, weil sie mir even-‐ tuell beim Verstehen hilft. Nehmen wir an, du bist das Weinglas und ich bin das Bierglas. Jetzt sagen wir, dass das Weinglas ein Ich hat und das Bierglas auch. Dann füllen wir in beide Gläser Wasser, das dem Bewusstsein entspricht, und folgern: Es gibt ein Weinglas-‐ Ich-‐Bewusstsein und ein Bierglas-‐Ich-‐Bewusstsein. Und wir sagen dann, dass dein Weinglas-‐Ich-‐Bewusstsein ein anderes ist als mein Bierglas-‐Ich-‐Bewusstsein. Tatsäch-‐ lich ist es aber so, dass sich das so genannte individuelle Ich-‐Weinglas-‐Bewusstsein vom Ich-‐Bierglas-‐Bewusstsein gar nicht unterscheidet, weil es sich in beiden Fällen um das-‐ selbe Bewusstsein handelt." "Damit hast du etwas Wesentliches gesagt." "Kann ich daraus schließen, dass es zwischen den Menschen keine Unterschiede in de-‐ ren Bewusstsein gibt? Dass wir es lediglich mit Unterschieden von Bewusstseinsinhalten zu tun haben?" "Das meine ich", bestätigt Göden Marpa. "Gehen wir jetzt einen Schritt weiter. Stell dir vor, du gehst über dieses individuelle, auf eine Person bezogene Bewusstsein und Un-‐ bewusstsein hinaus. Wo kommst du hin? Du kommst zum überindividuellen, zum trans-‐ personalen Allbewusstsein. Dieses Bewusstsein kannst du dir als Summe aller persona-‐ len Bewusstseinsformen vorstellen. Aber das ist natürlich nur ein Trick. Denn dieses Allbewusstsein ist nichts anderes als das eine unteilbare Bewusstsein selbst." "Ich sehe jetzt folgenden Zusammenhang", sage ich darauf. "Wenn unser individuelles Ich – wie in der Metapher von vorhin – der individuellen Form eines Gefäßes entspricht, dann inkarniert sich das Allbewusstsein im Ich und nimmt dessen Form an." "Wenn man der Metapher folgt, könnte man es so ausdrücken. Trotzdem ist es falsch." Diese Antwort habe ich nicht erwartet. "Was ist falsch?", frage ich deshalb. "Schaue dir den Kern der Aussage an: Das Allbewusstsein inkarniert sich im Ich. Fällt dir etwas auf?" "Nein." "Wirklich nicht?", insistiert die Yogini. 90 "Nein", sage ich wieder. "Diese Aussage ergibt sich ja aus dem, was wir vorher gesagt haben." "Mag sein, falsch ist sie trotzdem. Es wird nämlich zweierlei unterstellt: Eine Trennung zwischen Allbewusstsein und Ich sowie das Vorhandensein eines Ichs, in das hinein sich etwas inkarnieren könnte." "Ja, jetzt sehe ich, was du meinst." "Gut. Und wo beginnt der Irrtum? Er beginnt bei der Metapher, einem Bild, das eine Trennung zwischen den beiden Gläsern und dem Wasser vorgibt. Diesem Bild entspre-‐ chend hast du völlig zu Recht gefolgert, dass sich das Allbewusstsein im Ich inkarnieren würde." "Du hast mir eben gezeigt, dass es nicht so simpel sein kann. Man stolpert eben allzu leicht in die Schlaglöcher der Sprache, wenn man auf der frostigen Straße des Denkens unterwegs ist. Aber wie lässt sich dieser Fehler auflösen?" "Was hast du jetzt gelernt? Ich habe dir gezeigt, wie schnell man mit einer passenden Metapher, mit der die Erfahrungswelt unserer Sinne angesprochen wird, zu falschen Vorstellungen über die Wirklichkeit gelangt. Was ist Bewusstsein? Dieses Wort spukt wie ein Gespenst in allen Bereichen des menschlichen Lebens herum. Die Erklärungs-‐ versuche, die ich kennen gelernt habe, konnten mich nicht überzeugen. Es hat den An-‐ schein, als würde man mit Worten, die nichts bedeuten, andere Worte erklären, die ebenfalls nichts bedeuten. Wenn man genügend viele solcher Worte benutzt hat, sieht es danach aus, als hätte man etwas Bedeutsames gesagt. In einem alten tibetischen Text heißt es: Lasse deinen lichten Geist nicht betören durch törichtes Geschwätz. Was kön-‐ nen wir tun? Meditieren. Und was kannst du beim Meditieren über das Bewusstsein er-‐ fahren? Ich sage es dir. Du erfährst Wahrnehmung. Bewusstsein ist Wahrnehmung. So-‐ bald du das erkannt hast, weil du es erfahren hast, kannst du auf das Wort Bewusstsein verzichten. Was, meinst du, ist sprachlich gesehen der Unterschied zwischen Bewusst-‐ sein und Wahrnehmung?", fragt Marpa herausfordernd. Die Antwort fällt mir leicht. "Wahrnehmung ist ein Vorgang. Mit Bewusstsein verbinde ich eher die Vorstellung von etwas Vorhandenem, etwas, was da ist. Man hat es oder man hat es nicht. "Genau. Auf diesen Unterschied kommt es mir an. Wenn wir nun das so genannte Ich-‐ Bewusstsein einer Person über den Vorgang des Wahrnehmens beschreiben, erhalten wir diesen Zusammenhang: Ein Mensch nimmt an sich selbst etwas wahr, das er als Ich bezeichnet, weil er sich mit dem Wahrgenommenen identifiziert, weil er daran festhält." "Das macht Sinn. Ich kann es jedenfalls sofort an mir selbst nachvollziehen." … 91 Über unseren Köpfen huschen kleine dunkle Schatten vorbei. Fledermäuse. Sie nisten in einem Hohlraum unter dem Dach. Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit welchen Lebewesen wir unsere Anwesenheit in der Hütte teilen. Diese Lebensgemeinschaft be-‐ steht aus Holzwürmern, Holzwespen, Wespen, Stubenfliegen, Mäusen, Wühlmäusen, Fledermäusen, Eidechsen, Pfauenaugen, Spinnen, Asseln. Anfangs hat mich das gestört. Manchmal sogar geekelt. Inzwischen sehe ich es so, dass ich in diesem Lebensnetzwerk nur eines von vielen Wesen bin. Wir leben unabhängig voneinander und lassen uns in Ruhe. Nur mit den Mäusen ist es anders, weil sich deren Lebensinteressen in bestimm-‐ ten Belangen mit unseren überschneiden. Irgendwo schreit ein Käuzchen. Mir ist plötz-‐ lich kalt. "Gehen wir in die warme Küche", schlage ich der Yogini vor. Der Wasserkessel am Herd singt leise vor sich hin. Ich brühe eine Mischung aus Küm-‐ mel-‐, Anis-‐ und Fencheltee auf. Zwanzig Minuten später gieße ich das goldgelbe Getränk in unsere Tassen. "Anstatt von Bewusstsein reden wir jetzt von Wahrnehmung", beginne ich das Gespräch fortzuführen. "Das Ich-‐Bewusstsein ist deshalb ein Wahrnehmen meines Ich. Dieses Wahrnehmen ist ein Prozess, ein Ereignis. Aber was wird dabei wahrgenommen? Was ist das Ich, das wahrgenommen wird?" "Sag es mir", sagt Marpa und versucht von ihrem Tee zu schlürfen. Sie verzieht das Ge-‐ sicht. Er ist noch zu heiß. "Was ist das Ich?", wiederhole ich meine Frage. "Es ist eine Komposition aus Empfin-‐ dung, Gefühl, Beobachtung, Denken, Sprache, Emotion und Wahrnehmung, eine Kompo-‐ sition der Skandhas, den Elementen der Erfahrung. Stimmt das?" "Du bist dem, worauf es ankommt, sehr nahe gekommen. Was sagt uns das? Dass es nir-‐ gendwo ein Ich gibt, das in irgendeiner Weise vorhanden sein könnte. Was wir Ich nen-‐ nen, ist eine Wechselwirkung von Bedingungen, eine Wechselwirkung eben jener Ele-‐ mente der Erfahrung, die du eben beschrieben hast." "Das freut mich. Aber warum habe ich den Eindruck, dass mein Ich eine stabile und kon-‐ tinuierliche Existenz ist?", frage ich skeptisch weiter. "Diesen Eindruck hast du deshalb, weil du die Instabilität der Veränderlichkeit der Wechselwirkungen nicht wahrnimmst." "Damit sagst du: Ich habe die Erfahrung eines kontinuierlichen und stabilen Ich nur des-‐ halb, weil ich nicht wahrnehme, dass es nicht stabil ist." "Ja, das habe ich gesagt", antwortet die Yogini ungerührt. Wenn ich etwas nicht verstehe, was ich verstanden zu haben meine, fühle ich eine mir sehr unangenehme disharmonische Spannung. So ist es jetzt. "Marpa", entgegne ich des-‐ halb bestimmt: "Ich erfahre mich als beständig. Habe ich diese Erfahrung aufgrund einer 92 Wahrnehmung, bei der ich mein wirkliches Ich nicht wahrnehme? Das ist völlig paradox. Ich kann es nicht verstehen." Sie lacht. "Das hast du sehr geschickt gesagt. Doch es stimmt." "Was stimmt? Dass ich mein Ich wahrnehme, weil ich es nicht wahrnehme?" "Auch wenn es dir verrückt erscheint – so ist es. Die Paradoxie löst sich auf, sobald du die Dynamik der Wechselwirkungen der Skandhas erfährst, die zu deiner Ich-‐Erfahrung führen." Das Empfinden der disharmonischen Spannung hat sich gelöst. Habe ich jetzt mein Ich verstanden? Ich frage weiter. "Was erfahre ich dann? Erfahre ich, dass ich kein Ich ha-‐ be?" "Du erfährst, dass dein beständig scheinendes Ich eine Illusion ist. In der Auflösung die-‐ ser Illusion erfährst du dich als dynamische Wechselwirkung, in der du ein Entstehen und Vergehen bist. Die Zerstörung deiner Ich-‐Illusion ermöglicht dir völlig andere Erfah-‐ rungen und Einsichten deiner selbst." Der heiße Tee ist inzwischen abgekühlt. Jetzt kann ich ihn trinken ohne mir die Lippen zu verbrennen. Angenehm heiß spüre ich ihn die Speiseröhre hinunter in den Magen rinnen. Auch die Yogini schlürft besonnen. Über den Rand der Tasse hinweg sieht sie mich an. Ich schaue weg auf die schwarze Fensterscheibe, in der sich die brennenden Kerzen spiegeln. Draußen fliegt ein fettes Insekt immer wieder gegen das Glas, was jedes Mal ein sanftes Klirren erzeugt. Jetzt kriecht es über die Scheibe und vibriert sirrend mit den Flügeln. Die Unterseite seines Körpers ist pelzig ockerfarben mit einem leichten Orangeton. Plötzlich ist es in die Dunkelheit entschwunden. Marpa und ich sagen uns gu-‐ te Nacht. … Nach einem unruhigen Schlaf erwache ich früh. Der Blick aus dem Fenster stimmt mich trübe. Nebelig verwaschenes Grau verschluckt die Konturen und lässt die Landschaft als ein Aquarell ausgebleichter Farben erscheinen. Nasse Geräusche vertonen das Bild. Von der Dachrinne tropft es in unregelmäßigen Intervallen. Es rhythmisiert meine Gedan-‐ ken; formt sie zu einer Grammatik skurriler Erkenntnis. Ein winziger Käfer läuft von rechts nach links über das staubige Brett unterhalb des Hüttenfensters, auf dem einige Dinge liegen. Für ihn muss dieser Weg eine beschwerliche Reise in einem seltsamen Ozean von Hindernissen sein. Er pflügt sich durch. Nachdenklich schaue ich ihm zu. Inzwischen hat es aufgehört zu tropfen. Auch der Käfer ist verschwunden. Meine Gedan-‐ ken bewegen sich weiter und gehen eigene Wege. Ich lasse es geschehen. Manchmal füh-‐ ren sie mich an Orte, die aus unerwarteten Verknüpfungen isolierter mentaler Splitter 93 bestehen, die sich überraschend zu einem Bild fügen. Wenn es mir gelingt, diesen Pro-‐ zess nicht durch willkürliche Gedanken zu stören, empfange ich ein Geschenk. Ich befinde mich in einem seltsamen Zustand. Meine Energie ist im Kopf konzentriert. Zugleich fühle ich mich durchsichtig wie Glas. Meine Wahrnehmung ist zentriert und ausgedehnt zugleich. Dann taucht für einen Moment ein Gedankenbild auf wie ein heller Sonnenstrahl, der sich durch die schattige Kammer bewegt, Teile davon aufleuchten lässt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Was sehe ich? Das Ich kann sich nicht in-‐ karnieren. Es ist eine psychologische Gestalt, die aus den Skandhas Empfinden, Gefühl, Emotion, Sprache, Beobachtung und Wahrnehmung gebildet wird. Das einzig Beständi-‐ ge, nicht dem Wandel dieser Elemente des Erfahrens Unterworfene ist die Wahrneh-‐ mung. Das Ich ist nicht von Dauer. Wahrnehmung schon. Als Göden Marpa und ich wieder zusammensitzen, sage ich ihr: "Ich habe eingesehen, dass es sinnvoller ist, Bewusstsein als Wahrnehmung zu verstehen. Ich habe auch begrif-‐ fen, dass mein Ich ein Festhalten an bestimmten Erfahrungen und damit verknüpften Er-‐ innerungen ist, die ihrer Natur nach entstehen und vergehen. Was ich nicht verstehe, aber sehr interessiert finde, ist der mögliche Zusammenhang von Ich, Wiedergeburt und Karma." Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut sie mich fragend an. "Du hast dir ein komplexes Thema ausgesucht. Fangen wir damit von vorne an." "Das ist mir sehr recht", meine ich, froh darüber, dass sie bereit ist, sich darauf einzulas-‐ sen. "Ich möchte verstehen können, was es damit auf sich hat." "Als Erstes musst du wissen, dass Verstehen mit Einsicht zu tun hat. Andernfalls ist es abgehoben und nicht in dir verankert. Im Buddhismus", fährt sie fort, "gibt es keine Vor-‐ stellung von Seele. Das Tibetische hat nicht einmal ein Wort dafür. Das schließt die Idee aus, dass du als seelische Existenz wiedergeboren werden könntest. Aber genau diese Idee liegt ja der Annahme von Wiedergeburt bei all denen zugrunde, die vage meinen, dass die Seele irgendein Vorhandensein wäre und einen Körper bewohnen würde. Dann gibt es seelische Archetypen, Seelenfamilien, Seelenalter und all diesen Unsinn, der den Leuten vermittelt wird und den manche auch glauben." "Aber", widerspreche ich der Lama-‐Frau, "wie kann das sein? Es ist doch offensichtlich so, dass die Buddhisten an Wiedergeburt glauben. Ich sehe in dem, was du sagst, einen Widerspruch." "Dieser scheinbare Widerspruch rührt daher, dass sich niemand die Mühe macht zu ver-‐ stehen, wie die Dinge sind. Das ist keineswegs einfach zu verstehen. Höre genau zu: Was in eine andere Existenz übergeht, ist nicht dein Ich, nicht deine Seele, sondern ein Im-‐ puls." 94 "Aber das Wort Impuls scheint mir in diesem Zusammenhang ebenso unklar zu sein wie das Wort Seele", erwidere ich skeptisch. "Dann müssen wir sehen, wie wir diesen Begriff definieren und du ihn dir zu Eigen ma-‐ chen kannst. Was ist ein Impuls? Zunächst wollen wir unterstellen, dass damit ein reales Phänomen benannt wird. Ich gebe dir ein einfaches Beispiel: Wenn du zornig bist und mit der Hand unbeherrscht auf den Tisch schlägst, würde man dich umgangssprachlich vermutlich als impulsiv bezeichnen. Was ist in diesem Augenblick geschehen? Was ge-‐ nau hat sich ereignet? Du hast aufgrund eines heftigen inneren Bewegt Seins psychi-‐ scher Energie eine Richtung gegeben. Du hast die psychische Energie in Bewegungs-‐ energie umgesetzt und sie durch dein Schlagen auf den Tisch übertragen. Was haben wir nun? Wir haben ein Ereignis. Eine Wechselwirkung. Sie besteht aus Energie, Richtung und Übertragung. Jetzt können wir einen Impuls als gerichtete Energie definieren, die übertragen wird. Wir haben uns ein Verständnis dieses Begriffs erarbeitet. Kannst du folgen?" "Ja, durchaus", antworte ich der Yogini. "Ich bin sehr überrascht, wie es dir gelungen ist, derart anschaulich und direkt zum Kern der Sache vorzudringen. Das ist faszinierend." "Die Faszination bringt dich nicht weiter. Führen wir die Überlegungen fort. Gehen wir der Frage nach: Wie ist meine Aussage zu verstehen, dass nicht die Seele, sondern ein Impuls in eine spätere Existenz übergeht." "Ich verstehe sie so, dass Reinkarnation eine gerichtete Übertragung von Energie ist." "Dem kann ich zustimmen", antwortet Marpa und macht mit dem Kopf andeutungsweise Bewegungen in Form einer liegenden Acht. Diese Gewohnheit irritiert mich nach wie vor, weil sie mir einen Ausdruck von Zweifel vermittelt. Dabei ist das Gegenteil der Fall: In Tibet drückt man auf diese Weise ein Ja aus. Ihre Zustimmung ermuntert mich zu sagen: "Ich möchte diese Überlegungen weiterfüh-‐ ren, um zu sehen, wo sie hinführen. Was für eine Energie wird übertragen? Meine psy-‐ chische Energie kann es nicht sein. Wir haben ja erkannt, dass sich das Psychische beim Sterben auflöst, weil es nur als Wechselwirkung zwischen Welt und Gehirn existiert. Wenn das zornige Schlagen auf den Tisch ein Übertragen psychischer Energie ist, würde ich annehmen, dass es sich nicht um meine Energie, sondern um die Energie selbst han-‐ delt, die ein Aspekt des Universums ist. Diese universale Energie wäre im Vorgang des Schlagens mit einem persönlichen Motiv verbunden. Es könnte also das Motiv sein, durch das die Energie gerichtet und übertragen wird." "Du bist soeben zu einer interessanten Schlussfolgerung gekommen. Aber nun stelle ich dir eine Frage: Was meinst du mit Energie, wenn du von psychischer Energie sprichst?" Ich denke nach. Dabei erinnere ich mich an Situationen, in denen ich mich angestrengt und schwere Balken geschleppt habe. Das veranlasst mich zu antworten: "Energie ist 95 was gebraucht wird, damit eine Arbeit verrichtet werden kann. Aber das Wort Arbeit ist zu einschränkend damit verbunden, was Menschen tun. Ich möchte es deshalb noch mit einer Verallgemeinerung versuchen. Energie ist was gebraucht wird, damit ein Prozess stattfinden kann. Diese Definition ist umfassender. Man kann sie auf jede Form von Ar-‐ beit und auf jeden Vorgang im Universum beziehen. Damit würden wir uns auch von den irreführenden Vorstellungen befreien, die physikalische, psychische oder geistige Ener-‐ gie suggerieren. Entweder haben wir es mit Energie zu tun oder nicht. Ist es nicht so?" Ich schaue Marpa an. Ihr Gesicht drückt weder Zustimmung noch Ablehnung aus. "Wenn irgendein Vorgang", spreche ich weiter, "sei er physikalisch, chemisch, elektrisch oder mental, Energie benötigt, dann ist die Energie, die den diversen Prozessen zugrunde liegt, dieselbe." "Das ist radikal gedacht", schaltet sich die Yogini wieder ein. "Ist dir bewusst, was du damit sagst? Die Energie in einer Atombombe ist dieselbe wie die Energie, die du zum Holzhacken oder zum Schreiben von Gedichten brauchst." "Dem muss ich zustimmen, auch wenn es sich vorerst seltsam anhört", sage ich und füh-‐ le mich verunsichert." Trotzdem ahne ich, dass ich mit der Einheit der Energie auf dem richtigen Weg bin, auch wenn ich vorerst keine Antwort auf Göden Marpas Argument habe. Einige Stunden spä-‐ ter, als ich wieder eine tote Maus entsorgen muss, fällt mir die Antwort ein, die schon die ganze Zeit über darauf gewartet hat, erkannt zu werden. Zur Yogini gewandt, die ihre Gartenarbeit beendet hat und nun auf der Hüttenbank sitzt, sage ich: "Der Unterschied in der Energie einer Atombombe und der Energie, die man zum Schreiben von Gedichten benötigt, liegt in der Wirkung." "Du sagst, die unterschiedliche Verwirklichung von Energie zeigt sich in deren Wirkung. Sie kann sich zerstörerisch auswirken, sie kann sich heilsam auswirken. In beiden Fällen ist es dieselbe Energie." "Ja, so muss es sein", sage ich bestimmt. "Ich sehe darin keinen Widerspruch zur Reali-‐ tät." Die Stimme der Yogini scheint von weit her zu kommen, als ich sie sagen höre: "Die Energie, die deiner Existenz zugrunde liegt, löst sich beim Sterben nicht einfach in nichts auf. Sie trennt sich nur von ihrer Gebundenheit an deinen Körper." Irritiert benötigte ich einige Zeit, um mich auf diesen Gedankensprung einlassen zu kön-‐ nen. Als ich so weit bin, erwidere ich: "Das mag schon sein. Trotzdem sehe ich im Kreis der Zusammenhänge immer noch viele offene Stellen. Mir fällt etwas ein, was in diesem Zusammenhang vielleicht wichtig sein könnte. Dein Beispiel vom zornigen Schlagen hat mich auf die Idee gebracht: das Motiv. Die Energie wird durch das Motiv des Zornig Seins in die motorische Aktivität des Schlagens geleitet und auf den Tisch übertragen. Ohne Motiv wäre das nicht geschehen. Kann man daraus folgern, dass jeder Vorgang im 96 menschlichen Leben Energie benötigt, die mit einem Motiv verbunden ist? Energie ohne Motiv ist keine gerichtete Energie. Und wenn die Energie ohne Richtung ist, wird sie nicht übertragen. Wenn sie aber nicht übertragen wird, bewirkt sie nichts und es ent-‐ steht kein Prozess. Wäre es denkbar, dass in der Reinkarnation das Motiv in eine neue Existenz übergeht? Aber woher kommt das Motiv, falls es so ist? Wer hat beim Übergang von diesem Leben in ein anderes ein Motiv?", frage ich zweifelnd. "Natürlich musst du dich das fragen, solange du bei einem Motiv von der Annahme aus-‐ gehst, dass dafür das Ich einer Person nötig ist. Aber ist das so? Ist ein Motiv derart ein-‐ geschränkt auf eine Person bezogen? Wenn du als Ich ein Motiv haben kannst, dann des-‐ halb, weil das Universum voller Motive ist. Das Universum ermöglicht es dir, Motive zu haben." "Es ist also nicht das Motiv einer Person, das von einem Leben in ein anderes übergeht?", frage ich überrascht. "Selbstverständlich nicht. Das Motiv einer Person kann es nicht sein. Wir haben ja be-‐ reits erkannt, dass sich die Person beim Sterben auflöst." "Eben deshalb frage ich ja, woher das Motiv kommt." Göden Marpa ist eine Weile schweigend in sich gekehrt, bevor sie weiterspricht. "Wo bleibt deine schöpferische Intuition? Vielleicht findest du die Antwort selbst." Aus den unerforschten Schluchten meines nicht wahrgenommenen Wissens taucht ein kühner Gedanke auf. "Könnte es sein", sage ich, "dass es die Motive des Universums sind, die sich zu individuellen menschlichen Handlungs-‐, Erlebens-‐ und Erkenntnisformen in-‐ karnieren?" "Aha ...", sagt die Yogini gedehnt. "Jetzt hast du etwas Wichtiges gesagt." Inzwischen habe ich so viel Tee getrunken, dass ich dringend hinausgehen muss, um mich zu erleichtern. Draußen empfängt mich eine rabenschwarze Nacht. Erst jetzt mer-‐ ke ich, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Die Milchstraße funkelt. Zwischendrin blinken die Positionslichter eines Flugzeugs. Sein Ziel ist bekannt. Das Ziel unseres Ge-‐ sprächs gleicht eher einem Blindflug ohne Wissen darum, ob es überhaupt irgendwo an-‐ kommen wird. Die Unterbrechung hat meine Gedanken abgekühlt. Eine Erinnerung kommt mir in den Sinn. Vor vielen Jahren, als ein mir wichtiger Mensch starb, wachte ich um drei Uhr früh mit einem stechenden Schmerz im Gehirn auf. Einige Tage später erfuhr ich, dass der Be-‐ treffende in jener Nacht, um diese Zeit, an einem Gehirnschlag verstorben war. Ich er-‐ zähle es Marpa und frage sie: "Lässt sich dieses Erleben mit unseren bisherigen Überle-‐ gungen zusammenbringen?" 97 "Na ja – wir können jedenfalls sagen, dass das Leben selbst keine Probleme damit gehabt hat, dieses Erlebnis zustande zu bringen. Einem Praktiker würde das reichen. Er erkennt über sein Erfahren und verlangt nicht nach Erklärungen. Wir machen morgen weiter", sagt sie abrupt und geht in ihre Kemenate. Oben höre ich sie noch hin und her gehen. Dann ist es ruhig. Hin und wieder knarzt ein Balken. Nachdem ich mir die Spuren der gedanklichen Bewegungen des heutigen Tages notiert habe, gehe ich mit einem unbehaglichen Gefühl, dass meine Zweifel an der Rein-‐ karnation doch nicht ausgeräumt worden sind, zu Bett. Oder habe ich die Antwort sogar bekommen? Liegt sie irgendwo meiner Einsicht verborgen zwischen Wahrnehmung, Energie und Motiv? In den nächsten Tagen muss ich meinen Aufenthalt vorübergehend beenden. Die Zwän-‐ ge meines freiberuflichen Gelderwerbs zwingen mich dazu. Es wird einige Zeit vergehen, bis ich Göden Marpa wieder sehen werde. Zwischendurch -‐ eine banale Erkenntnis Ende Oktober und ein Tag ohne Sonne. Mit schwerem Gepäck quäle ich mich den steilen Hang zur Hütte hinunter. Der Boden ist ein pockennarbiges Terrain aus Buckeln und Kuhlen. Im Sommer haben die hier weidenden Kühe die Erde zertrampelt. Jetzt ist die Almsaison vorüber. Die Kühe stehen wieder in den Ställen. Satt gefressen und bereit zum Schlachten. Abgeweidet ist der Hang eine Mischung aus lehmiger Erde und Kuh-‐ dung. Es regnet und riecht intensiv nach Herbst. Der Regen hat einen eigenen Willen, der darin besteht, sich nicht abschütteln zu lassen. Er kriecht ins Mark, breitet sich von in-‐ 98 nen her im ganzen Körper aus. Schwerfällig wie ein vollgesogener Lappen trotte ich vor mich hin. Die Mulden sind mit Wasser gefüllt. Regenbogenfarbige Schlieren schimmern mir entgegen. Dass die Atmosphäre mit Schadstoffen angereichert ist, lässt sich nicht übersehen! Obwohl es kühl ist, beginne ich zu schwitzen. Es ist mühselig, bei jedem Schritt darauf zu achten, den Fuß auf eine Stelle zu setzen, die wegen des aufgeweichten Bodens nicht unter mir nachgibt. Zwischendurch bleibe ich stehen, damit sich mein keuchender Atem wieder beruhigen kann. Lasse die Stimmung auf mich wirken. Über dem Gelände liegt stille Melancholie. Es kommt mir vor, als würde sich die Landschaft sammeln und zur Ruhe kommen wol-‐ len. Als ich wieder normal atme, gehe ich weiter. Der Weg windet sich um Büsche herum, dann führt er in den Wald hinein. Beim Gehen streife ich Wassertropfen von den tief hängenden Ästen der Tannen. Wasser rinnt mir kalt ins Genick. Endlich komme ich aus dem Wald heraus und sehe unter mir die Hütte. Diesmal bin ich allein hier. Göden Marpa ist nach Sikkim in ein befreundetes Kloster ge-‐ reist. Erst zu Beginn des Frühlings wird sie wieder zurück sein. Ich nehme mir vor, die-‐ sen Aufenthalt zu nutzen, um über die vergangenen Gespräche nachzudenken und die nächsten Dialoge vorzubereiten. Wenn ich allein bin, gehe ich mit dem Essen sorglos um. Ich finde es lästig, für mich al-‐ leine zu kochen. Eines Abends esse ich eine Fleischkonserve, deren Verfallsdatum über-‐ schritten ist. Sicher ist sie noch genießbar, denke ich mir. Gegen drei Uhr nachts werde ich wach. Um mich herum ist eine zu Dunkelheit kondensierte Nacht. Wie erlebt man die Symptome einer Fleischvergiftung in einer finsteren kalten Kammer? Allein. Ohne Hilfe. Ich habe das Gefühl zu krepieren. Durch dieses Erlebnis hätte ich lernen können, mit der Nahrung für den Körper genauso kritisch und sorgfältig umzugehen wie mit der Nah-‐ rung des Geistes. Trotzdem ertappe ich mich noch immer dabei, wie ich darüber hin-‐ wegsehe, wenn ein Lebensmittel bereits schimmelig ist. Dann fällt mir mein Vater ein, der immer sagte: "Nur schwarzer Schimmel ist schädlich, den andern kann man essen." Außerdem bin ich zu geizig, verschimmelte Lebensmittel wegzuwerfen. Sparen kann ich nur am Essen. Dabei kommt mir ein Spruch in den Sinn, die ich einmal gehört habe: "Das Geld, das man nicht ausgibt, braucht man nicht zu verdienen." Diese Lebensmittelvergiftung hat mir die Freude am Hiersein gründlich verdorben. So-‐ bald ich mich wieder bei Kräften fühle, packe ich meine Sachen und verlasse den Ort. Vor Ende des kommenden Frühjahrs komme ich nicht zurück. In der Zwischenzeit wer-‐ de ich meine Notizen ordnen und überarbeiten. Ich habe über vieles nachzudenken. Das Universum, die Wahrnehmung, das Bewusstsein und das Licht Nach der langen Pause des Zusammenseins, die den Winter über gedauert hat, sind wir nun wieder gemeinsam auf der Hütte. Göden Marpa wirkt ernster, als ich sie in Erinne-‐ 99 rung habe. Sie ist nach wie vor mit demselben rußigen Gewand mit dem inzwischen ebenso patinierten orangeroten Schal bekleidet, von dem sie sich offenbar nicht trennt. Diesmal trägt sie dazu eine besonders schöne Halskette aus alten Türkisen, Korallen und schwarz geäderten tibetischen Medizinsteinen, zwischen denen filigran gearbeitete sil-‐ berne Totenschädel zu sehen sind. Ein bemerkenswerter Schmuck. Oder ist es mehr? Magisch und ästhetisch zugleich, strahlt diese Kette für mich eine geheimnisvolle Ener-‐ gie aus. Die ersten Tage verbringen wir damit, die Hütte herzurichten. Die Wasserleitung zur Küche funktioniert nicht. Marpa meint, der Zufluss an der Quelle könnte verstopft sein. Ich gehe den Hang hoch, die Quelle suchen. Sie ist schwer zu finden. Irgendwo im Gelän-‐ de, zwischen den verstreut liegenden Felsen, teilweise noch mit Schnee bedeckten Mul-‐ den und dicken Tannenwurzeln ist sie gut getarnt verborgen. Nach einer halben Stunde frustrierenden Suchens habe ich sie schließlich gefunden. Ich räume die schweren Steine beiseite, mit der sie abgedeckt ist, um an die Stelle der Wassereinspeisung heranzu-‐ kommen: ein eingegrabener Schlauch, der in eine in die Erde versenkte Plastiktonne mündet, in die das Quellewasser einfließt. Die Ursache des Problems ist sofort zu sehen. Ein toter Maulwurf steckt in der Leitung und verstopft den Wasserabfluss zur Hütte. Jetzt habe ich ein Problem. Ich ziere mich, mit bloßen Händen den toten Maulwurf anzu-‐ fassen, und Handschuhe habe ich keine dabei. Entweder muss ich den ganzen Weg hin-‐ unter und wieder hinauf und wieder hinunter machen, oder ich überwinde mein Unbe-‐ hagen und entfernte das tote Tier mit bloßen Händen. Ich entscheide mich dafür, den Ekel zu überwinden, und greife hinein in das eisige Wasser. Mit einem schnellen Griff will ich den Maulwurf entfernen. So habe ich es mir vorgestellt. Den Kontakt zur Tierlei-‐ che so kurz als möglich halten. Es stellt sich schnell heraus, dass es nicht so einfach ist, wie ich es mir denke. Die Stelle, an die ich hinlangen muss, ist wegen der optischen Täu-‐ schung des Wasserspiegels viel tiefer gelegen, als ich angenommen habe. Fast bis zur Schulter muss ich eintauchen. Das ist wegen der Eiseskälte des Wassers äußerst schmerzhaft. Ich überwinde mich so gut es geht, aber der Kadaver lässt sich nicht her-‐ ausziehen. Ich schimpfe und fluche und gebe mich hemmungslos meinen Aggressionen hin. Nachdem mein Arm sich an der Luft wieder ein bisschen erwärmt hat, tauche ich nochmals ein. Jetzt bekomme ich das tote Tier zu fassen. Ich drücke den Körper etwas zusammen und ziehe ihn aus der Schlauchöffnung heraus. Dann überkommt mich ein in-‐ tensives Gefühl des Ekels. Voll heftiger Abscheu schleudere ich das Ding von mir. Es dauert ein paar Minuten, bis ich mich wieder beruhigt habe. Pragmatisch gesehen hat sich diese Prozedur jedoch gelohnt. Das Wasser fließt wieder. Als alles wieder so ist, wie es sein soll, will ich den Beginn unserer Dialoge nicht mehr länger aufschieben. Eines Nachmittags sitzen wir wie gewohnt in der Küche. Eine fette Fliege summt und prallt immer wieder gegen die Fensterscheibe. Sie muss einen harten Kopf haben. Nach jedem Zusammenstoß fliegt sie weiter, als wäre nichts geschehen, dreht ein paar bizarre Runden, bis sie – wumms – wieder gegen die Scheibe prallt. Ich will nicht länger warten und stelle der Yogini eine Frage. Anders als sonst antwortet sie 100 nicht. Durch eine abweisende Mimik gibt sie mir zu verstehen, dass sie nicht gewillt ist, sich darauf einzulassen. Das irritiert mich. Offenbar ist sie in einer Stimmung, die ich an ihr noch nicht kennen gelernt habe. Nach einer Weile angespannten Schweigens raffe ich mich dazu auf, nach dem Grund ihres Verhaltens zu fragen. "Du bist verunsichert, wenn etwas nicht gleich so geschieht, wie du es dir vorgestellt hast. Außerdem neigst du dazu, alles auf dich zu beziehen. Dann bekommst du Schuldge-‐ fühle, die dich irritieren. Das ist eine Schwäche, die du überwinden solltest." Einen solchen Anfang habe ich nicht erwartet. Marpa spricht jedoch etwas Wichtiges an. Ich habe es selbst schon erkannt, aber nicht gelöst. Übergangslos fährt sie fort: "Reden wir über Bewusstsein. Schauen wir uns noch einmal an, was damit gemeint sein könnte. Du musst es verstehen, wenn du das Leben, den Menschen und darüber hinaus das Uni-‐ versum begreifen willst." Nachdem sie das gesagt hat kann ich sofort die Disharmonie, die ich vorhin gespürt ha-‐ be, verstehen. Ich habe eine Situation geschaffen, in der ich ohne abzuwarten sofort von meinen Interessen gesprochen habe, ohne in Erwägung zu ziehen, ob die Lama-‐Frau möglicherweise andere Interessen haben könnte. Als ich das erkenne, löst sich die Span-‐ nung und ich fühle mich bereit, mich auf das vorgeschlagene Thema einzulassen. "Wie lässt sich die Erscheinungsform des Bewusstseins beschreiben?", fragt die Yogini. "Bewusstsein ist Wahrnehmung, hast du gesagt", antworte ich. "Das stimmt. Und was wird wahrgenommen? Etwas, das wahrgenommen werden kann, wird wahrgenommen." "Das leuchtet ein", sage ich darauf und fasse zusammen: "Bewusstsein ist demnach das Wahrnehmen von etwas, das wahrnehmbar ist." "Das ist richtig", bestätigt Marpa. "Wenn wir etwas Wahrnehmbares wahrgenommen haben, ist es uns bewusst." "Das hört sich vernünftig an. Trotzdem möchte ich dich fragen: Was ist das Wahrnehm-‐ bare?" "Oh, das ist für mich derart selbstverständlich, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, man könnte es vielleicht nicht verstehen. Das Wahrnehmbare ist alles, was man be-‐ obachten und wahrnehmen kann. Das Wahrnehmbare ist alles, was ist. Anders gesagt, es ist die Gesamtheit des Universums." "Ist das nicht allzu allgemein?", frage ich zurück? "Nun ja, allgemein ist das schon, weil es eben allgemein ist. Was stört dich daran?“ 101 "Ich empfinde keine Störung, sondern nur etwas Skepsis bei der Behauptung, dass die Gesamtheit des Universums wahrnehmbar wäre." "Jetzt verstehe ich dein Unbehagen. Aber so meine ich das nicht. Ich sage nicht, dass die Gesamtheit des Universums wahrnehmbar sei. Was ich sagen möchte, ist: In der Ge-‐ samtheit des Universums gibt es nichts, was nicht auf irgendeine Art und Weise wahr-‐ genommen oder beobachtet werden könnte. Nicht die Gesamtheit wird demnach wahr-‐ genommen, sondern das in dieser Gesamtheit Existierende." "Ja, das kann ich akzeptieren", sage ich darauf. Nach einigem Nachdenken frage ich wei-‐ ter: "Gibt es im Universum nichts Unbewusstes?" "Jetzt führst du einen zusätzlichen Begriff ein, den wir erst einmal definieren müssen. Was versteht du darunter?" "Als unbewusst oder nicht bewusst würde ich etwas bezeichnen, was ich nicht wahrge-‐ nommen habe. Entweder weil es für mich nicht wahrnehmbar war oder weil ich es nicht beachtet habe." "Hm, ja ... so würde ich es auch beschreiben", stimmt Marpa zu und fährt fort: "Wenn et-‐ was Wahrnehmbares wahrgenommen worden und demnach bewusst ist, spricht man im Allgemeinen von einem Bewusstseinsinhalt. Horche jetzt in dich hinein und schau dir an, was die unterschiedlichen Formulierungen Bewusstseinsinhalt und Wahrnehmen des Wahrnehmbaren in dir auslösen. Warum schaust du so verwirrt?", fragt sie lachend. Of-‐ fenbar amüsiert sie sich über meinen Zustand. "Ich habe den Eindruck, dass ich nicht schnell genug mitdenken kann", versuche ich mich zu entschuldigen. "Gut, das macht nichts. Wir haben keine Eile", sagt sie und schaut zufrieden. Eine träge Wolkenformation hat bisher die Sonnenstrahlen davon abgehalten, den Tag anzuwärmen. Endlich löst sie sich auf. Ich hole die Liegestühle und wir setzen uns hinter die Hütte. Von hier haben wir einen herrlichen Blick auf den mit Schnee bedeckten Berg gegenüber. Wir nennen ihn little Keilash. Im Kontrast zur Wärme der Bergsonne ist die Luft angenehm kühl und frisch. Von rechts ist das Plätschern des Brunnens zu hören, von links das beruhigende Rauschen des Wasserfalls. "Du wolltest von mir wissen, welchen Eindruck die beiden verschiedenen Formulierun-‐ gen Bewusstseinsinhalt und Wahrnehmen des Wahrnehmbaren in mir hinterlassen. Ich glaube, dass ich es dir jetzt sagen kann. Bewusstseinsinhalt klingt für mich festgelegt, starr und irgendwie auch materiell. Ich verbinde damit die Vorstellung einer Kiste, in der etwas enthalten ist. Das Wahrnehmen des Wahrnehmbaren dagegen vermittelt mir den Eindruck von Dynamik. Es klingt lebendig, weil sich dabei etwas ereignet." Fragend schaue ich die Yogini an. 102 "Ich würde es ähnlich beschreiben", sagt sie darauf. Inzwischen ist es deutlich wärmer geworden. Es ist angenehm, in den Liegestühlen zu liegen, die Natur zu betrachten und solchen Überlegungen nachzugehen. "Möchtest du einen Mokka trinken?", frage ich Marpa. "Aber sicher, sehr gerne", sagt sie. "Aber wie kannst du hier oben Mokka machen? Wir haben weder den Kaffee, noch die dafür nötigen Utensilien." "Dann habe ich jetzt eine Überraschung für dich", gebe ich zur Antwort und gehe in die Küche. Ich habe von zu Hause den Kaffee und mein Mokkageschirr mitgebracht, eine alte arabische Kanne und zwei kleine Schalen. Das alles hole ich jetzt aus meiner Kammer und stelle es auf den kalten Herd. Ich gebe zwei stark gehäufte Teelöffel fein gemahlenes Kaffeepulver aus Äthiopien in die Kanne und füge die Hälfte dieser Menge an braunem Zucker bei. Dazu kommt noch eine Messerspitze frisch gestoßener Kardamom, den ich in einem Mörser zerstoßen habe. Ich liebe diesen herb-‐harzig würzigen Duft, der entsteht, wenn die Samen ihr Aroma freigeben. Dann messe ich vier Mokkatassen Wasser ab und schütte ein Drittel der Menge in die Kanne, die ich auf den inzwischen angezündeten Gas-‐Campingkocher stelle. Es dauert nicht lange, bis die Mischung aufkocht. Jetzt gebe ich das zweite Drittel Wasser dazu und lasse das Ganze nochmals aufkochen. Genauso verfahre ich mit dem restlichen Wasser. Ein wunderbarer Duft hat sich bereits ausge-‐ breitet. Ich stelle alles zusammen auf ein Holzbrett und bringe es nach draußen. "Bitte, hier serviere ich dir einen echt arabischen Mokka", sage ich zu Göden Marpa und erfreue mich an ihrer Überraschung." "Das ist ja unglaublich", sagt sie. "Wir sitzen im Liegestuhl neben einer alten Tiroler Almhütte, die inzwischen ein tibetischer Gompa ist, und trinken arabischen Mokka. Das gefällt mir." Ich habe das Getränk in die kleinen Porzellantassen gefüllt. Ein feiner goldgelber Schaum hat sich bis zum Rand hin ausgebreitet. So muss es sein. "Du solltest den Mokka so heiß als möglich trinken", erkläre ich der Yogini. "Keine Sorge", antwortet sie. "Ich bin es gewohnt, sehr heiß zu trinken. Wenn du unse-‐ ren Buttertee nicht so heiß als möglichst trinkst, kannst du ich nicht genießen", sagt sie lachend und schlürft bereits. Um sich an der heißen Schale nicht die Finger zu verbren-‐ nen, hat sie nur den oberen Rand angefasst; so mache ich es auch. Nachdem wir uns bei-‐ de am Mokka gestärkt haben, wenden wir uns wieder unseren geistigen Eskapaden zu. "Erinnerst du dich noch an den Unterschied zwischen Gefühl und Emotion, als ich dir die Skandhas erklärt habe?" "Aber ja." 103 "Genauso wie du zur Emotion Gefühl sagen kannst, wenn du dir des Unterschieds be-‐ wusst bist, kannst du auch weiterhin Bewusstsein sagen, wenn du das Wahrnehmen des Wahrnehmbaren meinst." "Das ist umgangssprachlich sicher zweckmäßig. Andernfalls würde man vermutlich nicht verstanden werden", stimme ich Göden Marpa zu. "In diesem Zusammenhang möchte ich der Frage nachgehen, was unter einem veränderten Bewusstseinszustand zu verstehen ist. Diesem Begriff begegnet man in fast allen esoterischen Schulen, in Schrif-‐ ten über Meditation und Yoga, sogar in der Forschung, die sich durch so genannte be-‐ wusstseinsverändernde Drogen hervorgerufenen Zuständen befasst. Was ist ein Be-‐ wusstseinszustand?" Die Yogini antwortet mit einer Gegenfrage: "Wie würdest du aus der Sicht des Wahr-‐ nehmens einen Bewusstseinszustand beschreiben? Versuche es", fordert sie mich auf. "Ich vermute, dass wir es bei einem Bewusstseinszustand mit einer inneren Verfassung zu tun haben, die bestimmte Wahrnehmungen ermöglicht." "Gut", sagt Marpa. "Bringe mir dafür ein Beispiel." "Jemand, der betrunken ist, befindet sich sicher in einer anderen inneren Verfassung als jemand, der nüchtern ist. Diese Verfassung, der Zustand des Körpers wirkt sich auf das Wahrnehmen aus." Die Yogini steht auf und stellt die Lehne ihres Liegestuhls hoch. Jetzt sitzt sie aufrecht und schaut mich kritisch an. "Du sagst, der Zustand des Körpers wirkt sich auf das Wahrnehmen aus." "Eigentlich ist es nicht nur der Körper", korrigiere ich mich, "sondern auch das Psychi-‐ sche, das einen Einfluss auf die Wahrnehmung hat." "Gut – und was wäre das Psychische?" "Damit sind wir wieder bei den Skandhas, den Grundlagen der Erfahrung: Empfindung, Gefühl, Emotion, Sprache, Beobachtung und Wahrnehmung", antworte ich. "Und was folgt daraus?", fragt Marpa weiter. Das ist für mich ziemlich eindeutig. Deshalb sage ich: "Die Skandhas beeinflussen das Wahrnehmen." "Das habe ich mir gedacht", erwidert die Yogini. "Aber es ist falsch. Das Wahrnehmen selbst wird durch nichts beeinflusst. Und trotzdem müssen wir zugleich feststellen, dass die Skandhas einen Einfluss auf die Wahrnehmung haben." "Das scheint wieder eine deiner Paradoxien zu sein" sage ich, nehme das Mokkageschirr und trage es in die Küche, um mich etwas abzulenken. 104 "Ja, es wirkt paradox", höre ich Marpa leise sagen, als ich wieder neben ihr sitze. "Versu-‐ chen wir diese Paradoxie aufzulösen. Ich versuche es wieder mit Hilfe einer Metapher. Stelle dir einen Fotoapparat vor, in dem ein Film eingelegt ist. Der Apparat mit seinen Funktionen repräsentiert die Skandhas. Die Blendeneinstellung ist das Empfinden, die Belichtungszeit ist das Gefühl, die Entfernungseinstellung ist die Emotion und die Tele-‐ zoomfunktion ist die Sprache. Die fotochemische Schicht des Films, die auf das Licht rea-‐ giert, ist das Wahrnehmen; das Beobachten lassen wir beiseite. Jetzt stell dir vor, du fo-‐ tografierst mehrmals ein und dasselbe Motiv mit verschiedenen manuellen Einstellun-‐ gen. Je nachdem, wie du diese Funktionen, also die Skandhas eingestellt hast, wird sich auf dem Film etwas anderes ereignen, wird etwas anderes wahrgenommen werden. Was ich dir mit dieser Metapher sagen will: Ebenso wie das Prinzip der Belichtung des Films nicht von den unterschiedlichen Einstellungen des Apparates beeinflusst wird, sondern davon unberührt bleibt, wird auch das Wahrnehmen durch die Funktionen der Skand-‐ has nicht verändert." "Ja", sage ich daraufhin. "Es sieht so aus, als ob es so sein könnte, wie du sagst." "Aber damit haben wir die Paradoxie noch nicht aufgelöst", erklärt die Yogini weiter. „Das wollen wir jetzt versuchen." Ich bin neugierig, wohin Marpa meine Gedanken führen wird. "Die verschiedenen Einstellungen am Fotoapparat beeinflussen nicht das Prinzip der Be-‐ lichtung des Films", habe ich gesagt. "Aber offensichtlich ist es so, dass auf dem Film ein und dasselbe Motiv unterschiedlich repräsentiert worden ist. Wenn der Film dem Wahrnehmen entspricht, dann entsprechen die unterschiedlichen Bilder unterschiedli-‐ chen Wahrnehmungen. Merkst du, wohin uns das führt?", fragt Göden Marpa mich hoff-‐ nungsvoll. "Ich muss dir gestehen, dass ich keine Ahnung habe", sage ich ihr. "Nun, das wird hoffentlich bald anders sein. Wenn du aufmerksam bist, solltest du einen Unterschied hören bei das Wahrnehmen und die Wahrnehmung." Die Yogini macht eine kurze Pause, um mir Gelegenheit zu geben, darauf zu antworten. Mir fällt nichts dazu ein. Dann spricht sie weiter. "Das Wahrnehmen ist ein Vorgang. Die Wahrnehmung ist ein Resultat. Ich kann es auch so sagen: Die Wahrnehmung ist das Resultat des Wahr-‐ nehmens. Merkst du jetzt, worum es geht?" Als wäre plötzlich ein Vorhang weggezogen worden, sehe ich nun auch, worauf mich die Yogini aufmerksam machen will. "Jetzt sehe ich es“, sage ich erfreut und fühle mich wie-‐ der in das Gespräch eingebunden. "Die belichteten Teile des Films sind Resultate der Einstellungen am Fotoapparat. Die Erscheinungsform Belichtung wird davon nicht be-‐ einflusst. In diesem Zusammenhang haben wir das belichtet Werden als Prozess und das Belichtete als Resultat zu verstehen. Analog dazu kann man die Erscheinungsform des 105 Wahrnehmens als Belichtung und das Wahrgenommene als Resultat, wie den belichte-‐ ten Film, auffassen." Göden Marpa schaut zufrieden. Seitdem wir Mokka getrunken haben, ist etliche Zeit vergangen. Offenbar haben wir beide kein Bedürfnis danach verspürt, zu Mittag zu es-‐ sen. Jetzt merke ich, dass ich hungrig bin. Die Yogini scheint ähnlich zu empfinden. "Wir könnten eine Kleinigkeit essen", schlägt sie vor. "Das wollte ich auch gerade sagen", erwidere ich und bin froh, den Liegestuhl verlassen zu können. … Ich gehe in die Werkstatt und hebe die schwere Falltür hoch, die den Erdkeller abdeckt. Auf der obersten Stufe der Treppe, die nach unten führt, steht eine Plastikkiste, in der wir die leicht verderblichen Lebensmittel gelagert haben. Manches verschimmelt zwar, weil es hier nicht nur kühl, sondern auch feucht ist, aber im Großen und Ganzen hält sich das meiste ziemlich frisch. Auch wenn wir kalt essen, ist unser Speiseplan sehr schlicht. Etwas Putenwurst, Bergkäse, Butter und Brot. Seit meiner Vergiftung kaufe ich keine Konserven mehr. Am Deckenbalken hängt noch ein schönes Stück Ziegenschinken. Den nehme ich auch mit. Marpa hat sich inzwischen um den Tee gekümmert. Als wir alles Nötige beisammen ha-‐ ben, setzen wir uns wieder im Freien zusammen und essen. In der Glaskaraffe mit küh-‐ lem Quellwasser vom Brunnen spiegelt sich das Sonnenlicht. Wenn ich meinen Kopf be-‐ wege, sehe ich in den eingeschliffenen Mustern regenbogenfarbige Reflexe. Eine Fliege fliegt mehrmals um das Wasser herum. Jetzt setzt sie sich auf den Rand der Karaffe und krabbelt an der Innenseite nach unten. Plötzlich ist sie ins Wasser gefallen. Mit den Flü-‐ geln nach unten treibend bewegt sie ihre Beine heftig, als würde sie davonlaufen wollen, was sie aber nicht kann. Es gibt für sie keinen Halt. Göden Marpa schaut mir zu, wie ich die Fliege beobachte. Dann bücke ich mich nach einem Halm, halte ihn der Fliege vor die Füße und ziehe sie aus ihrem Ozean des Unglücks heraus. Sie fliegt zum Tischrand. Die Sonne hat das Holz aufgeheizt und wird die Nässe an ihrem Körper rasch getrocknet ha-‐ ben. Eifrig ist sie damit beschäftigt, ihre Beine zu reiben und über ihre Flügel zu streifen. Als sie das lange genug gemacht hat, krabbelt sie in die Richtung unseres Essens und be-‐ schäftigt sich mit einigen Krumen, die da und dort verstreut liegen. Als sie sich auf die Wurst setzt, verscheuche ich sie. Nachdem wir fertig gegessen und den Tisch abgeräumt haben, greifen wir den Faden des Gesprächs wieder auf. "Wir haben erkannt, dass das Wahrnehmen nicht beeinflusst wird, die Wahrnehmung aber schon. Aufgrund welcher Voraussetzungen ist die Wahrnehmung eines Betrunke-‐ nen anders? Bezieht sich sein körperliches Anderssein aufgrund der veränderten chemi-‐ schen Reaktionen in seinem Körper auf das Wahrnehmen oder die Wahrnehmung?" 106 Ich merke sofort, dass mir die Yogini eine Falle gestellt hat. "Die durch den Alkohol ver-‐ änderten physiologischen Bedingungen wirken sich nicht auf das Wahrnehmen, wohl aber auf die Wahrnehmungen aus." "Du hast dich nicht beirren lassen. Das ist gut. Die körperliche Verfassung beeinflusst die Wahrnehmung. Sie bestimmt, was du wahrnimmst und wie du wahrnimmst. Aber sie hat keinen Einfluss auf das Wahrnehmen selbst." "Offenbar ist es so. Aber dann hat ein veränderter Bewusstseinszustand nichts mit ei-‐ nem veränderten Bewusstsein, sondern mit einer Veränderung der körperlichen Verfas-‐ sung zu tun." "Aber sicher." "Das bedeutet aber dann auch, dass eine veränderte Wahrnehmung mit einer Verände-‐ rung im körperlichen Milieu verbunden ist." "Vorsicht", sagt Marpa und hebt die Hand. Meinst du jetzt eine veränderte Wahrneh-‐ mung oder ein verändertes Wahrnehmen?" "Oh", reagiere ich enttäuscht. "Ich habe schon wieder einen Fehler gemacht." "Das ist wahr. Ich hoffe, du kannst ihn sehen." "Ja sicher. Die Veränderung im Körperlichen bewirkt eine Einengung oder Erweiterung des Wahrnehmens dessen, was wahrgenommen werden kann. Im Wesentlichen heißt das: Nicht das Bewusstsein, nicht das Wahrnehmen verändert sich, sondern der körper-‐ liche Zustand. Dadurch kommt es im Extremfall zu völlig verzerrten Wahrnehmungen." "Jetzt hast du es richtig dargestellt." Obwohl ich leichte Kopfschmerzen bekommen habe, mache ich weiter. "Demnach ist der Begriff veränderter Bewusstseinszustand irreführend. Stattdessen müsste man von ver-‐ änderten körperlichen Zuständen beim Wahrnehmen sprechen. "Ja, das wäre korrekt." Obwohl ich inzwischen weiß, dass die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung als Pro-‐ zess und dem Wahrgenommenen als Produkt eine differenziertere Betrachtungsweise ermöglicht als der Begriff das Bewusstsein, greife ich dennoch darauf zurück, zumal ihn Göden Marpa zu Beginn dieser Auseinandersetzung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hat. Deshalb frage ich sie: "Gibt es für das Bewusstsein eine Entwicklung? Das würde bedeuten: Zuerst gibt es nur wenig Bewusstsein, mit der Zeit erreicht man dann etwas mehr, und vielleicht hat man irgendwann einmal besonders viel davon. Ist es so? In nahezu allen Gruppen, die sich mit so genannten geistigen Zielen befassen, ist von der Entwicklung des Bewusstseins die Rede." 107 Göden Marpa wickelt sich ihre Decke fester um die Schultern. "Bewusstsein ist frei von Entwicklung. Das Wahrnehmen unterliegt nicht der Evolution. Obwohl es in das biologi-‐ sche System eingebunden ist und mit ihm koexistiert, gehe ich davon aus, dass das Wahrnehmen weder ein Produkt noch eine Funktion der Biologie ist. Es ist davon ab-‐ hängig. Die Beschaffenheit und Funktionsweise eines biologisches Systems – dabei spie-‐ len auch dessen mögliche pathologischen Zustände eine Rolle – wirkt sich lediglich auf die Wahrnehmungen aus, aber nicht auf das Wahrnehmen." "Kannst du das genauer beschreiben?", bitte ich sie. "Darüber haben wir bereits ausführlich gesprochen", sagt sie und schaut mich dabei et-‐ was missbilligend an. "Ja, ich weiß. Vermute ich richtig, dass das Wahrnehmen frei von Entwicklung ist, dass aber die Wahrnehmungen von Entwicklung beeinflusst werden?" "Deine Vermutung stimmt. Es ist ja zweifelsfrei so, dass sich die Sinnesfunktionen im Verlauf der Evolution entwickelt haben. Außerdem kann jeder Mensch seine Sinne diffe-‐ renzieren; sie sind innerhalb eines Menschenlebens entwicklungsfähig." "Welchen Einfluss hat diese individuelle Entwicklung der Sinne auf das Bewusstsein?", frage ich interessiert. Die Yogini beugt sich vor, stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen. So bleibt sie einige Sekunden sitzen, bevor sie spricht. "Was machen deine fünf Sinne? Erinnere dich an den ersten Skandha des Empfindens. Sie nehmen Rei-‐ ze aus der Umwelt auf. Weil du siehst, hörst, riechst, schmeckst, tastest, agierst du in der Umwelt und reagierst auf sie. Das ist das eine. Aber diese fünf Sinne haben auch die Funktion, Reize zu filtern. Deshalb nimmst du zum Beispiel nicht das gesamte Spektrum des Lichts oder der Schallwellen wahr – das würde dich verrückt machen ..." "... genau, und außerdem filtern wir ja auch noch infolge unserer individuellen psychi-‐ schen Verfassung", ergänze ich. "Das ist richtig, aber es hat nichts mit der Filterfunktion der Sinne zu tun, über die ich soeben gesprochen habe." Ich merke, dass ich vom Thema abgekommen bin, und korrigiere mich. "Du hast gesagt, unsere Sinne reagieren nur auf ein begrenztes Spektrum von Reizen. Deshalb ist die Welt, die wir wahrnehmen, eine von den Sinnen und deren Filterfunktionen geschaffene Welt." "Du sprichst von einer Welt, die wir wahrnehmen. Jetzt möchte ich von dir Folgendes wissen: Ist das, was dir die Sinne durch ihre Reizaufnahme vermitteln, Wahrnehmung?" "Ich glaube, deine Frage zielt darauf ab: Gibt es ein Wahrnehmen ohne die Sinne?" 108 "Ja, das hast du klar erkannt. Darauf läuft es hinaus." Die Yogini lächelt mich an und scheint sich wohl zu fühlen. Ich finde den Punkt, den unser Gespräch erreicht hat, au-‐ ßerordentlich interessant, bin jedoch innerlich etwas angespannt. Wieder, wie schon so oft, fühle ich in mir ein Schmelzen, wenn ich dem Lächeln Marpas begegne. Worin liegt das Geheimnis seiner Wirkung auf mich? Ich kann es fühlen, aber nicht in Worte fassen. Auch wenn ich die Mimik ihres Gesichts bei diesem Lächeln, das den wärmenden Strah-‐ len einer milden Sonne gleicht, beschreiben würde, hätte ich damit nichts über dessen Geheimnis mitgeteilt, Und es ist mehr als das! Von diesem Lächeln berührt, lässt es mich etwas in mir selbst erahnen. "Was meinst du", fordert sie mich zum Weiterreden auf. "Für mich ist es eindeutig, dass es ein Wahrnehmen ohne Sinne gibt." "Aufgrund welcher Erfahrungen kommst du zu der Behauptung, dass es ein Wahrneh-‐ men ohne die Sinne gibt?", will sie wissen. "Eine unmittelbare und einfach nachvollziehbare Erfahrung ist das Träumen. Im Traum sehen wir Bilder, die wir eindeutig nicht über die Sinne wahrnehmen. Aber wir machen dabei zweifellos die Erfahrung des Wahrnehmens. Alles, was ich im Traum erfahre, nehme ich wahr. In diesem Zusammenhang habe ich mich schon oft gefragt: Wer ist es, der wahrnimmt? Was ist es, das wahrnimmt? Kannst du mir das sagen?" "Die Traumerfahrung zeigt uns, dass es ein Wahrnehmen ohne Funktion der Sinne gibt. Wenn du im Traum etwas siehst, siehst du es nicht mit dem sensorischen Auge. Wenn du im Traum etwas hörst, hörst du es nicht über deine Ohren. So ist es mit allen Sinnen." "Wobei wir unterscheiden müssen, dass man zum Beispiel beim Träumen durchaus et-‐ was hören kann, was man mit dem sensorischen Ohr aufnimmt; bloß ist man sich dessen nicht bewusst. Beim Sehen geht das nicht. Man kann nicht schlafen und die Augen ge-‐ schlossen haben und zugleich etwas über das sensorische Auge sehen. Beim Riechen ist es wieder anders. Man kann auch im Schlaf einen Geruch aufnehmen." "Das stimmt natürlich. Aber wir gehen jetzt davon aus, dass man beim Träumen sehen, hören, riechen, tasten kann, ohne dass die äußeren Sinne daran beteiligt sind." "Das ist wahr. Darum geht es." "Was sagt dir das?", fragt Marpa kurz angebunden. "Es sagt mir", fahre ich fort, "dass man das Wahrnehmen von den biologischen Funktio-‐ nen unterscheiden muss. Es ist eine völlig andere Erscheinungsform, eine andere Reali-‐ tät, die man nicht aus den biologischen Funktionen ableiten kann. Bewusstsein lässt sich nicht über die Biologie und die ihr zugrunde liegende Physik erklären. Deshalb kann auch das Wahrnehmen keiner Entwicklung unterliegen, wie sie für biologische Erschei-‐ nungsformen zutrifft." 109 "Das hört sich vernünftig an", kommentiert Marpa. Sie steht auf, geht in die Küche und kommt mit einem Glas Wasser wieder heraus. Nachdem sie sich gesetzt hat, trinkt sie davon, schaut nachdenklich auf das Glas in ihrer Hand und meint: "Als ich in der Küche war, fiel mein Blick auf den kleinen Spiegel, den du neben dem Fenster angebracht hast. Das hat mich auf eine Idee gebracht: Nehmen wir an, ein Spiegel könnte wahrnehmen. Dann würde er sich dessen, was er reflektiert, bewusst sein. Unabhängig davon, ob er neu oder alt, groß oder klein, eben oder uneben ist: Er würde reflektieren und wäre sich der reflektierten Objekte bewusst, weil er sie wahrnehmen könnte." "Das ist wirklich eine anschauliche Metapher", sage ich begeistert. "Soeben ist mir etwas klar geworden. Es gibt weder ein individuelles noch ein kollektives Bewusstsein. Es gibt lediglich ein Wahrnehmen, das keinen Einschränkungen unterworfen ist." "Doch, doch – es gibt diese Einschränkungen. Die Skandhas schränken das Wahrnehmen ein. Das haben wir doch vorhin ausführlich besprochen. Wir sollten das alles weiter sorgfältig betrachten", gibt die Yogini zu bedenken und dämpft meinen Enthusiasmus. "Benötigt die Reflektion eines Spiegels eine Entwicklung? Offenbar nicht. Analog dazu sagen wir nun, auch Bewusstsein benötigt keine Entwicklung, um wahrzunehmen. Jetzt verändere ich dieses Beispiel ein wenig. Ist ein Spiegel getrübt, wird er die Objekte nicht optimal reflektieren. Ebenso wird ein getrübtes Bewusstsein sensorische Wechselwir-‐ kungen nicht optimal wahrnehmen. Jetzt stelle dir einen Zerrspiegel vor. Er wird Objek-‐ te reflektieren, aber so, dass sie verzerrt erscheinen. Dass der Zerrspiegel etwas ver-‐ zerrt, weiß er aber nur dann, wenn er sein Reflektieren mit anderen, nicht verzerrenden Spiegeln vergleichen kann. Egal, ob ein Spiegel verzerrt oder nicht: seine Eigenschaft des Reflektierens bleibt davon unberührt. Was folgerst du daraus, wenn du diese Überle-‐ gungen auf das Wahrnehmen überträgst?" "Es gibt kein verzerrtes oder verzerrendes Wahrnehmen, ... aber mit dieser Formulie-‐ rung bin ich noch nicht einverstanden. Es gibt kein gestörtes Wahrnehmen, gefällt mir besser. Ja, das wäre meine Folgerung aus deinem Beispiel." "Sehr gut. Gestört können nur sensorische und psychische Funktionen sein. Das Wahr-‐ nehmen selbst ist davon unberührt." "In deiner Metapher hast du von Trübung und Verzerrung gesprochen. Was wolltest du damit andeuten?", frage ich nach. "Das ist nur eine graduelle Unterscheidung." Göden Marpa macht eine Pause. Inzwischen versuche ich mir vorzustellen, worin der Unterschied zwischen Trübung und Verzerrung bestehen könnte. Im trüben Licht nehme ich Objekte diffuser und undeutli-‐ cher wahr. Aber sie erscheinen mir nicht verzerrt. Damit es zu einer Verzerrung kommt, müssen andere Voraussetzungen vorhanden sein, die sich von der Trübung unterschei-‐ den. Intuitiv erkenne ich, dass Trübung vermutlich mit den Sinnen zu tun hat, Verzer-‐ rung dagegen psychisch bedingt zu sein scheint. 110 Jetzt räuspert sich die Yogini und spricht weiter. "Wir haben festgestellt: Es gibt kein in-‐ dividuelles, kein kollektives, weder dein noch mein Bewusstsein. Demzufolge existiert auch keine individuelle Entwicklung oder Differenzierung des Bewusstseins, wie viel-‐ fach behauptet wird. Das musst du verstehen. Ebenso solltest du inzwischen verstanden haben, dass auch die Vorstellung von individuellen Bewusstseinsinhalten unsinnig ist." "Einen Augenblick", unterbreche ich Göden Marpa. "Soeben hast du etwas behauptet, was ich nicht verstehe. Wie kommst du dazu zu sagen, die Vorstellung von Bewusst-‐ seinsinhalten wäre unsinnig?" Ihr Blick ist konzentriert auf mich gerichtet. Ich habe den Eindruck, in einem Stromkreis mentaler Energie zu sein. In diesem Zustand gibt es kein links oder rechts, kein vorne und hinten. Ich erfahre ein Zentriert Sein auf einen Punkt, der überall und nirgends ist. Beide verschmelzen wir zu einem Zentrum gemeinsamen Erkennens. "Das ist nahe lie-‐ gend", sagt sie eindringlich. Es gibt Neuroengramme im Gehirn, Speicherungsprozesse im gesamten biologischen Subjekt. Das sind die individuellen Inhalte, die in Form bio-‐ chemischer und neuroelektrischer Erregungen vorhanden sind und die Wahrnehmung beeinflussen. Ich sage es noch einmal: Das wahrnehmende Bewusstsein ist ebenso frei von Inhalten, wie ein reflektierender Spiegel frei von all den Inhalten ist, die er reflek-‐ tiert." "Dann gibt es auch kein subjektives und kein objektives Bewusstsein?", frage ich zwei-‐ felnd. "Natürlich nicht. Weder gibt es ein subjektives noch ein objektives Wahrnehmen." "Dann müssen wir aber auch konsequent die Idee eines Allbewusstseins oder kosmi-‐ schen Bewusstseins – wie immer man es nennen mag – im Gegensatz zum individuellen menschlichen Bewusstsein aufgeben." "Das hast du richtig erkannt. Bewusstsein bedeutet im Tibetischen (shes-‐pa) Ge-‐ wahrsein. Ich nenne es Wahrnehmen und meine damit dasselbe. Oft wird der Begriff Bewusstsein aber auch mit Wissen gleichgesetzt. Das ist jedoch falsch. Wahrnehmen und Wissen sind keinesfalls identisch." "Das erscheint mir logisch", wende ich ein. "Man kann sein Wissen wahrnehmen oder auch nicht. Auf der Festplatte eines Computers mag zwar eine gigantische Menge an Wissen gespeichert sein, wahrnehmen kann sie dieses Wissen jedoch nicht." "Genau so ist es. Wissen ist lediglich eine Konfiguration von Daten auf der Basis von Er-‐ regungen. Subjektiv erfahrenes Wissen werden diese Daten dadurch, dass sie wahrge-‐ nommen werden." "Wenn Bewusstsein weder subjektiv noch objektiv und von biologischer Entwicklung unbeeinflusst ist: Wo kommt es dann her? Wo ist es?" 111 "Jetzt bist du schon wieder in die alte Falle gestolpert und fragst nach einem räumlichen Vorhandensein. Nur dann, wenn du das Bewusstsein substanziell und abhängig von Zeit und Raum verstehst, kannst du eine solche Frage stellen. Merkst du, wie du dem Be-‐ wusstsein eine unangemessene Raumvorstellung unterlegst? Wo kommt es her? Von ei-‐ nem räumlich entfernten Ort vielleicht? Wie absurd die Frage ist, merkst du sofort, wenn du Bewusstsein durch Wahrnehmen ersetzt. Fragst du, von wo das Wahrnehmen her-‐ kommt, so fragst du nach einem Ort. Fragst du aber, wie das Wahrnehmen zustande kommt, so fragst du nach einem Prozess." … Die Yogini zupft an ihrem Schal herum, hebt dessen Ende hoch und lässt es wieder fallen. Sie rollt ihn ein Stück weit zusammen und streicht ihn wieder glatt. Mehrmals macht sie das, als wäre dies ein Ritual. Gedankenverloren schaut sie sich dabei zu. Ihr Gesicht ist entspannt, fast abwesend. Diese Situation erzeugt in mir eine seltsame Leere, die nun von einer Erinnerung gefüllt wird. Vor vielen Jahren ist mir eine Erfahrung im veränderten Bewusstseinszustand zuteil geworden, die vermutlich durch einen hypnagogen Zustand beim Meditieren ausgelöst worden ist. Es erstaunt mich, wie deutlich sich dieses Erlebnis jetzt in mir ausbreitet. Ich erlebe mich in einem Raum aus Licht und bin zugleich auch dieses Licht. Um mich her-‐ um gibt es nichts außer Licht, das aus sich selbst heraus zu leben scheint. Es ist ein le-‐ bendiges Licht, ein warmes, liebevolles und – so seltsam es scheinen mag – auch diaman-‐ tenes Licht. Es ist allumfassend. Zugleich erfahre ich ein Wissen, das mir sagt: Dieses all-‐ umfassende Licht unterscheidet sich von jenem kleinen Licht, als das ich mich selbst manchmal erlebe. Dem Großen Licht gegenüber sehe ich deutlich, dass jenes kleine Licht eine Emanation des allumfassenden Lichtes ist, dem ich mich gegenüber befinde, ohne ihm jedoch wirklich gegenüber zu sein. Diese Paradoxie ist schwer zu beschreiben. Im Licht gibt es keinen Raum, der eine Trennung und damit ein Gegenübersein ermöglichen würde. Trotzdem erfahre ich eindeutig einen Unterschied zwischen dem eingeschränk-‐ ten Licht, das ich bin, und dem uneingeschränkten Großen Licht. Ich fühle von ihm eine durchdringende und alles erkennende Kraft ausgehen. Es sieht mich, erkennt mich schonungslos und durchleuchtet mich. Dieses radikale Gesehen Werden ist frei von mo-‐ ralischen Werten. Ihm liegt ein Urteilen zugrunde, das aus dem Erleben meiner selbst in Beziehung zu diesem allumfassenden Licht zustande kommt. Ich erfahre das unmittelba-‐ re und ungefilterte Einsehen einer Diskrepanz zwischen dem kleinen Licht, das ich bin, und dem allumfassenden Licht, in dem ich mich zugleich befinde, und sehe, dass es gra-‐ duelle Abstufungen des Lichts gibt. Das allumfassende Licht ist alles. Es ist alle mögli-‐ chen Nuancen zwischen hellstem Hell Sein und dunkelstem Dunkelsein. Seltsam, doch ich verstehe unmittelbar: Auch das Dunkelsein ist ein Aspekt des Großen Lichts, dem nichts verborgen ist. Zugleich sehe ich die verschiedenen individuellen Abweichungen vom absoluten allumfassenden Licht. Sie erscheinen karmisch und durch Motive be-‐ dingt. Was wir im psychologischen Leben als Gut oder Böse ansehen, für Schuld oder 112 Sünde halten, sind Motive. Unsere Motive messen sich selbst am Absoluten des Großen Lichts, indem sie sich in ihren unterschiedlichen Graden des Dunkelseins oder Hellseins von ihm unterscheiden. Alles kommt vom Licht, ist im Licht, geht ins Licht, lichtet sich. Als ich mit der Beschreibung meiner Erinnerung zu Ende bin, nickt die Yogini. Sie schließt die Augen und seufzt. Dann atmet sie tief ein und sagt: "Du hast eben eine un-‐ gewöhnlich präzise Beschreibung des Bardo-‐Zustandes gegeben." Das überrascht mich. Ich bin mir nicht sicher, verstanden zu haben, was sie damit sagen will. "Kannst du mir etwas über diesen Bardo-‐Zustand im Zusammenhang mit meinem Erleben des Lichts sagen?", bitte ich sie deshalb. "In den tibetischen Schriften vom Sterben und Geborenwerden wird ein Zwischenzu-‐ stand beschrieben. Wir nennen ihn Bardo. Sobald ein Mensch stirbt, geht er in diesen Zwischenzustand ein, bevor er in einer neuen Existenz erscheint. Der Bardo ist die Phase zwischen dem biologischen Gestorben Sein und einem erneuten biologischen Geboren-‐ werden. Die Schriften sagen, dass sich jeder Sterbende im Zwischenzustand in Form ei-‐ ner Beziehung zum allumfassenden Licht erfährt. Wir nennen es klares Licht. In diesem Licht erlebt der Sterbende die Qualitäten seiner Motive, die seine Handlungen veranlasst haben, unmittelbar und ohne beschönigende Abweichungen. Darunter darfst du dir nichts Moralisches vorstellen, wie du selbst bereits erfahren hast. Motive sind also keine Gebote oder Vorschriften oder etwas Ähnliches. Sie sind auch keine psychologischen In-‐ halte. Das alles hat aufgehört zu existieren. Die Motive sind ein Antrieb, eine Bewegung auf etwas zu. Sie sind etwas Energetisches." "Könnte zwischen diesem Energetischen eines Motivs und dem Licht ein Zusammenhang bestehen?", frage ich dazwischen. "Durchaus. Motive sind Impulse. Was habe ich dir über die Impulse gesagt, als wir über Reinkarnation gesprochen haben?" Als ich zu einer Antwort darauf ansetze, unterbricht mich Marpa mit einer heftigen Handbewegung. Meine Worte werden wie lästige Fliegen verscheucht. Aus mir unerklär-‐ lichen Gründen ist sie der Meinung, es wäre besser, wenn ich mich zurückziehe und wir zu einem späteren Zeitpunkt weitersprechen. Irritiert und etwas enttäuscht verziehe ich mich in meine Kammer. Hier sitze ich jetzt und sinniere über das Gespräch. … Auch wenn tagsüber die Sonne scheint, ist es jetzt im Frühling in den Kammern noch ungemütlich kalt. Ich heize ein. Diese methodische Handlung hat auf mich eine beruhi-‐ gende Wirkung. Erst schichte ich aus dünnem dürren Tannenreisig eine kleine Pyrami-‐ de. Drum herum werden etwas dickere, aber immer noch dünne Äste gelegt. Die dritte Lage besteht aus fingerdicken Ästen und zum Schluss kommen noch drei Scheite dazu. Das Ganze zünde ich mit Sturmstreichhölzern an, die intensiver und länger brennen als 113 normale Streichhölzer. Habe ich sorgfältig geschichtet? Ja. Der Stapel brennt sofort und das entfachte Feuer belohnt mich mit seinem Prasseln. Die Flammen mit ihren tanzen-‐ den Farben in allen Nuancen von Gelb über Orange bis Dunkelrot erscheinen hinter der rußigen Sichtscheibe wie ein bizarrer Flamenco brennenden Wahnsinns. Gebannt blicke ich auf dieses Schauspiel, lasse mich in seinen Bann ziehen, lasse die züngelnden Flam-‐ men in mein Gehirn springen und überflüssige Gedanken zu Asche verbrennen. Drei Stunden später steige ich die abgetretene Holztreppe zu Göden Marpa hinauf. Mich fröstelt, nachdem ich den angenehmen Platz am Ofen verlassen habe. Es ist später Nachmittag. Ich klopfe an. Die Yogini bittet mich einzutreten. "Ich habe dich bereits er-‐ wartet", sagt sie. Marpa sitzt am Fenster und hat ein Buch auf dem Schoß. Sie ist in meh-‐ rere Decken eingewickelt und hat ihre Hände wie in einen Muff in die Ärmel gesteckt. Am Kopf trägt sie eine über die Ohren gezogene schwarze Mütze. Es ist kalt in ihrer Kammer, in der es keinen Ofen gibt. Ihr scheint das wenig auszumachen. Vielleicht hat sie in ihrem Kloster gelernt, unter einem dicken Umhang die eigene Körperwärme zu speichern. Ihre Augen wirken klar und frisch. Ich erinnere mich flüchtig daran gelesen zu haben, dass Information durch Kälte gespeichert wird. In Anbetracht der Kälte in Marpas Kammer habe ich meinen Daunenschlafsack mitgebracht. Nachdem ich es mir damit gemütlich gemacht habe, beginne ich über mein Anliegen zu sprechen. Die Yogini wirkt nachdenklich. "Wie es aussieht, müssen wir uns jetzt mit dem Zusam-‐ menhang von Ich, Karma und Zwischenzustand beschäftigen", meint sie. "Was ist das Karma des Ich? Meistens wird darunter die Kausalität von Ursache und Wirkung ver-‐ standen, deren Resultate über das Ich hinaus in die Welt hinein-‐ und von dort wieder auf das Ich zurückwirken. Ich sehe das etwas anders. Ich verstehe das Karma des Ich als die Wirkungen der Motive, die das Handeln des Ich bestimmt haben. Wie haben wir Motiv definiert? Nicht als Inhalt, sondern als gerichtete Energie, als Impuls. Das führt zu fol-‐ gendem Schluss: Das Karma des Ich ist die Gesamtheit seiner Motive, die als gerichtete Energie existiert. Im Zwischenzustand wird diese Energie in Form von Licht erfahren. Sie ist das Motiv des Eingehens in eine neue biologische Existenz." Das finde ich interessant und es veranlasst mich zu bemerken: "Dann könnte man doch durchaus annehmen, dass jemand als Maus wiedergeboren wird." "Nein", entgegnet Marpa vehement, "so darfst du das keinesfalls sehen! Es gibt im Bardo nicht Jemanden. Das ist viel zu sehr mit der Vorstellung einer Person verbunden, die nicht mehr existiert. Es ist eine bestimmte Qualität von Energie in Form von Licht, die zum Eingehen in eine biologische Mausexistenz führen würde. Das hat nichts mit dir als Person zu tun. Darüber haben wir schon ausführlich gesprochen." "Ich möchte nicht lästig sein", sage ich zu Marpa. „Aber mich beschäftigt trotz allem im-‐ mer noch die Schuldfrage. Habe ich mich schuldig gemacht, weil ich Mäuse töte?", will ich wissen. 114 "Woraus schließt du, dass du dich schuldig gemacht haben könntest?", fragt sie zurück. "Zur Erscheinungsform einer Maus gehört, dass sie getötet werden kann. Von einem an-‐ deren Tier oder einem Menschen. Ebenso gehört es zur Existenz des Menschen, dass er getötet werden kann. Was sagt uns das? Das biologische Leben koexistiert mit Getötet werden und Sterben." "Demnach macht man sich also nicht durch das Töten schuldig, sondern durch das dem Töten zugrunde liegende Motiv?", frage ich noch einmal nach. "Das solltest du inzwischen verstanden haben, auch wenn du es vielleicht noch nicht verinnerlicht hast. Die Verwirklichung des Menschlichen im Menschen beschränkt sich nicht auf dessen Handlungen, sondern auf die Motive, die seinen Handlungen zugrunde liegen. Für gewöhnlich achtet kein Mensch darauf, welches Motiv die Ursache für diese oder jene Handlung ist. Man achtet bestenfalls darauf, wie oder wozu eine Handlung ausgeführt wird, und fragt vielleicht nach dem Warum. Das Wahrnehmen der Motive ist etwas gänzlich anderes. Darüber weiter zu reden ist wenig hilfreich. Deshalb bekommst du von mir eine Aufgabe: Achte bei deinen Handlungen auf deine Motive." "Das will ich gerne tun", bekräftige ich den Vorschlag der Yogini. "Um sicher sein zu können, dass ich diese Aufgabe auch in deinem Sinn durchzuführe, möchte ich aber vor-‐ her noch genau wissen, was ein Motiv ist. Ich vermute, dass wir es wieder mit einem Problem der umgangssprachlichen Bedeutung zu tun haben." Marpa fragt sofort: "Mit welcher Bedeutung?" "Üblicherweise wird man die Erklärung für eine Handlung als Motiv bezeichnen. Es wäre die Antwort auf die Frage, warum man etwas getan oder nicht getan hat. Sicher meinst du das nicht." "Nein, das meine ich tatsächlich nicht. Motive sind keine Erklärungen. Wir haben bereits darüber gesprochen, wie sie im Zusammenhang mit der buddhistischen Lehre zu ver-‐ stehen sind." "Ja, ich erinnere mich. "Und woran erinnerst du dich?" "Du hast gesagt, dass Motive gerichtete Energie sind, die über Handlungen in die Welt übertragen werden und zu karmischen Wirkungen führen." "Richtig. Als wir der Frage nachgegangen sind, was ein Impuls ist, haben wir über die Wechselwirkungen zwischen gerichteter Energie, Handlung und Übertragung gespro-‐ chen. Was machst du nun daraus? Was sagt dir das im Hinblick auf die Aufgabe, die ich dir gegeben habe?" "Soll ich auf die Qualitäten meiner Energie achten?", frage ich unsicher. 115 "Welche Qualitäten könnten das sein?", fragt Marpa zurück. "Lichte und dunkle", antworte ich spontan. "Das ist es. Dieses Lichte oder Dunkle hat nichts mit Erklärungen oder Begründungen zu tun. Wie entstehen aber nun die lichten und dunklen Erscheinungsformen? Indem du die Wechselwirkungen der Skandhas wahrnimmst. Das Wahrnehmen deiner Empfindungen, deiner Gefühle, Emotionen, deines Denkens und Redens ermöglicht es dir, auf die Quali-‐ tät dieser Erscheinungsformen Einfluss zu nehmen." Marpa lehnt sich behaglich zurück und überkreuzt die Beine. Danach streicht sie den Rock glatt und faltet die Hände im Schoß. Ruhig und abwartend sitzt sie da. Ich habe den Eindruck, als wäre seit ihrer letzten Erklärung eine Stunde vergangen. Schließlich räuspert sich Marpa und sagt: "Nun, wie sieht deine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, aus?" "Offen gestanden, ich weiß es nicht – oder vielleicht doch? Ich könnte vielleicht darauf achten, ob ich mich in den Wechselwirkungen meiner Skandhas licht oder dunkel fühle." "Das ist sehr allgemein. Kannst du es etwas konkreter sagen?" "Ich kann über das Meditieren in einen Zustand kommen, der sich harmonisch auf mein Denken, Reden und Handeln auswirkt. Diesen Zustand innerer Harmonie erlebe ich als hell. Meinst du das?" "Könnte ich das meinen? Was meinst du?", fragt die Yogini etwas sarkastisch zurück. Doch sie spricht sofort weiter und sagt: "Ja, das ist sehr gut. Deine Wahrnehmung beim Meditieren zeigt dir, ob etwas ins Lichte oder ins Dunkle weist. Und sobald du diesen Unterschied wahrnimmst, kommt deine Entscheidung ins Spiel; dann bist du dafür ver-‐ antwortlich, ob und wie du deine Skandhas steuerst." "Mit steuern meinst du, dass ich auf die Elemente meiner Erfahrungen, dass ich auf mein Denken, Reden und Handeln Einfluss nehmen kann." "Selbstverständlich. Wenn du darauf nämlich nicht Einfluss nehmen kannst, bist du nichts weiter als ein biomechanischer Roboter mit komplizierten Programmen." Es ist spät geworden. Ich bedanke mich bei Marpa für dieses intensive Gespräch und steige mit meinem Schlafsack nachdenklich die Treppe hinunter. Dann betrete ich meine Kammer, in der das Feuer im Ofen längst erloschen ist. 116 Zwei Dimensionen des Universums: Realität und Wirklichkeit Die intensive Bergsonne lässt endlich auch den in schattigen Mulden liegenden Schnee schmelzen. Ihre gleißenden Strahlen sind wie scharfe Meißel, mit denen sie die Keim-‐ kraft der Natur neu modelliert. Geduldig warte ich, dass die Yogini etwas sagt. Göden Marpa sitzt in sich gekehrt, schaut auf die gegenüberstehenden Tannen und sagt nichts. Ein Schwarm Kreuzschnäbel fliegt von einem Baum zum nächsten. Jedes Mal, wenn sie sich auf die Äste verteilt haben, zwitschern sie laut. Dann fliegen sie plötzlich alle zusammen wieder zu einem anderen Baum. Wie geht das, frage ich mich, dass sich alle Vögel zusammen wie ein einzelner verhalten? Der Schwarm reagiert als Ganzes. Wie von einem einzigen Impuls gelenkt. Als hätte sie meinen inneren Dialog gehört, erwidert die Yogini: "Das wahrnehmende Bewusstsein existiert nicht an räumlichen Orten. Man kann es vielleicht mit Licht vergleichen, das sich in einem Prisma bricht. Hast du dich schon einmal gefragt, ob Licht einen Ort hat? Ich meine nicht das Licht der Lampe in dei-‐ ner Kammer, sondern das Licht des Universums. Es hat keinen Ort. Es ist überall. Nur ein Prisma befindet sich an einem Ort. Sagt dir das etwas? Führe diese Metapher von Licht und Bewusstsein weiter", fordert Marpa mich auf. "Ich will es versuchen", antworte ich und greife den Gedanken auf. "Licht hat keinen Ort, aber ein Prisma schon. Wenn sich das Licht in einem Prisma bricht, erscheinen Spektral-‐ farben. Das könnte ein Beispiel für das Spektrum der subjektiven Bewusstseinsformen sein." "Ja", sagt sie; "und weiter?" "Wie das Licht des Universums ist auch das wahrnehmende Bewusstsein nicht an räum-‐ liche Orte gebunden. Aber eine biologische Erscheinungsform würde sich wie das Pris-‐ ma an einem Ort befinden. Infolge der Wechselwirkung zwischen dem Bewusstsein ohne Ort und der biologischen Erscheinungsform an einem Ort verwirklicht sich das, was wir individuelles Bewusstsein oder subjektive Bewusstseinsinhalte nennen. Das ist nicht leicht zu verstehen", gebe ich zu bedenken. "Auch ich habe lange dazu gebraucht, um diesen Zusammenhang zu verinnerlichen. Niemand verlangt, dass dir diese Einsicht vertraut ist." "Marpa", frage ich weiter, "beziehen sich die biologischen Erscheinungsformen, von de-‐ nen du gesprochen hast, auch auf nicht menschliche Lebewesen? Mit Verwunderung im Blick sagt sie: "Aber selbstverständlich." "Aber das würde bedeuten, dass sich das Licht des Bewusstseins auch in tierischen Le-‐ bensformen wie in einem Prisma bricht?" "Genau das meine ich", bestätigt die Yogini. 117 "Dann sind tierische Lebensformen aus deiner Sicht auch Subjekte?", frage ich nach. "Selbstverständlich sind sie das. Was denkst du denn?" "Ich fasse deine Aussage zusammen: Alles, was lebt, sind biologische Erscheinungsfor-‐ men und jede biologische Erscheinungsform ist ein Subjekt mit wahrnehmendem Be-‐ wusstsein." Aufmerksam schaut mich Göden Marpa an. "Ja, das ist eine Betrachtungsweise, die der Wirklichkeit entspricht." Aufgrund dieser Analogie von Licht und Bewusstsein frage ich mich: Kann Bewusstsein vermehrt oder verringert werden? Licht lässt sich an-‐ und abschalten, zentrieren oder streuen, intensivieren oder schwächen. Ich stelle mir vor, dass es beim Bewusstsein ge-‐ nauso ist. "Du kannst das wahrnehmende Bewusstsein ebenso an-‐ oder abschalten, zentrieren o-‐ der streuen, intensivieren oder schwächen wie Licht. Aber du musst bedenken, dass al-‐ les das keinen Einfluss auf das Wesen des Bewusstseins hat, ebenso wie diese Variatio-‐ nen auch keinen Einfluss auf das Licht und sein Wesen des Erhellens haben." Nachdem ich eine Weile nachgedacht habe, frage ich Marpa: "Was für eine Konsequenz hat diese Einsicht für unser Leben?" Sie lacht mich an. "Das fragst du dich?" "Nein, eigentlich nicht", korrigiere ich mich. "Das wahrnehmende Bewusstsein ist wie Licht, das uns die Dinge erhellt. Ohne Licht können wir nicht sehen. Ohne Sehen können wir nicht gestalten." Jetzt fällt mir ein, dass die Yogini in einem anderen Gespräch von einer Trübung des Bewusstseins gesprochen hat. Aber wovon hängt dieses Getrübt Sein ab? Nach dem bisher Erkannten kann das Bewusstsein selbst nicht von Trübung betrof-‐ fen sein; sie müsste auf das Subjekt zurückgeführt werden. "Ich habe das getrübte Wahrnehmen noch nicht verstanden", beginne ich erneut zu fragen. "Nach dem, was du bisher gesagt hast, ist das wahrnehmende Bewusstsein von keiner Einschränkung oder Störung betroffen. Deshalb vermute ich, dass die Trübung durch die biologische Er-‐ scheinungsform entsteht. Aber wie trübt der Mensch als biologische Realität sein unge-‐ trübtes Bewusstsein?" … Wenn wir auf der Bank sitzen, die ich letztes Jahr aus Ästen gezimmert habe, kann man nicht sagen, dass wir uns gemütlich zurücklehnen können. Egal wie man sitzt, man hat immer irgendeinen Ast im Rücken, sodass das einzig mögliche entspannte Sitzen dadurch zustande kommt, dass man sich ohne Widerstand den Bedingungen hingibt. Göden Marpa nimmt jedoch eine Schindel zu Hilfe, die sie sich zwischen Ast und Rücken schiebt und auf diese Weise eine etwas gemilderte Form der Askese zuwege bringt. Ich 118 habe gemerkt, dass ich schmerzende Stellen an meinem Rücken dadurch entspannen kann, wenn ich mich so setze, dass ein ungemütlicher Astknorren gegen diese Stelle drückt. Es hilft. "Erinnerst du dich noch an die Metapher vom Spiegel?", fragt mich die Yogini und wartet meine Antwort ab. Sie schiebt die Schindel hinter ihrem Rücken mehrmals hin und her, bis sie eine Position gefunden hat, mit der sie zufrieden ist. "Wenn du dich nicht um den Spiegel kümmerst, ihn nicht pflegst, wird er im Laufe der Jahre trübe werden. Auf jeden Fall wird sich darauf Staub ablagern und das wird seine Fähigkeit, Objekte zu reflektie-‐ ren, beeinträchtigen. Wenn du also einen gut reflektierenden Spiegel haben willst, musst du dafür sorgen, dass er blank ist. Beim Spiegel ist das einfach, beim wahrnehmenden Bewusstsein ist es nicht ganz so einfach, aber dem Prinzip nach genauso. Der Spiegel, haben wir gesagt, entspricht der Sinnestätigkeit in biologischen Erscheinungsformen. Welche Folgerung ergibt sich daraus?" "Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen den Sinnen und dem wahrnehmenden Bewusstsein. Wenn die Sinne abstumpfen, wird das wahrnehmende Bewusstsein ge-‐ trübt. Aber wenn es so ist, unterstellst du damit, dass das Bewusstsein ein Resultat der Sinnestätigkeit ist", wende ich ein. "Wie kommst du darauf", fragt Marpa zurück. "Das schließe ich aus dem, was du eben gesagt hast: Wenn man seine Sinne abstumpfen lässt, würde das zu einer getrübten Wahrnehmung führen." "So ist es nicht", erwidert sie. "Hör genau zu. Ein Spiegel reflektiert Objekte. Würdest du daraus schließen, dass der Spiegel dieses Reflektieren erzeugt? Es ist doch so: Das Licht, das der Spiegel zum Reflektieren benötigt, unterscheidet sich von ihm. Beides sind von-‐ einander getrennte Erscheinungsformen. Erst durch diese Andersartigkeit werden Wechselwirkungen möglich, die sich als Reflektieren zeigen. Welche Aussage bekommen wir, wenn du diesen Zusammenhang auf die Sinne und das wahrnehmende Bewusstsein überträgst? Denke sorgfältig darüber nach und sage mir die Lösung." … Ich beginne zu überlegen. So wie der Spiegel etwas anderes ist als das Licht, so ist auch das wahrnehmende Bewusstsein etwas anderes als die Sinne. Daraus kann ich schließen, dass das Abstumpfen der Sinne zu einem getrübten Wahrnehmen führt, ähnlich einem Spiegel, der nicht optimal reflektiert, wenn er durch Staub getrübt wird. Dennoch ist das Bewusstsein kein Produkt der Sinnesfunktionen, ebenso wie das Reflektieren kein Pro-‐ dukt des Spiegels ist. "Das wahrnehmende Bewusstsein wird nicht von den Sinnen erzeugt. Das ist meine Aus-‐ sage, wenn ich die Metapher vom Spiegel auf das wahrnehmende Bewusstsein übertra-‐ ge." 119 "Ausgezeichnet", sagt die Yogini lobend. Gerne hätte ich mich darüber gefreut. Stattdessen fühle ich Skepsis und Zweifel. "Auf-‐ grund deiner Beschreibung des Bewusstseins sind die vielfältigen Bewusstseinsaspekte, wie sie zum Beispiel in buddhistischen und psychologischen Büchern beschrieben wer-‐ den, völlig sinnlos", sage ich. "Mir fallen Begriffe ein wie Speicherbewusstsein, Grund-‐ bewusstsein, grobes und subtiles Bewusstsein, Bewusstseinsstrom, heilsame und un-‐ heilsame Bewusstseinszustände, Ich-‐Bewusstsein, kollektives Bewusstsein, Selbstbe-‐ wusstsein, Körperbewusstsein, Wachbewusstsein, Traumbewusstsein – es lassen sich noch viele weitere Beispiele finden. Müssen wir uns von allen diesen Aspekten des Be-‐ wusstseins verabschieden? Sind sie unnötig?" Die Yogini neigt den Kopf zur Seite, als wollte sie sehen, ob ihr in dieser Position an mei-‐ ner Bemerkung etwas auffallen könnte, das ihr sonst entgangen wäre. Dann antwortet sie: "Auf jeden Fall kannst du dich mit gutem Gewissen von der Vorstellung lösen, dass diese Begriffe, die du aufgezählt hast, unterschiedliche Erscheinungsformen des Be-‐ wusstseins bezeichnen würden. Das ist nicht der Fall. Das wäre so, als ob du die Reflek-‐ tion eines Apfels im Spiegel Apfelbewusstsein, die eines Baumes Baumbewusstsein, ei-‐ nes Gesichts Gesichtsbewusstsein usw. nennen würdest. Das ist völlig unnötig. Wenn wir das Überflüssige beiseitelassen und uns auf das Wesentliche beschränken, können wir uns von allem trennen, was zum Verstehen einer Erscheinung nicht unbedingt erforder-‐ lich ist. Bleiben wir bei der Metapher: Wenn du das Reflektieren eines Spiegels verste-‐ hen willst, kannst du darauf verzichten, die reflektierten Objekte zu benennen. Sie sagen nichts über das Reflektieren aus." Göden Marpa macht eine Pause. "Vielleicht erscheine ich dir jetzt uneinsichtig", bereite ich meinen Einwand vorsichtig vor, "aber wenn der Spiegel einen Apfel reflektiert, so haben wir doch eine andere Re-‐ flektion vor uns als bei einem Baum." "Eben das ist nicht der Fall", erwidert Göden Marpa energisch. "Was ist das Gemeinsame an diesen unterschiedlichen Reflektionen? Das Reflektiert-‐werden durch den Spiegel. Das Wechselwirken zwischen Licht, Spiegel und den verschiedenen Objekten ergibt die vielfältigen Reflektionen. Das Wesen, die Erscheinungsform des Reflektierens bleibt stets das Gleiche, egal ob ein Gesicht, eine Maus oder eine Blume reflektiert wird. Ich ha-‐ be einige Jahre gebraucht, um mich von den Vorstellungen der verschiedenen Bewusst-‐ seinsstufen und -‐stadien zu befreien, von denen es im Buddhismus sehr viele gibt. Du hast uns ja bereits eine Kostprobe davon gegeben. Aber was hat Buddha gesagt? Glaube nichts, ganz gleich, wo du es gelesen hast oder wer es gesagt hat; nicht einmal wenn ich es gesagt habe, es sei denn, es deckt sich mit deiner Vernunft. Deshalb habe ich eines Ta-‐ ges alles, was ich über Bewusstsein im Kloster gelernt habe, infrage gestellt und bin ei-‐ nen eigenen Weg gegangen. Das war in Tibet keineswegs so einfach, wie du vielleicht meinst." 120 "Ich verstehe, was du mir damit sagen willst. Du vermittelst mir keine traditionellen buddhistischen Weisheiten, sondern deine eigenen Einsichten." "Nein, das ist es nicht. Es wäre völlig verkehrt, wenn ich dir meine Einsichten vermitteln würde. Es sind nicht meine Einsichten. Um was geht es bei all den Fragen? Um die Er-‐ scheinungsformen der Wirklichkeit. Wenn die Analyse einer Erscheinungsform mit der Wirklichkeit übereinstimmt, ist es weder meine noch deine Einsicht. Sie ist etwas Geisti-‐ ges und gehört weder mir noch dir. Aber jetzt sollten wir etwas essen." Marpa steht energisch auf und geht in die Hütte. Inzwischen steht die Sonne bereits hoch am Himmel und es ist heiß geworden. Zu heiß für mich. An der Unterseite des Balkons habe ich ein breites Rollo angebracht. Entrollt und mit einem gegen den Tisch geklemmten Ast fixiert, haben wir ein komfortables Son-‐ nensegel. Die Yogini hat inzwischen das Essen gebracht. Ich hole frisches Wasser vom Brunnen, dann sitzen wir wieder zusammen. Marpa mag beim Essen nicht reden. Mir ist es ebenfalls zur Gewohnheit geworden, dabei zu schweigen. Meine Gedanken kommen und gehen. Wahrnehmungen von Selbst, Ich, Körper oder Geist sind keine verschiedenen Formen des Bewusstseins. Wenn von einem groben oder subtilen Bewusstsein die Rede ist, wäre dies auf Trübung zurückführen. Ebenso wenig gibt es ein individuelles oder kollektives Bewusstsein, auch kein Seh-‐ oder Hörbewusst-‐ sein. Ich muss es mir immer wieder klar vor Augen führen: Diese Unterschiede beziehen sich auf Bewusstseinsinhalte, nicht auf das Bewusstsein selbst. Die Inhalte sind Ich, Selbst, individuell, kollektiv, wachend, schlafend und so weiter; die Erscheinungsformen der Wechselwirkungen der Skandhas. Plötzlich fühle ich, dass mich die Yogini aufmerk-‐ sam anschaut. Ich weiß nicht, warum mir das peinlich ist. "Hast du nicht gehört, was ich dich gefragt habe?" "Nein. Hast du mich etwas gefragt? Ich habe nichts gehört." "Du warst derart in Gedanken versunken, dass du völlig abwesend gewirkt hast. Deshalb habe ich dich gefragt, wo du dich aufhältst." Ich sage es ihr. "Vielleicht hast du es jetzt verstanden", sagt die Yogini darauf. "Ich bin mir nicht sicher", insistierte ich weiter, "deshalb würde ich gerne das so genann-‐ te Ich-‐Bewusstsein im Unterschied zum Selbstbewusstsein noch genauer untersuchen." "Wie stellst du dir diese Untersuchung vor?", erkundigt sie sich. "Nach all dem, was du mir bereits über das Bewusstsein gesagt hast, und nach dem, was ich bereits verstanden habe, ist es mir peinlich, dich zu fragen: Was ist das Ich-‐ Bewusstsein?" 121 "Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Es ist wie das Rühren in einem Brei und macht mir nichts aus. Deine Frage ist einfach zu beantworten. Wenn Bewusstsein Wahrnehmen ist, kann das so genannte Ich-‐Bewusstsein nur die Wahrnehmung von dem sein, was du oder sonst jemand für sein Ich hält." Göden Marpa spielt mit einem Grashalm. Sie zupft die Blätter ab und wickelt sich den blanken Stängel um den Zeigefinger. "Aber was wird wahrgenommen, wenn man sein Ich wahrnimmt?", will ich genauer wis-‐ sen. "Vermutlich nimmst du das wahr, was deinem aktuellen Ichgefühl entspricht. Ein Kom-‐ plex aus Gedanken, Erinnerungen und körperliche Empfindungen. Das so genannte Ich ist ein aus den Skandhas zusammengesetztes Puzzle." "Ich verstehe", sage ich zögernd. "Das Ich-‐Bewusstsein ist eine instabile Komposition der Skandhas, nichts Eigenständiges oder Bleibendes. Es ist ein Festhalten an Gedanken, Er-‐ innerungen und Empfindungen mit denen man sich identifiziert. Beim Körperbewusst-‐ sein ist es ähnlich. Was wir Ich nennen, ist das Festhalten an einem Skandha-‐Komplex. Was wir Körper nennen, ist ein anderes Festhalten an einem anderen Skandha-‐Komplex. Ebenso ist es mit dem Wachbewusstsein, bei dem wir uns als wach erfahren, weil wir die Skandhas unseres Ich und diejenigen unserer Umgebung wahrnehmen." Göden Marpa nickt bestätigend. "Aber wie ist es bei den bewusstseinsveränderten Zuständen, wie sie beispielsweise durch das Einnehmen von Drogen zustande kommen?" "Was sollte da sein?", sagt die Yogini und sieht mich fragend an. "Der Betreffende hat dann eine Wahrnehmung von einem durch Drogen veränderten zerebralen Funktions-‐ zustand. Sein Bewusstsein, sein Wahrnehmen hat sich dabei nicht verändert; lediglich wie er sich wahrnimmt und was er wahrnimmt hat sich verändert – nicht sein Bewusst-‐ sein. Es gibt keinen veränderten Bewusstseinszustand." "Damit sagst du, es gibt keine bewusstseinsveränderten Zustände", wiederhole ich diese für mich bemerkenswerte Aussage, die ich jedoch problemlos mit meinen Erfahrungen in Übereinstimmung bringen kann. Vieles wird mir dadurch verständlicher. "Aber gilt das auch für die Meditation?", frage ich weiter. "Allgemein verbindet man Meditation oder Yoga doch mit der Vorstellung, dass sich dadurch der Bewusstseinszustand verän-‐ dert." "Beim Meditieren oder den verschiedenen Formen des Yoga ist es auch nicht anders. Das sind Techniken, mit denen du das körperliche, psychische und geistige Funktionieren beeinflussen kannst. Wenn sich dadurch etwas ereignet, nimmst du es wahr. Auch dabei wird das Wahrnehmen selbst, wird das Bewusstsein nicht verändert; du veränderst le-‐ diglich etwas an deinem inneren Milieu, und diese Veränderung kannst du wahrnehmen. 122 Mit keiner der so genannten spirituellen Methoden veränderst du dein Bewusstsein. Du veränderst nicht das Wahrnehmen, du veränderst eine Wechselwirkung der Skandhas." Die Yogini erinnert mich daran, dass ich ins Dorf gehen muss, um Lebensmittel für die nächsten Tage einzukaufen. Ich mache das nicht gern. Der Kontrast zwischen dem Zu-‐ rückgezogen Sein auf der Hütte und dem im Dorf herrschenden Tiroler Folklore-‐ Tourismus ist mir zu gegensätzlich und ich fühle mich jedes Mal am falschen Ort. Trotz-‐ dem muss ich gehen. Ich habe Marpa versprochen, diese Aufgabe zu übernehmen. … Auf den oberen Berghängen liegt noch Schnee. Man kann Skifahren. Die Sonne scheint, der Schnee leuchtet weiß, die Lifte sind noch in Betrieb. Menschen werden in Bussen angeliefert. Sobald ich sehe, wie sie mit ihren schweren Ski-‐Schuh-‐Apparaten an den Fü-‐ ßen daher staksen, als hätten sie die Hosen voll, frage ich mich nach dem pragmatischen Sinn der Dialoge mit Göden Marpa. In diesem sozialen Umfeld sehe ich keinen. Unleidlich gestimmt, dränge ich mich im Supermarkt an den Touristen vorbei, erledige so schnell wie möglich den Einkauf und verlasse diesen Ort. Sobald ich auf der Forststraße bin, die mich vom Dorf weg ins Gelände hineinführt, fühle ich mich vom Unbehagen befreit. Nach zwanzig Minuten Fahrt parke ich bei einer Jausen Station und gehe zu Fuß weiter. Wo der Weg im Schatten verläuft, liegen vereiste Schneereste. Sie werden erst zu Beginn des Sommers wegschmelzen. Schwere, für diese Jahreszeit nicht übliche Unwetter haben vor einer Woche unübersehbare Verwüstungen angerichtet. Bäume wurden geknickt, entwurzelt und liegen wirr durcheinander zu beiden Seiten des Weges. Am höher gele-‐ genen Graben, den ich überqueren muss, ist der Forstweg von Erdmassen und Felsen blockiert. Wegmacher sind bereits mit schwerem Gerät an der Arbeit, um das Gelände wieder zu befestigen. Eine zweihundert Jahre alte Tanne, die mir bei schlechter Sicht als Orientierungspunkt gedient hat, steht nicht mehr. Man hat sie gefällt und zur Verbauung des Forstweges verwendet. Schmerzlich erkenne ich: Pragmatik und Nutzen sind vor-‐ rangig. Ein Baum, der in mir nostalgische Gefühle auslöst, ist hier ein geeignetes Mittel zum Zweck. Bei vorurteilsloser Betrachtung muss ich mir eingestehen, dass mich das Diktat der Bedingungen hätte ebenso handeln lassen. Es ist bereits später Nachmittag, als ich in der Hütte ankomme. Ich packe die Einkäufe aus. Göden Marpa kümmert sich um deren Lagerung. Danach bereitet sie Tee. Beim Ein-‐ schenken verschmilzt der Dampf mit dem Bild der Landschaft. Die Hände der Yogini sind schmutzig. Während ich im Dorf gewesen bin, hat sie vor dem Stadel einer tiefer gelege-‐ nen Almwiese einen kleinen Holunderbusch ausgegraben und neben unserer Hütte ein-‐ gesetzt. "Du magst Holunder, hast du einmal gesagt. Vielleicht wächst er an." Die Yogini wirkt wie ein kleines Mädchen, das sich über eine Überraschung freut. 123 "Ja, ich mag Holunder sehr. Ich finde, dass neben einer Almhütte unbedingt ein Holun-‐ derstrauch wachsen muss. Außerdem liebe ich seinen Geruch." Wir schlürfen Tee. "Wenn das Bewusstsein unabhängig von biologischen Erscheinungsformen existiert, weshalb gibt es dann den Menschen?" "Weil das wahrnehmende Bewusstsein mit Subjektsein verbunden ist. Ohne Subjekt-‐ wirklichkeit gibt es kein wahrnehmendes Bewusstsein. Damit du dir eine Vorstellung von der Subjektwirklichkeit machen kannst, musst du sie von der Objektrealität unter-‐ scheiden. Was ist der Unterschied? Die Subjektwirklichkeit kann die Erscheinungsfor-‐ men der Objektrealität wahrnehmen. Die Objektrealität dagegen kann nichts wahrneh-‐ men. Nur dann, wenn wir von einer Andersartigkeit zwischen Subjektsein und Objekt-‐ sein ausgehen, wird das Wahrnehmen erklärbar. Wenn du diese Andersartigkeit der Er-‐ scheinungsformen von Subjektwirklichkeit und Objektrealität nicht akzeptierst, bist du zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass die Objekte imstande sind, sich wahrzuneh-‐ men." "Dem kann ich eindeutig zustimmen. Wenn man die Erscheinungsformen des Univer-‐ sums auf die Objektrealität reduziert, dürfte man der Behauptung nicht widersprechen, ein Film könnte die auf ihm vorhandenen chemischen Veränderungen seiner Emulsion sehen." "So ist es. Die Schulwissenschaft versucht dieses Dilemma zu umgehen, indem sie be-‐ hauptet, die Objektwelt würde ab einer bestimmten Stufe ihrer Komplexität die Fähig-‐ keit des Wahrnehmens erlangt haben." "Vielleicht scheiden sich hier die Geister", wende ich ein. "Wir müssen die Tatsache ak-‐ zeptieren, dass der wissenschaftliche Trend dahin geht, das Subjekt aus dem Objekt her-‐ zuleiten." "Ja", sagt Göden Marpa. "Das müssen wir akzeptieren. Aber wir brauchen uns davon nicht irritieren zu lassen. Die Wege in Richtung Einsicht verlaufen anders." Entstehen neue Eigenschaften und Funktionen wirklich dadurch, dass etwas komplexer wird? Sollte allein das Zunehmen von Wechselwirkungen zwangsläufig zu neuen For-‐ men von Ordnung, von Eigenschaften und Funktionen führen? Es kann auch einen Zer-‐ fall von Ordnung bewirken. Aufgrund welcher Beobachtungen kann man sagen, dass in-‐ folge einer zunehmenden Komplexität etwas Neues zustande kommt, das geordnet ist? Entsteht eine Stupa dadurch, dass man immer mehr Steine aufeinander schichtet? Nein. Dadurch einsteht keine geordnete Gestalt. Damit aus einem Haufen von Steinen eine Stupa wird, ist ein Konzept erforderlich. 124 Alles dreht sich um die Frage: Kann ohne Konzept ein komplexes System gestaltet wer-‐ den, das funktioniert? Welche Antwort bekommen wir von Wissenschaftlern? Konzepte entstehen durch Zufall. Aber das ist ein irrationaler Glaube, der mein Bedürfnis nach Einsicht nicht befriedigt. Nachdenklich pflücke ich einen dürren Halm. An dessen Ende krabbelt ein winziger blau schimmernder Käfer. Wie kann etwas derart klein und dennoch so gut organisiert sein? frage ich mich. Warum ist der Käfer für mich klein? Von der Ebene der Quantenstruktu-‐ ren aus betrachtet wäre er riesig. Von der Ebene meiner Körpermaße her gesehen er-‐ scheint er winzig. Für einen Elefanten wäre er noch kleiner. Plötzlich fliegt er fort. Ich schaue wieder zu Marpa hin. Sie schaut mich an. Wartet. "Wir müssen annehmen", sage ich dann, "dass es im Universum eine Konzept bildende Instanz gibt, die sich vom mate-‐ riellen Universum unterscheidet." "Darauf läuft es hinaus", bestätigt sie meine Vermutung. "Die bloße Tatsache, dass etwas komplex ist, erklärt uns nicht, weshalb etwas auf genau diese Weise geschieht und was diesem Wie zugrunde liegt. Komplexe Wechselwirkungen ohne Konzept führen nicht zu dem, was wir als gestaltet erkennen." Das ist für mich leicht zu verstehen. Wenn ich Farben auf eine Leinwand schütte, habe ich auch eine komplexe Wechselwirkung erzeugt, aber nichts geschaffen, das mir oder einem anderen Betrachter einen gestalteten Zusammenhang vermittelt. In einem Haufen von Steinen hat jeder Stein in seiner Beziehung zum anderen eine Wirkung. Wir haben es also mit komplexen Wechselwirkungen zu tun. Aber sie ergeben keine Stupa. Auch dann nicht, wenn man bis in alle Ewigkeit immer neue Steine dazu karren würde. Zum Bau einer Stupa gehört ein Konzept. Erst aufgrund eines Konzepts werden die Steine ge-‐ staltend aufeinander bezogen, sodass eine Wechselwirkung entsteht, die einer Stupa gleicht. Lässt sich dieses Konzept vom Steinhaufen ableiten? Nein, da ist es nicht zu fin-‐ den. Es ist ein Ausdruck des wahrnehmenden Subjekts, das etwas anderes ist als ein Haufen Steine. Was ist ein Subjekt? Ist es ein biologischer Komplex? Eine Anhäufung von Materie? Si-‐ cher ist es das. Auch. Aber wie kommt das Konzept des Subjekts zustande? Wo kommt es her? Analog zum Beispiel der Stupa wird man es nicht in seinen materiellen Bausteinen finden. "Woher kommen Konzepte?" Eindringlich stelle ich diese Frage und schaue der Yogini in die Augen. Ein Windstoß wirbelt ihr Haar durcheinander. Dadurch bekommt ihr Gesicht einen stürmischen Ausdruck, der gut zu ihr passt. Marpa lacht kurz auf, bevor sie sagt: "Konzepte kommen von einem Subjekt. Das sagt dir aber nur dann etwas, wenn du das wahrnehmende Bewusstsein, die Objektwelt, die Sub-‐ jektwelt und deren Wechselwirkungen miteinander verweben kannst. Das ist Tantra." 125 "Wie kommst du jetzt darauf", frage ich verwirrt. Die neue Dimension, die sich plötzlich auftut, verunsichert mich. Der Tantrismus ist mir zwar bekannt, aber in diesem Zusam-‐ menhang kommt es mir so vor, als würde ich unnötig auf einen gedanklichen Umweg ge-‐ führt. Amüsiert lächelt sie mich an, lässt sich Zeit. Bin ich ein Fisch, der langsam, aber si-‐ cher an Land gezogen wird? Ich merke, dass ich etwas sagen will. Aber die Worte, die zu sagen ich mich anschicke, bleiben stumm. Wahrscheinlich folgen sie meinen unklaren Gedanken nicht. Mit halb offenem Mund fühle ich mich wie ein Karpfen, der nach Luft schnappt. Marpas Gesichtsausdruck hat sich geändert. Jetzt wirkt sie gesammelt, während sie sagt: "Das Wort Tantra wird abgeleitet von der Sanskritwurzel tan und bedeutet Ausdehnen. Zugleich hat es auch die Bedeutung von Gewebe. Etwas wird miteinander verbunden. Das ist es, was wir tun. Wir verbinden verschiedene Erscheinungsformen und deren ge-‐ dankliche Konzepte miteinander. Dadurch entstehen Muster. Eines dieses Muster will ich dir jetzt beschreiben. Es wird dir zunächst verwirrend erscheinen, bis du seine Ord-‐ nung erkennen kannst." Meine Schultern beginnen an neuralgischen Punkten zu schmerzen. Das konzentrierte Mitgehen auf Göden Marpas mentalen Wegen macht sich körperlich bemerkbar. Außer-‐ dem ist es schon spät und deshalb unterbrechen wir unsere Gedankenkette bis zum nächsten Tag. Außerdem rät mir die Yogini, zwischendurch wieder mehr zu arbeiten. Ein vitaler Ausgleich zur Intensität unserer geistigen Reisen ist für mich das Holzhacken. In Stücke geschnittene Stallbalken liegen aufgeschichtet bereit, um zerkleinert zu wer-‐ den. Dafür benötige ich zwei Arbeitsgänge. Im ersten Spalte ich die Holzblöcke mit einer schweren Axt, im zweiten zerkleinere ich diese Stücke zu Scheiten. Der erste Teil ist an-‐ strengend. Sobald ich Zweifel am Gelingen des Axthiebes habe, verklemmt die Schneide im Holz. Dann ist es mühsam, die Axt wieder freizubekommen. Wenn ich mich bei dieser Tätigkeit von Gedanken vereinnahmen lasse, wird die Absicht meines Handelns ge-‐ schwächt. Der Hieb gelingt nicht so, wie er gelingen sollte. Er ist nicht wirkungsvoll ge-‐ nug. Mein Wahrnehmen muss konzentriert und ausschließlich auf die Bewegungskoor-‐ dination gerichtet sein. Ich muss auch das unmittelbare Umfeld und die Imagination mit einbeziehen, um mögliche Handlungsfehler auszuschließen. Ein weit ausholender Schlag mit einer langstieligen Axt ist von enormer Wucht. Ich arbeite mit einer alten Holzfälleraxt, die ich hier vorgefunden habe. Das Eisen sieht aus wie dunkel patiniertes Silber. Mit einer Schlichtfeile schärfe ich zwischendurch im-‐ mer wieder die Schneide, die dann wie Quecksilber glänzt. Der Stiel der Axt ist abgegrif-‐ fen und schon fast schwarz verfärbt. Ich spucke mir in die Hände, um auf dem glatten Holz einen festen Griff zu haben. Mit wie viel Spucke ist dieser Axt Stiel in der Vergan-‐ genheit bereits poliert worden? Die Balkenstücke sind unterschiedlich beschaffen. Manche sind vollgesogen vom Urin der Kühe, die den Stall jahrzehntelang benutzt hatten. Dieses Holz hat einen eigenartigen 126 Geruch. Obwohl es inzwischen gut durchgetrocknet ist, lässt es sich am schwersten spal-‐ ten. Als würde jede Holzfaser mit Leim verklebt sein. Andere Stücke von anderen Balken fallen nahezu von selbst auseinander, weil sie von innen her von Insekten zernagt sind. Dann gibt es noch von Ästen durchzogenes Holz, das sich jedem Axthieb widersetzt. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen ermöglichen mir ein wirkungsvolles Intuiti-‐ onstraining. Von außen ist nämlich nicht immer sofort zu erkennen, mit welcher Holzva-‐ riante ich es zu tun habe, wenn ich sie auf den Hackstock lege. Mit der Zeit lerne ich je-‐ doch die Beschaffenheit zu ahnen. Dieses intuitive Erkennen ermöglicht mir manchmal Erlebnisse von white moments. So nennt man im Amerika des Sports Augenblicke, in denen die ökonomische Balance psychischer und geistiger Funktionen in Verbindung mit äußeren Handlungen Harmonie erzeugt. Ich erfahre, wie alles in mir und um mich herum in Einklang ist. … Seit drei Stunden hacke ich. Jetzt fühle ich mich körperlich ausgeglichen und von Span-‐ nungen befreit. Mein Kopf ist leer und ich bin bereit für eine Fortsetzung des Gesprächs, das wir gestern unterbrochen haben. Mit einer Kanne grünen Tee setzen wir uns drau-‐ ßen an den Tisch. Die Balkenwand hat die Vormittagssonne gespeichert und wärmt an-‐ genehm den Rücken. Übergangslos entwickelt Göden Marpa das unterbrochene Thema weiter. "Wahrneh-‐ mendes Bewusstsein wird nicht von der Objektwelt erzeugt. Es existiert unabhängig von ihr. Was ist dieses von der Objektrealität Unabhängige und andere? Ich habe es bereits gestern angesprochen. Erinnerst du dich?" "Du meinst die Subjektwirklichkeit." Ich will dazu noch etwas sagen, aber die Yogini un-‐ terbricht mich und redet weiter. "Die Subjektwirklichkeit, die ich meine, ist keine biologische Erscheinungsform, wie du vermuten könntest. Sie ist das wahrnehmende Lebenssubjekt – ein Aspekt des Univer-‐ sums. Darüber wirst du gründlich nachdenken und meditieren müssen. Was ich Sub-‐ jektwirklichkeit nenne, ist das Leben selbst, das nicht aus der Objektrealität hervorgeht." Die Yogini macht eine kurze Pause, bevor sie weiterspricht. "Wenn wir annehmen, dass es ein Objektuniversum und ein Subjektuniversum gibt, wenn wir davon ausgehen, dass das Universum objektiv und subjektiv ist, dann können wir etwas sehr Bedeutsames verstehen: Das subjektive Universum nimmt das objektive Universum wahr. Umgekehrt aber vermag das Objektuniversum keinesfalls das Subjektuniversum wahrzunehmen." "... weil es das gar nicht gibt, zumindest nicht im Verständnis der Wissenschaften." "Das ist richtig. Dann müssten wir akzeptieren, dass die Objektrealität sich selbst als Ob-‐ jektrealität wahrnimmt und ..." 127 "... einen Augenblick bitte", unterbreche ich die Yogini. "Bevor du diesen Gedanken wei-‐ ter ausführst, möchte ich sicher sein, dass ich dich bisher verstanden habe. Wenn es so ist, wie du sagst, dann besteht das Universum aus zwei Aspekten: der eine ist objektiv und der andere subjektiv ..." Marpa reagiert vehement. "Nein, das sage ich nicht! Deine Formulierung ist missver-‐ ständlich. Objektiv im Gegensatz zu subjektiv ist viel zu sehr mit der Meinung verbun-‐ den, dass wir es beim Objektiven mit dem Richtigen und beim Subjektiven mit etwas Be-‐ liebigem zu tun hätten, das nicht wirklich ist. Aber so ist es nicht." "Vermutlich habe ich dich falsch verstanden", lenke ich ein. "Kannst du es mir bitte noch einmal erklären?" Beim Nachschenken von Tee in Marpas Tasse war ich unachtsam und habe etwas ver-‐ schüttet. Auf dem durchgetrockneten Holz breitet sich die Flüssigkeit aus wie auf Lösch-‐ papier, das heute kaum noch Verwendung findet. Schon nach kurzer Zeit ist von meinem Missgeschick nichts mehr zu sehen. Langsam und beinahe bedächtig hebt die Yogini ihre Schale hoch und führt sie an die Lippen. Sie bläst über den Rand der Schale, um den heißen Tee etwas abzukühlen, bevor sie einen Schluck trinkt. "Du darfst keinesfalls glauben, was ich dir sage. Wenn du aus meinen Analysen Nutzen ziehen willst, musst du das, was ich dir vordenke, selbstständig nachdenken. Das möchte ich dir nur nebenbei gesagt haben. Es geht um das Universum. Meinen Erfahrungen nach existiert es in zwei Erscheinungsformen. Beide sind gleichzei-‐ tig und gleichwertig vorhanden. Aber meine Aussage der Gleichzeitigkeit ist eigentlich falsch, weil das Universum nicht in der Zeit oder als Zeit existiert. Wie könnte man es al-‐ so anders formulieren? Ich stoße hier an eine Grenze meines Sprachvermögens. Schlie-‐ ßen wir einen Kompromiss und einigen wir uns darauf, dass das gleichzeitige Vorhan-‐ densein der beiden Erscheinungsformen von Objektrealität und Subjektwirklichkeit symbolisch gemeint ist." "Es fällt mir wiederholt auf, dass du einen Unterschied machst zwischen Realität und Wirklichkeit. Warum? Ist beides nicht dasselbe?" "Nein. Als Realität bezeichne ich das Beobachtbare." "Und was ist das Beobachtbare?" "Das sind jene Erscheinungsformen, die man über die Sinne und mit Hilfe der damit ver-‐ bundenen Instrumente beobachten kann. Erscheinungsformen also, die gemessen, ge-‐ wogen, geprüft, getestet werden können." "Dann ist die Realität demnach die Welt der materiellen Erscheinungsformen." "Ja. Die Wirklichkeit dagegen ist nicht beobachtbar, weil sie aus Erscheinungsformen be-‐ steht, die nicht über die Sinne wahrnehmbar sind." 128 "Zum Beispiel meine Gedanken?", frage ich nach. "Genau. Das ist ein gutes Beispiel. Deine Gedanken sind keine Realität, aber dennoch gibt es sie. Du kannst sie wahrnehmen, deshalb sind sie wirklich." "Langsam beginne ich dich zu verstehen. Du bezeichnest diejenigen Erscheinungsfor-‐ men, die nicht von den Sinnen beobachtet werden können, als Wirklichkeit." "Das stimmt – und alle Erscheinungsformen, die von den Sinnen beobachtet werden können, nenne ich Realität. Ohne die Wirklichkeit des Subjektseins gibt es keine Realität des Objektseins und umgekehrt. Das Universum ist Objekt und Subjekt zugleich. Es ist Realität und Wirklichkeit." "Irgendwie ist das schon seltsam", sinniere ich laut vor mich hin. "Dann könnte man sa-‐ gen, das Wirkliche sei nicht real und das Reale wäre nicht wirklich." Ein prüfender Blick der Yogini streift mich, bevor sie sagt: "Im Rahmen der Unterschei-‐ dungen, die ich dir gezeigt habe, ist diese Aussage durchaus in Ordnung. Sie beinhaltet lediglich wieder die Möglichkeit eines Missverständnisses. Siehst du das auch?" "Ja, ich meine schon, dass ich es sehe." "Gut, und weshalb wäre ein Missverstehen möglich?" "Wenn man sagt, das Wirkliche sei nicht real, drückt man damit aus, dass es nicht vor-‐ handen ist, so als würde es nicht wirklich "wirklich" sein. Ein verwirrender Gedanke." "Ja, das ist verwirrend." Göden Marpa beugt sich vor und hebt eine fette schwarze Raupe mit gelben Punkten auf, die sie dann in den Garten wirft. "Heuer werden wir viele Schmetterlinge bekommen", sagt sie als hätten wir über nichts anderes gesprochen. Mir ist inzwischen eine weitere Frage in den Sinn gekommen. "Ist das Universum Objekt und Subjekt wie der Mensch?" "Ja. Die objektive Realität der menschlichen Erscheinungsform ist seine Biologie, die auf physikalische Gesetze zurückgeführt werden kann. Zumindest versucht man das, auch wenn dabei mehr Fragen auftauchen als beantwortet werden. Aber, wie ich bereits mehrmals gesagt habe: Die physikalischen Aspekte des Menschen ermöglichen nicht das Wahrnehmen. Wenn du diese Einsicht auf das Universum ausdehnst, zu welcher Er-‐ kenntnis kommst du dann? " "... dass die objektive Realität des Universums die ihm zugrunde liegende Physik ist, dass es jedoch auch Subjekt ist, weil es Wahrnehmung gibt." "So ist es. Zumindest aus meiner Sicht analytischer Meditation." 129 "Jetzt verstehe ich das. Du definierst die Subjektwirklichkeit des Universums als wahr-‐ nehmendes Bewusstsein. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir uns auch mit Seele und Geist beschäftigen müssen." "Von müssen kann keine Rede sein. Aber du wirst es wollen", erwidert Marpa. "Das ist wahr." "Fassen wir das Wesentliche zusammen, bevor wir uns der Seele und dem Geist zuwen-‐ den: Wahrnehmendes Bewusstsein ist Subjektsein." "Das entscheidende Wort dieser Aussage scheint das ist zu sein." "Allerdings", sagt die Yogini lächelnd. "Der Satz klingt wie ein Zen-‐Koan, eine jener Aussagen oder Aufgaben, die man rational nicht lösen kann." Marpa wiegt den Kopf hin und her. "Na ja – Zen-‐Koans können dich ganz schön verrückt machen; diese Aussage ist eher sanft. Was sagt sie aus? Die Subjektwirklichkeit des Uni-‐ versums offenbart sich im wahrnehmenden Bewusstsein. Das bedeutet, auch ohne den Menschen gibt es Bewusstsein in der Subjektwirklichkeit des Universums." Göden Marpas Analysen sind für mich von einer Folgerichtigkeit, die mich fasziniert. Sie zeigen deutlich, dass das wahrnehmende Bewusstsein unabhängig von den biologischen Sinnen existiert. Aber – so frage ich mich –, gibt es einen Beweis dafür? Die Antwort ist nahe liegend. Wenn man unter einem Beweis die Beobachtbarkeit einer Erscheinungs-‐ form versteht und etwas als nicht wirklich vorhanden ablehnt, weil es sich nicht be-‐ obachten lässt, dann wird ein solcher Zusammenhang nicht anerkannt werden können. Verzichtet man jedoch auf die Beweisbarkeit als einzig akzeptable Bestätigung und an-‐ erkennt auch die nicht beweisbare Wahrnehmung, so betreten wir den Bereich subjekti-‐ ver Erfahrungen. Die Yogini steht auf und holt sich eine Schere. Jetzt geht sie in den Garten und beginnt Gras zu schneiden. Das macht sie nicht mit einer Gartenschere. Nein. Sie benutzt dafür eine Papierschere. Jedes Mal, wenn ich ihr diese Arbeit des Grasschneidens erleichtern und Blasen an den Fingern ersparen will, faucht sie mich an. In manchen Belangen ist sie wirklich seltsam eigensinnig. Vielleicht hat sie Recht damit, wenn sie mir erklärt, dass sie nur mit einer Papierschere das Gras sorgfältig um die Blumen herum so wegschnei-‐ den kann, wie sie es haben will. Auf jeden Fall gibt ihr das Ergebnis Recht. Nachdem sie stundenlang geschnippelt hat, sieht der Garten jedes Mal sehr gepflegt und wohlgestaltet aus. Während ich sitze und Göden Marpa zuschaue, wie sie gebückt im Garten stehend arbei-‐ tet, habe ich wieder das Bild einer Möbiusschleife vor Augen. Jenes Band, bei dem die Enden verdreht sind und Vorder-‐ und Rückseite ineinander übergehen. Die eine Seite 130 repräsentiert den Aspekt der Objektrealität, die andere die Subjektwirklichkeit. Objekti-‐ ve Realität und subjektive Wirklichkeit sind an jedem Punkt ihres scheinbaren Ge-‐ trenntseins verbunden. Ob wir die eine Seite im Unterschied zur anderen sehen, hängt lediglich von der Ausrichtung unserer Wahrnehmung ab. Die Realität des Universums ist zugleich auch die Wirklichkeit seines Subjektseins. Was von der Seele übrig bleibt Heute Morgen komponieren Nebel und Wolken ein besonderes Bild. Es sieht wie ein klassisches japanisches Kakemono aus. Die Landschaft zeigt sich, als wäre sie mit Tusche auf saugendes Papier gemalt worden. Nebelschleier erzeugen mit ihren vielfältig nuan-‐ cierten Grautönen eine Illusion von Farbigkeit ohne Farbe. Die Linearität in den Kontu-‐ ren der Formen ist aufgelöst und wie mit einem Pinsel flüchtig hin gewischt. Die per-‐ spektivische Weite der Landschaft verschmilzt zu einem flächigen Ineinander, sodass Nähe und Ferne aufgehoben sind in einer milchigen Schattenwelt irisierenden Lichts. Ich stehe da. Ich schaue und atme feuchtes Grau in mich ein. Im Laboratorium meines Gehirns filtriere ich die Gedanken, die das Gespräch über Be-‐ wusstsein im Reagenzglas meines Verstehens zurückgelassen hat. Was hat es bewirkt? Ich verstehe mich als Subjekt, dessen wahrnehmendes Bewusstsein frei von Raum und Zeit durch die Sinne wirkt. Ich erinnere mich vage an einen Satz, den die Yogini gesagt 131 hat: "Du musst über die konventionelle Bedeutung der Worte hinausgehen, um zur Ein-‐ sicht zu kommen." Was mich interessiert, ist, wie sich das wahrnehmende Bewusstsein auf das Unbewusste auswirkt. Ich spreche Göden Marpa darauf an und frage sie: "Gibt es das Unbewusste? Wie lässt sich die Idee des Unbewussten oder des Unterbewusstseins mit dem wahr-‐ nehmenden Bewusstsein in Übereinstimmung bringen?" "Wer verlangt diese Übereinstimmung?", fragt die Yogini zurück. "Niemand außer mir. Mich interessiert, ob es das Unbewusste gibt." Etwas zögernd antwortet sie: "Das ist eine westliche Vorstellung. Der Buddhismus kennt kein Unbewusstes. Du willst trotzdem wissen, ob es so etwas gibt? Um das beantworten zu können, benötigen wir einen geeigneten Ausgangspunkt, der frei von Zweifeln ist: die Erscheinungsformen." "Ich nehme an", sage ich, "dass man die Erscheinungsformen einteilen kann in jene, die der Objektrealität zugehören und deshalb beobachtbar sind, und solche, die ein Aus-‐ druck der Subjektwirklichkeit sind und deshalb nicht beobachtet werden können. Jeden-‐ falls habe ich das von dir gelernt." "Das ist zutreffend. Ich wiederhole das, was du eben gesagt hast, noch einmal, weil es für die weiteren Analysen wichtig bist. Es gibt beobachtbare und wahrnehmbare Erschei-‐ nungsformen. Für unsere weiteren Überlegungen werde ich aber der Einfachheit halber nur von wahrnehmbaren Erscheinungsformen sprechen und beziehe dabei die be-‐ obachtbaren mit ein. Ist das soweit verständlich?" "Ja, du sprichst jetzt allgemein von wahrnehmbaren Erscheinungsformen und meinst damit auch diejenigen, die man beobachten kann." "Ja", sagt Marpa. "Lasse dich von dem, was jetzt kommt, nicht verwirren. Du wirst etwas Interessantes erfahren. Nicht die Dinge selbst sind verwirrend, sondern die Wortspra-‐ che ist es, mit deren Hilfe wir die Dinge beschreiben." Inzwischen bin ich schon sehr neugierig geworden, was die Yogini mir mitteilen wird. Sie beginnt ihre Erläuterung damit: "Wie gesagt, es gibt Erscheinungsformen. Im Hin-‐ blick auf das Wahrnehmen kannst du sie in wahrnehmbare und nicht wahrnehmbare einteilen. Die wahrnehmbaren Erscheinungsformen kannst du wahrnehmen, die nicht wahrnehmbaren kannst du nicht wahrnehmen." "Kannst du mir dafür ein Beispiel geben?" "Aber sicher. Der Berg gegenüber ist eine wahrnehmbare Erscheinungsform. Genau ge-‐ nommen ist er beobachtbar. Aber diese Unterscheidung lassen wir jetzt unberücksich-‐ tigt. Nicht wahrnehmbar wäre die Gesamtheit seiner atomaren Struktur. Ebenso sind 132 deine Gefühle, die du diesem Berg gegenüber hast, für mich nicht wahrnehmbar, für dich aber schon." "Gut, das habe ich verstanden." "Was die wahrnehmbaren Erscheinungsformen angeht, so gibt es wiederum zwei Mög-‐ lichkeiten. Entweder nimmst du sie wahr oder nicht. Außerdem gibt es Erscheinungs-‐ formen, die du hättest wahrnehmen können, aber nicht wahrgenommen hast. Wahrge-‐ nommene Erscheinungsformen bezeichnest du als bewusst, nicht wahrgenommene als unbewusst." "Bitte gib mir einen Moment Zeit, um zu überlegen", bitte ich Marpa. Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens sage ich: "Entschuldige den trivialen Vergleich, der mir gerade in den Sinn kommt. Ich denke an ein geschlossenes, nicht aufgeschlagenes Buch, das ich noch nicht gelesen habe. Das Buch kann ich wahrnehmen. Die bedruckten Seiten kann ich nicht wahrnehmen, es sei denn, ich würde die Voraussetzungen ändern, die es mir ermöglichen würden, sie wahrzunehmen. Was müsste ich tun? Das Buch aufschlagen. In diesem Fall hätte ich etwas Wahrnehmbares wahrnehmbar gemacht. Wenn ich aber das Buch aufschlage und zugleich meine Augen schließe, dann hätte ich eine Situation ge-‐ schaffen, in der ich die wahrnehmbar gewordenen Seiten nicht wahrnehmen kann. Jetzt fehlt noch das Beispiel für das grundsätzlich nicht Wahrnehmbare. Das ist ähnlich wie dein Beispiel vom Berg. Für mich sind die Empfindungen des Schreibers nicht wahr-‐ nehmbar, ebenso wie das Wetter zum Zeitpunkt seines Schreibens der letzten Seite des Buches." Göden Marpa schweigt. Jetzt würde ich viel darum geben, wissen zu können, was sie sich denkt. "Stimmt es", rede ich weiter, "dass die nicht wahrgenommenen Phänomene im Unbe-‐ wussten sind?" "Es gibt Leute, die das meinen. Ich kann darin keinen Sinn erkennen. Dein Beispiel ist vielleicht eine gute Illustration dafür." "Kannst du mir das näher erklären?" "Es gibt kein Unbewusstes, in dem irgendetwas, was uns nicht bewusst ist, enthalten sein könnte. Es gibt Erscheinungsformen des objektiven und subjektiven Universums. Je nachdem, wie du sensorisch beschaffen bist, und je nachdem, wie du denkst, fühlst und handelst, nimmst du manche dieser Erscheinungsformen wahr, die meisten jedoch nicht. Aber das, was du nicht wahrnimmst, ist nicht im Unbewussten. Es ist dort, wo es schon immer war: in der Objektrealität und der Subjektwirklichkeit des Universums. Verstehst du das?" 133 "Ja, jetzt sehe ich manches klarer. Wenn ich sage, dieses oder jenes ist mir nicht bewusst, sage ich damit, ich habe es nicht wahrgenommen. Dieses Nicht-‐wahrgenommen-‐ worden-‐Sein einer Erscheinungsform bedeutet jedoch nicht, dass sie im Unbewussten ist. Sie ist mir zwar nicht bewusst, weil ich sie nicht wahrnehme, aber sie ist nicht im Unbewussten." "Gut, rede weiter", fordert Marpa mich auf. "Ich sehe das Bild einer Zwiebel. Die äußere Schale, die ich wahrnehmen kann, ist mir bewusst. Die darunter liegenden Schalen, die ich nicht wahrnehmen kann, sind mir nicht bewusst, aber sie befinden sich nicht im Unbewussten." "Das hast du gut erkannt. Was kannst du daraus ableiten?" "Dieser Zusammenhang lässt sich sowohl auf objektive wie auf subjektive Erscheinungs-‐ formen übertragen. Die Tatsache, dass ich zum Beispiel ein Gefühl oder Motiv bei mir selbst oder bei jemand anderem nicht wahrnehme, besagt nicht, dass es im Unbewuss-‐ ten wäre. Es ist stets offenbar und der Wahrnehmung zugänglich." Ich merke wieder, wie sehr Sprachgewohnheiten das Verstehen behindern. Denkt man, dass etwas im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein ist, unterstellt man damit einen Ort, an dem es zu finden wäre. Das ist mir klar. Und doch, etwas irritiert mich. Es ist mir nämlich nicht klar, warum mir die Schalen einer Zwiebel, die ich nicht wahrnehme, nicht bewusst sein sollen. Schließlich weiß ich ja, dass es diese Schalen gibt. Natürlich hat Göden Marpa auch auf diese Ungereimtheit eine Antwort, als ich sie danach frage. "Du verwechselst Wissen mit Bewusstsein", erklärt sie mir. "Was du bei den nicht wahr-‐ genommenen Zwiebelschalen für Bewusstsein hältst, ist dein Wissen darüber, dass es diese Schalen gibt. Würdest du zum ersten Mal mit einer Zwiebel zu tun haben und nie-‐ mand hätte dir etwas darüber gesagt, könntest du dir ihrer vielen Schalen und Schichten nicht bewusst sein, solange du sie nicht wahrgenommen hast. Du könntest auch nichts darüber wissen. Zum Wissen werden die Erscheinungsformen dadurch, dass du sie wahrgenommen hast, oder dadurch, dass ein anderer, der sie wahrgenommen hat, da-‐ von berichtet. Aber bei dieser Form des übertragenen Wissens sind dir die Erschei-‐ nungsformen dennoch nicht bewusst, weil du sie nicht wahrgenommen hast. Wessen du dir bewusst sein kannst, ist dein abstraktes Wissen, insofern du imstande bist, dieses Wissen wahrzunehmen. Du musst verstehen: Einer Erscheinungsform der Objektrealität oder Subjektwirklichkeit des Universums kannst du dir nur dann bewusst sein, wenn du sie wahrgenommen hast. Einfacher kann ich dir diesen Zusammenhang nicht darstel-‐ len." Die Yogini schaut mich nachdenklich zweifelnd an. Ich habe den Eindruck, sie ist sich nicht sicher, ob ich ihr gedanklich gefolgt bin. "Marpa" sage ich deshalb, "ich versuche, das, was ich verstanden habe, mit Hilfe eines Beispiels zu hinterfragen. Nehmen wir die Erscheinungsform der Realität eines Gedankens." 134 "... Halt!", ruft sie und unterbricht mich. "Bei einem Gedanken hast du es nicht mit einer Realität zu tun, sondern mit einer subjektiven Wirklichkeit. Hast du das bereits verges-‐ sen?" "Entschuldige bitte", lenke ich ein. "Es ist wirklich schwierig, immer darauf zu achten, die angemessene Formulierung zu berücksichtigen." "Ja, das ist es. Du übst dabei dein Sprachdenken. Deshalb bist du ja mit mir zusammen. Was wolltest du vorhin sagen?" "Nehmen wir die Erscheinungsform eines Gedankens. Ich kann mir eines Gedankens nur dann bewusst sein, wenn ich ihn wahrnehme. Ein nicht bewusster, weil nicht wahrge-‐ nommener Gedanke ist nicht im Unterbewusstsein, sondern dort, wo der Gedanke ge-‐ dacht wird – also in bestimmten Funktionsbereichen des Gehirns. Diese Funktionen des Gehirns sind mir nicht bewusst, weil ich sie nicht wahrnehmen kann. Obwohl ich über verschiedene Funktionen des Gehirns Bescheid weiß, kann ich nicht sagen, dass sie mir bewusst wären, weil ich sie nicht wahrnehmen kann. Ich kann mir lediglich dessen be-‐ wusst sein, dass ich etwas darüber weiß. Aber dieses Wissen ist nicht Bewusstsein." Fragend schaue ich Göden Marpa an. "Es ist keineswegs sicher, dass man die Funktionen des Gehirns nicht wahrnehmen kann. In Tibet gibt es einen medizinischen Text, in dem das Land der vier Hügel be-‐ schrieben wird. Die Neurophysiologie beschreibt im Mittelhirn die Region der Vierhü-‐ gelplatte, einer Region, die mit den Augennerven und der Zirbeldrüse in funktionalem Zusammenhang steht." "Das ist allerdings bemerkenswert", erwidere ich fasziniert. „Aber um eine solche Wahr-‐ nehmung haben zu können, ist sicherlich eine außergewöhnliche Schulung des Bewusst-‐ seins erforderlich." "Es ist keine Schulung des Bewusstseins, so wie du zum Beispiel deine Muskeln trainie-‐ ren kannst. Ich habe dir ja bereits mehrmals gesagt: Bewusstsein ist nichts Vorhandenes. Was geschult wird, ist das Wahrnehmen." "Es gibt etwas, das ich immer noch nicht verstehe", sage ich etwas betrübt. "Einerseits sprichst du von der Subjektwirklichkeit des Universums, andererseits vom Menschen als Subjekt. Willst du damit andeuten, dass der Mensch als Subjekt mit der universalen Sub-‐ jektwirklichkeit identisch ist?" "Ja und nein", ist die Antwort. "Der Mensch existiert als Objekt und als Subjekt. Seine in-‐ dividuelle Objektrealität ist Teil der universalen Objektrealität. Ebenso ist sein individu-‐ elles Subjektsein Teil der universalen Subjektwirklichkeit. Das macht natürlich nur dann Sinn, wenn du sehen kannst, dass das Universum objektreal und subjektwirklich ist. Darüber haben wir schon gesprochen." 135 Ich deute an, dass ich trotzdem noch weiter darüber reden möchte, und bitte die Yogini darum, noch einmal über das Wesentliche zu sprechen. "Das will ich gerne tun. Du solltest mir jedoch sofort sagen, wenn du etwas nicht ver-‐ standen hast, weil wir sonst immer wieder neu anfangen. Also: Die Objektrealität des Menschen besteht aus physikalischen Aspekten, die seiner Biologie zugrunde liegen. Diese Aspekte sind Teil der universalen Objektrealität. Die individuelle subjektive Wirk-‐ lichkeit des Menschen ist sein wahrnehmendes Bewusstsein. Es gehört zur Subjektwirk-‐ lichkeit des Universums." "Jetzt muss ich etwas fragen", unterbreche ich. "Dass die physikalischen Aspekte zur ob-‐ jektiven Realität des Universums gehören, verstehe ich. Aber warum gehört das mensch-‐ liche Bewusstsein zum Universum?" "Gestatte mir eine einfache Zwischenfrage", entgegnet Marpa. "Von woher, meinst du, kommt das menschliche Bewusstsein, wenn nicht aus dem Universum?" In diesem Augenblick erlebe ich etwas wie einen Lichtblitz, der mich durchdringt. Einen Moment lang sehe ich klar und deutlich das Universum als Subjekt – mehr als das –, ich sehe es als das lebendige wahrnehmende Bewusstsein selbst. So plötzlich, wie das kam, ist es auch wieder vorbei. Trotzdem gelingt es mir, etwas von diesem Eindruck, diesem Geschenk der Einsicht zu bewahren. "Nun, was meinst du?", höre ich die Yogini fragen. Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis und ergänze: "Aber das Wesentliche dieser Einsicht ist so ungewöhnlich, dass ich zweifle, ob es irgendjemand akzeptieren könnte." "Spielt das eine Rolle?", fragt sie überrascht. "Alles, worum wir uns bemühen können, ist Einsicht und eine möglichst widerspruchsfreie Betrachtungsweise der Erscheinungs-‐ formen." "Aber wie kann sie widerspruchsfrei sein, wenn sie völlig im Widerspruch zur anerkann-‐ ten wissenschaftlichen Meinung ist?" "Darum geht es nicht. Es geht darum, dass deine Analysen mit deinen Erfahrungen über-‐ einstimmen. Das ist keine Naturwissenschaft. Es ist eher eine Subjektwissenschaft." "Ja, eine Geisteswissenschaft der Subjektwirklichkeit. Dann liegt es nahe, weiter zu fra-‐ gen, wie du Seele und Geist definierst und voneinander unterscheidest." "Bevor wir uns darauf einlassen, sollten wir uns eine Pause gönnen", meint Marpa und geht in den Vorraum, um etwas zum Essen zu holen. … 136 Ich schaue aus dem Küchenfenster auf eine schräg abfallende Wiese. Der Bauer hat seine Kühe noch nicht zum Weiden heraufgebracht. Der Almboden ist deshalb nicht zertram-‐ pelt und zeigt sich in frischem saftigen Grün, das stellenweise mit dem Braun abgestor-‐ bener Halme vermischt ist. Vorne links breitet eine Distelstaude ihre Blätter aus. Dahin-‐ ter steht eine Reihe Tannen. Dort beginnt der Wald. Ein Streifen dichtes Dunkelgrün. Meine Stirn berührt das Glas der Fensterscheibe. Das Glas ist kalt. Nach einigen Minuten ist es warm geworden. Jetzt fühle ich Glätte. Warmes Glattsein. Immer noch schaue ich aus dem Fenster. Es hat sich nichts verändert. Das Licht ist dasselbe. Der Himmel auch. Ein zartes Türkisblau, durchzogen mit einem Streifen fahlem Gelb. Wie lange werde ich noch schauen? Ich fühle mich jenseits von Zeit. Eingehüllt in ein seltsames Jetzt. Die Yogini ist mit dem Essen fertig. Ich höre, wie sie die Sachen wegräumt. Die Geräu-‐ sche dringen in mich ein wie Wasser in Watte. Kein Festhalten. Alles ist irgendwie transparent. Ich existiere nicht und bin doch da. Inzwischen hat Marpa die Lebensmittel in den Vorraum zurückgebracht. Jetzt kommt sie herein und setzt sich. Sie rückt den Stuhl zurecht und zündet eine Kerze an. Nicht wegen der Dunkelheit. Es ist hell genug im Raum. Die lebendige Flamme scheint ein Symbol zu sein für das, was wir hier tun. Ein zarter Geruch von Schwefel gleitet sanft an mir vorbei. Stille. Dann: "Du möchtest über Seele und Geist reden. Was wird Seele genannt? Was wird als Geist bezeichnet? Wir müssen uns wieder den Erscheinungsformen zuwenden, um zu sehen, ob hinter diesen Worten etwas existiert. Falls etwas existiert. "Nachdenklich schaut die Yogini auf den rußigen Kessel am Herd. Er steht in der Mitte der Ofenringe, die nicht mehr dicht abschließen. In den Ritzen flackert es orangefarbig. Langsam be-‐ ginnt sie wie zu sich selbst zu sprechen. "Wenn ich mich selbst aufmerksam wahrnehme, finde ich nichts, was ich Seele nennen könnte. Etwas, das eigenständig und unabhängig vom Körper vorhanden wäre. Ich habe auch in all den Büchern, in denen von Seele und Geist die Rede ist, keinen Hinweis auf etwas Beobachtbares oder Wahrnehmbares ge-‐ funden. Das ist alles sehr unklar. Seltsam. Irgendwie scheint man mit Seele und Geist die Vorstellung vom Gegenteils des Körpers zu verbinden. Etwas, was bei dessen Zerfall be-‐ freit würde. Ich nehme an, du weißt, dass man im Buddhismus die Vorstellung von Seele und Geist als etwas eigenständig Existierendes verneint." Ich unterbreche den Gedankengang der Yogini, weil mir ein kritischer Einwand ange-‐ bracht scheint. "Wir kennen aber doch den Unterschied im Erleben zwischen einem nur körperlichen und einem beseelten Menschen. Etwas ist anders. Aber was?" "Ich weiß, was du meinst. Wodurch kommt das zustande? Was ist der wahrnehmbare Unterschied zwischen einem beseelten Menschen und einem anderen, den du als unbe-‐ seelt erlebst? Bedienen wir uns wieder einer Metapher. Was wäre der Unterschied zwi-‐ schen einem chinesischen Rotarmisten, der in Tibet Nonnen foltert, und einer Nonne, die ihren Gelübden entsprechend lebt?" 137 Ich verstehe sofort, was die Yogini meint, und antworte: "Der offenkundige Unterschied besteht in deren Motiven und Handlungen." "Das ist es. Andere Gedanken, Gefühle und Ziele. Als beseelt würde demnach ein Mensch erscheinen, der sein Denken, Fühlen und Handeln in eine bestimmte Richtung lenkt, um den drei Giften zu entgehen: dem Geiz, der Gier und der Ignoranz. Er differenziert und kultiviert sein Denken, Fühlen und Handeln. Er stellt es in den Dienst heilsamer Prozes-‐ se. Du siehst, ein so genannter beseelter Mensch wirkt auf dich nicht deshalb so, weil er eine Seele hat, sondern deshalb, weil er sich in seiner Art und Weise zu sein an heilsa-‐ men Motiven orientiert." "Damit hast du die Seele als Wechselwirkung definiert", fasse ich zusammen. Sofort korrigiert mich die Yogini. "Das musst du präzisieren", fordert sie mich auf. Es handelt sich nicht nur um Wechselwirkungen. Foltern ist auch eine Wechselwirkung. Du würdest sie aber nicht als einen Ausdruck von Beseeltheit empfinden." Ich sehe ein, dass sie Recht hat, und erkenne wieder einmal deutlich, wie wichtig der sorgfältige Gebrauch der Worte als Instrument des Verstehens ist. "Die Vorstellung einer eigenständigen Existenz der Seele ist demnach ein Irrtum", beginne ich mich zu korri-‐ gieren. "Sie ist keine unabhängige, für sich selbst existierende Erscheinungsform. Es gibt sie nicht als etwas Vorhandenes. Seele ist ein Erleben des Wahrnehmens heilsamer Ge-‐ danken, Gefühle und Handlungen. Habe ich es jetzt richtig gesagt?" "Ja, dieser Definition kann ich zustimmen." "Wie ist es aber mit dem, was Geist genannt wird?" "Eine solche Frage ist schnell gestellt. Eine Antwort darauf nicht ebenso schnell zu ge-‐ ben. Deshalb frage ich zurück: Welche Erfahrungen in deinem Leben hast du bisher mit Geist oder als geistig bezeichnet?" Das hat die Yogini geschickt gemacht. Jetzt muss ich mir überlegen, was ich damit meine. Intuitiv verstehe ich es. Verstehe ich es? Mein Verstehen rieselt beim Nachdenken wie Sand durch die Finger. Was erfahre ich als geistig? frage ich mich. Schnell wird mir be-‐ wusst, wie oft ich dieses Wort benutze, ohne mir darüber klar zu sein, was ich damit meine. Je länger ich nachdenke, desto mehr Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten fal-‐ len mir auf. Was wird als geistig bezeichnet: Seele, Bewusstsein, Vernunft, Intellekt, Denken, Verstand, Information, sogar künstliche Intelligenz. Vollends verwirrend wird es zusätzlich dadurch, dass diese Begriffe oft bedeutungsgleich verwendet werden. Was also ist Geist? Ein Gespenst? Ein Programm? Etwas von Gott Gegebenes? Wodurch sollte sich ein Heiliger Geist von einem profanen Geist unterscheiden? Ich gehe in meine Kammer. Suche das etymologische Wörterbuch. Ich finde es angestaubt zwischen Ju Tao Fo von F. A. M. Krause und dem Garten ohne Jahreszeiten von Max Dauthenday. Ur-‐ sprünglich, so lese ich, bedeutete dieses Wort: erregt sein, erschrocken sein, voller Ent-‐ 138 setzen sein, von etwas ergriffen sein. Erst relativ spät kam es zu einem Bedeutungswan-‐ del in Richtung Seele, Gemüt, Gespenst und überirdisches Wesen. Das ist interessant. Im einen Fall war ein Zustand des Erlebens angesprochen. Man fühlte sich von etwas ergrif-‐ fen, war erregt, erschrocken oder wegen etwas entsetzt. Im anderen Fall dagegen verla-‐ gerte sich die Bedeutung auf die Vorstellung einer irgendwie substanziellen Realität. Etwas, das als eigenständig Vorhandenes zu gelten hätte. Wie ein Gespenst eben. Oder die Seele, der Geist. Ich finde das äußerst aufschlussreich. Obwohl es mich danach drängt, mit Göden Marpa darüber zu reden, halte ich mich zurück. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dieses Thema mit dem wahrnehmenden Bewusstsein in Zusammenhang bringen würde. Ich stelle mir die Frage: Was erlebe ich, wenn ich etwas als geistig erfahre? Eine Emoti-‐ on, wie beim Erschrocken Sein? Erinnere ich Derartiges, fällt mir auf, dass die Qualität des Geistigen fehlt. Ist es eine Erregung? Ich kenne emotionale Erregungen und solche, die ich geistig nennen würde. Aber wodurch unterscheidet sich eine geistige Erregung von einer emotionalen? So sehr ich mich auch darum bemühe, ich komme einer Antwort auf diese Frage gedanklich nicht näher. Deshalb versuche ich es mit einer meditativen Imagination. Dabei erfahre ich den Unterschied zwischen emotionalem und geistigem Erregt Sein graduell in Form von Klang. Dieser Klang entsteht aber nicht physikalisch im biologischen Ohr. Vielmehr ist es so, dass mein Fühlen zum Klingen gebracht wird. Was ich als Klang wahrnehme, sind feinste Nuancen des Fühlens, das mit den Sinnen verbun-‐ den ist und sich deutlich vom Wahrnehmen wesentlich gröberer Erregungen einer Emo-‐ tion unterscheidet. Mein Wahrnehmen des Geistigen hängt auch mit einem Unterschied im Erleben von Energie zusammen. Die Energie einer Emotion erfahre ich eindeutig als vitaler als das Geistige in Form von Klang. Das Wahrnehmen emotionaler Erregung wäre dem Hören einer Basstrompete vergleichbar, wie man sie in einer Blaskapelle spielt. Das Wahrnehmen geistiger Erregung entspricht eher dem Hören einer Klangschale oder ei-‐ nes Paars tibetischer Zimbeln. Ist auch das Geistige mit den Sinnen verbunden? Könnte es sein, frage ich mich weiter, dass das Geistige eine verfeinerte, eine differenziertere Aktivität der Sinne ist? Was würde Göden Marpa dazu sagen? Seltsam. Je mehr ich diesem Zusammenhang nachgehe, umso deutlicher sehe ich, dass es offenbar einen gleitenden Übergang vom Emotionalen zum Geistigen gibt. Es scheint keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Emotionalen und dem Geistigen zu geben, nur einen graduellen Übergang von der einen zur anderen Erscheinungsform. Ich höre die Yogini nach mir rufen und verliere den Kontakt zu dieser Gedankenkette. Schade. … Langsam durchbricht die Sonne den mit Wolken verhangenen Himmel. Auch der kühle Wind hat sich gelegt. Die Gebetsfahnen am Balkon hängen schlaff. Wir sitzen uns am schmalen Balkon gegenüber. Mein Blick gleitet unter der rostigen Dachrinne hindurch 139 ins Tal. Göden Marpa kann den gegenüberliegenden Berghang mit dem Wasserfall se-‐ hen. Ich zeige der Yogini ein Buch, das ich mitgebracht habe und in dem ich zwischen-‐ durch immer wieder einige Abschnitte lese. Der Verfasser beschäftigt sich mit den ver-‐ schiedenen Aspekten des Bewusstseins. Unter anderem beschreibt er höhere Bewusst-‐ seinsformen, die sich mittels bestimmter Übungen aus dem gewöhnlichen Alltagsbe-‐ wusstsein entfalten lassen. "Nach all dem, was du mir bisher deutlich zu verstehen gegeben hast, kann es kein höhe-‐ res Bewusstsein geben. Zum Teil verstehe ich das, zum Teil nicht. Haben Meditation, Yo-‐ ga und andere Methoden nicht das Ziel, die engen Grenzen des normalen Bewusstseins zu überschreiten?" "Es gibt kein hohes oder niedriges Bewusstsein, weil es kein höheres oder niedriges Wahrnehmen gibt. Hör zu: Du siehst diesen Baum", Göden Marpa deutet auf eine große Tanne, "du kannst wahrnehmen, was du beim Sehen dieses Baumes empfindest und welche Gefühle beim Sehen des Baumes entstehen und vergehen. Ebenso kannst du dei-‐ ne Erinnerungen wahrnehmen, die sich beim Sehen einstellen. Das ist noch nicht alles. Du kannst nämlich auch wahrnehmen, wie dieser Baum riecht und wie sich seine Rinde anfühlt. Ich könnte das Beispiel noch weiter führen. Es sollte reichen, um dir zu zeigen: Das alles hat nichts, aber auch wirklich gar nichts mit einem niedrigen oder höheren Bewusstsein zu tun. Es geht dabei ausschließlich um eingeschränkte oder weniger ein-‐ geschränkte Wahrnehmungen. Ich habe dazu wieder eine Metapher. Wahrnehmung ist wie das Ausbreiten von Wellen in einem Teich, in den du einen Stein wirfst. Einge-‐ schränktes Wahrnehmen reicht nur wenige Wellenkreise weit. Ausgedehntes Wahr-‐ nehmen umfasst Wellenkreise, die sich bis zum anderen Ufer des Teichs bewegen." "Danke, Marpa", sage ich. "Das ist ein wunderbar verständliches Bild und löst in mir bei-‐ nahe ein Glücksgefühl aus." Sie lächelt und spricht weiter. "Wie die Wellen des Wahrnehmens nach außen gehen, so gehen sie auch nach innen. Es gibt keine Grenzen. Die Wellen des Wahrnehmens bewe-‐ gen sich durch das gesamte Universum." "Was du eben gesagt hast, scheint mir äußerst wichtig zu sein. Deshalb möchte ich es gerne still auf mich wirken lassen." "Ja, das solltest du vielleicht.“ Die Yogini hebt den Kopf und lässt sich die Sonne auf das Gesicht scheinen. Sie kann stundenlang in der Sonne sitzen, ohne dass es ihr etwas aus-‐ macht. Ich vertrage das nicht und gehe deshalb in meine Kammer. Ich sehe Staub. Er liegt auf dem Tisch, auf den Brettern des Regals und auf allem, was sich darauf befindet. Auf meinen Büchern und den kleinen Skulpturen, die ich inzwi-‐ schen heraufgebracht habe. Er liegt auf dem Boden und in allen Ritzen, Kanten und Ecken. Staub ist ein unbeirrbarer Meister, der zum Üben des Handelns auffordert, zum Tun dessen, was immer wieder getan werden muss, wenn man es halbwegs sauber ha-‐ 140 ben will. Seltsam: In der Natur scheint nichts staubig zu sein, in Räumen schon. In Be-‐ trachtung dieser staubigen Tatsache beschließe ich eine längst fällige Reinigung meiner Kammer vorzunehmen, die den Winter über infolge des häufigen Heizens mit einer silb-‐ rigen Patina von Aschestaub überzogen ist. Beim Entstauben finde ich etliche tote Schmetterlinge. Pfauenaugen, die mit zusammen-‐ gelegten Flügeln todesstarr in dunklen Ecken liegen. Sie haben den Winter nicht über-‐ lebt. Ich werfe sie ins Feuer. Ein kurzes Aufflackern, und die körperliche Struktur eines äußerst differenzierten Lebewesens ist nur noch Asche. Als ich mit dieser Arbeit fertig bin, setze ich mich an meinen kleinen Tisch und schaue aus dem quadratischen Fenster. Auch dessen Scheiben sind staubig. Im Unterschied zum Staub in der Kammer, stören mich jedoch staubige Fensterscheiben nicht. Im Gegenteil. Blank geputzte Scheiben öden mich an. Mein Blick gleitet über die übrig gebliebene Hälf-‐ te des Stalls, eine ästhetisch interessante Balkenruine, um die herum die Yogini Blumen gepflanzt hat. Ich schaue, ohne etwas Bestimmtes zu denken, und merke, wie sich eine Schraube der Unzufriedenheit tiefer und tiefer in mein Gehirn dreht. Ich will wissen, wie sich Bewusstsein, Seele und Geist voneinander unterscheiden. Weiß ich es? Die Erschei-‐ nungsform des Bewusstseins verstehe ich und weiß auch, dass es kein Unterbewusst-‐ sein gibt. Aber einem Verständnis von Seele und Geist hat mich das nicht näher gebracht. Göden Marpa hat mir erklärt, dass es die Seele nicht als eigenständige Erscheinungsform gibt. Sie ist ein Erleben heilsamer Skandhas. Aber dann, so folgere ich daraus, lösen sich die seelischen Erscheinungsformen auf, sobald sich der menschliche Körper auflöst, durch den sich die heilsamen und unheilsamen Motive über die Handlungen verwirkli-‐ chen. Was bleibt übrig von der Seele? Nichts? Als ich in meinen Notizen vergangener Gespräche blättere, finde ich eine Passage, in der die Yogini über die nutzlose Frage Was ist ... gesprochen hat. "Wenn es dir um das Erfahren geht, fragst du nicht danach, was ist ...? Diese Frage bringt dir nämlich nur Definitionen, Erklärungen oder Beschreibungen. Worte. Natürlich kannst du fragen: Was ist Kümmel? Bestimmt findest du darauf eine gute Antwort. Aber gleichgültig, wie logisch die Antwort auch sein mag, sie kann dir nicht helfen, Kümmel aus eigener Erfahrung kennen zu lernen, ihn wahrzunehmen. Um die Erscheinungsfor-‐ men von Kümmel wahrnehmen zu können, müsstest du andere Fragen stellen. Zum Bei-‐ spiel: Wo finde ich Kümmel? Wie kann ich ihn erkennen? Wie entfaltet er sein Aroma? Die Antwort auf die Frage Was ist Kümmel bleibt geschmacklos. Er ist ein Gewürz." Gut, denke ich mir. Was sagt mir das? Was will ich jetzt? Die Frage dringt wie ein spitzer Dorn in das Fleisch meines Interesses. Ich empfinde sie als schmerzhaft und lästig, will sie nicht haben und entferne sie. Kein stechendes Fragen mehr. Ich gleite fühlend durch wässrige Zonen meiner selbst. Lasse mich treiben. 141 Ich falle in einen leichten Schlaf, erwache plötzlich von einem Gedanken, an den ich mich nicht zu erinnern vermag, und döse wieder ein. Wache erneut auf. Marpa hat mich geru-‐ fen. Ich schaue auf meine Armbanduhr und sehe überrascht, wie spät es geworden ist. Zeit für das Abendessen. "Womit hast du dich beschäftigt?", fragt mich die Yogini, als ich in die Küche komme. "Ach, ich weiß nicht", beginne ich meine Antwort etwas resigniert. "Ich würde dir jetzt gerne sagen können, dass ich inzwischen Seele und Geist verstanden habe. Stattdessen fühle ich mich konfus." "Es geht dir sehr nahe, wenn du etwas nicht sofort verstehst. Ja, das habe ich auch schon beobachtet." Ruhig schaut sie mich an. Das wie gemeißelt wirkende Gesicht der Yogini ist regungslos. Auch ihre Augen wirken so. Weder nehmen sie etwas auf, noch geht et-‐ was aus ihnen hervor. So wirkt es auf mich. Seltsam irritierend. So habe ich sie noch nie gesehen. Ich merke, dass ich aufpassen muss, damit ich mich dadurch nicht zu unbe-‐ dachten Äußerungen hinreißen lasse. Trotzdem fühle ich mich sehr verunsichert. Ich ringe mich dazu durch, dieses Gefühl anzusprechen. "Marpa", beginne ich, "warum er-‐ laubst du es mir immer wieder, dich in deinem Gompa zu besuchen, mehrere Tage oder Wochen mit dir zusammen zu sein und dich mit Fragen zu beschäftigen?" Lange schweigt sie und schaut in die Ferne. Dadurch bekommt mein Gefühl der Verunsi-‐ cherung neue Nahrung und ich frage mich sogleich, ob es vielleicht besser gewesen wä-‐ re, diese Frage nicht zustellen. Eine Fliege – es ist jedes Mal dieselbe – setzt sich immer wieder auf meine Nase und kit-‐ zelt mich. Nachdem ich sie verscheucht habe, dauert es nicht lange und sie sitzt wieder da, wo ich sie nicht haben will. Jetzt schaut mich die Yogini an und sagt: "Dass du immer wieder hierher kommen kannst, hat damit zu tun, dass für mich nichts dagegen spricht. Du kannst dich sehr gut an Bedingungen anpassen. Diese Fähigkeit und Bereitschaft, dich einzufügen, ist für mich eine wertvolle Eigenschaft, die mir zeigt, dass du dein Ich loslassen kannst. Und was deine Fragen angeht: Ich habe dich natürlich durchschaut. Du stellst deine Fragen nämlich sehr oft so, als würdest du etwas nicht verstanden haben. Ich vermute, das machst du deshalb, um herauszufinden, wie ich darauf reagiere, damit du dann in ähnli-‐ cher Weise anderen Leuten antworten kannst, wenn sie dir solche Fragen stellen." "Jetzt hast du mich wirklich verblüfft!", sage ich überrascht. "Es ist so, wie du sagst. Aber wie hast du das gemerkt?" "Das ist einfach und wird aus dem Zusammenhang eines Gesprächs ersichtlich. Manch-‐ mal verstehst du nämlich etwas sofort, obwohl es eigentlich nicht leicht zu verstehen ist. Dann wiederum stellst du Fragen wie jemand, der so tut, als würde er nicht verstanden haben." 142 "Du beschämst mich", sage ich darauf. "Das erzeugt jetzt bei mir das Gefühl, als wäre ich dir gegenüber nicht ehrlich gewesen." Entrüstet antwortet Marpa darauf: "Das darfst du nicht denken. Ich habe dich mir ge-‐ genüber nie als unehrlich erlebt. Weißt du, ich kann dieses Fragespiel durchaus verste-‐ hen und weiß, dass du es letztlich zum Nutzen anderer spielst. Das ist völlig in Ordnung. Eigentlich gefällt es mir sogar. Es gibt uns die Möglichkeit, unser Denken und die Er-‐ scheinungsformen des Unterscheidens zu schulen." "Ich bin froh, dass du es so siehst", erwidere ich und fühle mich äußerst erleichtert. "Gut, und was beschäftigt dich jetzt?" "Der Dalai Lama spricht im Zusammenhang mit Reinkarnation von der Kontinuität des Bewusstseins. Du hast mir gesagt, Bewusstsein ist Wahrnehmen. Kannst du mir die Kon-‐ tinuität des Wahrnehmens erklären? Wie ist sie zu verstehen?" "Als Kontinuität des Bewusstseins bezeichnet er vermutlich die Tatsache, dass Bewusst-‐ sein keinen zeitlichen Anfang und demnach auch kein Ende hat. Es ist nicht der Erschei-‐ nungsform der Zeit unterworfen und hat deshalb auch keine Dauer. Aus diesem Grund kann man es auch nicht messen. Was habe ich dir über Realität und Wirklichkeit gesagt? Realität ist das Beobachtbare. Das Beobachtbare ist Teil der Zeit. Etwas, das frei von Zeit ist, kann man demnach auch nicht beobachten. Also: Das Bewusstsein, die Kontinuität des Bewusstseins ist nicht beobachtbar." "Aber es ist wahrnehmbar", sage ich dazwischen. "Nein, wahrnehmbar ist das Bewusstsein nicht. Es ist ja das Wahrnehmen." "Das heißt, die Kontinuität des Bewusstseins ist ein Wahrnehmen, das nicht der Er-‐ scheinungsform der Zeit unterworfen ist. Das Wahrnehmen ist ohne Anfang und Ende. Ich würde deshalb sagen: Es ist ein ewiges Jetzt." "Oh nein. Du bringst die Zeit durch die Hintertür doch wieder mit dem wahrnehmenden Bewusstsein in Verbindung." "Warum?" "Ich kann dir nicht sagen, warum du das tust." "Nein, ich meine – warum sagst du, dass ich die Zeit durch die Hintertür hereinlasse?" "Deshalb, weil du von einem ewigen Jetzt sprichst. Das hat mit Zeit zu tun. Oder etwa nicht?" "Doch, jetzt wo du es sagst, kann ich es auch sehen. Ohne Zeit kann es natürlich auch kein ewiges Jetzt geben." 143 "Das meine ich auch. Es ist schwierig, sich von solchen Vorstellungen und sprachlichen Gewohnheiten zu lösen. Du kannst das nicht durch Denken allein erreichen. Du musst es meditieren und imaginieren." "Das sehe ich auch so und deshalb sind Imagination und Meditation ein wesentlicher Teil in meiner Lebenspraxis. Ich glaube auch, dass du mir sehr wesentlich dabei geholfen hast, die Erscheinungsform des wahrnehmenden Bewusstseins zu verstehen und in eben diesem Sinn auch zu erfahren. Was ich in diesem Zusammenhang aber immer noch nicht verstehe, sind die Erinnerungen an Vorleben." "Du hängst also weiterhin an der Reinkarnation", sagt Marpa sachlich. "Offenbar schon, ja", bestätige ich. "Um welche Erinnerungen bei welchen Vorleben geht es dir?" "Nichts Konkretes. Als Beispiel können wir den vor einigen Jahren verstorbenen Karma-‐ pa nehmen. Man sagt, dass er sich reinkarniert hätte." "Ebenso wie der Dalai Lama und andere Würdenträger", ergänzt die Yogini. "Genau. Mönche haben nach dem Kind gesucht, in dem sich seine Reinkarnation ver-‐ wirklicht haben soll. Es gibt sogar einen Film, in dem man sehen kann, wie die Mönche diesem Kind Gegenstände zeigen, die dem verstorbenen Karmapa gehört haben. Man hat sie dem Kind zusammen mit anderen Objekten gleicher Art vorgelegt. Offenbar war es so, dass das Kind auf diejenigen Objekte gezeigt hat, die dem Karmapa gehört haben. Wie kannst du diese Erinnerung erklären? Wie lässt sie sich über das wahrnehmende Be-‐ wusstsein verstehen?" "Gar nicht", sagt die Yogini kurz angebunden. Diese Antwort irritiert und verblüfft mich zugleich. Mein Denken ist blockiert. Ungläubig schüttle ich den Kopf. Göden Marpa lacht. "Das Kind kann keine Erinnerung haben. Erinnerungen sind Speicherungen im zerebral-‐ en System. Wenn man stirbt, zerfällt das Gehirn und zugleich lösen sich auch die neu-‐ ronal kodierten Speicherungen auf. Das ist eine Tatsache." "Willst du damit sagen, dass man sich nur mit Hilfe des lebenden Gehirns erinnern kann?" "Was denn sonst. Wenn diejenigen Teile des Gehirns, die Erfahrungen gespeichert ha-‐ ben, nicht mehr funktionieren, zum Beispiel infolge eines Unfalls, dann kannst du dich nicht an die in diesen Arealen gespeicherten Erfahrungen erinnern." "Aber mit dieser wissenschaftlichen Beobachtung kann man die Erinnerungen des Kin-‐ des an die Objekte des Karmapa nicht erklären." 144 "Ich habe dir gesagt, es kann keine Erinnerung an diese Gegenstände haben." Marpa reibt sich die Hände und verschränkt dann die Arme. "Aber warum kann es dann auf diese Gegenstände zeigen?", frage ich unbeirrt weiter. "Das hat mit dem wahrnehmenden Bewusstsein zu tun, das nicht an Zeit und Raum ge-‐ bunden ist." "Das verstehe ich nicht. Das wahrnehmende Bewusstsein kann, wie du überzeugend dargestellt hast, keine Erinnerungen haben, weil diese Funktionen des Gehirns sind. Wodurch wird also diese Erinnerung ermöglicht, die eigentlich gar keine ist?" "Das müssen wir sehr kritisch und sorgfältig betrachten. Bleiben wir bei den Gegenstän-‐ den des Karmapa, die dem Kind gezeigt werden. Nehmen wir beispielsweise dessen Trinkschale. Diese Schale hat der Karmapa sein Leben lang verwendet. Ein Mönch hat nur eine Schale, nicht mehrere. Vermutlich hat er diese Schale bereits von seinem Vor-‐ gänger übernommen und sie ist sehr alt. Wir können deshalb davon ausgehen, dass die-‐ se Schale eine ganz besondere Ausstrahlung, eine besondere ihr eigene Wirkung auf-‐ grund ihrer Beschaffenheit hat. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?" "Ja. Mir fällt sogar ein Erlebnis ein, das ich in Indien hatte. Möchtest du es hören?" "Aber sicher, erzähle", fordert Marpa mich auf. "Das war so. Das Ganze hat sich in New Delhi abgespielt. Ich wollte mir eine kleine Skulptur der Göttin Kali kaufen. Es sollte etwas Besonderes sein, nicht eine der für Tou-‐ risten produzierten Dutzendware. Obwohl ich in vielen Läden gewesen war, hatte ich nichts gefunden. Am Tag vor meiner Abreise gehe ich an einem kleinen Geschäft vorbei, dessen Schaufenster von oben bis unten randvoll gefüllt ist mit allen möglichen durchei-‐ nander liegenden Sachen. Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf eine eher unscheinbar wirkende kleine Figur, aber etwas in mir sagt sofort: Das ist es! Ich betrete den Laden. Drinnen ist es eng und dunkel. Es riecht dumpf. Aus dem schattigen Hintergrund des Ge-‐ schäfts tritt ein Inder hervor. Er trägt einen abgetragenen graubraunen Anzug ohne Hemd. Sein Kopf ist fast kahl und die Haut auf dem Schädel glänzt wie poliert. Ich sage ihm, dass ich die Figur im Fenster kaufen möchte. Daraufhin meint er, dass er viele Figu-‐ ren in seinem Geschäft habe und ich mir eine aussuchen soll. Nicht ganz ohne sprachli-‐ che Komplikationen gelingt es mir schließlich, ihm deutlich zu machen, dass ich nicht ir-‐ gendeine, sondern genau diese und keine andere Figur haben möchte. Umständlich sucht er den Schlüssel für das Fenster, das offenbar lange nicht mehr geöffnet worden ist. Schließlich nimmt er das Objekt meines Interesses heraus und fragt mich, warum ich unter all den vielen anderen Figuren gerade diese gewählt habe. Ich versuche ihm ver-‐ ständlich zu machen, dass es eine intuitive Gewissheit ihrer Besonderheit ist, die mich zu dieser Wahl geführt hat. Daraufhin lächelt er mich an und sagt, dass ich unter all den anderen Objekten das einzige antike ausgesucht habe. Er dreht und wendet es in seinen 145 Händen, dann reicht er es mir. Ja, diese kleine Kali war genau das, wonach ich gesucht habe", beschließe ich meine Erinnerung. Die Yogini hat aufmerksam zugehört. Jetzt nickt sie mehrmals und sagt: "Das ist ein sehr gutes Beispiel für das, was ich meine. Es hat mit Wahrnehmung zu tun. Nicht jeder kann so wahrnehmen, wie du es konntest. Das ist es, was dich von anderen unterscheidet." Ich fühle mich jetzt etwas peinlich berührt, nachdem Marpa das gesagt hat. Schließlich wollte ich bei dieser Erinnerung nicht über mich sprechen. Kritisch sage ich: Aber das ist kein Wahrnehmen über das äußere Sehen, es ist etwas anderes." "Was sollte das andere sein?", fragt Marpa und gibt gleich die Antwort. "Wenn du kein äußeres Sehen gehabt hättest, wäre dir diese Wahrnehmung nicht möglich gewesen. Außerdem ist Sehen nicht gleich Sehen. Wir haben in einem anderen Gespräch von sen-‐ sorischer Differenzierung gesprochen. Die feinen, die subtilen Spuren der Zeit an einem Objekt benötigen ein Sehen von Nuancen. Du hast dieses Sehen entwickelt." "Sicherlich hat sich im Laufe meines Leben auch mein Sehen verfeinert. Aber diese Art von Sehen, die ich dir mit meiner Erinnerung vor Augen führen wollte, habe ich schon in sehr frühen Jahren gehabt, als es bestimmt noch nicht so geschult war. Ich denke, dass es dabei noch um etwas anderes geht. Das Wahrnehmen von etwas Geistigem, das sich zwar über die Sinne vermittelt, aber doch darüber hinausgeht." "Weißt du, auf was das Ganze hinausläuft?" "Nein, zumindest nicht im Augenblick", antworte ich. "Es gibt nichts Geistiges, wenn es für dich nichts Geistiges gibt. Erst dadurch, dass für dich Geistiges existiert, kannst du es irgendwo finden. Mit anderen Worten, du erschaffst das Geistige. Damit sind wir wieder bei der Subjektwirklichkeit." "Willst du mir damit sagen, das Geistige ist die Wahrnehmung einer Erscheinungsform, in der ich etwas Geistiges sehe?" "Was meinst du?", fragst sie zurück. "Ja, das könnte es sein. Ich nehme über die Sinne eine Erscheinungsform wahr und sehe in ihr etwas Geistiges. Aber was ist der Grund dafür?" "Der Grund liegt darin, dass der Schöpfer des Objekts es so gestaltet hat, dass darin et-‐ was Geistiges kodiert worden ist. Wie sollte es sonst zustande gekommen sein? " "Das klingt verblüffend einfach. Demnach wäre das Geistige wie ein Stafettenlauf, eine Art Übergabe von einem zum anderen mittels verschiedener Medien. Sprache, Bild, Skulptur, Musik, Architektur – oder ganz allgemein: über Form, Formung, Geformtheit. Ja, das kann ich nachvollziehen. Aber von irgendwoher muss dieses Geistige doch an-‐ 146 fänglich herkommen, bevor es über ein Medium an andere weitergegeben werden kann." "Natürlich", sagt Marpa unverdrossen und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. "Vom wahrnehmenden Subjekt kommt es. Vom Menschen." "Das ist mir zu einfach", widerspreche ich. "Obwohl jeder Mensch ein wahrnehmendes Subjekt ist, so kann dennoch nicht jeder etwas Geistiges vermitteln." "Damit hast du selbstverständlich Recht", lenkt sie ein. "Also – woher kommt das Geisti-‐ ge bei einem Menschen, der etwas Geistiges vermittelt? Ich habe dir diese Frage bereits früher deutlich beantwortet." "Ja – jetzt erinnere ich mich. Du hast gesagt: Von wo sollte das Geistige im Menschen herkommen, wenn nicht vom Geistigen des Universums?" "Genau. Und wenn du aus diesem Satz die Andeutung der Raumvorstellung entfernst, dann hast du eine zutreffende Antwort auf deine Frage." "Du meinst, ich soll das von wo herausnehmen." "Sicher, was denn sonst." "Wenn ich jetzt auf mein Erlebnis in New Delhi zurückblicke, wäre es dem zufolge mit dem Stafettenlauf-‐Prinzip zu erklären. Der Künstler hat im Gestalten der Figur etwas Geistiges kodiert und vielleicht hundert Jahre später in mir dieses Geistige zum Klingen gebracht. Die Figur ist das Medium der Übertragung und ich bin das wahrnehmende Bewusstsein, das dieser Übertragung bedarf. Dadurch ist meine Intuition ausgelöst wor-‐ den. Jene unmittelbare Beziehung zwischen dem Objekt und mir. Das macht Sinn. Ähnli-‐ ches habe ich oft erfahren. Es ist wie Resonanz." "Ja", sagt die Yogini. "Das macht Sinn. Jetzt erzähle ich dir ein Erlebnis, das ich vor vielen Jahren hatte. Ich war Gast in einem Kloster, in das ich geschickt worden bin, damit ich bei dem dortigen Lama ein bestimmtes Ritual lerne, das ich in meinem Heimatkloster nicht lernen konnte. Er war ein sehr alter Mönch, der nicht mehr lange zu leben hatte. Eines Abends reichte er mir eine offenbar antike tibetische Schale mit Schriftzeichen, die mir vertraut und fremd zugleich waren. Jedenfalls konnte ich sie nicht lesen, auch wenn sie irgendwie tibetisch aussahen. Obwohl die Schale nicht groß war, lag sie schwer in meinen Händen. Sie vermittelte mir sofort seltsame Empfindungen. Sie war wie ein Le-‐ bewesen, das darauf wartet zu erwachen. Neugierig und mit einem spontanen Gefühl von Respekt betrachtete ich dieses ungewöhnliche Gebilde, dessen Patina vom Material nichts erkennen ließ. Ich vermutete, dass es sich um eine jener seltenen magisch herge-‐ stellten Legierungen handeln würde, bei dem in einem sehr geheimen ritualisierten Pro-‐ zess verschiedene Metalle miteinander verschmolzen werden. Dass es so etwas gab, war mich natürlich bekannt. Der alte Lama und ich saßen uns gegenüber. Es war sehr still im 147 Raum. Ein feiner würziger Duft einer zuvor vorgenommenen Räucherung hing noch in der Luft. Aufmerksam und konzentriert schaute mich der Lama an, als würde er auf et-‐ was von mir warten. Die einzige Lichtquelle in seinem Gemach waren Butterlampen, die auf einem kleinen Altar standen und einen Buddha golden schimmern ließen. Im Hinter-‐ grund hing ein altes Projektions-‐Thangka, eines jener Bilder, in der die zentrale Figur nicht ausgemalt worden ist, sodass man sie in einer projizierten Imagination einfügen muss. Das alles war mir natürlich sehr vertraut. Mit einer kaum wahrnehmbaren ra-‐ schen Bewegung streute der Lama etwas in ein neben ihm stehendes Kohlebecken. Ein leicht bitter schmeckender Geruch breitete sich aus. Angenehm würzig. Mehr und mehr strahlte die Schale eine unbeschreibliche Energie aus, die schwer zu beschreiben ist. Es war eine Energie von Macht. Der Macht einer lebendigen Wesenheit. Ich begegnete einer ungeprägten, einer von Motiven freien Macht, die sich derjenige zu Eigen machen konn-‐ te, der die Schale zu benutzen verstand. Es war eine Macht, die man mit seinen eigenen Motiven verbinden konnte, ungeheuerlich und erschreckend. Immer deutlicher habe ich gesehen, dass die von dieser Schale ausgehende Macht weder gut noch böse, weder heil-‐ sam noch unheilsam war. Es war lediglich reine Macht-‐Energie. Nach einer Weile fühlte ich mich völlig ausgelaugt und ich gab dem Lama die Schale zitternd zurück. Lächelnd nahm er sie in Empfang und wickelte sie wieder sorgfältig in die vielen Tücher, aus de-‐ nen er sie zuvor ausgewickelt hatte. Wie lange wir danach zusammen meditiert haben, weiß ich nicht mehr. Ich war jenseits aller Zeit." "Nach dieser intensiven Beschreibung deiner Erfahrung fällt es schwer, in den Bereich gedanklicher Überlegungen zurückzufinden." "Wir sind hier nicht zusammen, um das Leichte zu tun, sondern das Schwierige. Hast du das schon vergessen? Trotzdem wird es für dich am besten sein, wenn du dich jetzt in deine Kammer zurückziehst und dich in Ruhe deinen Stimmungen überlässt." … Der Abendhimmel vermittelt melancholische Ruhe. Die Schatten der Dinge beginnen sich bereits in der zunehmenden Dämmerung aufzulösen und die Luft bekommt ihre tagsüber verdunstete Feuchtigkeit zurück. Ich schaue aus dem geöffneten Fenster. Es ist rasch dunkel geworden. Hinter den ge-‐ zackten Rändern der Bergsilhouette glimmt noch ein Rest vom Rot des Sonnenunter-‐ gangs. Vereinzelt flimmern bereits Sterne. Mich fröstelt. Jetzt weht eine sanfte Brise zu mir herein und ich erhasche einen Nachklang vom warmen Duft des Grases. Ein Käuz-‐ chen schreit. Dann hat sich auch die Brise gelegt und alles um mich her wird eingewoben ins kühle Schweigen der beginnenden Nacht. Knochenbleiches Mondlicht fällt auf die staubigen Bodendielen. Unendlich langsam glei-‐ tet es durch die Kammer. Ein Menetekel der Zeit. Ich zünde eine Kerze an und sinniere. 148 Wie man das Geistige in einer Welt der Objekte erfährt In einiger Entfernung türmen sich Kumuluswolken über unserem "little Kailash". Hin und wieder ist fernes Donnergrollen zu hören. Das erste in diesem Jahr. Kühler Wind weht von Westen her und bringt einen Geruch von Gewitter mit. Die Yogini ist ins Dorf gegangen, um einige Besorgungen zu machen. Üblicherweise ma-‐ che ich das. Aber diesmal will sie für sich einige persönliche Artikel besorgen. Ich habe reichlich Zeit, um in Ruhe meinen Gedanken nachzuhängen. In welchem Zusammenhang stehen die Erlebnisse von Göden Marpa mit der tibetischen Schale und von mir und der Kalifigur zu den von einem Knaben gewählten Gegenstän-‐ den des verstorbenen Karmapa? Ich habe die Yogini so verstanden, dass man durch die Verfeinerung seiner Sinne Differenzierungen in den Erscheinungsformen wahrnehmen kann, die für jemand anderen nicht vorhanden sind, weil er sie nicht wahrnimmt. Aber wie ist es bei einem Kind, das noch keine derartige Entwicklung seiner Sinne durchge-‐ macht hat? Wenn ich mir vorstelle, dass ich aus einer Sammlung von Gegenständen die-‐ jenigen heraussuchen soll, die dem Karmapa gehört haben, dann würde ich – dessen bin ich mir sicher – spontan und ohne überlegen zu müssen diejenigen herausfinden, die etwas Besonderes an sich haben. Aber ein Kind? Andererseits, weshalb sollte ein beson-‐ deres Kind nicht ebenso feinsinnig empfinden können? Ich habe es mir in der Küche gemütlich gemacht. In der kurzen Zeit, die ich gebraucht habe, um eine Suppe zu kochen, hat das Wetter umgeschlagen. Schiefergraue Wolken haben den Himmel überzogen. Der Wind hat an Heftigkeit hörbar zugenommen. Er fegt immer neue und dunklere Wolkenballen heran, bis die Umgebung draußen wie mit Tu-‐ sche gemalt erscheint. Pfeifend presst er sich gegen die schlecht schließenden Fenster und will nicht dort bleiben, wo er sein soll: draußen. Düsternis hat sich über die Almwie-‐ se gelegt. Ich fühle, wie sich Spannung aufbaut. Der Wind zerfetzt die Wolken zu auseinander gerissenen Trauerschleiern, die er hierhin und dorthin treibt. Dann steigt vom Tal Nebel hoch. Es gibt keine Sicht nach unten mehr. Innerhalb weniger Augenblicke hat sich das Szenario gewandelt. Statt düsterem Schwarz ist es jetzt milchig helles Grau, das alles gleichmäßig einhüllt. Zwischendurch zerreißt ein heftiger Windstoß den grauen Brei und es sieht aus, als würde ein unsichtbares Me-‐ dium Ektoplasma von sich geben. Gespenstisch. Noch regnet es nicht. Ich denke an Mar-‐ pa und hoffe, dass sie nicht auf dem Weg, sondern noch im Dorf an einem geschützten Ort ist. Plötzlich explodiert vor dem Fenster grelles Licht. Für den Bruchteil eines Au-‐ genblicks dringt berstende Helligkeit wie eine Blendgranate in die Küche, während gleichzeitig ein alles zersprengender Donner in meine Eingeweide dringt. Vor Schreck springe ich vom Fenster weg. Als ich wieder ruhig atme, wird mir bewusst, wodurch die-‐ se seltsame Explosion von Licht zustande gekommen ist. Vor der Hütte hat ein Blitz ein-‐ geschlagen, dessen Licht durch den Nebel diffus zerstreut wurde und zu dieser beein-‐ druckenden Illumination geführt hat. 149 Nach einer halben Stunde ist dieses heftige, aber merkwürdig trockene Gewitter vo-‐ rüber. Der Nebel hat sich aufgelöst. Die Landschaft zeigt sich wieder in grauen Schattie-‐ rungen unter einem dunklen Himmel, in dem zwischendurch immer noch Blitze zucken. Jetzt reißt die Wolkendecke auf. Sonnenlicht ergießt sich über die Almwiese. Warme goldene Strahlen verleihen dem Ort eine besondere Art von Sauberkeit, die mir bisher nicht aufgefallen war. Ich fühle eine Klarheit und Reinheit, eine Harmonie von Licht und Schatten, als ob all dies eine Komposition zu Ehren der Schönheit sei. Gibt es etwas Bes-‐ seres, etwas Wahrhaftigeres als diese natürliche Fügung der Dinge? Ich sitze am Tisch und esse Suppe. Nichts Besonderes. Eine Maggi-‐Gemüsebrühe, der ich Hörnchennudeln beigefügt habe. Als ich fast fertig bin, höre ich, wie draußen die Türe geöffnet wird. Die Yogini ist zurück. Nachdem sie im Vorraum gerumpelt hat, klopft sie an der Küchentür und tritt ein. Sie wirkt erfrischt und wie mit Energie aufgeladen. "Möchtest du etwas von der Suppe?", frage ich sie gleich. "Es ist noch genug davon üb-‐ rig." "Sehr gerne", antwortet sie. "Ich gehe nur vorher hinauf und ziehe mich um, dann leiste ich dir Gesellschaft." Ich hole einen Suppenteller aus dem Regal und stelle ihn auf Marpas Platz. Der Suppen-‐ topf summt auf der heißen Herdplatte leise vor sich hin. Während die Yogini schweigend ihre Suppe löffelt, schaue ich aus dem Fenster. Die düstere Stimmung hat sich aufgelöst. Ich höre Vögel zwitschern, das Klappern des Löffels im Suppenteller und zwischendurch das Knistern des Feuers im Herd. "Wie ist es dir während des Gewitters gegangen?", fra-‐ ge ich, als Marpa fertig gegessen hat. "Kennst du die kleine Scheune am Weg, nachdem man den Graben überquert hat? Dort habe ich mich hingesetzt und gewartet. Weiter unterhalb muss ein Blitz eingeschlagen haben", stellt sie fest. "Ja", bestätige ich. "Vor der Hütte, vermutlich deshalb, weil eine Heugabel draußen stand, die als Blitzableiter gewirkt hat." "Das wäre möglich. Wir sollten darauf achten, dass so etwas nicht mehr vorkommt." Nachdem die Yogini das Geschirr weggeräumt hat und wir wie gewohnt zusammensit-‐ zen, fragt sie mich, worüber ich sprechen möchte. Ich antworte ihr, dass ich immer noch wissen möchte, wie sich Reinkarnierte ohne Erinnerung an Gegenstände erinnern kön-‐ nen. Nachdenklich sagt sie: "Das ist tatsächlich schwierig zu verstehen, wenn man davon aus-‐ geht, dass ein solcher Vorgang nicht auf Erinnerungen beruhen kann, wie ich dir gezeigt habe. Auch mir ist es nicht leicht gefallen, Einsicht in diese seltsame Tatsache zu be-‐ kommen. Es gibt viele Erscheinungsformen, die über das Körperliche hinausgehen und 150 einer anderen Dimension angehören. Sie sind den Menschen jedoch so selbstverständ-‐ lich, dass sie gar nicht merken und auch nicht wissen, dass sie es mit einer anderen Di-‐ mension zu tun haben." "Was könnte das sein?" "Du wirst überrascht sein. Zum Beispiel ein Gedanke. Jeder weiß, was ein Gedanke ist. Aber kaum jemand erfährt seine Gedanken als nicht materielle Wirklichkeit, die nicht körperlich ist. Genauso ist es auch mit inneren Bildern, den Phantasien; mit alledem, was du dir vorstellen kannst, egal was es ist. Das alles existiert geistig. Diese Wirklichkeit der geistigen Dimension zu erfahren, darauf kommt es an. Was diese Erfahrung angeht, so hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst das Geistige in der Welt der Objektrealität und in der Subjektwirklichkeit erfahren." "Das ist mir bisher nicht bewusst gewesen. Wie erfährt man das Geistige in der Welt der Objekte?" "Über Form. In der Welt der Objekte zeigt sich das Geistige über die Form. Form ist Geist. Jeder so genannte Gegenstand erscheint dir als Form. Auch die Wirkung, die er auf dich hat, vermittelt sich als Form. Dieses Wort Form musst du aber in einem sehr weit gefassten Sinn verstehen. Zum Beispiel ist auch die Patina an einem Objekt ein Aspekt der Form oder der Klang einer Glocke. Ich fasse diesen Begriff relativ weit, sodass ich auch die Anordnung der Moleküle eines Objekts als einen Aspekt von Form verstehe." "Du meinst also, das Geistige vermittelt sich über Form." "Ja. Anders kann es sich in der Welt der beobachtbaren Objekte nicht vermitteln." "Aber ziehst du damit das Geistige nicht auf die materielle Ebene herunter?" "Hör genau hin, was du sagst. Ich würde das Geistige von einer oberen auf eine untere Ebene herunterziehen. Siehst du nicht, wie du schon wieder in dieser absurden Raum-‐ vorstellung denkst und von einer Spaltung ausgehst? Nein, da wird nichts von irgend-‐ woher irgendwohin gezogen. Jede materielle Erscheinungsform ist etwas Geistiges. Das Geistige gestaltet das, was wir Materie nennen." Ich antworte nicht gleich, sondern schenke der Yogini Tee ein. Dann lehne ich mich zu-‐ rück und beginne nachdenklich die Teekanne hin und her zu schieben, um meine Ge-‐ danken zu ordnen. "Du hast mir vor einigen Tagen ein bemerkenswertes Erlebnis geschildert. Deine Erfah-‐ rung mit einer seltsamen tibetischen Schale. Ich glaube, du wolltest mir damit ein Bei-‐ spiel dafür geben, wie es möglich ist, dass ein Kind aus mehreren Gegenständen diejeni-‐ gen des verstorbenen Karmapa wählt, jedenfalls den einen oder anderen." 151 "Mit meiner Schilderung habe ich nur dein Erlebnis unterstützen wollen. In beiden Fäl-‐ len geht es um eine geistige Übertragung über die Form." "Gut. Einerseits kann ich diese Übertragung verstehen, andererseits kann ich mir trotz-‐ dem immer noch nicht erklären, wie das Kind die Objekte des verstorbenen Karmapa, ohne eine Erinnerung haben zu können, herausfindet." "Durch Korrespondenz, Übereinstimmung. Durch ... vielleicht könnte man es auch Reso-‐ nanz nennen." "Demnach muss das Kind etwas vom Geist des Objekts in sich haben, damit Resonanz möglich ist." "Ja. Das ist es, was ich dir als Erklärung anbiete." "Ich glaube, das kann ich mit meinen Erfahrungen in Übereinstimmung bringen. Jemand wird sich nur dann von einem Bild angesprochen fühlen, wenn er dessen Eigenschaften in sich hat und in sich anklingen lässt." "Genau. Diese Schwingungsbereitschaft muss gegeben sein. Das ist nicht viel anders wie bei zwei Saiten. Wenn sie nicht gleich gestimmt sind, kann die eine die andere nicht zum Mitschwingen bringen. Eine schlaffe Saite oder eine, die zu straff gespannt ist, wird nicht schwingen." "In diesem Beispiel wäre das Medium der Übertragung die Luft. Auf welche Weise würde analog dazu das Geistige übertragen?" "Das ergibt sich aus dem, was ich dir bereits gesagt habe: Einerseits durch die wahr-‐ nehmbare Form, andererseits durch das Wahrnehmen selbst. Ohne Wahrnehmung gibt es diese Übertragung nicht. Beim Menschen ist die Wahrnehmung das Medium der Übertragung." "Eigentlich ist das klar", sage ich darauf. Nachdenklich spricht Marpa weiter. "Die Klaviatur unseres Nervensystems muss ge-‐ stimmt werden. Das ist nicht anders als bei Saiten – nur eben nicht ganz so einfach. "Jetzt möchte ich doch noch einmal auf das Kind zurückkommen. Offenbar hat es diese Bereitschaft zum Mitschwingen bei einem Objekt, das einen geistigen Klang vermittelt? Unterscheidet es sich deshalb von anderen Kindern?" "Ich denke schon, ja." "Und wird es deshalb als Reinkarnation anerkannt?" "In Tibet scheint die Anerkennung einer Reinkarnation nicht vom Geistigen abhängig zu sein. Damit du verstehen kannst, was ich damit sagen will, müssen wir dieses Thema von 152 einer ganz anderen Seite betrachten. Wenn du dich mit tibetischen Reinkarnationen be-‐ schäftigst, kannst du dich fragen, warum sie alle männlich sind. Es hat nie einen weibli-‐ chen Dalai Lama gegeben, nie einen weiblichen Karmapa und keine Tulku-‐Frau. Selbst-‐ verständlich gab es auch weibliche Lamas – aber wir haben kein Wort dafür. Jedenfalls kommt der Begriff b La mo, das Femininum von b La ma – Lama – in keinen unserer Schriften vor. Was folgerst du daraus?" "Damit bestätigt du mir ein Vorurteil. Ich meine nämlich, dass Reinkarnationen, die aus-‐ schließlich männlich sind, kein Ausdruck einer geistigen Wirklichkeit sein können. Sehr wahrscheinlich sind sie das Resultat eines sozialen Nutzens und somit äußert diessei-‐ tig." "Das kann man wohl sagen", bestätigt Marpa. "Wenn sich etwas Geistiges inkarnieren sollte, wäre es seinem Wesen nach ungeschlechtlich. Das kann sich sowohl in einem männlichen als auch in einem weiblichen Körper ereignen. Aber die Realität zeigt uns zweifelsfrei, dass wiedergeborene Lamas ausschließlich in männlichen Erscheinungs-‐ formen auftreten. Das ist doch sehr merkwürdig. Ich bin mir sicher, dass man Reinkar-‐ nationen auch in weiblichen Körpern finden würde – aber es wird nicht danach gesucht. Man sucht sie immer und ausschließlich bei Knaben." "Das heißt, Reinkarnationen sind kein geistiges, sondern ein soziales Phänomen." "In Tibet ist es offenbar so. Aber das schließt selbstverständlich die Möglichkeit echter Reinkarnationen nicht aus", schränkt die Yogini ihre Kritik ein. "Sie sind deshalb nicht ausgeschlossen, weil sich – wie wir in einem früheren Gespräch festgestellt haben – geistige Muster reinkarnieren." "So ist es." "Damit hast du etliche Widersprüche aufgelöst." Entspannt lehne ich mich zurück und lasse diese Einsichten auf mich wirken. "Wenn ich alles das, was du mir über Reinkarna-‐ tion erklärt hast, zusammenfasse, komme ich zu dem Ergebnis, dass es sich um ein äu-‐ ßerst schillerndes Phänomen handelt. Viele Reinkarnationen – vor allem in Tibet – las-‐ sen sich vermutlich auf soziale Motive zurückführen, wo es um das Beibehalten von Machtstrukturen geht. Andererseits hast du aber auch gezeigt, dass es echte Reinkarna-‐ tionen geben kann, wenn man sie als Verkörperung eines geistigen Musters versteht. Ei-‐ ne solche Erscheinungsform ist nicht an ein biologisches Geschlecht oder an eine be-‐ stimmte Kultur oder Geografie gebunden. Außerdem wird niemand als diejenige Person, als die er gelebt hat, wiedergeboren. Was sich wieder inkarnieren kann, sind die Motive eines Menschen, die in Form von Impulsen in eine neue biologische Existenz eingehen. Aber wie ist eine solche Reinkarnation mit der Tatsache der DNS, dem Muster des Erb-‐ guts, in Verbindung zu bringen?" 153 "Auf diese Frage habe ich schon gewartet", entgegnet Göden Marpa gelassen. Die DNS ist die biologische Klaviatur, die von der Familie, der Gesellschaft und – in seltenen Fällen – vom Individuum selbst gestimmt wird. Natürlich kann sie auch verstimmt, deformiert oder sogar zerstört werden." "Und der wieder verkörperte Geist spielt dann auf dieser biologischen Klaviatur?" "Das ist das Bild. Aber sei vorsichtig, wie du etwas sagst. Der Geist, das vermittelt die Vorstellung einer substanziellen Erscheinungsform, als die es ihn nicht gibt. Du müsstest also sagen: Das verkörperte Geistige spielt auf der biologischen Klaviatur." "Aber wo ist dieser reinkarnierte Geist im Menschen?", frage ich hartnäckig weiter. "Da ist schon wieder diese irrelevante Frage nach einem Ort und der Vorstellung von ei-‐ nem Geist als Substanz", antwortet die Yogini, ohne sich weiter darauf einzulassen. "Wie könnte der Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und Reinkarnation aussehen? Was ist die Schnittstelle, die Verbindung, die einen Austausch von Energie oder Information zwischen der materiellen biologischen und der geistigen Erschei-‐ nungsform ermöglicht? Das ist eine nahe liegende Frage, die man nicht übersehen kann. Ich bin bei meinem Nachdenken einer Lösung dieser Frage kein bisschen näher gekom-‐ men", sage ich betrübt. Göden Marpa nickt zustimmend – ein wenig allzu zustimmend, wie mir scheint. Das verstimmt mich. "Auch hier musst du wieder bedenken: Zwischen der biologischen und der geistigen Er-‐ scheinungsform gibt es keine räumliche Trennung. Sobald du von einer dreidimensiona-‐ len Raumvorstellung ausgehst, taucht sofort dieses Problem auf, für das du eine Lösung suchst." Aufmerksam betrachtet die Yogini ihre Füße. "Die Diskrepanz zwischen Real-‐ welt und Wirklichkeit löst sich auf, sobald du die Wirklichkeit nicht mehr von der Reali-‐ tät trennst, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Wenn du klar erkennst und siehst, dass Realität und Wirklichkeit nicht voneinander getrennt sind, weil die Realität nämlich in der viel umfassenderen Wirklichkeit aufgeht, löst sich auch die scheinbare Unvereinbar-‐ keit auf." Nachdenklich frage ich: "Könntest du dem zustimmen, wenn ich sage, die Realwelt ist in der mehrdimensionalen Wirklichkeit enthalten?" "Du meinst das Richtige, formulierst es aber falsch, indem du schon wieder vom Enthal-‐ ten Sein sprichst. Siehst du, worauf ich dich aufmerksam machen will?" "Ja", bestätige ich Marpas Kritik. "Ich habe es selbst sofort gemerkt, als ich es gesagt ha-‐ be." "Gut. Wie kannst du es besser ausdrücken?" 154 "Dreidimensionale Realität und mehrdimensionale Wirklichkeit sind Universum. Aber das hört sich ziemlich komisch an." "Es hört sich ungewohnt an, entspricht aber dem, wie es ist. Wenn wir mit Hilfe unserer Sprache solche Einsichten formulieren, ist das ein Seiltanz an der Peripherie des Ge-‐ wohnten. Damit müssen wir uns abfinden. Es sollte dich nicht stören." "Der Seiltanz an der Peripherie des Gewohnten – das ist ein treffendes Bild." Unausgesprochen denke ich mir, wie viele Schichten muss ich noch abtragen, wie viele Schleier noch beiseite zerren, bis ich endlich etwas von der geistigen Wirklichkeit ver-‐ stehen und erfahren kann? Oder zumindest einen Teil davon? Ich schaue auf die Hände der Yogini, die gefaltet in ihrem Schoß liegen. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie einen Ring trägt, den ich bisher noch nicht an ihr gesehen habe. Vermutlich aus Silber, mit einem Stein, der aussieht wie ein blasser wässriger Amethyst. Wie eine Träne Shivas, denke ich mir. Marpa neigt den Kopf zur Seite und lächelt. "Was beschäftigt dich?", fragt sie. "Das mit den Sinnen verbundene Geistige, das du beschrieben hast, stirbt mit dem Kör-‐ per. Sind die Sinne tot, wäre demnach auch das damit verbundene Geistige tot. Das ist klar. Nun ist es aber so, dass man beim Geistigen davon ausgeht, dass es nicht ebenso sterben würde wie der Körper. Das ist bei vielen Menschen ein Gefühl, eine Ahnung, eine Intuition, ein Glaube, sogar eine Gewissheit – nenne es wie du willst. Verstehst du, was ich meine?" "Das verstehe ich sehr gut. Aber derart vereinfacht darfst du diesen Zusammenhang von Geist und Sinn nicht sehen. Du hast das Wahrnehmen vergessen. Erst die Wahrnehmung ergibt in Verbindung mit der Sinnesdifferenzierung das Geistige. Jetzt zeige ich dir noch einen anderen, den wesentlichen Aspekt der geistigen Erscheinungsform: die Imaginati-‐ onswelt der imaginären Wirklichkeit. Die imaginäre Wirklichkeit ist insofern etwas Geis-‐ tiges, weil sie sich der Auflösung und dem Zerfall der Realwelt entzieht. Die Objektreali-‐ tät unterliegt den Gesetzen des Werdens und Vergehens. Die Imaginationswelt der ima-‐ ginären Wirklichkeit unterliegt diesen Gesetzen nicht und ist deshalb eine rein geistige Dimension." "Das wäre eine Erklärung für das Gefühl, dass es außer dem sterblichen Körper noch etwas anderes gibt." "Ja. Dieses andere ist das imaginäre Universum." "Täuscht mich meine Ahnung, die mir sagt: Der Zugang zu dieser imaginären Wirklich-‐ keit ist die Imagination?" "Nein, du täuscht dich keineswegs", antwortet Marpa. 155 "Etwas lichtet sich jetzt", sage ich und beobachte einen kleinen Käfer, der sich abmüht, den Fensterrahmen hochzulaufen, um ins Licht zu gelangen. Er ahnt nichts von der für ihn unsichtbaren Barriere aus Glas. "Gibt es einen beseelten Geist und eine vergeistigte Seele?" Diese Frage kommt mir spontan in den Sinn, ohne dass ich darüber nachgedacht habe. Ich bin selbst erstaunt und höre sie, als habe ein anderer sie gestellt. Die Gesichtszüge der Yogini nehmen lang-‐ sam und wie in Zeitlupe einen veränderten Ausdruck an: eine Mischung aus Überra-‐ schung, Distanziertheit und Verblüffung. Lange sagt sie nichts. "Du spinnst", meint sie schließlich und lacht. "Ist es dir tatsächlich ernst damit?" "Wenn es dir zu viel ist, kann ich gut darauf verzichten. Ich weiß selber nicht, warum ich diese Frage gestellt habe." "Das macht nichts", beschwichtigt die Yogini. "Betrachten wir sie als mentalen Sport. Gibt es eine vergeistigte Seele?" Marpa fragt es genussvoll, als würde sie etwas ganz und gar Besonderes kosten. "Dass es Seele nicht als Vorhandensein gibt, haben wir bereits erkannt. Man erfährt Seele als Erscheinungsform des beseelt Seins durch heilsames Denken, Handeln und sich Verhalten. Es entfaltet sich, indem man die drei Gifte Gier, Geiz und Ignoranz meidet. Wie könnte sich demnach ein vergeistigtes beseelt Sein zei-‐ gen? Zeigt es sich als eine Erscheinungsform der Realwelt oder der imaginären Wirk-‐ lichkeit? Ich frage dich das nicht. Es wäre zu peinlich, wenn ich annehmen würde, dass du die Antwort nicht kennst." "Auf jeden Fall müssen ihm heilsame Motive zugrunde liegen. Sie sind etwas Geistiges. Weil es ohne Motive keine Entscheidungen für heilsames Handeln gibt und diese Ent-‐ scheidungen mit Wahrnehmen verknüpft sind, wäre Beseeltheit eine vergeistigte Er-‐ scheinungsform der imaginären Wirklichkeit in der Realwelt." "Jetzt hast du dir die Antwort auf deine Frage selbst gegeben. Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu: Gibt es einen beseelten Geist?" "Ich muss etwas korrigieren", unterbreche ich Marpa. " Es gibt keinen Geist als etwas Vorhandenes." "Warte einen Augenblick. Das ist nur dann richtig, wenn du das Vorhandensein substan-‐ ziell verstehst. Ist die imaginäre Wirklichkeit vorhanden? Sind deine Traumbilder oder Imaginationen vorhanden oder nicht vorhanden? Nur dann, wenn du das substanzielle Vorhandensein als vorhanden und das nicht substanzielle als nicht vorhanden bezeich-‐ nen würdest, könntest du sagen, die imaginäre Wirklichkeit wäre etwas nicht Vorhan-‐ denes." 156 "Das habe ich nicht bedacht. Der Geist, das Geistige ist demnach etwas nicht substanziell Vorhandenes. Die imaginäre Wirklichkeit gibt es; sie ist vorhanden. Kann also eine Er-‐ scheinungsform der imaginären Wirklichkeit beseelt sein?" "Es wäre anschaulicher, wenn du diese etwas abstrakte Frage mit einem geeigneten Bei-‐ spiel illustrieren könntest." "Ein nahe liegendes Beispiel könnten Gedanken sein. Gibt es beseelte Gedanken?" Die Yogini zieht die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel nach unten. "Beseelte Ge-‐ danken ...?", fragt sie gedehnt. "Wenn du erkannt hast, dass es heilsames und unheilsa-‐ mes Denken gibt, kannst du daraus folgern, dass Gedanken beseelt sein können, nicht wahr?" "Ja, das ist nahe liegend. Aber ich kenne Gedanken, die ich als beengend empfinde, und solche, die mir ein Gefühl der Weite vermitteln. Ist das etwas Seelisches?" "Nicht unbedingt; dieses Empfinden kann durchaus mit deinen vegetativen körperlichen Reaktionen zusammenhängen. Bevor du jetzt weitere Fragen stellst, sage ich dir gleich, dass ich für diesmal genug habe." Marpa erhebt sich, als würde sie eine schwere Last auf ihren Schultern haben. Ihr Gesicht wirkt müde. Dann hebt sie ihre rechte Hand und ver-‐ lässt schweigend die Küche. Ich bleibe mit gemischten Gefühlen zurück. 157 Der Körper ist mehr als ein biologisches Objekt Es ist der fünfte Tag nach Vollmond. Der Himmel ist ein vollgesogener Schwamm, von dem es ohne Unterbrechung herunterregnet. Aus der Dachrinne plätschert das Wasser auf einen Stein. Dadurch entsteht ein scharfes Geräusch – nasses Zersplittern. Die ist Er-‐ de aufgeweicht. Auf dem Weg zur Toilette écologique platscht man durch das Gras wie durch einen Sumpf. Wenn ich auf dem Kübel sitze, kriecht mir die Feuchtigkeit in die Gedärme, bis sie das Gehirn erreicht und mein Denken ertränkt. In einem abgelegenen Winkel der Hütte habe ich ein abgegriffenes altes Buch entdeckt. Einen Bauernkalender aus dem Jahr 1801. Darin steht zu lesen, dass Regen bevorsteht, wenn die Spinnen ihre senkrecht gewebten Netze fressen. So ist es. Bevor der Regen kam, habe ich tagsüber etliche Netze zwischen den Halme gesehen. Am Abend waren sie nicht mehr da. Und über Nacht hat sich das Wetter geändert. Der trübe Tag färbt mein Gemüt. Eine Palette von Farbtönen, die mehr mit Schwarz als Weiß gemischt sind. Etwas zieht mich nach unten. Ich fühle es deutlich und habe keine Ahnung, was es ist. Mechanisch und lustlos sorge ich für das Frühstück. Heute dauert es besonders lange, bis der launische Herd warm wird. Ich warte eine Stunde, ehe das Was-‐ ser kocht. Draußen wabern Wolken. Oder ist es Nebel, der sich als vollgesogene nasse Decke schwer auf die Landschaft legt? Feuchte Kälte dringt durch die Ritzen der Hütte. Endlich kocht das Wasser und ich kann den Tee aufgießen. Nachdem ich das Übrige zu-‐ sammengetragen habe, Brot, Butter, Marmelade und Honig, rufe ich Marpa. Wir frühstü-‐ cken schweigend. Nachdem ich für eine zweite Kanne Tee gesorgt habe, steht die Yogini auf, nimmt den Feuerhaken und zieht die Ofenringe zur Seite. Flammen züngeln hoch und übel riechender beißender Qualm breitet sich aus. Wieder einmal habe ich Holzstü-‐ cke von Balken nachgelegt, die sich in der Vergangenheit des Stalls mit dem Urin der Kühe vollgesogen haben. Obwohl sie gut durchgetrocknet sind, verbreiteten sie beim Verbrennen dennoch einen äußerst unangenehm penetranten Geruch. Ich muss husten und meine Augen beginnen zu tränen. Nachdem die Yogini den großen Wasserkessel über die offene Feuerstelle geschoben hat, wischt sie sich ihre Hände am Rock ab und setzt sich wieder. Der Gestank scheint sie nicht zu stören. Mich schon. "Ich habe ein neues Projekt für dich", sagt sie ernst und listig zugleich. Eine Pause entsteht, in der ich darauf warte, dass mir eine neue Aufgabe erklärt werden wird. Das ist ein Irrtum. Stattdessen beginnt Marpa von etwas ganz anderem zu reden. "Subjekte unterscheiden sich von Objekten. Weißt du, warum das so ist? Es hat mit Ab-‐ grenzung zu tun. Im Unterschied zur Erscheinungsform einer Objektrealität ist ein Sub-‐ jekt etwas, das sich abgrenzt. In buddhistischen Schriften kannst du zwar etwas über die große Einheit alles Seienden lesen, aber die Vorstellungen, die dabei entstehen, entspre-‐ chen vermutlich kaum der Wirklichkeit. Einheit ist ein schwammiger Begriff, der alles in 158 sich aufsaugt. Deshalb sage ich dir – und bin mir der Provokation durchaus bewusst: Es gibt keine Einheit. Die so genannte Einheit ist eine Vielheit, die äußerst komplex ver-‐ netzt ist. Das Universum besteht aus Unterschieden und Gegensätzen. Feuer ist von Wasser getrennt. Es gibt, glaube ich, zweitausendsiebenhundert Arten von Moskitos. Wo ist da eine Einheit? Es gibt einhundert Millionen Milben, Tausendfüßler und Würmer in jedem Hektar Ackerboden. Was hat das mit Einheit zu tun? Auf unserer Erde gibt es Schneeflocken, Menschen, Fische, Kraken, Spinnen, Samen, Blumen und Wolken und noch viel mehr und anderes, das sich hinsichtlich Aussehen, Wirkung und Funktion un-‐ terscheidet." Der Wind presst den Regen gegen die Fensterscheiben. Die Landschaft sieht aus wie ein verwaschenes Aquarell, das sich mit dem Herunterfließen des Wassers bewegt. "Wie kommt es zu dieser Abgrenzung? Sie entsteht bei den biologischen Erscheinungs-‐ formen aus der Funktion einer Zellmembran, durch die ein Innensystem von einem Au-‐ ßensystem getrennt wird. Eine Organisationsform, die so beschaffen ist, dass aufgrund einer Abgrenzung ein Innensystem entsteht, das mit einer Außenwelt in Beziehung tritt, ist eine biologische Erscheinungsform. Ein Subjekt. Objekte haben kein Innensystem. Sie sind ausschließlich außen." Ich kann nicht erkennen, was die Yogini mir damit mitteilen will. Noch weniger vermag ich zu sehen, um welches Projekt, um welche angedeutete Aufgabe es sich handeln könn-‐ te. Meine Irritation, die sie mir vom Gesicht ablesen kann, scheint sie nicht zu beeindru-‐ cken. "Eine Abgrenzung beruht auf einem Konzept. Kannst du dir vorstellen, dass es ein Kon-‐ zept ohne Motiv gibt?" Neugierig schaut sie mich an. Als ich nichts dazu sage, spricht sie weiter. "Jede Erscheinungsform ist eine Komposition von Beziehungen mit dem Ziel, eine Wir-‐ kung zu erzeugen. Unabhängig davon, um welche Wirkung es sich handelt, wird sie in jedem Fall das Resultat eines Motivs sein. Es wird darüber diskutiert, ob die materielle Komposition, die wir Körper nennen, das Ergebnis zufälliger Begegnungen zwischen Elementarteilchen ist oder nicht. Aufgrund welcher Einflüsse fügen sich Moleküle zu ei-‐ nem komplex gestalteten Körper zusammen? Wodurch bildet sich aus dem unermessli-‐ chen Bestand an Materie, die in ihren Grundlagen völlig einheitlich ist, eine sich selbst erhaltende biologische Gestalt? Ist die Gestalt dieses Thangka-‐Bildes, das du mir ge-‐ schenkt hast, etwa von selbst entstanden, indem sich Farbpartikel zufällig über die Leinwand verteilt haben?" Göden Marpa deutet hinter sich auf das Bild, von dem im Halbdunkel der Kammer nur die kräftigeren Farben zu erkennen sind. "Lässt sich diese visuelle Komposition vom unstrukturierten Anfangszustand der Farbmaterie her erklä-‐ ren oder wäre es logischer, von einem Konzept auszugehen, das auf einen geordneten Zustand hin ausgerichtet ist? Das führt uns zu einer weiteren Frage: Gibt es ein Konzept 159 ohne Wahrnehmung? Was meinst du?" Die Yogini macht eine Pause und gibt mir Gele-‐ genheit, etwas zu erwidern. Mir fällt nichts dazu ein. "Es gibt keine Gestaltung ohne Konzept", fährt sie fort. "Es gibt kein Konzept ohne Motiv und es gibt kein Motiv ohne Wahrnehmung. Für mich folgt daraus, dass es ohne wahr-‐ nehmende Subjektwirklichkeit auch keine Motive, ohne Motive keine Konzepte und oh-‐ ne Konzepte keine Abgrenzung gibt. Damit sich in der Objektrealität etwas gestaltet formiert, das heißt zusammenfügt, muss es eine wahrnehmende Subjektwirklichkeit mit Konzepten und Motiven geben." "Darf ich eine Zwischenfrage stellen: Was meinst du mit formieren?" "Wenn ich formieren sage, meine ich einen Vorgang, durch den etwas in eine geordnete Beziehung gebracht wird. Schau dir diesen Dordje an", sagt die Yogini, greift hinter sich und legt ein solches Gebilde auf den Tisch. Sie zeigt mit dem Finger darauf und sagt sehr bestimmt: "Das ist ein Ritualobjekt. Es symbolisiert die Einheit in der Polarität. Ebenso wie du hier einen oberen Teil von einem unteren unterscheiden und nicht voneinander trennen kannst, kannst du seine Objektrealität nicht von der Subjektwirklichkeit tren-‐ nen." "Doch", widerspreche ich sofort. "Die Objektrealität dieses Dordje war vorher da, in Form von Materie, aus der er besteht." "Aber nein – überlege langsam", mahnt sie mich. "Wenn du mittels Materie einen Dordje gestaltest, hast du ein Konzept und ein Motiv. Im Gestaltungsprozess ist die Objektreali-‐ tät nicht von der Subjektwirklichkeit getrennt. Das Motiv, einen Dordje zu gestalten, wirkt auf die Materie ein. Deshalb hängen Subjektwirklichkeit und Objektrealität zu-‐ sammen. Es gibt kein Vorher und Nachher." Mit dieser Äußerung der Yogini bin ich nicht einverstanden und kritisiere weiter: "Es gibt die Materie vorher im ungestalteten und nachher im gestalteten Zustand." "Das ist richtig. Trotzdem kannst du bei einem Dordje die Objektrealität nicht von der Subjektwirklichkeit trennen." "Aber selbstverständlich existiert diese Trennung ", beharre ich. Geduldig lächelnd schaut mich Göden Marpa an und wartet ab. "Dieser Dordje besteht aus Metall", beginne ich erneut zu argumentieren. "Das ist seine Objektrealität. Deshalb kann ich seinen Objektaspekt sehr wohl vom Subjektaspekt trennen." "Und was wäre dieser Subjektaspekt?", fragt sie mit sanfter Stimme nach. 160 In meinem Kopf beginnt es zu kribbeln, als würden Ameisen hin und her laufen. "Der Subjektaspekt des Dordje ist seine Bedeutung, die er für uns hat, weil wir ihm diese Be-‐ deutung geben. Er wurde entsprechend seiner Bedeutung gestaltet." "So ist es. Was wir einen Dordje nennen, existiert nur aufgrund seiner Bedeutung, die ein Aspekt der Subjektwirklichkeit ist. Deshalb benutze ich ihn als Beispiel für das Zusam-‐ men-‐ oder Ineinanderwirken von Objektrealität und Subjektwirklichkeit. Sobald du den Subjektaspekt der Bedeutung herausnimmst, hast du nur ein Objekt, aber keinen Dordje vor dir." Erst jetzt erkenne ich, wovon die Yogini spricht. "Du meinst also, ein Metallhändler wür-‐ de nur eine komisch geformte Legierung in der Hand haben." "Richtig. Er würde keinen Dordje sehen. Ich gehe jetzt nach oben, um zu lesen", beendet Marpa überraschend das Gespräch. Während ich in der Küche sitzen bleibe und mir die wichtigsten Aussagen notiere, findet auf der Ebene meines Fühlens ein anderer Denkprozess statt. Er vermittelt mir die Bot-‐ schaft: Die Möglichkeiten der Subjektwirklichkeit entfalten sich in der Objektrealität. Dieser Gedanke lässt mir keine Ruhe. Eine Stunde später steige ich die Treppe zu Marpa hoch und klopfe an. Sie bittet mich herein. Die Yogini hat ein Buch auf den Knien und schaut mich fragend an. "Ich muss dir unbedingt noch etwas sagen, was mir soeben in den Sinn gekommen ist", begründe ich mein Kommen. "Offenbar ist es für dich wichtig." Sie legt den Zeigefinger zwischen die geöffneten Seiten und schließt das Buch. "Ich glaube schon", teile ich ihr meine Überlegung mit. Versonnen schaut sie auf ihr Buch und streicht darüber. Mehrmals, als würde sie es streicheln. Dann meint sie: "Die umge-‐ kehrte Betrachtungsweise ist viel interessanter. Die Möglichkeiten der Objektrealität entfalten sich aufgrund der Subjektwirklichkeit." "Meinst du, die Möglichkeiten der gestalteten Objektrealität?" Göden Marpa nickt. Während ich vor ihr stehe und darauf warte, dass die Yogini noch etwas sagt, gewahre ich einen unaufdringlichen, aber dennoch eindringlichen Duft, den ich bisher nicht wahrgenommen habe. Mein Blick fällt auf ein Regal, in dem eine alte, mit Sand gefüllte Butterteeschale steht, in der ein Räucherstäbchen steckt. Von seiner rötlich glosenden Spitze steigt ein Rauchfaden auf, der sich zu einem schmalen Schleier formt. Die Yogini beobachtet mich. Während ich tief ausatme und danach in einem langsamen aufmerksamen Einatmen so viel als möglich von diesem Geruch in mich aufnehme, höre ich sie sagen: "Du kannst dich setzen, wenn du möchtest. Ich sehe, wie aufmerksam du schnupperst." 161 Als hätte sie nie etwas anderes vorgehabt, beginnt sie zu erklären. "Der Gebrauch von Räucherungen ist im Zusammenhang mit spiritueller Praxis in Tibet sehr verbreitet und hat nicht immer nur mit Wohlgeruch zu tun. Ich erinnere mich an ein altes Ritual, das während meiner Kindheit praktiziert wurde, später jedoch in Vergessenheit geraten ist. Dabei wurde eine Räucherkerze abgebrannt, die einen äußerst unangenehmen Geruch verbreitet hat. Der den Ritus ausführende Lama schaffte eine Verbindung zwischen die-‐ sem Geruch und den unheilsamen Erscheinungsformen der Klostergemeinschaft." "Wie hat er das gemacht?", wage ich Marpa neugierig zu unterbrechen. "Wie hat er was gemacht?", fragt sie zurück. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie er den Geruch mit den unheilsamen Erscheinungs-‐ formen der Klostergemeinschaft verbunden hat." "Ach ja, jetzt verstehe ich, was du wissen willst. Das hat er mit Hilfe einer aus Teig ge-‐ kneteten Figur gemacht, in der diese Erscheinungsformen repräsentiert waren. Mit Hilfe seiner Imaginationskraft hat der Lama zwischen dem Geruch und der Figur eine Verbin-‐ dung hergestellt. Danach haben Mönche sie ins Freie getragen und rituell zerstückelt. Anschließend wurden die Teile verbrannt." Die Yogini nimmt einen Zettel vom Tisch, steckt ihn anstelle ihres Fingers in das Buch, das sie nun neben sich auf einen Stapel an-‐ derer Bücher legt. "Räucherungen haben also eine Funktion. Duftstoffe wurden und werden bei uns benutzt, um Informationen zu transportieren. Erscheint dir das seltsam? In einer profanisierten Form kannst du diesen Zusammenhang täglich erfahren. Es gibt Tausende kosmetische Mittel, die sehr sorgfältig daraufhin komponiert worden sind, die Menschen zum Kaufen zu verführen." Nachdenklich streicht sich Marpa über das Ge-‐ sicht. "Weißt du, dass der historische Buddha Rituale und Räucherungen abgelehnt hat? Es kann nicht schaden, wenn ich dich darauf hinweise, dass der Buddhismus in seiner Urform eine atheistische Lehre und Verwirklichungspraxis war. Das hat sich schon lange geändert. Rituale und Räucherungen sind aus dem Buddhismus nicht mehr wegzuden-‐ ken. In Tibet hat der herausragende Philosoph des Mahayana-‐Buddhismus Nagarjuna eine Schrift über die Anfertigung von Räucherkerzen verfasst, die als Perlenschnur des Kleinods der Weihrauchbereitung bekannt ist. Was du jetzt hier bei mir wahrnimmst, nennen wir in Tibet ssang ssel. Übersetzt bedeu-‐ tet es ungefähr Weihrauch vertreibt die Disharmonie. Du kannst die Wirkung von Duft-‐ stoffen relativ leicht an dir selbst prüfen. Achte auf Folgendes: Zieht dich ein Geruch hin-‐ unter oder hinauf? Etwas ist seltsam: Obwohl es im Seelischen und Geistigen keinen dreidimensionalen Raum und somit weder ein Unten noch ein Oben gibt, wirst du ein-‐ deutig feststellen, dass es nach unten und nach oben ziehende Gerüche gibt. Außerdem kannst du darauf achten, ob dich ein Duft eng oder weit macht. Entfaltet oder verschließt er etwas in dir? Macht er dich eher hell oder dunkel? Unterstützt er dein Wachsein oder schläfert er dich ein? Das sind keine Phantasien. Es sind konkrete Wahrnehmungen. Ich garantiere dir: Jeder Geruch ist mit irgendeiner dieser Wirkungen verbunden." 162 "Was du sagst, kann ich dir aus Erfahrung bestätigen. Ich erfahre Gerüche eindeutig als öffnend oder verschließend – ich könnte auch sagen weitend oder zusammenziehend, und zwar so unmittelbar und direkt, dass ich deswegen Probleme bekomme." "Vielleicht interessiert es dich zu wissen, dass in alten Texten davon die Rede ist, Gerü-‐ che würden auf den feinstofflichen Körper wirken. Ich habe mich lange gefragt, wie das zu verstehen ist, weil ich mir diese so genannte Feinstofflichkeit nicht zufrieden stellend erklären konnte." Die Yogini hält kurz inne, dann fragt sie: "Interessiert dich das?" "Aber ja, durchaus", antworte ich. "Gut, dann werde ich dir jetzt eine etwas verworrene Lehre so einfach wie möglich be-‐ schreiben. Im Buddhismus unterscheidet man mehrere Körper. Hier haben wir bereits ein Problem. Mit dem Wort Körper benennt man nämlich eine Erscheinungsform von räumlicher Ausdehnung, den man beobachten und messen kann. Was ist ein feinstoffli-‐ cher Körper? Als etwas Feinstoffliches versteht man nichts Körperhaftes, das dreidi-‐ mensional ausgedehnt ist. Im Gegenteil. Es ist etwas von dieser Räumlichkeit Befreites. Man wird ihn deshalb nicht beobachten und auch nicht messen können. Ein feinstoffli-‐ cher Körper ist deshalb ein Widerspruch, weil ein räumlich dreidimensional ausgedehn-‐ ter Körper nicht feinstofflich sein kann. Wir kommen aus diesem Dilemma nur dann heraus, indem wir den Begriff Körper nicht nur für räumlich bedingte, sondern darüber hinaus auch für nicht räumlich bedingte Erscheinungsformen anwenden." "Wir reden also jetzt von einem Körper, der in drei Dimensionen existiert, und von ei-‐ nem Körper ohne diese Dimensionen." "Ich weiß, das hört sich unvernünftig an, aber so ist es. Jetzt komme ich wieder auf die verschiedenen Körper zurück, wie ich sie sehe und erfahre. Es gibt den durch deine Ge-‐ burt entstandenen biologischen Körper. Er ist eine räumlich bedingte dreidimensionale Erscheinungsform. Im Unterschied zu den anderen Körpern, die als feinstofflich gelten, ist dieser stoffliche Körper beobachtbar, messbar und objektiv. Dann gibt es einen Ener-‐ giekörper, der durch stoffliche und geistige Nahrungsaufnahme entsteht. Die stoffliche Nahrung ist das, was wir essen und trinken. Die geistige Nahrung führen wir uns über das Sehen und Hören zu. Auch das Denken und die Vorstellungen sind in diesem Zu-‐ sammenhang als geistige Nahrung zu verstehen. Man kann seinen Energiekörper näm-‐ lich durch Gedanken und Vorstellungen schwächen, und zwar so sehr, dass man stirbt. In Tibet ist diese Praxis bekannt." "Das interessiert mich. Kannst du dazu mehr sagen?" "Nicht jetzt und nicht in diesem Zusammenhang. Vielleicht ein anderes Mal. Wir werden sehen, ob es sich ergibt. Jetzt komme ich zum Atemkörper. Ihm wird in allen fernöstli-‐ chen Kulturen bei spirituellen Praktiken eine hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht. Je nachdem, wie du atmest, kannst du sowohl deinen Energiekörper, aber auch deine Gedanken und die anderen Körper beeinflussen." 163 "Das ist wahr. Ich habe diesen Zusammenhang jedes Mal erfahren, wenn ich einen der schweren Balken vom Stall aufheben musste. Mit Körperkraft ist mir das nicht gelungen; nur in Verbindung mit einer bestimmten Form des Atmens war es mir möglich." "Ich weiß. Jetzt komme ich zum psychischen Körper. Er wird durch deine Gedanken, Ge-‐ fühle, Emotionen und Erinnerungen gebildet. Erinnerst du dich an die Skandhas? Sie las-‐ sen den psychischen Körper entstehen und vergehen. Er ändert sich beständig. Dann gibt es den Wahrnehmungskörper, der mit einer Vergröberung oder Verfeinerung dei-‐ ner Sinne zusammenhängt, und den Licht-‐ oder Motivkörper. Er ist das Ergebnis des In-‐ einanderwirkens der anderen Körper – ich nenne ihn auch karmischen Körper." "Darf ich dich dazwischen etwas fragen?" "Du bist ja schon dabei", gibt mir die Yogini zu verstehen. "Haben diese Körper eine Reihenfolge?" "Ich habe absichtlich nicht von einem ersten, zweiten oder dritten Körper gesprochen. Damit wäre eine Reihenfolge unterstellt worden. Indem der biologische Körper geboren wird, sind zugleich auch die anderen Körper geboren worden." "Habe ich dich richtig verstanden, dass der Energiekörper, der psychische Körper, der Wahrnehmungskörper und der Lichtkörper die nicht räumlich bedingten Körper sind, die als feinstofflich bezeichnet werden?" "Ja." "Ich stelle mir vor, dass diese Körper Erscheinungsformen sind, die nicht der Objektrea-‐ lität angehören, wie der biologische Körper. Man kann sie deshalb zwar nicht beobach-‐ ten, aber wahrnehmen. Das heißt aber, dass man diese Körper, die keine realen Körper sind, nicht beweisen kann. Vielleicht nennt man sie deshalb feinstofflich." "Das wäre eine Erklärung." "Ist meine Vermutung richtig, dass sich diese Körper durchdringen und aufeinander einwirken?" "Deine Vermutung stimmt." "Dann bleibt also nichts von mir übrig, wenn der biologische Körper stirbt?" "So ist es." "Das kann nicht sein", entgegne ich. "Ich weiß, dass ich meine Körper überlebe, weil ich etwas bin, was über sie hinaus geht." "Aber ja. Das Eine schließt das Andere nicht aus. Außerdem: Der Wahrnehmungskörper und der karmische Körper vergehen nicht." 164 Ich denke schweigend nach. Die Yogini blickt zu Boden, als würde sie dort in Chiffren le-‐ sen. Dann streift mich ihr Blick mit einem verhaltenen Lächeln. "Und?", fragt sie. "Du hast gesagt, Gerüche würden auf den feinstofflichen Körper wirken. Ist das jetzt so zu verstehen: Ein Geruch kann auf den Energiekörper, den psychischen Körper, den Wahrnehmungskörper und den Lichtkörper einwirken. Ist das richtig?" "Ja, das stimmt. In Tibet nutzen wir diese Tatsache in der Heilkunde und natürlich auch in den verschiedenen Ritualen, wie ich dir vorhin an dem Beispiel erklärt habe. Als du heraufgekommen bist und mir von deiner Erkenntnis berichtet hast, habe ich gesagt: Die Möglichkeiten der Objektrealität entfalten sich aufgrund der Subjektwirklichkeit. Viel-‐ leicht verstehst du jetzt besser, was ich dir damit sagen wollte. Es ist zweifelsfrei so, dass Räucherkerzen aus materiellen Substanzen bestehen, die wir der Objektrealität zuord-‐ nen. Damit sich diese Teile der Objektwelt aber wirkungsvoll zu einem bestimmten Duft zusammenfinden, bedarf es der Subjektwirklichkeit. Das meine ich, wenn ich sage, dass sich die Möglichkeiten der Objektrealität erst aufgrund der Subjektwirklichkeit entfalten können." Nachdenklich sage ich: "Dann würde eine Rose deshalb duften, weil eine Subjektwirk-‐ lichkeit ihren Duft komponiert hat. Das ist eine seltsame und ungewohnte Vorstellung." "Ich bin tatsächlich der Meinung", bekräftigt Göden Marpa meinen Einwand, "dass der Duft einer Rose eine Erscheinungsform der universalen Subjektwirklichkeit ist. Niemand verlangt von dir, dass du es auch so siehst." … Es ist still im Raum. Hinter mir knarrt ein Balken. Der Duft der Räucherkerze hat sich verflüchtigt und ist kaum noch wahrzunehmen. Die Yogini zieht sich den Schal fester um die Schultern. Im Treibhaus meines Gehirns flattern Schmetterlinge von einer Blüte zur nächsten – scheinbar ziellos. Man soll Schmetterlinge nicht einfangen. Ich schaue ihnen zu. Obwohl die Kälte in meinen Füßen meine Aufmerksamkeit von den Schmetterlingen ablenkt, taucht ein besonders auffälliger Falter in meinem Gesichtsfeld auf. Im Bardo Thödol, dem klassischen tibetischen Totenbuch, habe ich gelesen, dass es drei Körper gibt: Dharma-‐Kaya, Nirmana-‐Kaya und Sambhoga-‐Kaya. "Wie hängen diese drei Körper mit den Körpern zusammen, von denen du gesprochen hast. Sind sie auch feinstofflich und warum hast du sie nicht erwähnt?", frage ich Marpa. "Ich wollte nicht zu sehr ins Detail gehen. Jetzt wo du sie angesprochen hast, kann ich dir natürlich schon sagen, wie sie zu verstehen sind. Aus meiner Sicht sind es drei Aspekte des Wahrnehmungs-‐ und karmischen Körpers, als die sich ein Sterbender oder Verstor-‐ bener im so genannten Zwischenzustand – dem Bardo – erfährt." "Das ist der Zustand zwischen Verstorben Sein und Wiedergeborenwerden." 165 "Richtig. Jetzt taucht natürlich sofort die Frage auf: Wer oder was befindet sich im Zwi-‐ schenzustand, wenn es keine Person mehr gibt, die irgendwo sein könnte? Und ist dieser Zwischenzustand ein Ort?" "Genau diese Fragen habe ich mir auch schon gestellt." "Also gut. Was sich im Zwischenzustand befindet, ist der Wahrnehmungs-‐ und karmi-‐ sche Körper. Im Zwischenzustand befinden, das ist jedoch wieder eine dieser unglückli-‐ chen Formulierungen ..." "... weil es kein Innerhalb oder Außerhalb gibt", falle ich der Yogini ins Wort. "Du sagst es. Wahrnehmungs-‐ und karmischer Körper sind ein Zustand, ebenso wie sie auch schon Zustände gewesen sind, als es noch den lebenden biologischen Körper gege-‐ ben hat. Nach dem Sterben allerdings existieren sie ohne die Zustände der nicht mehr existierenden Körper. Kannst du mir folgen?" "Ich denke schon. Der biologische Körper ist ein Zustand, ebenso der Energiekörper, der Atemkörper und der psychische Körper. Dasselbe gilt für den Wahrnehmungs-‐ und karmischen Körper. Sobald sich nun die mit dem biologischen Körper verbundenen Zu-‐ stände der anderen Körper auflösen, bleiben die Zustände des Wahrnehmungs-‐ und karmischen Körpers übrig." "Ja, das stimmt." "Aber was hat das mit den drei Körpern des Bardo Thödol zu tun?" "Sei nicht so ungeduldig. Hast du wirklich verstanden, dass sich der Wahrnehmungs-‐ und karmische Körper nicht in einem Zwischenzustand befinden, sondern dass sie Zwi-‐ schenzustand sind? Kannst du den Unterschied sehen?" "Ja", sage ich bestimmt. "Gut. Dieses ein Zwischenzustand sein entfaltet sich als Erfahrung, die im Bardo Thödol in Form jener drei Körpern beschrieben wird, die du vorhin genannt hast. Das schauen wir uns jetzt genauer an. Ich habe in einem anderen Zusammenhang von einem Seiltanz der Sprache gesprochen, erinnerst du dich? Jetzt werden wir wieder balancieren und darauf achten müssen, dass wir nicht in die dunklen Schluchten der Worte stürzen. Be-‐ ginnen wir mit dem Dharma-‐Kaya. Das ist die Erfahrung des Wahrnehmungs-‐ und kar-‐ mischen Körpers im Zustand des universalen, reinen, alles durchdringenden Lichts. Der Sambhoga-‐Kaya ist die Erfahrung des Wahrnehmungs-‐ und karmischen Körpers im Zu-‐ stand des individuell subjektiven Lichts aufgrund der Motive, die das Handeln im Leben bestimmt haben. Der Nirmana-‐Kaya ist die Erfahrung des Wahrnehmungs-‐ und karmi-‐ schen Körpers im Zustand der Verdunkelung des Lichts, der bewirkt, dass sich die Moti-‐ ve als geistige Form wieder verfestigen. Dharma-‐, Sambhoga-‐ und Nirmana-‐Kaya sind 166 die drei möglichen Zustände des Wahrnehmungs-‐ und karmischen Körpers, die jeder Sterbende erfährt." "Kann man es so sehen, dass sich der biologisch Verstorbene in diesen Zuständen befin-‐ det?" "Ich würde so sagen: Er ist diese Zustände." "Und in diesen Zuständen ist er frei von Raum und Zeit." "Nicht er ist frei von Raum und Zeit, diese Zustände sind es." "Wenn ich nach dem biologischen Tod diese Zustände bin ..." "... einen Moment", unterbricht mich Marpa . „Diese Zustände bist du nicht als Ich; des-‐ halb kannst du nicht sagen: wenn ich danach diese Zustände bin. Dich als Ich gibt es nicht mehr." Ohne dass die Yogini es hätte aussprechen müssen, spüre ich, dass ich jetzt gehen muss. Ich bedanke mich für dieses Gespräch und verlasse sie. Es ist spät geworden. Draußen ist eine ruhige Nacht mit einem großen Mond, der immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdeckt wird. Ohne Wolken leuchtet er wie eine polierte Scheibe aus Messing. Die Almwiese sieht in seinem polarisierten Licht geheim-‐ nisvoll aus. Die Tannen sind dunkel, wirken düster und unfreundlich. Sie erscheinen mir in der Menge dunkel und drohend. Eine Weile denke ich noch über alles nach, lasse es vorüberziehen. Die Sterne glänzen kalt wie Stahl. Wird die Materie von einer universalen Subjektwirklichkeit gestaltet? Die Yogini sitzt in ihrem Korbstuhl, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Wartet sie darauf, dass ich etwas sage? Ich sage nichts, suche den Anfang eines Fadens, mit dem ich die verschiedenen Gesprächsteile verbinden könnte. Wie die Kugeln einer Gebetsschnur durch die Finger gleiten, lasse Ich meine Gedanken an mir vorbei ziehen. Wiederhole sie in immer neuen Abfolgen. Lasse sie wirken. Bewir-‐ ken sie etwas? Führen sie mich irgendwo hin? Der Mensch ist ein Subjekt. Das erscheint so selbstverständlich, aber was bedeutet es? Ist nur der Mensch ein Subjekt oder alles, was lebt? Göden Marpa hat das Subjekt als Ab-‐ grenzung definiert, durch die sich ein Innensystem von einem Außensystem trennt und unterscheidet. Aber ist nicht jedes Innensystem so etwas wie eine nach innen gestülpte Außenwelt? Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr verschwimmen die Grenzen. Vielleicht gibt es weder ein Innen noch ein Außen. Andererseits erlebe ich eindeutig ein in mir und ein außerhalb von mir. Was ist das? Nur eine Illusion? Was wäre ich und wie 167 wäre ich, wenn es tatsächlich weder ein Innen noch außen gäbe? Vermutlich zappeln meine Gedanken schon wieder in der Falle der Raumvorstellung. Ja, das wird es sein. Sobald ich den Raum aus meinen Überlegungen eliminiere, hat sich auch der Gegensatz zwischen innen und außen aufgelöst. Aber wie kann ich mir dann die Tatsache erklären, dass ich eindeutig ein in mir und ein außerhalb von mir erfahre? Nun, in der Meditation ist es manchmal anders, dann ist dieser Gegensatz aufgelöst. Dennoch bin ich. Doch sobald ich mich wieder im normalen Bewusstseinszustand befinde, erlebe ich wie-‐ der die Trennung zwischen innen und außen. Wodurch entsteht dieser Unterschied? Ich habe es so verstanden, dass in der Objektrealität eine Subjektwirklichkeit wirkt, die sich abgrenzt, wobei dieser Abgrenzung ein Konzept zugrunde liegt. Ein Konzept gibt es aber nicht ohne Motiv. Wenn also das Universum Abgrenzungen hervorbringt, kann man an-‐ nehmen, dass es nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt existiert. Ist es diese Sub-‐ jektwirklichkeit, die den Unterschied zwischen innen und außen wahrnimmt? Innen außen, innen außen, innen außen – immer wieder sage ich mir das vor. Innen, was ist das? Subjektive Wirklichkeit im Unterschied zur äußeren Realität der Objekte? Was ist das wesentlich Andere dieser Subjektwirklichkeit im Unterschied zur realen Welt der Objekte? Die Wahrnehmung. Darüber hat die Yogini schon mehrmals mit mir gespro-‐ chen. Die innere Wirklichkeit nimmt die äußere Realität wahr. Die nach innen gestülpte Außenwelt wird durch die Wahrnehmung zur Innenwelt und hebt sich dadurch von der Außenwelt ab. Als Mensch bin ich ein Produkt des Universums. Demnach muss auch mein Subjektsein ein Ausdruck dieses Universums sein. Es gibt mir meinen Körper und gibt mir ebenso meine Wahrnehmung, durch die ich mich von den Objekten unterscheide. Mehr und mehr werden diese Gedanken zu einer Gebetsmühle, die sich dreht und dreht und dreht "Ist der Mensch ein Objekt, ein Subjekt oder beides?", beginne ich wieder zu fragen. Die Stimme der Yogini klingt rauchig, als sie antwortet. "Bevor wir wieder anfangen uns damit zu beschäftigen, solltest du etwas beachten. Ich bin nicht daran interessiert, mich auf naturwissenschaftliche Interpretationen einzulassen. Ich habe kein Interesse daran." "Das habe ich nicht vor. Trotzdem wird es nicht zu vermeiden sein, dass wir diese Pfade kreuzen." "Es macht mir nichts aus, wenn wir sie kreuzen. Ich möchte sie nur nicht gehen", sagt Marpa bestimmt. "Ich auch nicht", stimme ich ihr zu. "Aber wenn man davon ausgeht, dass der Mensch ei-‐ ne Beziehung materieller Komponenten ist, wird man ihn als Objekt verstehen müssen", beginne ich gedanklich zu spekulieren. "Wenn er aber materiell und demzufolge ein Ob-‐ jekt ist, wo kommt dann sein Subjektsein her? Wie kommt es zustande?" 168 "Ja, das ist eine interessante Frage. Ich bin neugierig, wie du sie beantworten wirst." Göden Marpa steht auf und holt sich eine Decke, die sie sich über die Knie legt. "Du hast angedeutet, dass sich Subjekte aufgrund ihrer Abgrenzung von Objekten unter-‐ scheiden. Wenn ich mir dieses Abgegrenzt Sein vorstelle, sehe ich einen Innenraum, der etwas anderes ist als der Außenraum." "Du denkst offenbar immer noch, dass es so etwas wie einen Raum im Raum oder au-‐ ßerhalb davon gibt? Haben wir eine derartige Idee nicht bereits als Täuschung aufgege-‐ ben? Du solltest genauer überlegen, was du sagst. Worte und Formulierungen sind ge-‐ dankliche Implantate, die sowohl auf die Realität wie auf die Wirklichkeit abgestimmt sein sollten." Ich erkenne die Berechtigung dieser Kritik und korrigiere mich. "Durch das Abgrenzen entsteht ein Innensystem, das sich von einem Außensystem unterscheidet." Wieder unterbricht mich die Yogini. "Etwa wie ein Ball? Der hat aufgrund seiner Hülle auch ein Innensystem und das Außensystem ist drum herum." "Das stimmt", gebe ich zu. "Ein Ball ist abgegrenzt, ein Subjekt auch. Was ist anders?", überlege ich weiter. "Ein Ball kann zwischen seinem Innensystem und dem Außensys-‐ tem nicht unterscheiden. Ein Subjekt dagegen erfährt sich als Innensystem im Gegen-‐ übersein zum Außensystem. Dieses Sich-‐erfahren-‐Können ist Wahrnehmung. Ein Ball kann nicht wahrnehmen. Weder sich selbst noch das, was er nicht ist. Ein Subjekt dage-‐ gen nimmt sich wahr und ebenso das, was es selbst nicht ist. Außerdem ist die Abgren-‐ zung, die zur Gestalt eines Balls führt, undurchlässig. Zwischen dem Innensystem eines Balls und dem Außensystem findet kein aktiver Austausch statt. Bei einem Subjekt ist das anders. Zwischen seinem Innensystem und dem Außensystem gibt es einen Aus-‐ tausch. Seine Grenzen sind demzufolge nicht undurchlässig wie beim Ball, sondern durchlässig. Sobald es diesen Austausch nicht mehr gibt, zum Beispiel bei einer Leiche, ist auch die Form bildende Abgrenzung nicht mehr durchlässig, sondern ebenso un-‐ durchlässig wie bei einem Ball. Genauso wie ein Ball wegen seiner undurchlässigen Grenze ein Objekt ist, ist auch eine Leiche ein Objekt." Marpa schüttelt den Kopf. "Ich kann dir nicht zustimmen", sagt sie sehr bestimmt. "Ist die Grenze eines Balls tatsächlich so undurchlässig, wie du annimmst? Wenn du ihn lan-‐ ge genug liegen lässt, wird Luft entweichen. Der Ball wird schlaff. Das zeigt, dass seine Abgrenzung durchlässig ist. Es gibt einen Austausch zwischen seinem aufgepumpten In-‐ nensystem und dem Außensystem." "Ja, da muss ich dir Recht geben. Dann müssen wir diesen Vorgang als passiven Aus-‐ tausch verstehen. Sobald sich der Luftdruck im Innensystem des Balls mit dem Luft-‐ druck des Außensystems ausgeglichen hat, hört der Austausch auf." 169 "In dem Fall musst du einen Unterschied zwischen einem aktiven und einem passiven Austausch machen." "Das sehe ich jetzt auch. Wenn sich ein Ball selbst wieder aufpumpen könnte, weil er wahrnimmt, dass er Luft an das Außensystem abgegeben hat, wäre er ein Subjekt. Weil er das aber nicht kann, deshalb ist er ein Objekt. Das Innensystem eines Subjekts dage-‐ gen tauscht sich mit dem Außensystem dynamisch aus und erhält dadurch seine Form. Ein Objekt kann das nicht. Außerdem kann sich ein Subjekt von sich aus auf ein Objekt zu-‐ oder von ihm weg bewegen. Das kann ein Objekt von sich aus nicht. Damit ergibt sich folgender Zusammenhang: Durch Abgrenzung entsteht ein vom Außensystem getrenn-‐ tes Innensystem. Aber dadurch würde noch kein Subjekt verwirklicht werden. Das Wahrnehmen muss dazukommen. Was sich infolge der Abgrenzung vom Außensystem als Innensystem bildet, bedarf der Wahrnehmung. Erst dadurch entsteht ein Subjekt, das sich von einem Objekt unterscheidet." "Du hast gut argumentiert", sagt die Yogini. "Aber jetzt haben wir ein Problem. Du sagst, die Materie grenzt sich ab. Dadurch würde sich ein Innensystem herausbilden, dem ein Außensystem gegenüber ist. Dann kommt das Wahrnehmen dazu. Erkennst du das Problem? Von wo kommt das Wahrnehmen plötzlich her? Von der Materie, die sich ab-‐ grenzt?" "Nein. Natürlich nicht. Wir haben ja bereits festgestellt, dass die universale Wirklichkeit objektiv und subjektiv zugleich ist. Objektrealität und Subjektwirklichkeit koexistieren. Wenn ich gesagt habe, Materie würde sich abgrenzen, dann habe ich falsch formuliert." "So sehe ich das auch. Nicht die Materie, sondern das universale Subjekt-‐Objekt grenzt sich ab. Die Subjektwirklichkeit grenzt sich als Objektrealität ab, indem sie sich verfes-‐ tigt." "Wie ist das?", frage ich verwirrt. "Was hat sich verfestigt?" "Verfestigen heißt: Etwas wird konkret, messbar und beobachtbar." "Aha." "Hast du das verstanden?" "Nein", antworte ich. "Eigentlich nicht." "Das ist ganz einfach zu verstehen. Nehmen wir als Beispiel die Gedanken. Sobald du ei-‐ nen Gedanken aussprichst, hast du ihn verfestigt. Solange er nicht ausgesprochen wor-‐ den ist, existiert er in einem nicht verfestigten Zustand. Der entscheidende Unterschied zwischen dem ausgesprochenen und somit verfestigten Gedanken und einem anderen, der nicht verfestigt ist liegt in seiner kausalen Wirkung und den damit einhergehenden karmischen Verknüpfungen. Du wirst vielleicht schon beobachtet haben, dass du einen 170 verfestigten Gedanken nur sehr schwer rückgängig machen kannst. Hast du jetzt eine Vorstellung davon, was ich mit Verfestigung meine?" "Auf jeden Fall. Ich kenne viele solcher Situationen, in denen ich mir gewünscht habe, etwas nicht gesagt zu haben. Sobald ich einen Gedanke ausspreche, habe ich mich damit irgendwie festgelegt, und dieses auf den ausgesprochenen Gedanken festgelegt werden wirkt dann von der Außenwelt her auf mich zurück; danach hilft es wenig, wenn ich sa-‐ ge, dass ich inzwischen anders denke." "Je, genau das meine ich." "Und das Sich verfestigen der Subjektwirklichkeit verstehst du ähnlich?" "Du sagt es." "Beim Gedanken, den ich ausspreche, kann ich mir das vorstellen. Aber bei der Subjekt-‐ wirklichkeit noch nicht. Wie kommt die Verfestigung zustande?" "Bleiben wir bei den Gedanken, dann kannst du es am besten nachvollziehen. Kennst du eine Situation, in der du etwas gedacht hast und es für dich behalten wolltest? Du woll-‐ test diesen Gedanken nicht aussprechen, du wolltest keine Verfestigung dieses Gedan-‐ kens haben." "Ja, solche Situationen kenne ich genug." "Gut. Kannst du dich vielleicht auch erinnern, wie du einen solchen Gedanken, den du nicht aussprechen wolltest, sehr lange für dich behalten hast und doch – plötzlich, fast ohne deine Absicht – hat sich dieser Gedanke verfestigt, weil er ausgesprochen wurde." "Auch an solche Situationen kann ich mich erinnern." "Sehr gut. Nun kommt der letzte Schritt. Kannst du jetzt in deiner Erinnerung einer sol-‐ chen Episode wahrnehmen, dass dieser Verfestigung des Gedankens ein Motiv zugrunde gelegen hat?" "Ein inhaltliches Motiv kann ich nicht sehen, eher einen Impuls, der sich durchgesetzt hat." "Das ist es. Der Impuls hat zur Verfestigung des Gedankens geführt." "Aber nicht gleich. Hat die Zeit damit zu tun?" "Nein, die Zeit hat auf den Impuls keinen Einfluss." "Aber warum hat es dann eine Weile gedauert, bis sich der Gedanke verfestigt hat?" "Das hat mit der Stärke des Impulses zu tun. Als er stark genug war, hat er sich ausge-‐ wirkt." 171 "Was ich in diesem Zusammenhang immer noch nicht verstehe ist die Frage, wodurch ein Impuls so stark wird, dass er etwas aus der imaginären Welt heraus verfestigt, so-‐ dass es in der Realwelt sensorisch erfahrbar wird." "Das hat mit Konzentration zu tun, mit Verdichtung. Der Impuls verdichtet sich." "Und wie kann ich das auf die Verfestigung der Subjektwirklichkeit übertragen, um sie zu begreifen?" "Auch die Subjektwirklichkeit besteht aus Impulsen. Sie bewirken die Verfestigungen, die dann als Realwelt erscheinen." "Das möchte ich gerne wiederholen. Die Subjektwirklichkeit besteht aus Impulsen, die sich verdichten und dadurch Realität werden." "So ist es." "Würdest du dem zufolge sagen, Materie ist ein Ineinanderwirken von Subjektwirklich-‐ keit und Objektrealität?" "Das Bild des Ineinanderwirkens stimmt nicht. Die Realität der materiellen Erschei-‐ nungsformen besteht aus Aspekten verfestigter Subjektwirklichkeit. Da wirkt nichts in-‐ einander." "Und was ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt?" "Aspekte der Subjektwirklichkeit sind deren imaginäre Möglichkeiten, die sich noch nicht verwirklicht, noch nicht konkretisiert, also noch nicht verfestigt haben." "Die Subjektwirklichkeit ist imaginär? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden ha-‐ be." "Ja. Sie ist imaginär, imaginativ und wahrnehmend. Würde sie das nicht sein, gäbe es keine Motive und keine Konzepte." "Damit behauptest du, die Subjektwirklichkeit hat Motive. Sie bildet Konzepte. Sie ist wahrnehmend und konkretisiert sich in der Objektrealität." "Warte einen Moment", fordert mich Marpa auf. "Überlege, was du sagst. Die Subjekt-‐ wirklichkeit konkretisiert sich nicht in der Objektrealität, sondern als Objektrealität. Das ist ein wesentlicher Unterschied." "Ich verstehe. Das ist wieder der Irrtum mit der Raumvorstellung. So wie ich es gesagt habe, ist die Subjektwirklichkeit draußen und muss sich dann in der Objektrealität ver-‐ festigen. Wenn man stattdessen verfestigt sich als sagt, ist diese pseudoräumliche Tren-‐ nung aufgehoben." 172 "Auf diese feinen Unterschiede kommt es an, wenn du verstehen willst. Was diesen Zu-‐ sammenhang angeht, so musst du immer berücksichtigen: Das universale Subjekt-‐ Objekt ist nichts Getrenntes. Diese Trennung kommt zustande, sobald sich über die Ver-‐ festigung und der damit verbundenen Abgrenzung biologisch verfestigte Subjekte ver-‐ körpert haben, die sich von der Objektrealität unterscheiden." "Gibt es einen Unterschied zwischen einem menschlichen Subjekt und der universalen Subjektwirklichkeit?" "Einerseits ist das, was wir Subjekt nennen, eine wahrnehmende biologische Erschei-‐ nungsform, wie zum Beispiel ein Mensch, dessen Verfestigung man beobachten und messen kann. Ein Mensch erfährt sich als von der Realwelt abgegrenzt. Er erfährt sich als ein Innensystem gegenüber einem Außensystem. Er erfährt, dass er sich von anderen Innensystemen und Außensystemen unterscheidet. Der Mensch als biologisches Subjekt ist einer von vielen möglichen biologisch verwirklichbaren Aspekten der universalen Subjektwirklichkeit." "Der Mensch ist eine universale Subjektwirklichkeit, die sich verfestigt hat. Habe ich das richtig gesagt?" "Ja. Der Mensch ist ein verfestigter Aspekt, eine Inkarnation der universalen Subjekt-‐ wirklichkeit." "Das habe ich jetzt verstanden. Andererseits bestehen biologische Erscheinungsformen aus Objekten, weil sie aus Molekülen gebildet sind, die ihrerseits wiederum aus Elemen-‐ tarteilchen bestehen. Wie kommt es dazu, dass sich diese Objekte abgrenzen und damit zu Subjekten werden?" "Das ist eine nahe liegende Frage. Wir werden versuchen, darauf eine Antwort zu fin-‐ den." "Wie können wir wissen, dass wir die richtige Antwort gefunden haben?", wende ich skeptisch ein. "Die richtige Antwort ist eine passende Antwort. Ob sie zur Frage passt oder nicht, er-‐ kennst du daran, dass sich die Frage aufgelöst hat. Die Frage steht in Beziehung zu Reali-‐ tät und Wirklichkeit, und die Antwort ermöglicht dir eine Einsicht, die nichts Ausgedach-‐ tes ist." Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und nehme mir vor, später darüber nachzuden-‐ ken. "Gut", sage ich jetzt. "Wenden wir uns wieder der vorhin gestellten Frage zu. Wodurch kommt die Abgrenzung zustande?" "Sobald du erkennst, dass Objektrealiät und Subjektwirklichkeit eins sind, geht diese Frage in eine Antwort über. Die Subjektwirklichkeit des Universums ermöglicht infolge ihrer Motive und der damit verbundenen Konzepte eine gestaltete Abgrenzung." 173 "Würde das bedeuten, dass diese Subjektwirklichkeit als nicht materiell und der Objek-‐ taspekt als materiell zu gelten hätte?" "Ja, das ist eine zutreffende Folgerung. Dieses Bild wird sich jedoch in der Folge unserer weiteren Analysen verändern. Vorläufig können wir es aber dabei belassen. Ich habe ein Gedankenspiel für dich. Stelle eine Verbindung her zwischen der imaginären Wirklich-‐ keit und der verfestigten Realität." Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich denke nach. Dann frage ich: "Meinst du eine Verbin-‐ dung zwischen der nicht sensorischen geistigen Wirklichkeit und der konkreten, senso-‐ risch erfahrbaren Realität?" "Warm nicht", antwortet sie unbestimmt. "Könnte es sein, dass du mich damit auf die imaginäre und reale Seite des Universums aufmerksam machen willst? " "Finde es selbst heraus." … Wir sind in die Küche hinuntergegangen. Solange es in Göden Marpas Kammer keinen Ofen gibt, ist es hier gemütlicher. An der Hüttentür wird gepocht. Die Yogini steht auf, um nachzusehen. Ich höre sie mit jemandem sprechen. Der Stimme nach ist es der Jäger, der manchmal vorbeikommt. Mit drei Gläsern und einer Flasche Vogelbeerschnaps gehe ich zu den beiden hinaus. Wir begrüßen uns. Ich schenke den Schnaps ein, dann wün-‐ schen wir uns gute Gesundheit und trinken. Ich habe ihn erst zweimal gesehen. Er riecht nach Feuchtigkeit und Loden. Anzüglich grinst er die Yogini an, die so tut, als würde sie es nicht bemerken. Aus seinem schnell gesprochenen Tiroler Dialekt kann ich nicht ge-‐ nau heraushören, was er sagt. Ich beschränke mich darauf, hin und wieder ein Ja von mir zu geben, zu brummen, bestätigend mit dem Kopf zu nicken und Verständnis zu mimen. Zum Glück ist auch dieser Besuch nur von kurzer Dauer. Nachdem wir uns gegenseitig versichert haben, wie schön der Wald, wie nützlich die Jagd und wie gut der Schnaps ist, versickert das Gespräch. In der Zwischenzeit hat sein Hund alle Ecken der Hütte ange-‐ pisst. Ein Dackel mit dunkelbraunem Fell, das am Rücken fast schwarz ist. Mit wachen Augen steht er da und bellt uns herausfordernd an. Nach einigen weiteren unverbindli-‐ chen Bemerkungen verabschiedet sich der Jäger von uns. Als wir wieder zusammensitzen, nehme ich den Faden des Gesprächs auf und wiederho-‐ le: "Das Universum ist objektiv und subjektiv. Das kann auch nicht anders sein, weil wir beiden Erscheinungsformen begegnen. Das Objektive ist materiell. Das Materielle ist messbar. Das Messbare ist real. Das Reale ist wirklich. Das Wirkliche ist beweisbar. Das Beweisbare ist materiell. Das Materielle ist objektiv. Das Objektive ist wirklich." "Das klingt wie ein Sutra über die Wissenschaft", scherzt die Yogini. 174 "... das ich sogar noch weiterführen kann. Was nicht objektiv ist, ist subjektiv. Das Sub-‐ jektive ist nicht materiell. Was nicht materiell ist, ist nicht wirklich. Was nicht wirklich ist, ist nicht messbar. Was nicht messbar ist, ist imaginär. Was imaginär ist, ist nicht be-‐ weisbar. Was nicht beweisbar ist, ist subjektiv. Was subjektiv ist, ist nicht real. Was nicht real ist, ist unwirklich. Das Unwirkliche existiert nicht. Was nicht existiert, ist Einbil-‐ dung. Wie findet du das?", frage ich Marpa. "Damit hast du die Sache auf den Punkt gebracht. Das Subjektive wird für unwirklich ge-‐ halten, das Objektive für real und damit wahr. Das Subjektive ist nicht objektiv, deshalb ist es nicht wirklich und zweifelhaft." … Der Wind rüttelt beharrlich an den beweglichen und unbeweglichen Teilen der Hütte und verursacht Dutzende seltsamer Geräusche. Er presst sich gegen die schlecht schlie-‐ ßenden Fenster und dringt durch die Ritzen. Die Yogini lächelt den Hauch eines Lä-‐ chelns, dann wird ihr Gesicht wieder ernst. "Alles ist wirklich. Aber nicht alles, was wirklich ist, ist auch real. Realität ist die verfes-‐ tigte Wirklichkeit, und diese verfestigte Wirklichkeit besteht aus Objekten, die materiell genannt werden. Das Materielle ist objektiv. Die Realität der Objekte ist messbar. Das ist der eine Aspekt des Universums. Nun komme ich zum zweiten, der für diejenigen, die nur an den einen, den materiellen Aspekt glauben, suspekt ist und als bedeutungslose Spekulation abgelehnt wird. Das Reale ist wirklich, weil es real ist. Das Wirkliche ist wirklich, auch wenn es nicht real ist. Das Reale ist sensorisch beobachtbar, das wirklich Subjektive nicht. Das subjektive Wirkliche ist nicht verfestigt. Das reale Wirkliche ist verfestigt. Das Verfestigte ist objek-‐ tiv. Das nicht Verfestigte ist subjektiv. Das reale, verfestigte Wirkliche ist materiell. Das nicht verfestigte Wirkliche ist nicht real und deshalb nicht materiell. Das nicht Materielle ist imaginär. Das Imaginäre ist subjektiv. Das imaginär Subjektive ist nicht verfestigte Wirklichkeit. Das Universum ist imaginär und real. Das verwirrt dich, nicht wahr? Wenn es nicht verwirrend wäre, würde es keine Herausforderung sein." Eine Pause entsteht. "Hör zu", sagt Marpa bestimmt. "Die Worte sind lediglich Hilfsmittel, um Erscheinungs-‐ formen zu benennen und zu beschreiben. Du solltest sie also nicht allzu ernst nehmen. Andererseits musst du sie natürlich sehr ernst nehmen, weil ein schlampiger Gebrauch der Worte zu unscharfen Einsichten führt und dich im Gefängnis des Irrtums festhalten." "Ich verstehe. Je präziser das Werkzeug der Worte ist, umso präziser ist das Ergebnis meiner Arbeit mit den Worten." 175 "Das ist nahe liegend. Mit einem schlecht geschliffenen Steigeisen kommst du im Eis nicht weit." "Natürlich, das verstehe ich sehr gut. Die Worte sind zwar ein nützliches Instrument, aber sie sind nicht das Produkt, das ich damit erschaffe." "Genau so ist es. Das Produkt ist Einsicht, die frei von Worten ist." "Und wie kann ich wissen, dass meine Einsicht richtig ist?" "Aus dem einfachen und einzigen Grund, dass es keine falsche Einsicht geben kann." Nachdenklich schaut mich die Yogini an. "Warum sollte es keine falsche Einsicht geben können?" "Weil eine Einsicht nur dann eine Einsicht ist, wenn sie mit der Realität und der Wirk-‐ lichkeit übereinstimmt. Sobald etwas davon abweicht, kann es keine Einsicht sein." "Ich glaube, dass ich das verstehe. Trotzdem ist für mich die Frage noch unbeantwortet, woran ich eine solche Einsicht erkennen kann." "Du erkennst sie daran, dass sie vollkommen zweifelsfrei und selbstverständlich ist, dass sie keiner weiteren Erklärungen und Beweise bedarf. Einsicht erfährst du als Harmonie, Konsonanz, Stille." "Das reicht mir als Erklärung nicht aus. Die Welt ist voll von Menschen, die felsenfest von den unsinnigsten und abartigsten Dingen überzeugt sind. Sind solche Überzeugun-‐ gen etwa Erkenntnisse?" "Ich habe nicht von Erkenntnissen gesprochen, sondern von Einsichten. Die Menschen von denen du sprichst würden sich ihre so genannten Erkenntnisse nicht infrage stellen lassen, Menschen mit Einsichten aber schon." "Weshalb?" "Weil man keine Angst hat, wenn man einsichtig ist. Angst hat man erst dann, wenn man an Überzeugungen festhält und befürchtet, dass sie infrage gestellt werden. Dann hat man nämlich nichts mehr, woran man sich festhalten kann." "Ich finde es seltsam, dass du Einsicht als Stille bezeichnest." "Ich habe sie nicht so bezeichnet, sondern dir gesagt, dass du sie unter anderem als Stille erfährst. In der Einsicht ist die Geschwätzigkeit des Wissens still geworden. Deshalb ha-‐ be ich von Stille gesprochen. Nenne mir ein Beispiel für etwas, das nicht wirklich ist", fordert Göden Marpa mich überraschend auf. "Selbstverständlich unter der Vorausset-‐ zung, dass wir nicht nur von einer objektiv realen, sondern auch von einer subjektiven Wirklichkeit ausgehen." 176 Ich denke darüber nach und erkenne, dass es unter dieser Voraussetzung nichts gibt, das nicht wirklich wäre. Deshalb antworte ich der Yogini: "Die Annahme von etwas nicht Wirklichem macht nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass ausschließlich die Ob-‐ jektrealität wirklich sei. Aber das Subjektive existiert auch, und was existiert, kann nicht unwirklich sein. Wenn es dir Recht ist, möchte ich noch einmal auf die Abgrenzung zu-‐ rückkommen. Du hast von durchlässigen Grenzen gesprochen, die einen Austausch er-‐ möglichen, und meinst, die Subjektwirklichkeit hätte sich in der materiellen Objektwelt so etwas wie Grenzflächen geschaffen, die zur Erscheinungsform der Lebewesen geführt haben. Dann müssen sich aber innerhalb der Grenzen dieser Erscheinungsformen die Prozesse anders entwickelt haben als außerhalb. Zum Beispiel, indem sich ein zentrales Nervensystem entwickelt hat." Die Yogini unterbricht mich mit dem kritischen Hinweis: "...wobei du beachten musst, dass dieses zentrale Nervensystem ohne das Wahrnehmen nur ein materielles Objekt wäre und damit weder sich selbst noch eine Außenwelt erfahren könnte." "Meinst du, das zentrale Nervensystem allein wäre ohne das Wahrnehmen nichts ande-‐ res als ein Roboter aus biologischem Material?" "Ja. Was sollte es sonst sein?" "Gut", sagte ich und argumentiere polemisierend weiter: "Aber diese Wahrnehmung kam ja nicht einfach von irgendwoher und hat sich dann in dieses System hineingesetzt." "Das habe ich weder gesagt noch angedeutet. Wenn sich die universale Subjektwirklich-‐ keit in der Gestaltung eines zentralen Nervensystems verfestigt, braucht das Wahrneh-‐ men nicht von außerhalb dazukommen. Das macht natürlich nur unter der Vorausset-‐ zung Sinn, wenn du ein subjektiv wirkliches und objektiv reales Universum anerkennst. Was das angeht, sollte es für dich keine Fragen mehr geben. Darüber haben wir schon mehrmals und ausführlich gesprochen." Etwas, das scheinbar nicht aus mir kommt, drängt mich zu fragen: "Ist das Universum etwas Geistiges?" Göden Marpa wirkt nicht überrascht. "Du begibst dich in eine Sprachfalle. Deshalb wür-‐ de ich nicht sagen, die nicht materielle Existenzform des Universums ist geistig. Ich würde eher sagen, man kann sie als geistig bezeichnen." "Warum sagst du, dass es eine Falle ist?", will ich wissen. "Das so genannte Geistige ist mit allen möglichen Projektionen und irrationalen Vorstel-‐ lungen verbunden. Was alles wird mit dem Wort Geist bezeichnet? Welche Erschei-‐ nungsformen werden mit diesem halb zu Tode geprügelten Wort angesprochen? In die-‐ sem Zusammenhang sollten wir weiterfragen, was wird Bewusstsein genannt? Was ge-‐ nau wird mit diesem Wort bezeichnet? Dasselbe gilt für Information. Diese drei Worte 177 Geist, Bewusstsein, Information tauchen immer wieder auf, wenn es um das Verständnis des Menschen geht. Selten ist klar zu erkennen, was mit einem dieser Worte gemeint ist. Nützt es dem Verstehen, wenn du die nicht materielle Subjektwirklichkeit geistig nennst?" "Mir hilft es schon, wenn ich erkenne, dass Geist eine nicht materielle Subjektwirklich-‐ keit ist." "Und wie sieht diese Hilfe für dich aus?" "Zum Beispiel kann ich Erscheinungsformen wie Absicht, Motiv, Wahrnehmung, Imagi-‐ nation als geistige Funktionen verstehen." "Du kannst sie ebenso gut als Funktionen der Subjektwirklichkeit verstehen." "Darin sehe ich die Möglichkeit eines Missverständnisses, weil das Wort Subjekt mit der Existenz des Menschen identifiziert wird." "Jetzt verstehe ich, was du meinst", kommt die Yogini mir entgegen. "Für mich ist es selbstverständlich, das Subjektive nicht auf den Menschen zu beschränken, sondern da-‐ rin einen Aspekt des Universums zu sehen." "Das ist eine sehr anspruchsvolle Einsicht, die du nicht voraussetzen kannst." "Und deshalb meinst du, es könnte dem Verstehen dienen, wenn wir die nicht materielle Subjektwirklichkeit mit der Idee des Geistigen verbinden." "So habe ich es gemeint. Dann können wir das Universums in Form materieller und geis-‐ tiger Phänomene beschreiben. Dann können wir sagen, das Universum ist objektiv ma-‐ teriell und subjektiv geistig." … Die ganze Zeit war der Himmel bewölkt. Jetzt dringt wieder die Sonne durch. Ihre Wär-‐ me lässt feinen Dampf von den Blumen und Gräsern aufsteigen. Ich öffne ein Fenster. Die Luft ist kühl und feucht. Kleine Tropfen rinnen an den Fensterscheiben herab. Wir haben die Hüttenfenster noch nie geputzt. Beide mögen wir es, wenn das schräg einfallende Licht durch die angegrauten Scheiben dringt, deren Patina der Zeit schöner ist als jeder Vorhang. Am Fenster unterhalb des Balkons, das der heftige Regen nicht erreicht und gewaschen hat, hinterlassen die schmalen Rinnsale Spuren im Staub. "Heuer will der Bauer seine Kühe heraufbringen", spricht Göden Marpa mich unvermit-‐ telt mit etwas ganz anderem an. "Deshalb wäre es gut, wenn wir um die Hütte herum ei-‐ nen Zaun hätten, damit mein Garten nicht zertrampelt wird." Abwartend schaut sie mich an. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und schaue ebenso abwartend zurück. "Es geht um Abgrenzung." Die Yogini betont dieses Wort, als ob sie damit meine Aufmerk-‐ samkeit in eine bestimmte Richtig lenken will. 178 Plötzlich erinnere ich mich. "Ist es das, was du mit einem neuen Projekt gemeint hast?", frage ich. "Genau. Du kannst eine durchlässige Grenze gestalten." Meint sie das ernst? Was sollte an einem Zaun gegen Kühe durchlässig und gestaltet sein? Jeder simple Bretterzaun ist durchlässig. Außerdem ist von vornherein ausge-‐ schlossen, dass ich eine undurchlässige Grenze in Form einer Mauer in Erwägung ziehe. "Hast du eine bestimmte Vorstellung, wie dieser Zaun aussehen soll?", frage ich deshalb nach. "Nein. Nicht ich, du solltest eine Vorstellung haben", bekomme ich zur Antwort. Was ist ein Zaun, beginne ich zu sinnieren? Sicherlich ist er die Verwirklichung einer Idee. Die Verfestigung eines Konzepts, wie Göden Marpa wahrscheinlich sagen würde. Eine Idee, das Konzept kommt von mir, dem wahrnehmenden Subjekt. Dass ich vermut-‐ lich einen Zaun aus krummen Ästen bauen werde, ist ein Ausdruck meiner imaginären Subjektwelt. Das erforderliche Material in Form abgestorbener Äste, das ich für die Kon-‐ kretisierung, die Verfestigung dieses Konzepts benötige, liefert mir die Realwelt. Der Wald. Eine dieser seltsamen Fragen kommt mir in den Sinn. Warum sind Äste, die im Wald herumliegen, kein Zaun? Weil ihnen jene Wechselwirkung fehlt, die hergestellt werden und vorhanden sein muss, damit sich die Funktion eines Zaunes ergibt. Und wo ist der Zaun, bevor er durch meine auf einem Konzept beruhenden Handlungen verwirk-‐ licht worden ist? Er existiert als Vorstellung. Er ist etwas Geistiges, und zwar so lange, bis er verfestigt worden ist. Sobald sich meine Vorstellung in Form aufeinander bezoge-‐ ner und miteinander verbundener Äste verfestigt hat, ist der Zaun Realität geworden: Ein Zaunobjekt, das sensorisch erfahrbar ist. Die Kühe werden es als Widerstand und Hindernis erfahren. Für mich wird er über diese Funktion hinaus auch ein ästhetisches Objekt sein. Nachdem ich Dutzende geeigneter Äste zur Hütte geschleppt habe, frage ich die Yogini: "Was willst du bei mir erreichen, indem du mich den Zaun bauen lässt? Willst du mir ei-‐ ne anschauliche Erfahrung vermitteln, dass die Grundlagen des Lebens auf kreativer Ab-‐ grenzung beruhen? Willst du mir noch einmal die Idee vom Unterschied zwischen Sub-‐ jektwirklichkeit und Objektrealität nahe bringen? " Völlig überrascht schaut sie mich an. "Wie kommst du darauf? Habe ich dir nicht gesagt, dass wir einen Zaun brauchen wegen der Kühe, damit sie nicht meinen Garten fressen?" Plötzlich habe ich das Empfinden, als würde sich etwas Kaltes um meine Brust legen. Ei-‐ ne seltsame Mischung aus Gefühlen und Empfindungen breitet sich in mir aus. Ich fühle mich beschämt und zugleich so, als ob in mir etwas zusammengeschoben würde, was auseinander war. Ich merke, wie mich die Yogini aufmerksam beobachtet. 179 "Es geht um Motive", sagt sie schließlich. "Deine Arbeit am Zaun und die Entstehung ei-‐ ner Zelle haben etwas gemeinsam. Beides bedarf eines Motivs. Weder das eine noch das andere kommt ohne Motiv zustande. Wenn du genau hinschaust, hinhörst oder hinfühlst – das ist alles das Gleiche –, wirst du merken, dass dein Motiv etwas anderes ist als dein Denken und Handeln. Du wirst erkennen, dass im Motiv die Subjektwirklichkeit akku-‐ muliert ist. Ebenso wie du zum Bearbeiten der Äste ein geeignetes Werkzeug benötigst, wenn du einen Zaun realisieren willst, brauchst du auch ein geeignetes Medium, wenn du deine individuelle subjektive Wirklichkeit formen willst. Dieses Medium ist dein Handeln. Dieses Handeln, und vor allem: die Art und Weise, wie du handelst, wird sich ohne Motiv nicht ereignen." Beide schweigen wir nachdenklich. Ein Vogel hat sich auf einem in die Erde gerammten Ast niedergelassen und zaust sich die Federn. Schon ist er wieder fortgeflogen. Ich denke über Abgrenzung nach. Göden Marpa hat gesagt, dass biologische Erscheinungsformen aus Abgrenzung entstehen, indem sich das universale Subjekt-‐Objekt Grenzflächen ge-‐ staltet und damit ein Innensystem erschafft. Das scheint mir nahe liegend zu sein. Einen solchen hoch differenzierten Prozess kann ich mir ohne Konzept und ohne Motiv nicht vorstellen. Die Yogini meint: "Schauen wir uns noch einmal das kleinste Element einer biologischen Erscheinungsform an: die Zelle. Um das Entstehen eines solchen, bereits in seiner ein-‐ fachsten Form komplexen und funktionsfähigen Gebildes erklären zu können, muss man davon ausgehen, dass alle Komponenten, aus denen eine Zelle besteht, von Anfang an perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wie könnten sie sonst funktionieren? Schon zu Beginn der allerersten im Universum aufgetretenen Zellbildung müssen sich deren Mo-‐ leküle bereits in hoch organisierter Form zu einem intelligent interagierenden Netzwerk zusammengeschlossen haben. Das ist ohne Konzept nicht wahrscheinlich. Ein solches Konzept ist aber keine Eigenschaft, die einer nicht wahrnehmenden Materie zugeschrie-‐ ben werden kann." "Dem entnehme ich, dass du die Entwicklung einer Zelle der universalen Subjektwirk-‐ lichkeit zuschreibst." "Ja, das stimmt", bestätigt Marpa. "Ich gehe sogar noch weiter. Erinnerst du dich noch daran, wie wir über den imaginären Aspekt der Subjektwirklichkeit gesprochen haben?" "Selbstverständlich. Du hast das Imaginäre als nicht sensorische Wirklichkeit bezeich-‐ net, die von der messbaren materiellen Objektrealität zu unterscheiden ist." "So ist es. Was folgerst du daraus?" "Die Folgerung ist nahe liegend. Das Phänomen einer Zellbildung lässt sich nur so erklä-‐ ren, dass die Materie von einer universalen Subjektwirklichkeit organisiert wird." "Welche Gemeinsamkeit kannst du zwischen einer Zelle und dem Zaun herstellen?" 180 "Das habe ich mich auch schon gefragt", antwortete ich. "Etwas Gemeinsames sehe ich im Konzept. Der Zaun wird das Resultat eines Konzepts sein. Ohne mich als Konzept bil-‐ dendes Subjekt würde aus den Ästen kein Zaun entstehen. So gesehen ist auch eine Zelle das Ergebnis eines Konzepts, ohne das sich vermutlich die Atome und Moleküle zu kei-‐ nem sinnvollen Ganzen zusammenfügen würden. Deshalb sagst du ja auch, dass ein Konzept der Ausdruck einer universalen Subjektwirklichkeit ist. Wenn ich diesem Ge-‐ danken weiter folge, komme ich zu dem Schluss, sowohl das Zaunkonzept wie das Kon-‐ zept einer Zelle sind vor ihrer Realisierung, also ihrer Verfestigung, die Imagination ei-‐ nes Subjekts gewesen. Aber trotz dieser Gemeinsamkeit sehe ich einen wesentlichen Un-‐ terschied: Der Zaun lebt nicht. Die Zelle schon." Fragend schaue ich die Yogini an. "Denke weiter nach und meditiere es", fordert sie mich auf und wendet sich ab. Der Grundzustand des Universums Schon wieder ein trüber Regentag. Ich sitze in der Kammer und beschäftige mich mit den Notizen vergangener Gespräche. Der Regen trommelt einen einschläfernden Rhythmus auf das Dach. Es riecht feucht und nach Kuh. Worte auf Papier. Was sagen sie mir? Ein Ich in mir versteht, ein anderes versteht nicht. Wasser tropft in die Dachrinne aus Blech und erzeugt unterschiedlich hohe Töne, die ab-‐ sichtslos aneinander gereiht eine surreale Melodie ergeben. Ich lasse mich ins Nichtver-‐ stehen hineingleiten. Dann taucht aus dem trüben Nebel meines Denkens die Frage auf: Was ist der Unterschied zwischen einem Subjekt, das einen Zaun gestaltet, und einem Subjekt, das eine Zelle erschafft? "Das ist doch offensichtlich", antwortet Göden Marpa, als ich sie darauf anspreche. "Das eine Subjekt ist der Mensch, das andere das Universum." "Aber der Mensch ist doch sicherlich etwas anderes als das Universum?" "Dann sage mir, weswegen er etwas anderes sein sollte. Schau genau hin", fordert sie mich auf. "Der Mensch ist nicht außerhalb des Universums. Ununterbrochen werden Menschen und natürlich auch andere Lebensformen vom Universum geschaffen. Von wo sollten sie denn sonst herkommen? Im Menschen hat sich etwas verwirklicht, was Aus-‐ druck des Universums ist. Jeder Mensch ist eine Verfestigung des imaginären Univer-‐ sums. Alle Menschen, die bereits gelebt haben, und das sind ziemlich viele, und alle Men-‐ schen, die noch leben werden, sind Erscheinungsformen dieses Subjekt-‐Objekt-‐ Universums. Ich dachte, das wäre dir bereits klar." "Entschuldige bitte meine Uneinsichtigkeit", sage ich, "aber ich muss trotzdem noch wei-‐ ter fragen. "Wenn es zwischen dem Menschen und dem Universum keinen Unterschied gibt, warum kann dann nur der Mensch einen Zaun bauen und das Universum nicht?" 181 "Deine Fragen sind wirklich unbezahlbar", sagt die Yogini lachend. "Das Universum baut den Zaun durch dich." "Das habe ich vermutet. Demnach foltert das Universum Menschen, weil diejenigen, die foltern, ebenfalls Teil des Universums sind. Dann wurde Tibet durch die Chinesen vom Universum besetzt und zerstört." Die Yogini scheint von dem, was ich gesagt habe, keineswegs überrascht zu sein. "In der Tat", sagt sie sofort, "sind alle Katastrophen in dieser Welt oder in anderen Welten Kata-‐ strophen des Universums. Was denn sonst? Die Aktivität eines Vulkans, der Städte ver-‐ schüttet und Tausende Menschen tötet, ist eine Aktivität der Erde, die ein Produkt des Universums ist. Und genauso, wie es solche materiell bedingten Katastrophen gibt, gibt es natürlich auch geistige und psychische Katastrophen. Das wirst du aber nur dann ver-‐ stehen können, wenn du eingesehen hast, dass alles Subjektive ebenso wie alles objektiv Materielle ein Ausdruck des Universums ist." "Wenn es so ist, warum macht das Universum einen solchen Unsinn?" "Weil es eine Ganzheit aller – ich sage: aller nur denkbaren und undenkbaren Möglich-‐ keiten ist. Andernfalls wäre es kein Universum." Langsam ahne ich etwas. "Dann ist die universale Subjektwirklichkeit die Gesamtheit al-‐ ler imaginären geistigen Möglichkeiten, die sich manifestieren können? Dann sind alle nur denkbaren Grausamkeiten ebenso Ausdruck dieses Universums wie das Heilige?" "So ist es", bestätigt Marpa meine Ahnung. "Aber damit hebt sich doch jede Form von Moral und Ethik auf? Dann gibt es keine Ver-‐ antwortung mehr für das, wofür oder wogegen sich ein Mensch individuell entscheidet?" "Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen? Du schaust nicht aufmerksam genug hin. Sonst könntest du sehen, sonst hättest du eingesehen: Das Universum ist alles. Die uni-‐ versale Subjektwirklichkeit ist alle moralischen und ethischen Möglichkeiten, es ist alle möglichen heilsamen und unheilsamen Entscheidungen." "Ja schon, aber wer entscheidet? Der Mensch als Subjekt oder die universale Subjekt-‐ wirklichkeit? Wie ich es verstanden habe, entscheidet sich die universale Subjektwirk-‐ lichkeit durch den Menschen als Subjekt. Das jedenfalls folgere ich aus deinem Hinweis, dass das Universum durch den Menschen einen Zaun gestalten würde. Dann aber sind alle menschlichen Verfehlungen solche des Universums. Auch das Böse wäre ein Aus-‐ druck der universalen Subjektwirklichkeit und nicht des Menschen, der dann frei von Schuld ist, weil es das Universum ist, das durch ihn gehandelt hat." "Ich verstehe dein Problem. Versuchen wir es gemeinsam zu lösen. Der Angelpunkt ist die Entscheidung. Siehst du das auch?" 182 "Ja. Entweder entscheidet sich das Universum oder das individuelle Subjekt Mensch. Aber wenn der Mensch ein Aspekt des Universums ist, dann entscheidet sich das Univer-‐ sum durch ihn. In dieser Schlinge ist meine Einsichtsfähigkeit gefangen." "Das ist eine schöne Schlinge. Eine Schlinge der Logik, eine prachtvolle Entweder-‐oder-‐ Schlinge. Entweder entscheidet die universale Subjektwirklichkeit oder es entscheidet das Subjekt Mensch. Dieses Entweder-‐oder ist lediglich ein Denkmuster, sonst nichts. Du kannst ihm ein Sowohl-‐als-‐auch-‐Muster daneben stellen. Dann bekommst du folgende Aussage: Sowohl die universale Subjektwirklichkeit als auch das individuelle Subjekt Mensch können schuldig und unschuldig sein, können Böses und Gutes tun, können heil-‐ sam und unheilsam entscheiden. Wie klingt das für dich?" "Befreiend, obwohl ich das alles noch nicht klar sehen kann. Was mir spontan in den Sinn kommt, ist der Satz, was ich als Mensch getan habe, das habe ich dem Universum angetan. Anders herum gedacht ..." "Was wolltest du eben sagen", hakt die Yogini nach. "Ich frage mich – wer tut eigentlich wem etwas an. Ich dem Universum oder das Univer-‐ sum mir?" "Bemerkst du nichts?", fragst sie. "Was?" "Was hast du eben gesagt?" "Oh – ich habe nicht gemerkt, dass ich schon wieder im Entweder-‐oder-‐Muster war." "Genau. Und was folgt daraus?" "Nun ja, das Universum tut mir etwas an und ich ihm." "Kannst du damit etwas anfangen?" "Ich glaube schon. Wenn ich es bedenke, dann ist das äußerst dialogisch und sehr leben-‐ dig." Die Yogini beugt sich vor und sagt leise: "Ich habe den Eindruck, jetzt bist du einen wich-‐ tigen Schritt weitergekommen." "Ja, irgendwie schon", ist alles, was ich darauf antworten kann. Im Laboratorium von Göden Marpas Gedanken bin ich sicher nicht mehr als eine Fliege, die hierhin und dort-‐ hin fliegt, ohne zu wissen, wo sie sich befindet. Jedenfalls fühle ich mich im Augenblick so. … 183 Ich gehe hinaus, um Holz zu holen. Obwohl Sommer ist, müssen wir den Herd beheizen, sonst wäre es zu feucht und ungemütlich. Diesmal achte ich darauf, nur solche Scheite zu nehmen, von denen ich annehme, dass sie nicht vom Urin der Kühe imprägniert worden sind. Als ich mir das Holz auf den Arm schichte, krabbelt eine fette schwarz behaarte Spinne daraus hervor. Ich weiß nicht, weshalb das so ist, aber ab einer gewissen Größe reagiere ich bei der Begegnung mit einer Spinne, vor allem dann, wenn sie meinem Ge-‐ sicht nahe ist, mit einen irrationalen Schauer, der eine Mischung aus Ekel, Abwehr und Erstarrung ist. Inzwischen habe ich gelernt, in einem solchen Moment, der nur den Au-‐ genblick eines Wimpernschlages dauert, Beobachter meiner Reaktionen zu sein und zu sehen, was in mir vor sich geht. Deshalb merke ich, dass sich diese überraschende Kon-‐ frontation auf mein Herzzentrum auswirkt. Ebenso schnell, wie diese Reaktion entsteht, aktiviert sich auch mein Kraftzentrum im Unterbauch, von dem aus eine emotional un-‐ beteiligte Beobachtung möglich ist. Ich beherrsche den spontanen Impuls, den gesamten Holzstapel fallen zu lassen, und nehme stattdessen das Scheit, auf dem die Spinne sitzt, langsam auf und lege es ebenso langsam auf den großen Vorratsstapel zurück. Mag das Vieh dann hin kriechen, wo es will, zumindest habe ich es aus der unmittelbaren Nähe meines Gesichts entfernt. Diese Episode lässt mich etwas Ähnliches erinnern, das ich einmal in einem alten Schloss in Ambazac bei Limoges erlebt habe. Hier hatte ich im Sou-‐ terrain ein Atelier mit einem kleinen Turmzimmer, in dessen Mitte mein Bett stand. Ei-‐ nes Morgens erwachte ich und sah einen halben Meter über meinem Gesicht eine ebenso große schwarze Spinne an einem Faden hängen. Etwas finde ich seltsam. Obwohl ich mich heute nicht mehr so panisch fühle wie damals, bin ich dennoch nicht frei von Un-‐ behagen. Ich nehme mir vor, die Yogini danach zu fragen, ob ein im buddhistischen Sinn Erwachter negative Emotionen bei der Begegnung mit solchen Kriechtieren hat. Nachdem ich das Holz unter den Herd geschichtet und nachgelegt habe, wende ich mich wieder dem Thema zu, das wir unterbrochen haben. "Wenn sich die imaginäre Subjekt-‐ wirklichkeit zur biologischen Erscheinungsform einer Zelle verfestigt, der Zaun aber ebenso die Verfestigung der Idee eines Subjekts ist, wie ist es dann möglich, dass die Zel-‐ le lebt und der Zaun nicht?" Die Yogini schweigt. Nur das Knistern des Feuers ist zu hören, das Tropfen vom Dach hat aufgehört. Nachdem wir eine Weile nichts gesagt haben, spricht sie: "Der Unterschied ist die Wahrnehmung. Der Zaun ist ein materielles Objekt, deshalb kann er nicht wahrneh-‐ men. Die Zelle kann wahrnehmen, deshalb ist sie etwas Lebendes. Das sich vom unbeleb-‐ ten Objekt unterscheidet." "Das weiß ich, aber ..." Marpa unterbricht mich, indem sie energisch die Hand hebt und sagt: "Bevor du weitere Fragen stellst, solltest du in dich gehen und sehen, welche Einsichten du verfügbar hast. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns um das Abendessen kümmern und uns danach zu-‐ rückziehen." Obwohl ich etwas enttäuscht bin, beginne ich mit den Vorbereitungen. 184 Es ist dunkel geworden. Ich sitze in meiner Kammer und schaue aus dem Fenster. Ein abnehmender Mond schimmert durch Wolkenschleier. Beharrlich treibt ein sanfter Wind kompakte Wolken vom Westen her auf den Mond zu. Bald wird sein Licht hinter einer dichten Wolkenschicht verborgen sein. Plötzlich ist mir kalt. Ich öffne die Tür zur Küche und lasse die noch warme Luft einströmen. Mir ist nicht danach zumute, etwas zu tun oder zu denken. Die inneren Stimmen bleiben stumm. Offenbar fällt ihnen nichts ein. Müdigkeit macht sich bemerkbar. Es ist Zeit, schlafen zu gehen. … Ich liege im Bett, bin wach und schaue in pechschwarze Dunkelheit. Die Nacht hat alles Licht in sich aufgesaugt. Nichts ist zu hören. Selbst die Mäuse scheinen in stiller Kon-‐ templation versunken. Kein Rascheln, Schaben oder Tapsen kleiner Pfötchen auf Holz. Keine Geräusche, kein Bezugspunkt. Ich schwimme in einer finsteren Leere, in der das Äußere meinem Inneren gleicht. Plötzlich erschrecke ich! Ein dumpfes Poltern draußen lässt mich hellwach werden. Meine Aufmerksamkeit verdichtet sich augenblicklich zu einem kristallklaren Punkt beherrschten Bei-‐mir-‐Seins. Konzentriert horche ich in eine Dunkelheit hinein, die mir nichts offenbart. Ich warte auf weitere Geräusche, anhand de-‐ rer ich darauf schließen könnte, was draußen vorgefallen ist. Alles bleibt ruhig. Auch von Göden Marpa höre ich nichts. Ich lege mich wieder hin und bin bereit wieder einzuschla-‐ fen. Wenn ich schlafe, habe ich keine Wahrnehmung des Raumes, in dem ich mich befinde. Andererseits, etwas in mir nimmt dennoch wahr. Es könnte sein, dass ich aus dem Schlaf heraus wach werde, weil ich etwas Irritierendes wahrgenommen habe. Aber nicht ich habe wahrgenommen, ich habe ja geschlafen. Etwas in mir hat wahrgenommen, hat zum Beispiel ein Geräusch gehört. Auch wenn ich träume, nehme ich wahr. Dieses Wahrneh-‐ men bezieht sich aber nicht auf sinnliche Eindrücke, sondern auf geistige. Was ich im Traum sehe oder höre, wird mir nicht über die Sinne vermittelt. Es sind nicht verfestigte geistige Erscheinungsformen. Sie werden weder von mir noch von einem anderen über die Sinne wahrgenommen. Niemand kann sie beobachten, aber ich kann sie wahrneh-‐ men. Etwas in mir, das viel umfassender ist als mein Ich, nimmt wahr. Was ist es? Die Ge-‐ samtheit des Lebewesens, das ich bin. Das Subjekt als Ganzes ist wahrnehmend. Ist es so? Oder sind nur bestimmte Teile daran beteiligt? Kann ein Lebewesen ohne Gehirn wahrnehmen? Kann eine Zelle wahrnehmen? … Der Schlaf scheint diesmal nicht mein Freund zu sein. Ich wälze mich nach links. Dann wieder nach rechts. Zwischendurch liege ich auf dem Rücken und schaue auf die Bal-‐ kendecke, die ich nicht sehen kann. Ja, sage ich mir: Ohne Gehirn kann ich keine Erschei-‐ nungsformen wahrnehmen, die des Gehirns bedürfen. Ohne Sinnesorgane kann ich 185 nichts von dem wahrnehmen, für das Sinnesorgane benötigt werden. Ohne zentrales Nervensystem kann ich keine Phänomene wahrnehmen, die auf diesem System beruhen. Alle diese Teilsysteme des Ganzen beruhen auf Mikrosystemen, die sich auf die Zelle re-‐ duzieren lassen. Was bin ich also? Ich bin ein Zellsystem. Dieses System ist. Und das Be-‐ sondere daran – es funktioniert unabhängig von einem Ich. Die Wahrnehmung eines Zellsystems, jedes Zellsystems ist nicht an ein Ich gebunden. Die Wahrnehmung ist ein Aspekt der universalen Subjektwirklichkeit, die sich als Zelle verfestigt hat. Diese Gedanken entstehen wie von selbst. Ich brauche nur ruhig dazuliegen und darauf zu achten, wie sie sich stumm formulieren. Sie kommen mir vor wie Perlen, die sich in der Muschel des Gehirns bilden. Sofort erkenne ich die Paradoxie des nächsten Gedan-‐ kens. Die Wahrnehmung benötigt kein Gehirn, das Denken schon. Die biologische Er-‐ scheinungsform ist eine zur Subjektrealität gewordene Imagination der universalen Subjektwirklichkeit. Geometrisch gedacht entsteht eine Zelle an dem Schöpfungspunkt, an dem sich die Ach-‐ se der Subjektwirklichkeit mit der Achse der Objektrealität kreuzt. Stellt man sich jede der beiden Achsen ohne Anfang und Ende vor, dann ist der Schnittpunkt jene Dimension, in der die imaginäre Welt und die Realwelt zum Schöpfungspunkt wird. … Ich erwache vom Muhen der Kühe. Sie müssen sich nahe am Zaun aufhalten, weil es laut ist. Eine hat statt einer Kuhglocke eine große Schelle umgebunden, deren Scheppern mich gleich nervt. Als würde sie mit einer klappernden Konservendose auf sich auf-‐ merksam machen wollen. Bei jeder Bewegung beim Grasen und sich Kratzen entsteht dieses banale Geräusch. Es macht mich vollends wach. Vor allem macht es mich aggres-‐ siv. Ich überlege mir, dass ich diese Schelle mit Zeitungspapier ausstopfen könnte. Nach-‐ dem ich aufgestanden bin, hetze ich eine halbe Stunde lang der Kuh im taufeuchten Gras hinterher. Keine Chance. Es gelingt mir nicht, der Kuh so nahe zu kommen, dass ich die Schelle erreichen kann. Missmutig stapfe ich zurück zur Hütte. Die Yogini steht vor der Tür und schaut zu mir her. Mit einem grantigen "Guten Morgen" begrüße ich sie. Sie nickt mir zu und schweigt. Jetzt, da die Kühe gekommen sind, bin ich nach dem Frühstück den ganzen Vormittag über damit beschäftigt, am Zaun zu arbeiten. Etliche Teile muss ich durch schwerere und stabilere Äste ersetzen. Einige Pfosten müssen viel tiefer in den Boden gerammt werden. Ich hatte nicht bedacht, wie es sich auf meine Zaunskulptur auswirken würde, wenn sich die Kühe ihre Hintern daran reiben. Bedauerlicherweise scheinen sie alle Gefallen an diesem Zaun zu finden. Sie trotten derart knapp daran entlang, dass sie ihn mit ihren fes-‐ ten Bäuchen zur Seite drücken. Und wenn sie sich an der einen oder anderen Stelle den Schädel kratzen, dann wackelt er bedenklich. 186 Was sich in meiner Vorstellung als einfache Arbeit dargestellt hat, ist in der Praxis äu-‐ ßerst ermüdend. Zehn Zentimeter lange Nägel durch die zähen Äste zu schlagen, um sie miteinander zu verbinden, lässt meine Knöchel anschwellen und die Handgelenke schnell erlahmen. Manchmal bin ich nicht mehr in der Lage, das Beil zu halten. Als ich genug getan habe, lege ich das Werkzeug beiseite und ruhe mich auf dem Balkon aus. Ich sitze gerne hier oben. Wenn ich auf den Boden blicke, sehe ich einen morschen alten Boden mit klaffenden Spalten. Links von mir sind die zu geschwungenen Formen gesäg-‐ ten Balkonbretter von der jahrzehntelangen Sonnenbestrahlung sowie von Regen und Schnee bereits derart verzogen, dass sie beinahe auseinander fallen. Ich werde sie dem-‐ nächst provisorisch festnageln müssen. Auf der rechten Seite kann ich mich an die von Hitze dunkelbraun gebrannte Balkenwand lehnen, die mit unzähligen Holzwurm-‐ und anderen Löchern gesprenkelt ist. Sie werden von Insekten, die wie kleine Wespen aus-‐ sehen, emsig angeflogen. Dann schlüpfen sie hinein und kommen etwas später wieder heraus. Offenbar haben sie hier ein komfortables Quartier gefunden. Über mir flattern Gebetsfahnen, die Marpa und ich von der einen Dachseite zur anderen gespannt haben. Ob die gedruckten Gebete wirklich vom Wind in die Welt getragen werden? Schaue ich geradeaus, sehe ich einen Teil der Dachrinne und unterhalb von ihr die fernen Berge. Jetzt höre ich die Yogini wie einen Vogel pfeifen. Das ist unser gemeinsames Signal, mit dem wir uns gegenseitig rufen. Ich verlasse den Balkon und gehe zu Marpa hinaus, die im Garten sitzt und den kleinen Tisch, den wir je nach Sonnenstand und Schatten mal hierhin, mal dorthin stellen, gedeckt hat. Ich schätze es und kann es sehr genießen, wenn ich mich nicht um das Essen kümmern muss. Während ich oben war, hat sie für ein ver-‐ spätetes Mittagessen gesorgt, das nun ein verfrühtes Abendessen ist. Meine Finger und Knöchel sind von der Arbeit am Zaun immer noch geschwollen und schmerzen. Die nächsten Tage werde ich kein Werkzeug anfassen und mich auf leichte Tätigkeiten be-‐ schränken. "Zu welchen Einsichten haben dich deine Gedanken gestern Abend geführt?", fragt mich die Yogini, nachdem wir mit dem Essen fertig sind. "Oh, leider kann ich dir keine nennenswerten Einsichten berichten." "Dann hast du sicher wieder eine Frage." "Ja. Was ist der Mensch? Kannst du mir das sagen?" "Du solltest dir die Antwort selbst geben können." "Kann sein. Aber mir ist es lieber, wenn ich deine Ansicht kennen lernen kann." "Ich kann nur wiederholen, worüber wir bereits ausführlich gesprochen haben und von dem ich angenommen habe, dass du es verstanden hast. Was ist der Mensch? Ein Sub-‐ jekt. Was unterscheidet ihn von einem Objekt? Die offenbare Tatsache, dass er wahr-‐ 187 nehmen kann, dass er sich selbst und andere wahrzunehmen vermag. Objekte können nicht wahrnehmen." "Gut", sage ich nach einer kurzen Denkpause. "Was du sagst, gilt für alle Lebewesen und ist nicht auf den Menschen beschränkt. Auch ein Hund kann einen anderen Hund wahr-‐ nehmen. Du hast das Subjekt als eine abgegrenzte biologische Erscheinungsform be-‐ zeichnet, die wahrnehmen kann. Demnach ist auch ein Regenwurm ein Subjekt und kein Objekt. Was unterscheidet ihn vom Menschen? Beide sind Lebewesen, die aus Zellen be-‐ stehen und wahrnehmen können." "Du willst also wissen, was einen Menschen vom Regenwurm unterscheidet? Das ist ein-‐ fach. Alles, was ein Regenwurm kann und der Mensch nicht, unterscheidet sie voneinan-‐ der. Alles das, was ein Mensch kann und der Regenwurm nicht, unterscheidet ihn vom Wurm." Die Logik der Yogini verblüfft mich immer wieder. Auch jetzt. Als würde mir ein frischer Wind frontal ins Gesicht wehen. Was ist der Mensch? Eine wahrnehmende Erschei-‐ nungsform mit bestimmten, ihm möglichen Funktionen. Aufgrund dieser Funktionsmög-‐ lichkeiten unterscheidet er sich von anderen Lebewesen mit anderen Funktionsmög-‐ lichkeiten, die auch Subjekte sind. Diese gegebenen oder nicht gegebenen Möglichkeiten sind der bedeutsame Unterschied. Welche Beispiele lassen sich dafür finden? Zum Beispiel das Schreiben, das Singen oder das Bauen von Geräten. Diese Funktionen können vom Menschen entwickelt werden oder auch nicht. Die Möglichkeiten dazu sind jedenfalls vorhanden. Im Vergleich dazu ist das Weben eines Spinnennetzes eine Funktion, die dem Menschen nicht gegeben ist. Sie ist definitiv bei ihm nicht vorhanden und kann demnach auch nicht entwickelt werden. Andererseits wiederum kann eine Spinne auf einem Webstuhl kein Tischtuch weben. Obwohl Affen ebenso lange existieren wie der Mensch, können sie keine Gedichte schreiben oder rechnen. Subjekte sind sie trotzdem. Was uns von den Affen unterschei-‐ det, ist also nicht das Subjektsein, es ist die anders gemischte Palette der Funktionen. Nachdem mir diese Gedanken durch den Kopf gegangen sind, sage ich zur Yogini: "Du hast zweifellos Recht. Der Mensch ist ein Subjekt wie jedes andere Lebewesen auch. In der gesamten Lebenssphäre ist die Subjektwirklichkeit des Universums inkarniert. Ma-‐ terialisiert. Ist der Mensch ein Tier?" "Das habe ich nicht gesagt. Ich sage: Der Mensch ist ein Subjekt mit Möglichkeiten, die das Tier nicht hat. Andererseits sind auch Tiere Subjekte mit Möglichkeiten, über die der Mensch nicht verfügt. Die herausragende Andersartigkeit des Menschen sehe ich darin, dass er geistige Funktionen entwickeln und verwirklichen kann, die ihm eine Metaebene des Wahrnehmens, ein geistiges Heraustreten aus den Verflechtungen mit der Realwelt ermöglichen. Nur der Mensch ist imstande, eine extraterrestrische Perspektive des Wahrnehmens einzunehmen. Als Subjekt ist er trotzdem dasselbe wie ein Affe." 188 "Dann unterscheidet sich der Mensch vom Tier nur aufgrund seiner funktionalen Mög-‐ lichkeiten?" "Du betonst zu sehr den Unterschied. Ich sehe mehr das Gemeinsame. Die Menschen ha-‐ ben sich je nach Kultur für etwas Besseres gehalten als das Tier. Für mich sind Mensch und Tier gleichrangig. Das Tier ist ein Subjekt. Der Mensch auch. Alles, was lebt, ist Sub-‐ jekt." "Du hast gesagt, dass der Teil eines biologisch Ganzen, also eine Zelle, ebenso ein Subjekt ist. Darauf möchte ich noch einmal zurückkommen und fragen: Ist das Gehirn ein Sub-‐ jekt? Ohne das Ganze des Körpers kann es nicht leben." "Ich würde so sagen – ohne spezielle Wechselwirkungen kann es nicht leben. Dazu ist der Körper nicht unbedingt erforderlich. Apparate können die Funktionen des Körpers möglicherweise ersetzen." "Dann ist ein isoliertes Gehirn, dessen Funktionen künstlich aufrechterhalten werden, ein Subjekt?" "Schau es dir einmal von der anderen Seite her an. Wenn man das Gehirn als ein Objekt betrachtet, muss man auch davon ausgehen, dass dieses Objekt andere Objekte beobach-‐ ten und untersuchen kann. Ist so etwas möglich? Ist es möglich, dass ein Objekt ein an-‐ deres Objekt als Objekt wahrnehmen und beobachten kann? Die einzig sinnvolle An-‐ nahme, die den vielfältigen Erscheinungsformen gerecht wird, ist die: Das Gehirn ist ein Subjekt." "Aber wenn du das Gehirn als ein Subjekt bezeichnest, müssen alle Teile, aus denen es besteht, ebenso ein Subjekt sein." "An deiner Formulierung stört mich etwas. Ich bezeichne das Gehirn nicht als Subjekt. Dann würde ich nur ein Wort gegen ein anderes austauschen. Ich sehe das Gehirn als Subjekt. "Musst du dann nicht konsequent sein und sagen, dass die Milliarden von Zellen, aus de-‐ nen ein Gehirn aufgebaut ist, alle Subjekte sind?" "Genau." "Das hört sich ziemlich abwegig an." "Das kommt daher, dass du dir unter einem Subjekt einen verfestigten Komplex, wie zum Beispiel einen Menschen, vorstellst. Du darfst, das habe ich schon mehrmals gesagt, die universale Subjektwirklichkeit nicht personifizieren. Wenn ich vom Subjekt rede, meine ich immer die im Subjekt verfestigte universale Subjektwirklichkeit." "Meinst du, diese Subjektwirklichkeit hat sich in den Gehirnzellen verfestigt?" 189 "Ja. Das betrifft nicht nur die Gehirnzellen, sondern alle existierenden Zellen. Das habe ich dir schon einmal gesagt." "Dann musst du aber diesen Gedanken auch auf die Moleküle übertragen, aus denen Zel-‐ len bestehen. Moleküle sind dann auch Subjekte." "Was du andeutest, stimmt. Auch Moleküle sind verfestigte Subjektwirklichkeit, und nicht nur sie. Ebenso müssen wir die elementaren Strukturen, aus denen sie aufgebaut sind, folgerichtig auch als verfestigte, als materialisierte Subjektwirklichkeit verstehen." "Meinst du die Atome?" "Die Atome und natürlich auch die Elementarteilchen, aus denen sie bestehen." "Das ist eine unerhört weit reichende Behauptung. Damit sagst du, dass Elementarteil-‐ chen verfestigte Subjektwirklichkeit sind." "Ja. Das sage ich", bekräftigt Göden Marpa. "Du kannst das Seiende nicht von der materi-‐ ellen Objektrealität her erklären und begründen, ohne dabei in Widerspruch mit den Er-‐ scheinungsformen des Lebens zu sein." "Wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, dann ist die Objektrealität der Elementar-‐ teilchen auf die imaginären Aspekte der Subjektwirklichkeit zurückzuführen, die sich verfestigt, also festgelegt haben", frage ich nach. "Genau so sehe ich das." Mit einem konzentrierten Blick auf einen Punkt hinter mir er-‐ gänzt die Yogini ihre Bestätigung. "Du darfst bei alledem das einzelne Elementarteilchen – falls es diese Vereinzelung tatsächlich gibt – keinesfalls als isoliertes Subjekt verste-‐ hen. Die Objektrealität aller Elementarteilchen ist eine sich stets verfestigende Imagina-‐ tion der universalen Subjektwirklichkeit." Ich schaue auf den Zaun. Wodurch sind die Äste, aus denen er besteht, zu einem Zaun geworden? Sie hätten sich ohne die Imagination eines Subjekts, die dieses Vernetzt Sein herbei geführt hat, nicht zu diesem vernetzten Gebilde zusammengefügt. Ohne meine Imagination gäbe es diesen Zaun nicht, das sehe ich klar. Vage ahne ich auch, dass es zwischen dieser Imagination und dem, was Göden Marpa verfestigte Imagination der Subjektwirklichkeit nennt, einen Zusammenhang zu geben scheint. Ich frage sie danach. Nachdenklich antwortet sie mir. "Der Grundzustand des Universums ist ein imaginärer Seins Zustand." Das sagt sie so locker und selbstverständlich, wie ich sagen würde: Der Tannenbaum ist grün. Ich muss mich kurz von meiner Überraschung erholen, bevor ich die nächste Frage stellen kann. "Was ist ein Zustand?" "Denke an dich selbst. Welche Erfahrung machst du, wenn du dich in einem bestimmten Zustand befindest?" 190 "Ein Zustand ist dann für mich eine bestimmte Befindlichkeit." "Welche Befindlichkeiten kennst du? Welche fallen dir ein?" "Das ist davon abhängig, in welcher Situation ich mich befinde." "Gut. Damit sagst du, dass deine Befindlichkeiten von Wechselwirkungen abhängig sind." "Auf jeden Fall. Ich werde bewusst oder unbewusst von vielerlei in mir und um mich herum bewirkt. Dieses Bewirkt Werden färbt meine Befindlichkeit. Je nach Befindlich-‐ keit bin ich in einem bestimmten Zustand." "Demzufolge kennst du Zustände als Erscheinungsform von Wechselwirkungen. Kennst du auch einen Grundzustand? Wie könnte der sein? "Ist damit ein Zustand gemeint, der nicht von Bedingungen abhängig ist?" "Ja, das meine ich." "Im Unterschied zu den verschiedenen Befindlichkeiten, die in Abhängigkeit von diver-‐ sen Bedingungen entstehen, wäre mein Grundzustand eine Befindlichkeit, die von Wechselwirkungen unbeeinflusst ist." "Sehr gut", sagte die Yogini. "Hast du eine solche Befindlichkeit bereits erfahren?", fragt sie. Ich brauche nicht lange nachzudenken. Sofort erkenne ich meinen Grundzustand als eine Befindlichkeit der Leere. Ein Zustand des Nicht-‐verhaftet-‐Seins, der Stille, des bedin-‐ gungslosen Bei-‐mir-‐Seins, in dem ich nichts bin. Frei von Verhaftungen. "Das ist mehr, als ich erwartet habe", antwortet sie. "Generalisiere diese Erfahrung und übertrage sie auf das Universum." Einen Moment lang ist mir schwindlig. "Du hast gesagt, der Grundzustand des Univer-‐ sums ist ein imaginärer Seins Zustand." "Ich weiß", bestätigt sie und wartet ab, was ich weiter sagen werde. "Mir fallen zu dem, was du gesagt hast, zwei Bedeutungen ein. Der Grundzustand des Universums ist Leere. Die andere, der imaginäre Seins Zustand ist Leere." "Es gibt noch eine dritte Variante." "Meinst du diese? Der Grundzustand des Universums ist ein imaginärer Seins Zustand der Leere?", frage ich zweifelnd. 191 Die Hände zusammenklatschend ruft sie: "Das ist es!" Für Göden Marpa ist das offenbar selbstverständlich. Für mich ist es der Beginn weiterer Fragen, mit denen sich die Per-‐ lenschnur der Einsicht verlängern wird. Meditation und die Essenz von Bewegung Streifen zart zitronengelber Wolken verschmelzen mit transparentem Cölinblau, das nach unten hin dunkler in ein indigo-‐violettes Wolkenband übergeht. Heftiger Wind peitscht die Äste der Tannen. Sie brechen nicht. Sie beugen sich. Die Luft ist von glasiger Klarheit. Bald wird sich ihre Transparenz in stumpfes Blei verwandelt haben. Ein weißer Fetzen flattert in der Wiese. In den Dornen des Hagebuttenstrauchs verhakt, wird er vom Wind gnadenlos hin und her gerissen. Eine weiße Gestalt. Das Gespinst und Ge-‐ spenst einer Furie im Kampf mit sich selbst. Ich sitze am Fenster, betrachte dieses ein-‐ zigartiges Schauspiel das keiner Regie bedarf und deshalb vollkommen ist. ... Von nebenan höre ich Sägen und Hämmern. Die Yogini ist am Arbeiten. Neben dem Vor-‐ raum ist eine kleine Werkstatt. Vollgeräumt und eng, hat man hier anderthalb Quadrat-‐ meter Platz. Marpa ist handwerklich geschickt. Ihre bescheidenen Möbel hat sie aus al-‐ ten Stallbrettern selbst gebaut. Der Stil ihrer Produkte ist eine seltsame Mischung aus zweckmäßiger Ästhetik und nachlässig scheinender Form. Die Dinge wirken liebevoll und inferior zugleich. Ich verlasse meinen Platz am Fenster, gehe hinaus zur Werkstatt, neugierig, womit sie beschäftigt ist. Ich sehe etwas, das aussieht wie eine skurrile Skulp-‐ tur. Unschlüssig stehe ich da und schaue zu. 192 "Halt mal das Brett fest", fordert sie mich auf und schiebt das seltsame Holzgestell zur Seite. Es verursacht ein dumpf scharrendes Geräusch auf dem groben Dielenboden. Der Hammer, der auf dem Gestell lag, fällt zu Boden. Sie lässt ihn liegen. "Was wird das"?, frage ich. "Ich baue mir einen Yogastuhl zum Meditieren", ist ihre Antwort. "Wozu brauchst du zum Meditieren einen Stuhl", will ich wissen. "Dafür gibt es mehrere Gründe", beginnt sie zu erklären. "Ich möchte mich beim Medi-‐ tieren nicht unnötig anstrengen. Deshalb will ich die Haltung des Körpers individuell un-‐ terstützen. Er soll durch die äußere Form des Sitzens in Harmonie kommen. Außerdem ist es mir unangenehm, am Boden zu sitzen und einen kalten Hintern zu bekommen. Ich brauche einen geeigneten Stuhl, der auf den Körper wirkt, sodass es wie im klassischen Lotussitz in Harmonie ist." Diese Idee finde ich interessant. Ich konnte noch nie über einen längeren Zeitraum mit gekreuzten Beinen auf dem Boden zu sitzen. Immer wenn ich es versucht habe, wurde mein Bedürfnis nach innerer Sammlung innerhalb kürzester Zeit von körperlichem Un-‐ behagen überlagert. Staunend betrachte ich das eigenartige Gestell. "Was ist das Beson-‐ dere an diesem Stuhl?" "Das habe ich dir doch schon gesagt. Der Körper soll beim Sitzen in Harmonie gebracht werden." "Das habe ich schon verstanden. Aber wodurch kommt diese Harmonie zustande?" "Das ist wieder eine deiner Fragen", sagt die Yogini etwas ungehalten. "Wenn du in ei-‐ nem solchen Stuhl sitzt, kannst du erfahren, was ich meine. Aber was willst du? Du willst eine Erklärung anstelle einer Erfahrung." "Ja", erwidere ich. "Ich möchte gerne etwas über das theoretische Konzept dieses Yo-‐ gastuhls wissen." "Das hört sich an, als ob ich mir eine Theorie ausgedacht hätte. So ist es aber nicht. Der Körper selbst und das unmittelbare Erfahren der verschiedenen Formen des Sitzens ha-‐ ben mir das Konzept vermittelt, das aufmerksame Beobachten des Körpers beim Sitzen. Ein Sitzen, das den Körper entlastet und entspannt und den Geist dabei aktiviert und konzentriert." "Du sprichst etwas an, was ich auch schon erfahren habe, nämlich dass Meditation wenig mit Entspannung zu tun hat, sondern mit harmonischer Spannung." "Eben. Überall ist von Entspannung die Rede. Damit erreichst du gar nichts." 193 "Demnach baust du diesen Stuhl, um beim Sitzen in eine harmonische Spannung zu kommen?" "So könnte man sagen. Du musst aber zwischen den körperlichen und den mentalen Be-‐ dingungen unterscheiden. Der Körper soll nämlich schon entspannt und gelöst sein. Aber zugleich soll sich das mentale System dabei sammeln und konzentrieren können." Göden Marpa hebt den halb fertigen Stuhl auf und geht damit nach draußen. Sie stellt ihn in die Wiese, wo er aussieht wie ein archaischer Thron. Mit Schleifpapier beginnt sie das faserige Holz zu schleifen, das stellenweise mit Holzkitt verspachtelt ist. Das Ding hat einen gewissen ästhetischen Charme. "Darf ich mich mal in den Stuhl setzen?", fragte ich erwartungsvoll, nachdem ich ihr eine Weile zugeschaut habe. "Das wird dir nichts nützen", ist ihre entschiedene Antwort. "Er ist auf meinen Körper eingestellt, nicht auf deinen." "Was meinst du damit?", will ich wissen. "Dazu musst du wissen, dass drei Dinge zu beachten sind. Die Sitzhöhe, also die Länge der Beine vom Knie abwärts. Sie sorgt dafür, dass Becken und Oberschenkel im rechten Winkel sind. Zweitens befindet sich an einem bestimmten Ort der Rückenlehne ein Teil, dessen Rundung dem Rücken im Lendenbereich angepasst ist. Der Ort, an dem sich die-‐ ses Teil befindet, korrespondiert mit einer Stelle an der Wirbelsäule, die zentimeterge-‐ nau bestimmt werden muss. Zuletzt ist noch die Höhe der Armlehnen von Bedeutung, weil sie einen Einfluss auf die Spannungen im Schulterbereich haben. Diese drei Aspekte ergeben zusammen eine individuelle Maßproportion. Nur durch dieses Verhältnis der Maße, das auf den individuellen Körper bezogen sein muss, erhält der Yogastuhl seine besondere Funktion. Wenn du dich in meinen Stuhl setzt, kann er für dich nicht die Wir-‐ kung haben, die er für mich haben wird. Kannst du das verstehen?" Inzwischen hat Göden Marpa die faserigen Holzteile glatt geschliffen. Jetzt schaut sie mich herausfordernd an und wischt sich ihre staubigen Hände am dunklen Rock ab. Sie betrachtet die hellen Flecken und Streifen, die auf dem Stoff entstanden sind. In diesem Moment macht sie auf mich den Eindruck, als ob sie von einer unvermuteten Tiefgrün-‐ digkeit des Lebens überrascht worden sei. "Ich möchte mir auch einen solchen Stuhl bauen", unterbreche ich ihre Kontemplation. "Das wirst du nicht umgehen können, wenn du diese Erfahrung des Sitzens machen willst." Energisch klopft sie sich auf den Rock. Es staubt wie bei einem alten Teppich. Mit einem öligen Fetzen, den sie sich inzwischen aus der Werkstatt geholt hat, wischt sie den Stuhl ab, dessen Farbigkeit mich an alte Knochen erinnert. Sehr tibetisch. Versonnen be-‐ trachte ich das merkwürdige Objekt. In einer Galerie würde es ein Kunstwerk sein. Eine surreale Skulptur. 194 "Ist das Sitzen in diesem Stuhl bereits eine Meditation?", nehme ich den Faden des Ge-‐ sprächs wieder auf. "Ich habe dich so verstanden, dass er das Meditieren begünstigt und erleichtert. Stimmt das?" "Ja. Der Yogastuhl unterstützt das Meditieren, weil er die körperliche Disposition beein-‐ flusst." "Das ist mir schon klar. Aber kannst du mir genauer beschreiben, welche Disposition du meinst? Wodurch wird sie erreicht?" Die Yogini bittet mich, den Stuhl in die Werkstatt zu tragen. Sie geht in die Küche und kümmert sich um Tee. Dann setzen wir uns draußen an den Tisch. "Wenn die vertikale Achse des Leibes gefestigt ist, dann ist auch der Geist gefestigt. Du kannst es auch so sehen: Ist der Geist krumm, ist auch der Körper krumm. Deshalb geht es darum, die Haltung des Körpers in die rechte Form zu bringen. Die rechte Form ist unten fest und oben locker. Unten sind Lenden und Bauch. Oben Brust und Schultern, Nacken und Kopf. In der rechten Haltung werden die Verspannungen, die oben sitzen, gelöst. Als Resultat wird Spannung im Bauch möglich. Wenn der Oberkörper schwer, der Unterkörper dagegen leicht ist, wird das Fließen der Energie gehemmt. Es entsteht eine Panzerung und das Festhalten am Ich wird begünstigt. Dadurch kann sich das Subtile im Menschen nicht entfalten, weil das Grobe es nicht zulässt. Das ist im Leben auch nicht anders. Beim rechten Sitzen werden die Muskeln entlastet und es entsteht eine harmo-‐ nische äußere und innere Form. Beim falschen Sitzen wird die rechte innere Form von den Schultern her gestört. Ein gutes Sitzen muss deshalb so beschaffen sein, dass es ei-‐ nen lösenden Einfluss auf die Schultern hat. Das wird beim Yogastuhl durch die Arm-‐ stützen erreicht. In Zusammenhang mit den beiden anderen Attributen, die ich dir schon genannt habe, erleichtern sie das Loslassen in den Schultern. Das wirkt sich auf die At-‐ mung aus. So kommt eines zum anderen. Ich mag das nicht weiter erklären. Die Praxis sagt mehr als die Beschreibung." "Trotzdem verstehe ich jetzt besser, warum der Yogastuhl die rechte Form beim Sitzen unterstützt und das Meditieren begünstigt. Aber es sagt nichts über das Meditieren aus." "Wie meinst du das?", fragt die Yogini zurück. "Ich kann auch anders fragen: Ist das Sitzen in der rechten Form schon Meditieren?" "Was verstehst du unter Meditieren?", gibt Marpa die Frage an mich zurück. "Das ist es ja, was ich wissen will. Vor allem interessiert mich die Meditationspraxis im tibetischen Buddhismus." "Wenn du das wissen willst, kannst du eines der vielen Bücher lesen, die es auf dem Markt gibt." 195 "Das ist wahr. Aber ich möchte von dir lernen. Im Zusammenhang mit Meditation ist so viel von Erleuchtung, Befreiung, von Leere oder Einswerdung die Rede, dass ich äußerst skeptisch bin. Wird da nicht – frage ich mich – halb Verstandenes und Idealisiertes be-‐ hauptet und angeboten? Werden Vorstellungen und Erwartungen geweckt, die auf fal-‐ schen Annahmen beruhen? Ich habe den Eindruck, dass man mit Ideen, die nirgends hin-‐ führen, genarrt wird und die Wirklichkeit verfehlt." "Du willst also wissen, wozu man meditiert? Ich habe angenommen, du wüsstest es." "Wir haben darüber noch nie gesprochen. Deshalb möchte ich unabhängig von meinen Erfahrungen deine Betrachtungsweise dazu kennen lernen." "Also gut – wozu meditieren? Um der Wirklichkeit nahe zu kommen. Das hat mit Aufwa-‐ chen zu tun. Man muss aufgeweckt, erweckt werden, um sehen zu können." Göden Mar-‐ pa schaut mich prüfend an. Dann sagt sie: "Du hast völlig Recht mit dem, was du vorhin angedeutet hast. Vermeiden wir die Fallen der Idealisierungen. Übergehen wir, was Menschen halbverdaut ausscheiden und als gesunde Kost anbieten. Gehen wir unseren eigenen Weg. Entfernen wir uns von Tao, Tantra, Mahamudra, Zen, Ritualen, Rezitatio-‐ nen und Gebeten und schauen wir uns kritisch an, was übrig bleibt. Folgendes müssen wir von Anfang an beachten: Der Weg ist nicht das Ziel. Du darfst den Weg nicht mit dem Ziel gleichsetzen." "Einen Augenblick", unterbreche ich die Yogini vehement. "Du hast soeben das bekannte Der Weg ist das Ziel als falsch bezeichnet!" "Ich weiß", lacht sie. "Wem nützt diese tiefgründig klingende Bemerkung, wenn sie nicht stimmt? Sie widerspricht der Alltagserfahrung. Wenn du von hier nach dort gehen willst, ist dieses Dort woanders als hier. Du musst deinen Hintern in Bewegung setzen, um dorthin zu kommen, sonst bleibst du da, wo du bist. Das ist so. Oder nicht?" Dem kann ich nicht widersprechen. "Trotzdem", entgegne ich, "könnte es doch sein, dass in der Meditation der Weg das Ziel ist." "Eben nicht", sagt sie mit einer unüberhörbaren Schärfe in ihrer Stimme. "Das Meditie-‐ ren ist ebenso eine Methode, wie die Schritte des Körpers eine Methode der Weiterbe-‐ wegung sind. Die Schritte sind nicht der Ort, auf den du dich zubewegst. Ebenso ist das Meditieren nicht das Ziel, das du erreichen willst. Wenn der Weg wirklich das Ziel wäre, würde jede Gestaltung vom Vergangenen her beeinflusst sein und es gäbe nichts Schöp-‐ ferisches." Ich bin viel zu verblüfft, um gleich darauf antworten zu können. Irritiert schaue ich Mar-‐ pa eine Zeit lang an. Sie lächelt spöttisch bei der Frage: "Was denkst du jetzt?" "Sinngemäß hast du gesagt, die Meditation ist kein Ziel, sondern ein Weg, der zu einem Ziel hinführt." 196 "So ist es." "Wie sieht dieser Weg aus?" "Meditieren ist unvoreingenommenes Wahrnehmen. Es führt zu Einsicht, weil das Wahrnehmen frei von begrifflichem Denken ist. Damit sage ich nicht, dass du beim Medi-‐ tieren nicht denken sollst. Das ist lächerlich und würde nicht gut funktionieren. Du kannst aber dein Denken wahrnehmen. Dieses Wahrnehmen des Denkens ist etwas an-‐ deres als das Denken selbst. Sobald du es wahrnimmst, befindest du dich auf einer Me-‐ taebene, die frei vom Erleben der Zeit ist. Warum ist das so? Die Zeit ist eine Erschei-‐ nungsform, die vom Denken hervorgebracht wird. Sie ist ein Produkt des Denkens. Das Wahrnehmen dagegen ist frei von Zeit, weil es frei vom Denken ist. Deshalb ermöglicht es Einsicht. Sie, die Einsicht, ist etwas, was du dir nicht ausdenkst. Es ist nicht dasselbe, ob du begrifflich denkst oder etwas einsiehst." "Man sagt aber doch, dass es ohne Theorie, also ohne Denken keine Beobachtung gibt und dass ein Beobachten ohne Denken nicht möglich sei." Die Yogini hebt energisch beide Hände hoch und widerspricht sofort: "Ich habe nicht vom Beobachten gesprochen, sondern vom Wahrnehmen!" "Was ist der Unterschied zwischen Beobachten und Wahrnehmen?", frage ich deshalb. "Erinnere dich an einige unserer Analysen der Objektrealität und Subjektwirklichkeit. Weißt du noch, wie wir diese beiden Erscheinungsformen definiert haben?" "Daran erinnere ich mich gut", sage ich. Die Objektrealität besteht aus Erscheinungsfor-‐ men, die messbar sind und wegen der Messbarkeit eine Übereinkunft ermöglichen. Die Subjektwirklichkeit ist nicht messbar und deshalb nicht objektiv. Die Objektwelt ist sen-‐ sorisch erfahrbar, die Subjektwelt nicht." "Ja. Das reicht, um weiterzugehen. Höre genau zu. Das Beobachten ist ein Wahrnehmen sensorischer Reaktionen im Kontext theoretischer Interpretationen. Ohne das Wahr-‐ nehmen und Interpretieren gibt es kein Beobachten, das grundsätzlich auf sensorisch erfahrbare Phänomene bezogen ist. Die Folgerung daraus ist: Etwas, was du sensorisch nicht erfahren kannst, lässt sich nicht beobachten." Ich fühle mich verwirrt. "Ich verstehe nicht, was du meinst", antworte ich. "Wenn sich etwas nicht beobachten lässt, weil es sensorisch nicht erfahren werden kann, wie kann ich dann zum Beispiel meine Gedanken beobachten? Zweifelsfrei kann ich meine Gedan-‐ ken beobachten, obwohl ich sie nicht sensorisch aufnehme." "Ich verstehe dein Problem. Du darfst das Nicht-‐beobachten-‐Können nicht gleichsetzen mit Nicht-‐wahrnehmen-‐Können. Das nicht Beobachtbare ist nämlich wahrnehmbar. Umgekehrt jedoch ist das Wahrnehmbare nicht in jedem Fall beobachtbar." 197 "Das irritiert mich nur noch mehr", wende ich nun leicht frustriert ein. "Es sind die Worte, die dich verwirren. Ich erkläre es dir an einem praktischen Beispiel. Siehst du die Eidechse dort auf dem Stein?" Ich folge Göden Marpas Blick und sehe ein kleines grünes Tier, das sich auf einem be-‐ moosten Stein in der Sonne wärmt. Es ist ein Männchen, dessen Haut smaragdgrün schimmert. Regungslos liegt das Tierchen da und atmet – ein zartes Pulsieren seines Leibes auf dem Stein. "Der Körper dieser Eidechse ist Teil der Objektrealität", höre ich die Yogini sagen. "Du kannst ihn beobachten, weil er mit deinen Sinnen wechselwirkt. Du kannst ihn anderen zeigen, die ihn aufgrund der Wechselwirkungen mit ihren Sinnen ebenso beobachten können. Die Wechselwirkungen zwischen Objektrealität und den Sinnen sind die Grund-‐ lage des Beobachtens. So wie du jetzt auf dieses Tier schaust, beobachtest du es. Zwi-‐ schen der Eidechse und dir findet eine sensorische Wechselwirkung statt. Dazu kommt, dass dieses Beobachten im Kontext deines Wissens über oder deiner Vorstellungen von Eidechsen stattfindet. Worauf es beim Erkennen des Beobachtens ankommt: Ohne Wahrnehmen kannst du nicht beobachten. Die Voraussetzung für das Beobachten ist das Wahrnehmen. Aber das Wahrnehmen selbst ist nicht dasselbe wie das Beobachten." "Aber was ist der Unterschied?", frage ich, immer noch verwirrt. "Das Wahrnehmen entsteht nicht aufgrund der sensorischen Wechselwirkungen mit der Objektwelt, wie das beim Beobachten der Fall ist. Es ist ein nicht sensorisches Phäno-‐ men, das dem Beobachten-‐Können zugrunde liegt. Ohne Wahrnehmung kannst du nicht beobachten, aber du kannst ohne Beobachtung wahrnehmen. Zu einem früheren Zeit-‐ punkt habe ich dir bereits gesagt, dass du das Wahrnehmen als eine Eigenschaft der Sub-‐ jektwirklichkeit verstehen musst, ohne die das Erkennen der Objektrealität und deren Beobachtung nicht möglich wäre. Wer oder was beobachtet ein Objekt? Kann ein Objekt ein anderes Objekt beobachten? Nur vermittels der wahrnehmenden Subjektwirklich-‐ keit können Erscheinungsformen der Objektrealität beobachtet werden. "Das wird kaum jemand verstehen", wende ich skeptisch ein. "Wozu machst du dir darüber Gedanken, ob das jemand versteht? Dir geht es doch da-‐ rum, dass du es verstehst. Oder etwa nicht?" "Doch, das stimmt. Aber ich habe trotzdem auch noch den Anspruch, etwas so zu verste-‐ hen, dass ich es anderen auch verständlich machen kann." "Dann musst du so lange darüber nachdenken, es meditieren und imaginativ durchdrin-‐ gen, bis du es in eine Form gebracht hast, die andere verstehen können. Aber auch das ist keine Garantie dafür, dass du verstanden wirst." 198 "Wie gehst du mit dem Verstanden-‐Werden um? Ist es dir wichtig, dass ich verstehe, was du sagst?" "Wozu sollte mir das wichtig sein? Es ist mir gleichgültig, ob du mich verstehst. Das Ver-‐ stehen dessen, was ich dir sage, ist ausschließlich dein Anliegen." … Es ist still. Eine schwebende Stille. Nur das platschende Scheißen einer Kuh ist zu hören. Alles kommt mir unwirklich vor. Entrückt. Nach dem Gespräch befinde ich mich in ei-‐ nem seltsam abgehobenen Zustand, in dem ich den Kontakt zu mir verloren habe. Mein Geist ist irgendwo dort draußen. Ich schaue auf die schweren Körper gesunder Kühe. Sie stehen neben der Hütte und grasen. Realwelt, denke ich mir und fühle mich zu dieser selbstverständlich scheinenden Einfachheit hingezogen. Ein heftiger Windstoß sorgt dafür, dass ich aufstehen und in der Wiese umherlaufen muss, um meine verstreuten Notizblätter einzusammeln. Der Zettel mit einem Dia-‐ gramm, bei dem ich versucht habe, gedankliche Zusammenhänge anschaulich darzustel-‐ len wird, als ich danach greife, hoch gewirbelt und den Hang hinunter geweht. Ich laufe hinterher und stolpere, rolle einige Meter abwärts und werde von einem Grasbuckel an-‐ gehalten. Ich ärgere mich. Und zusätzlich ärgert es mich, dass ich mich deswegen ärgere. Inmitten der Almwiese sehen die verstreuten Notizzettel aus wie Fremdkörper, deren weiße Existenz aufdringlich deplatziert wirkt. Irgendwie schamlos. "Einsicht scheint der Schlüssel zum Verständnis der Meditation zu sein", sage ich und schaue die Yogini erwartungsvoll an. "Nein", ist ihre überraschende Antwort, "es ist umgekehrt. Meditation ist der Schlüssel zur Einsicht." "Was ist der Unterschied", will ich wissen. "Ich dachte, dass es sich hier um identische Erscheinungsformen handeln würde, die lediglich verschieden benannt werden." "So ist es aber nicht, und das habe ich dir auch genau erklärt. Meditation ist die Technik, Einsicht ist das Ziel. Mir gefällt aber das Wort Technik in diesem Zusammenhang nicht. Wenn ich es mir überlege, dann wäre vielleicht Bewegung passender." "Das würde bedeuten: Meditation ist Bewegung. Meinst du es so?" "Ja, das passt besser. In der Meditation bewegst du dich auf etwas zu." "Das hört sich für mich sehr widersprüchlich an. Damit sagst du, dass Sitzen in der rech-‐ ten Form das Meditieren fördert, das als eine Art von Bewegung zu verstehen ist." "Bewegung, ja, aber selbstverständlich keine körperliche Bewegung, sondern eine men-‐ tale." 199 Ich fühle mich etwas aggressiv. In einem anderen Zusammenhang hat mir die Yogini einmal erklärt, dass dieses Aggressiv Sein Ausdruck meines mangelnden Selbstwertge-‐ fühls in Situationen ist, in denen ich etwas verstehen möchte, aber nicht verstehe. Jetzt ist es wieder so. Was ich verstanden zu haben meine, wird plötzlich herumgewirbelt und völlig infrage gestellt. Inzwischen habe ich aber eine Möglichkeit kennen gelernt, mit der ich mich beruhigen kann. Sobald ich diese aggressive Gestimmtheit an mir wahrnehme, richte ich meinen Blick auf einen neutralen Punkt und verweile dort, indem ich so auf-‐ merksam wie möglich darauf schaue. Dann dauert es meist nicht lange, bis ich mich wie-‐ der in einem ausgeglichenen Zustand befinde und meine Gedanken ordnen kann. "Bisher habe ich angenommen", erwidere ich der Yogini, dass sich Einsicht durch Innehalten einstellt; das kann ich nicht mit Bewegung in Verbindung bringen." "Jetzt verstehe ich, was dich irritiert. Du hast Recht. In einer Zeit, in der alles in Bewe-‐ gung ist und Bewegung in jeder Form als erstrebenswert erscheint, könnte dieser Begriff tatsächlich irreführend sein. Es stimmt, was du sagst. Einsicht bedarf des Innehaltens. Schauen wir uns also näher an, worauf sich das Innehalten bezieht. Auf das Anhalten des Bewegt Seins, zur Ruhe finden im Strom des Aktivseins, oder wie es in einem alten Text heißt: Finde den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht. Um das zu begünstigen, be-‐ nötigt man eine geeignete Methode, die wir in der Form des rechten Sitzens gefunden haben. Wenn du lange genug sitzt, dann ändert sich etwas, dann entsteht etwas; nicht sofort, aber mit der Zeit. Das meine ich mit Bewegung. Auf dieses Entstehen kommt es an. Etwas entstehen lassen hängt damit zusammen, dass man bereit ist etwas loszulas-‐ sen, um etwas zulassen zu können. Es ist das Gegenteil dessen, etwas erreichen zu wol-‐ len. Es ist so, wie du angedeutet hast: Für gewöhnlich ist Bewegung mit einem aktiven Etwas-‐erreichen-‐Wollen verbunden und diese Einstellung wird selten zu Einsicht füh-‐ ren. Aber es gibt eine andere Form von Bewegung; die Bewegung, etwas entstehen zu lassen. Damit du etwas entstehen lassen kannst, musst du loslassen können, was du festhältst. Erst dadurch wirst du leer, und dieses Leer sein ermöglicht schließlich auch das Zulassen des Neuen und Anderen. Wenn du aber merkst, dass du nicht loslassen und damit auch nicht zulassen kannst, dann ist die einzig dir verbleibende Möglichkeit, etwas sein zu lassen, wie es ist. Wenn du dir das menschliche Leben aufmerksam anschaust, wirst du bestätigt finden, dass du es grundsätzlich mit Bewegungen zu tun hast, die sich innerhalb der Polarität von Festhalten und Loslassen ereignen. Betrachte dein Leben einmal unter dem Gesichtspunkt dieser Bewegungsmuster: Das Festhalten sein lassen, das Festhalten loslassen, das Loslassen zulassen, das Zulassen sein lassen, das Seinlas-‐ sen zulassen. Alle diese Bewegungsmuster führen dich zu etwas hin. Im besten Fall füh-‐ ren sie dich zu Einsicht. Bedenke Folgendes: Das Sitzen kannst du willentlich und ab-‐ sichtlich herbeiführen; zum Beispiel, indem du dir einen Yogastuhl anfertigst und dich hineinsetzt oder indem du irgendeine andere Sitzposition einnimmst, die den Kriterien der rechten Form entspricht. Aber das Einsehen kannst du nicht beabsichtigt und wil-‐ lentlich erreichen. Das betrifft auch das Wahrnehmen. Du kannst nicht wahrnehmen wollen! Wenn du aber das Wahrnehmen nicht wollen kannst, wie kommst du dann zu 200 Einsicht? Das ist die entscheidende Frage, um die es immer wieder geht, wenn du Licht ins Dunkel des Bewusstseins und der Meditation bringen willst." Nach dieser Unterweisung ist mir klarer, was Göden Marpa im Zusammenhang mit Me-‐ ditation und Bewegung meint. In der Tat haben wir es beim Meditieren nicht mit einem statischen, sondern mit einem dynamischen Zustand zu tun, einem Geschehen, das sich permanent ereignet und nicht festgehalten werden kann. Trotzdem scheint die Yogini mit dieser Erklärung nicht zufrieden zu sein. Denn nach einer Weile des Nachdenkens fährt sie fort: "Es gibt noch einen anderen Aspekt zu bedenken, wenn wir Meditation als Bewegung verstehen wollen. Die Essenz von Bewegung. Was einer Bewegung zugrunde liegt, ist Aktivität. Vielleicht wird es dich überraschen, wenn ich dir sage, dass Aktivität frei von Zeit ist. Sie erscheint nicht in der Zeit und sie beruht auch nicht auf Zeit, wie dies für Bewegung gilt. Aktivität ist. Sie kennt weder ein Vergehen, noch ein Werden. Du kannst Aktivität als ein stetiges Sich-‐Ereignen verstehen, das nicht an Zeit gebunden ist und damit auch frei ist vom Werden und Vergehen." Natürlich bin ich zunächst verblüfft. Die nächste Frage bricht spontan aus mir heraus, ohne dass ich weiß, warum. "Wäre es folgerichtig anzunehmen, dass Einsicht ein Prozess ist, der über die Bewegung zur Aktivität führt?" Es überrascht mich, dass Marpa sagt: "Das stimmt. Aber nur dann, wenn du die Bewe-‐ gung auf die Objektrealität und die Aktivität auf die Subjektwirklichkeit beziehst." "Hängt das mit der Erscheinungsform der Zeit zusammen?", will ich genauer wissen. "Ja. In der Objektwelt unterliegt alles, was geschieht, der Zeit. Aber wir sprechen beim Meditieren und beim Wahrnehmen die Subjektwirklichkeit an, und die ist frei von Zeit." "Dann wäre es doch weniger missverständlich, wenn man auf den Begriff Bewegung ganz verzichten würde? Vielleicht sollte man anstelle von Bewegung nur von Aktivität sprechen?" Augenblicklich pariert Marpa mit der Gegenfrage: "Weshalb meinst du, dass man das sollte?" "Weil Bewegung als Geschwindigkeit zwischen Entfernungen definiert und auch so ver-‐ standen wird; sie setzt den Raum-‐ und Zeitaspekt voraus." "Nun, das habe ich doch insofern relativiert, indem ich gesagt habe, dass sich Bewegung in der Objektrealität anders zeigt als in der Subjektwirklichkeit." "Das stimmt. Mir scheint es aber logischer zu sein, wenn wir den Begriff Bewegung als verfestigte Aktivität der universalen Subjektwirklichkeit verstehen würden." 201 "Warum nicht", antwortet die Yogini zögernd. "Wir könnten dann sagen, dass die Sub-‐ jektwirklichkeit als Aktivität existiert, die sich in der Objektrealität als Bewegung verfes-‐ tigt." "Das wäre für mich weniger verwirrend. Außerdem zeigt sich jetzt deutlich: Wenn das Universum subjektwirklich und objektreal ist, dann existiert es als Aktivität und Bewe-‐ gung. Diese Zusammenhänge finde ich faszinierend, auch wenn ich sie im Detail noch nicht genau verstehen kann. Ich möchte unbedingt noch mehr über die Meditation wis-‐ sen." … Der Himmel hat sich mit fahlem Grau überzogen und es ist drückend schwül geworden. Um mein Gesicht herum surren Fliegen, die sich nicht verscheuchen lassen. Ich denke nach. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Die Aktivität meiner Gedanken ist eine kognitive Melasse, die sich langsam, aber beharrlich in meinem Gehirn ausbreitet und die Beweglichkeit seiner Zellen träge werden lässt. Links von mir lehnt ein altes Brett an der Hüttenwand. Drei krumm gebogene rostige Nägel stehen daraus hervor; ihre Spitzen ragen sinnlos ins Leere. Das nervöse Gesumse der Fliegen vermischt sich mit dem Sin-‐ gen einiger Vögel, die im Gezweig benachbarter Bäume sitzen. Es könnte friedlich sein, wenn ich mich friedlich fühlen würde. Aber dem ist nicht so. Ich bin nervös. Unruhig rut-‐ sche ich auf dem mit Segeltuch bespannten Rohrstuhl hin und her, als ob ich eine Positi-‐ on finden müsste, die es mir ermöglichen würde, ruhig zu sein. Während ich mit meiner inneren Gestimmtheit hadere, sitzt die Yogini unter dem Sonnenschirm ruhig neben mir. "Du möchtest mehr über die Meditation wissen?" Marpa dreht sich zu mir her und be-‐ tont das letzte Wort. Sie kneift die Augen zusammen, um von der schräg stehenden Son-‐ ne nicht geblendet zu werden. "Wissen ist blind, wenn es nicht wahrgenommen wird. Einsicht sieht, weil sie auf Wahr-‐ nehmung beruht. Wissen ist ein Ansammeln und Speichern von Daten. Ein auf Wissen beruhendes Denken ist ohne Licht. Es ist schematisch und funktioniert wie ein Compu-‐ ter. Ein Rechner. Die Rechenoperationen werden vom rechnenden System nicht wahr-‐ genommen. Deshalb sind sie blind. Mechanisch. Einsicht jedoch erhellt die Blindheit des Denkens. Du wirst sicher schon erfahren haben: Der Mensch wird selten aufgrund seines Denkens vernünftig, wohl aber infolge von Einsicht. Sobald du etwas eingesehen hast, bist du diese Einsicht. Du kannst keine Einsicht haben, als ob sie etwas außerhalb von dir Seiendes wäre. Sie ist eins mit dir und deshalb mit Wandlung verbunden. Einsicht setzt deshalb deine Bereitschaft voraus, dich wandeln zu lassen." "Eben hast du von Vernunft gesprochen. Was meinst du damit?" "Ja, die Vernunft – du darfst sie nicht mit Logik verwechseln. Logik beruht auf abstrakten grammatischen Regeln. Was also unterscheidet Vernunft von Logik? Höre auf dieses Wort: Vernunft. Was sagt es dir?" 202 "Ich erinnere mich gelesen zu haben, dass Vernunft mit Vernehmen verwandt ist. Meinst du das?" "Ja. Das meine ich. Etwas vernehmen heißt etwas wahrnehmen. Ohne Wahrnehmung gibt es keine Vernunft. Logisches Denken ohne Wahrnehmung ist schematisch und kann dich nicht zur Vernunft bringen. Vernunft entsteht erst, wenn du das, was du denkst, auch wahrnimmst." "Wenn das schematische Denken wegen des Fehlens an Einsicht keine Vernunft ermög-‐ licht, weshalb ist dann der wohl überwiegende Teil der Menschen damit zufrieden, in diesem Zustand zu leben? Und weshalb sind andere damit nicht zufrieden?" "Wenn du die Sehnsucht nach Einsicht und das Bedürfnis wahrzunehmen als einen Pol verstehst, und das Zufriedensein in Unvernunft als den anderen Pol, dann erscheint die Subjektwelt zwischen diesen beiden Polen. Das Eine existiert nicht ohne das andere." "Meinst du, dass die Vernunft nicht ohne Unvernunft erscheinen kann?" "So ist es. Jede Erscheinungsform beruht auf Polarität. Das Hohe kann nicht ohne das Tiefe sein, das Eine bedingt das Andere." "Aber dann", wende ich ein, "ist das buddhistische Boddhisattva-‐Ideal, alle Menschen zur Erleuchtung führen zu wollen, unsinnig und unrealistisch, weil es nicht der Dynamik des Lebens entspricht – sie sogar auflöst, sofern wir unterstellen, dass dieses Ideal je-‐ mals verwirklicht werden könnte." "Genau so ist es. Die Leitidee des Mahayana-‐Buddhismus, alle Menschen müssten glück-‐ lich gemacht werden, geht an der Realität vorbei." "Dann kann man die Menschen also nicht erlösen?" "Willst du sie erlösen? So einfältig wirst du nicht sein. Wenn es um das Erlösen geht, müssen wir eindeutig erkennen: Du kannst und darfst jemanden niemals gegen seine Bedürfnisse erlösen wollen. Für denjenigen, der in der Dunkelheit lebt, ist diese Dunkel-‐ heit selbstverständlich. Er kann nicht sehen, dass er sich im Dunkeln befindet, und hat kein Verlangen danach, erlöst oder erleuchtet zu werden." "Ist das der Grund dafür, weshalb einige Menschen Einsicht finden und andere nicht?" "Wer ein Verlangen nach Einsicht hat, wird Einsicht erlangen. Wer nicht danach ver-‐ langt, bekommt sie auch nicht." "Das ist nahe liegend. Aber ich frage mich: Warum haben einige Menschen dieses Ver-‐ langen und die Mehrzahl nicht? Was ist der Grund dafür?" "Wie ich vorhin schon angedeutet habe, liegt es vermutlich daran, dass es Menschen gibt, die mit ihrem schematischen Denken und dem damit verbundenen Zustand menta-‐ 203 ler Dunkelheit zufrieden sind. Außerdem wird dir auf dem Weg zur Einsicht nichts ge-‐ schenkt. Du musst konsequent dafür arbeiten, zu Opfern und Unbequemlichkeiten bereit sein, um aufzuwachen. Sobald du aufgewacht bist, kommst du auch in die Verantwor-‐ tung. Das ist nicht sehr angenehm, weil es dich fordert. Deshalb ist der Weg zur Einsicht nur für wenige geeignet. Das Aufwachen ist nichts für schwache Gemüter. Für das, was du siehst, wenn du wach bist, brauchst du einen gefestigten Geist." "Ist dazu der Glaube nötig?" "Es kommt darauf an, wie du glaubst." "Wie meinst du das?" "Wenn dir jemand sagt, warum er glaubt, beruht sein Glaube auf Erklärungen. Das ist ein Glaube ohne Kraft. Wenn dir jemand sagt, woran er glaubt, beruht sein Glaube auf Ideen. Ein solcher Glaube kann für andere tödlich sein, wenn man meint, sie um jeden Preis da-‐ zu bekehren zu müssen. Wenn dir aber jemand sagt, wofür er glaubt, hast du es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem kreativen Glauben zu tun. Im Wofür steckt finale Energie, die schöpferische Impulse freisetzt." "Dann könnte man sagen, wenn man nicht an Einsicht glaubt, kann man sie auch nicht erlangen." "Du sagst es." "Aber warum ist das so?", bohre ich weiter. Ernst schaut mich die Lama-‐Frau an. "Das ist doch nahe liegend. Warum beantwortest du dir diese Frage nicht selbst? Bist du zu bequem zum Denken?" Beschämt gestehe ich mir ein, dass sie Recht hat, und beginne zu überlegen. Wenn es ein Glauben an ein Wofür gibt, und wenn dieses Wofür Einsicht ist, bewege ich mich auf et-‐ was zu. Intuitiv nehme ich an, dass ich mich zur Einsicht hinbewegen kann. Wofür ist vorwärts gerichtet, warum rückwärts gerichtet. Das Woran empfinde ich als statisch. Etwas blitzt für einen kurzen Moment auf. Es hat mit der vorwärts gerichteten Bewe-‐ gung zu tun. Meditation! "Hat es mit Meditation zu tun?", frage ich erwartungsvoll. "Scheiß drauf", sagt sie. Ich bin schockiert. Das habe ich nicht erwartet. Plötzlich sehe ich ein Bild. Einen über Feuer hängenden Kessel, in dem Glaube, Einsicht, Meditation, Bewe-‐ gung, Weg und Ziel zu einem stinkenden Brei verkocht werden, den eine hässliche Vettel grinsend mit einem Ast umrührt. Der Dampf dieses Gebräus verursacht mir Übelkeit. Ich habe genug. Will fort von hier. Wozu das Ganze? "Meditation ist nicht immer das, was sie zu sein scheint", spricht die Yogini ruhig weiter. "Das Gedachte wird zum Wissen, und das Wissen zum Gewussten. Das Gewusste ist un-‐ 204 schöpferisch. Beim Meditieren, wie ich es verstehe, gehen wir einen Weg, der vom Wis-‐ sen zur Einsicht führt. Das Gewusste steht als Hindernis zwischen deiner Wahrnehmung und dem, was ist. Um was geht es? Darum, die Erscheinungsformen wahrzunehmen, wie sie sind. Sowohl objektiv wie subjektiv. Du musst die Hindernisse beseitigen, die dich am unmittelbaren Einsehen hindern." "Das habe ich verstanden. Gibt es dafür eine bestimmte Meditationstechnik?", will ich weiter wissen. Göden Marpa lacht in sich hinein. Belustigt schaut sie mich an. "Ach ja. Die Meditations-‐ technik. Wenn ich das höre, muss ich an Zeitschriften für Wellness, Esoterik und spiritu-‐ elle Freizeitgestaltung oder Yogaprospekte denken, in denen man hauptsächlich hüb-‐ sche junge Frauen sieht, die im zartfarbigen Body in einer schönen Landschaft sitzen, dümmlich grinsen und wohltuendes Entspanntsein zeigen. Das hat selbstverständlich nichts mit Meditation zu tun. Auch nicht mit Yoga. Warum das so ist, darüber haben wir bereits gesprochen. Das brauche ich nicht zu erklären. Aber das ist nicht alles. Was ist Meditation? Wie funktioniert sie? Kaum jemand gibt dir darauf eine vernünftige Ant-‐ wort. Was du bekommst, ist Pseudowissen. Wenn du Meditation verstehen willst, musst du unterscheiden zwischen Wahrnehmung, Konzentration, Suggestion, Trance, Identifi-‐ kation und Imagination. Diese Funktionen sind in unterschiedlicher Gewichtung an einer Meditation beteiligt." "Aber das widerspricht dem, was über Meditation bekannt ist." "So? Was ist denn bekannt?", fragt sie ironisch. "Zum Beispiel wird von der Zen-‐Meditation gesagt, dass sie in einen Zustand der Leere führt. In der christlichen Meditation geht es um das Erfahren des Göttlichen. Vipassana-‐ Meditation soll dahin führen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. In der Trans-‐ zendentalen Meditation geht es um geistige Entspannung und das Erfahren von Glückse-‐ ligkeit. Die Chakra-‐Meditation soll eine Reinigung der Energiezentren ermöglichen. Tao-‐ Meditation verspricht die Entwicklung eines Lichtkörpers. Die Regenbogen-‐Meditation soll zur Verwirklichung universaler Liebe führen. Von der Vajrayana-‐Meditation wird behauptet, dass man über die Anrufung und Visualisierung diverser Gottheiten höhere Bewusstseinszustände erlangen kann. Die Mantra-‐Meditation ..." "Halt!", ruft die Yogini energisch und hebt beide Hände abwehrend hoch. "Du redest von möglichen Zielen. Erinnerst du dich daran, dass ich dir gesagt habe, du darfst das Ziel nicht mit dem Weg verwechseln? Die Ziele, die du nennst, sind nicht der Weg. Ich habe dir neulich zu verstehen gegeben, dass Meditation ein Weg ist, der auf einer somato-‐ psycho-‐mentalen Technik beruht." Aufmerksam schaut sie mich an. Ich gestehe mir ein, diesen Gesichtspunkt nicht beachtet zu haben, und frage weiter: "Wie würdest du die Vajrayana-‐Meditation beschreiben?" 205 "Bei dieser Technik kommt alles zusammen, was ich dir gesagt habe. Du benötigst eine gut geschulte Konzentrationsfähigkeit. Wenn du dich nicht konzentrieren kannst, er-‐ reichst du gar nichts. Hier wird es bereits schwierig. Du musst wissen, dass es eine Kon-‐ zentration auf äußere und innere Phänomene gibt. Die Schulung der Konzentration be-‐ ginnt meistens mit äußeren Objekten. Danach wird sie auf innere Phänomene verlagert. Da gibt es wieder Unterschiede. Du kannst dich auf einen Gedanken, auf eine Emotion, ein Bild, eine Empfindung oder einen komplexen Zustand konzentrieren. Bei den Gedan-‐ ken sind konkrete von abstrakten Gedankenformen zu unterscheiden. Im Bereich der Emotionen gibt es personale und transpersonale Varianten. Bei Bildern sind konkrete, aus der Welt der Realität entnommene, und nicht konkrete, nicht in der Realwelt vor-‐ kommende Formen möglich. Zustände lassen sich wiederum in persönlich bedingte und nicht persönlich bedingte unterscheiden. Wenn du also Vajrayana praktizierst, medi-‐ tierst du nicht wie in einem Abendkurs in der Volkhochschule. Du wirst beharrlich an der Entwicklung deiner Konzentrationsfähigkeit arbeiten müssen und wirst sicherlich nicht entspannt in der Wiese sitzen. Je nachdem, wie deine Konzentration beschaffen ist, ergibt sich daraus ein Zustand, der als Trance bezeichnet wird. Die körperlichen Kenn-‐ zeichen der Trance sind ein Absinken der Körpertemperatur, eine Änderung des Ge-‐ hirnwellenmusters, das Empfinden von Schwere in den Extremitäten und eine Verlang-‐ samung der Atemfrequenz. Die geistigen Kennzeichen sind ein fokussiertes, nach außen oder innen gerichtetes Wahrnehmen, selektives Ausblenden-‐Können sensorischer Reize, eine damit verbundene Steigerung psychischer und geistiger Funktionen mit erhöhter Prägungsbereitschaft. Dieser Aspekt der Prägungsbereitschaft ist eine günstige Voraus-‐ setzung für Suggestionen, die im Vajrayana aus Bildern bestehen, die nicht in der Real-‐ welt vorkommen; dem buddhistischen Kontext entsprechend sind es Gottheiten, die be-‐ stimmte Eigenschaften repräsentieren. Wenn du bis dahin gekommen bist – ich gebe dir zu bedenken, dass dieser Prozess abrupt abbricht, wenn du die Konzentration nicht bei-‐ behalten kannst –, kommt die Phase der Identifikation, der Einswerdung, der Fusion mit eben diesen göttlichen Eigenschaften. Wie du sehen kannst, besteht Vajrayana aus Kon-‐ zentration, Trance, Suggestion, Imagination und Identifikation." "Gut", sage ich beeindruckt. "Aber wie ist es beim Zen?" "Ähnlich. Nimm zum Beispiel die Koan-‐Schule. Was geschieht, wenn du dich monate-‐, vielleicht sogar jahrelang mit diesem Koan beschäftigst: Höre auf den Ton der einen zu-‐ sammengeschlagenen Hand? Du musst dich Tag und Nacht darauf konzentrieren. Du musst die auf das Koan gerichtete Wahrnehmung auf eine abstrakte Gedankenform bei-‐ behalten. Das führt dich in einen Trancezustand, eine gesteigerte Wahrnehmung, bei der das Koan selbst zur Suggestion wird. Was wird suggeriert? Das Absurde. Etwas, woran dein Denken scheitern muss. Wenn du das durchhältst, hast du vielleicht irgendwann den großen Durchbruch. Interessant ist, dass viele Zen-‐Meister diesen Durchbruch zur Erfahrung der großen Befreiung beim Pissen gehabt haben. Ja, das ist wahr" bekräftigt sie, als sie meinen überraschten Gesichtsausdruck sieht. 206 Ich fühle mich etwas traurig. Als wäre mir soeben etwas genommen worden, was mir viel bedeutet hatte. "Willst du mir mit alledem sagen, dass es keine Meditation gibt?" "Wie kommst du auf diese Idee", fragt sie lächelnd zurück. "Weil mir Trance, Suggestion, Identifikation und so weiter banal erscheinen. Ich dachte, dass uns das Meditieren über die Banalitäten der Alltagspsychologie hinausführt." "Das tut sie nicht. Was dir in allen möglichen Yogakursen und Meditationsschulen ver-‐ kauft wird, führt dich keineswegs über die Alltagspsychologie hinaus. Bestenfalls – ei-‐ gentlich schlimmstenfalls – benebelt es die Psychologie deines Alltags. Außerdem machst du einen Denkfehler. Wenn ich die verschiedenen Funktionen anführe, anstatt pauschal von Meditation zu sprechen, übersiehst du, dass damit nichts über die Inhalte und Ziele gesagt worden ist, die damit verwirklicht werden sollen. Selbstverständlich führt dich die Konzentration allein nicht über die Alltagswirklichkeit hinaus. Entschei-‐ dend ist, worauf du deine Konzentration richtest und vor allem, aus welchen Motiven du das tust." "Warum wird aber dann in den diversen tibetischen Zentren, soweit ich deren Pro-‐ gramme kenne, von Vajrayana-‐Meditation gesprochen?" "Ich vermute, dass viele gar nicht wissen, was sie sagen. Das betrifft auch die Tibeter, wenn sie im Westen auftreten. Die meisten haben von der westlichen Psychologie, von Tiefenpsychologie oder Psychopathologie keine Ahnung und können das, was sie unter-‐ richten, nicht mit diesen Modellen in Verbindung bringen. So kommt es zu vielen Miss-‐ verständnissen. Wenn wir von Meditation reden, müssen wir deren verschiedene For-‐ men mit zeitgemäßen Modellen beschreiben." "Kommt man durch Suggestion zur Erleuchtung?" "Was für eine blöde Frage! Ich habe dir deutlich gesagt, dass Konzentration, Imagination, Trance, Suggestion, Wahrnehmung und Identifikation zusammenspielen müssen. Das Al-‐ lerwesentlichste ist jedoch, dass dein Motiv in Einklang mit deinem Ziel sein sollte." Die sieben Erscheinungsformen des Denkens Im Verlauf von einhundert Jahren hat die Sonnenhitze die Balken der Hütte an manchen Stellen nahezu geschwärzt, so als würde Feuer sie versengt haben. Jetzt, da es Abend wird, strahlen sie die gespeicherte Hitze des Tages ab. Das ist angenehm. Die Sonne geht unter und ich schaue zu, wie sie als eine orangefarbige Scheibe hinter den Bergen ver-‐ schwindet. Die letzten Sonnenstrahlen färben das Firmament in kühles Zitronengelb, das in warme Orangetöne übergeht und in feinsten Schattierungen mit dem Cölinblau des Himmels verschmilzt. Wie schafft es das Licht, dass eine Mischung von Orange und Blau 207 kein stumpfes Braun ergibt? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich ruhig und lasse die Gedan-‐ ken des Tages wie Wolken an mir vorüberziehen. Ganz nah an den Dingen und doch weit weg, erfahre ich eine friedliche Stille und die Ereignisse des Tages gleiten mehr und mehr in Schlaf. Pechschwarz ist die Nacht geworden und kalt. Nur wenige Grillen zirpen noch. Bald wird die Kälte auch sie zum Verstummen gebracht haben. Eine Weile harre ich noch neben der Yogini aus, obwohl ich bereits friere. Dann kann mich auch das splitternde Licht der Sterne nicht weiter faszinieren und ich gehe in meine Kammer, nachdem ich Marpa eine gute Nacht gewünscht habe. … Ich wandere in einer tibetischen Hochebene. Die Luft ist dünn und scharf wie gebroche-‐ nes Glas. Wohin mich der Weg führen wird, weiß ich nicht. Plötzlich stehe ich vor einem uralten Chörten. Er besteht aus unzähligen Stufen, auf denen Tausende kleiner Bud-‐ dhafiguren aus Gold stehen. Der Anblick überwältigt mich. Ein Gefühl tiefen Vertraut seins überkommt mich und ich weiß, hier bin ich angekommen. Dann höre ich eine Stimme, die zu mir sagt: Du bist der Wächter. Stufe für Stufe steige ich nun den Chörten hinauf und werde zu Nichts. Ich wache auf und höre Vögel zwitschern. Draußen ist Göden Marpa bereits damit be-‐ schäftigt, das Frühstück herzurichten. Üblicherweise bin ich es, der das macht. Heute hat die Yogini das Ritual übernommen, das damit beginnt, an einem schönen Tag den Tisch hinauszutragen. Sie hat ihn in die Wiese neben meterhohe Fingerhut-‐ und Ritter-‐ spornstauden gestellt, zwischen denen tiefrote Mohnblumen sinnlich leuchten. Da sitzen wir nun und trinken heißes Wasser. Es schmeckt köstlich. Ich ziehe es inzwischen jedem anderen Getränk vor. Dazu gibt es Zwieback und Marmelade. Marpa bevorzugt eine bil-‐ lige Orangenkonfitüre, während ich von zwei kostspieligeren Sorten abhängig bin: Schwarze-‐Johannesbeer-‐ und Marillenmarmelade. Als die Frische des Morgens von der Sonne weggewärmt ist, räume ich die Lebensmittel in den Erdkeller. Danach spanne ich das Sonnensegel auf und wir setzen uns in verschlissene Liegestühle. Es ist sehr gemüt-‐ lich. Nachdem ich noch für einen Krug frisches Wasser gesorgt habe, nehme ich den Faden des Gesprächs wieder auf : "Du hast von der Metaebene gesprochen. Dieser Begriff ist mir zwar vertraut, doch es interessiert mich, wie du ihn verstehst." "Das ist ganz einfach. Ich verbinde damit das außerhalb einer Sache Sein." "Meinst du, man identifiziert sich nicht mit der Erklärung einer Erscheinungsform, so-‐ dass man sie von einem anderen Blickwinkel aus betrachten kann?" "Ja und nein. Eine Metaebene ist nicht nur ein anderer Blickwinkel auf der Ebene der Er-‐ scheinungsform, sondern ein Zustand, in dem du diese Ebene verlassen hast. Ich kann 208 dir mit Hilfe einer geometrischen Metapher illustrieren, wie ich das meine. Die zweite Dimension wäre die Metaebene für die erste Dimension. Die dritte Dimension wäre die Metaebene für die zweite Dimension, und die vierte Dimension wäre die Metaebene für die dritte Dimension. Um in die jeweils übergeordnete Dimension gehen zu können, musst du die niedrigere Dimension verlassen, musst du das Identifiziert sein, das Ver-‐ haftetsein mit ihr aufgeben. Für uns ist die Variante der vierten Dimension als Metaebe-‐ ne für die dritte interessant. Hast du dazu eine Idee?" Ihre Augen blicken amüsiert. Die Frage bohrt sich wie ein Pfeil in mein Gehirn und lähmt mein Denken. Das muss sie mir angemerkt haben. "Verschieben wir es auf später", kommt Marpa mir deshalb ent-‐ gegen, nachdem ich nichts zu sagen weiß. "Du kannst mir inzwischen im Garten helfen und eine Berberitze ausgraben." Das kommt mir sehr gelegen und lenkt mich vom An-‐ spruch einer sinnvollen Antwort ab. Die Berberitze. Sie ist zäh und hart. Mit einem schweren Krampen versuche ich um die federnden und stacheligen Stängel herum den Wurzelstock freizulegen und kann es nicht vermeiden, martialisch in das Fleisch der safrangelben Wurzeln zu hacken. Wie ei-‐ ne brachiale Amputation kommt mir das vor. Brutal. Schließlich habe ich diese vegetati-‐ ve Schlachtung geschafft und die Berberitze ihres Standortes beraubt. Froh, damit fertig zu sein, trage ich den Krampen zurück in die Werkstatt. Dann will ich mich in Ruhe auf den Balkon zurückziehen und über die Frage der Yogini nachdenken. Wummmsgrrraaah! Ein stechender Schmerz durchzuckt mich. Wie ein Blitz dringt er in meinen Schädel ein und pulsiert den Nacken hinunter in die Wirbelsäule. Für einen Mo-‐ ment tauche ich ein in leeres Schwarz. Ich bin mit voller Wucht gegen den niedrigen Türbalken gerannt. Aus dem mich umfangenden dunklen Nichts wieder auftauchend, stöhne ich und lege meine Hand auf die malträtierte Schädeldecke. Blut sickert durch die Finger, mein Herz klopft wild und ich krümme mich vor Schmerz. Als die Yogini ein Tuch in kaltes Wasser tränkt und auf meinen Kopf legt, empfinde ich das so, als würde mir ein scharfes Messer über die Haut des Schädels gezogen. "Du hast nur eine Platzwunde", meint sie locker und kichert amüsiert. Ich kann mich von meinen Empfindungen noch nicht so weit distanzieren, dass ich es lustig finde. Im Ge-‐ genteil. Ein sonderbares Gefühl breitet sich aus, eine Art Gefühlsgedanke, der mir zu-‐ flüstert: Die Berberitze hat sich für das, was du ihr angetan hast, gerächt. "Jetzt denkst du psychotisch", sagt Marpa, als ich ihr das mitteile. "Das ist interessant", meint sie. "Wir werden damit arbeiten. Es ist eine gute Einleitung, um uns mit den verschiedenen Er-‐ scheinungsformen des Denkens zu befassen." "Das klingt verheißungsvoll. Aber vorerst brauche ich mehr inneren Abstand zu dem Ge-‐ schehen; außerdem habe ich starke Kopfschmerzen", sage ich und ziehe mich auf den Balkon zurück wie ein geprügelter Hund. 209 Als es mir wieder besser geht, suche ich die Yogini. Sie ist damit beschäftigt, Wiesen-‐ blumen in einer kleinen Vase zu arrangieren. Jeder ihrer Blumensträuße ist wie ein Ge-‐ dicht. Ein Gedicht, das seinen Duft und visuellen Charme verströmt und welkt. Selbst im vertrockneten Zustand sind ihre Arrangements noch bezaubernd. Manchmal steckt sie die welken Sträußchen in die klaffenden Risse der gealterten Balken, wo sie dann mit der Zeit wie Gebetsfahnen verbleichen und zerfleddern. Als sie mich sieht, fragst sie: "Hast du dich wieder erholt?" "Von den Schmerzen abgesehen schon", antworte ich. "Können wir darüber reden, was du mein psychotisches Denken genannt hast?" "Setzen wir uns in den Schatten. Was willst du wissen?" "Zuerst habe ich eine allgemeine Frage. Was ist Denken? Was ist darunter zu verstehen? Worauf beruht es? Wie funktioniert es?" "Ich habe geahnt, dass du das fragen wirst", sagt sie lachend. Dann wird sie ernst. "Um Denken zu können, müssen wir Unterscheidungen treffen. Unterscheiden können ist die Grundvoraussetzung für jede Form von Denken." "Eine Grundvoraussetzung, ja. Aber es muss sicherlich noch etwas anderes dazu-‐ kommen, damit ein Denkprozess entsteht." Die Yogini sagt nichts dazu. Nach einer län-‐ geren Pause, in der wir beide schweigen, meine ich: "Mir scheint, es sind die Folgerun-‐ gen, die ich aufgrund der Unterscheidungen ableite, die das Denken ausmachen. Sobald ich mein Denken wahrnehme, sehe ich, dass ich aufgrund von Unterscheidungen Schlüs-‐ se ziehe, also Folgerungen bilde." "Das sehe ich genauso", antwortet die Yogini darauf. "Was du sagst lässt sich mit allen Formen des Denkens in Übereinstimmung bringen. Damit hast du dir die erste deiner Fragen selbst beantwortet. Die zweite Frage, wie das Denken funktioniert, hat mit den Formen des Denkens zu tun. Damit werden wir uns gleich befassen", kündigt sie an, rafft ihren Rock und legt die Füße auf den Zaun. "Aber bevor wir weiterreden, möchte ich dir etwas anderes sagen. Wenn wir über die Erscheinungsformen des Denkens reden, ist das, was ich dir vermitteln werde, nicht klassisch tibetisch oder buddhistisch; westlich psychologisch ist es aber auch nicht. Ich sage dir das, damit du dir keine falschen Vor-‐ stellungen darüber machst, was du von mir bekommst." Abwartend schaut mich die Yo-‐ gini an. "Ich habe keine Probleme damit", sage ich darauf. "Dann ist es gut und wir können uns den verschiedenen Denkformen zuwenden." "Du sprichst von verschiedenen Formen. Welche sind das?" "Ich unterscheide mehrere Erscheinungsformen. Das logische, rationale, pragmatische, logistische, emotive, imaginative und das psychotische Denken. Diese Varianten unter-‐ 210 scheiden sich grundlegend in ihren Funktionen und Ergebnissen. Außerdem sind sie un-‐ terschiedlich kompatibel." "Du meinst", versuche ich mich zu vergewissern, "dass nicht jede dieser Denkformen mit einer anderen in Übereinstimmung zu bringen ist?" "Nein", antwortet Göden Marpa etwas zögernd. "Übereinstimmung ist nicht das geeigne-‐ te Wort. Es geht eher um Ergänzung, um Zusammenwirken." "Wie definierst du diese Varianten des Denkens? Vielleicht kann ich danach die mögliche oder nicht mögliche Übereinstimmung oder Ergänzung verstehen." Die Yogini nickt zustimmend. "Fangen wir mit der abstraktesten Erscheinungsform an, dem logischen Denken. Es beruht auf den grammatikalischen Regeln der Sprache und führt zu Aussagen, die diesen Regeln zufolge entweder richtig oder falsch sind. Diese Form des Denkens kennt nur ein Ja oder Nein, ein Richtig oder Falsch. Es gibt nur Schwarz und Weiß. Grautöne existieren nicht. In seiner höchstentwickelten Form wird dieses Denken in der Mathematik und im wissenschaftlichen Definieren verwirklicht. Obwohl viele Menschen meinen, sie würden logisch denken, ist das eher eine Illusion, weil du dafür eine strenge gedankliche Disziplin benötigst, die nur wenige aufbringen und durchzuhalten bereit sind. Meiner Erfahrung nach wird das Logische mit dem Rati-‐ onalen verwechselt. Hier fehlt eine klare Unterscheidung und dadurch kommt es zu Irr-‐ tümern." "Ich bin bislang auch davon ausgegangen, dass logisches und rationales Denken das-‐ selbe sind. Nun deutest du an, dass es einen Unterschied gibt. Wie sieht dieser Unter-‐ schied aus?" "Wenn das logische Denken grammatikalischen Regeln folgt, welchen Regeln könnte dann das rationale Denken folgen? Was meinst du?" "Ich habe keinen Ahnung." "Es folgt keinen Regeln", beantwortet Marpa ihre Frage kurz und eindeutig selbst. "Das rationale Denken beruht auf Begründungen und Erklärungen, die vollkommen beliebig sein können und keiner Regeln bedürfen. Du denkst rational, um deine Interessen durchzusetzen. Es ist pseudologisch und lediglich ein Mittel zum Zweck. Im Gegensatz zum logischen dient das rationale Denken nicht der Erkenntnis, sondern dem Durchset-‐ zen von Interessen." "Interessant", sage ich darauf. "So habe ich das noch nie gesehen. Aber ich kann sofort Beispiele dafür finden. Kann man etwas Logisches sagen, das nichts mit Tatsachen zu tun hat?", frage ich jetzt. "Hat Logik etwas mit Tatsachen zu tun? Nicht unbedingt. Eine auf grammatikalischen Regeln beruhende Logik bildet nur einen Teil von Tatsachen ab, wenn wir darunter die 211 sensorisch erfahrbare Realität verstehen. Jeder Rechtsanwalt wird innerhalb juristischer Regeln logisch denken. Aber er kann diese Logik so anwenden, dass jemand, der sich schuldig gemacht hat, als unschuldig hingestellt wird. Dann argumentiert der Rechtsan-‐ walt der Gegenseite ebenfalls sehr logisch und versucht damit das Gegenteil zu begrün-‐ den. Daran kannst du erkennen, dass das logische Denken von völlig unterschiedlichen Motiven benutzt werden kann." "Das ist wirklich ein sehr anschauliches Beispiel." "Das stimmt. Dieses Beispiel zeigt, wie man die Logik benutzen kann, um einen Zusam-‐ menhang so zu manipulieren, dass er den individuellen Zielen dient." "Kann man über das logische Denken die Wahrheit finden?" "Wie ich bereits gesagt habe, beruht Logik auf Regeln. Sie ist das Resultat eines strengen Schemas, das man einhalten muss. Hält man es nicht ein, denkt man nicht logisch. Mit Hilfe dieses Schemas bemüht man sich, die paradoxe Komplexität der Wirklichkeit zu regeln. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch möglich und hilfreich. Aber zur Ein-‐sicht führt es nicht. Außerdem musst du dafür sorgen, dass dein logisches Denken nicht von bewussten oder unbewussten Motiven korrumpiert und missbraucht wird. Wenn du die logischen und rationalen Erscheinungsformen des Denkens genau betrachtest, kannst du feststellen, dass rationales Denken im Gegensatz zum logischen von Erklärungen ge-‐ prägt ist, die nichts mit Logik zu tun haben. Mit rationalem Denken kannst du dich über die Logik hinwegsetzen. Andererseits kannst du das logische Denken für dein rationales Denken nutzen." "Das ist neu für mich." "Nicht nur für dich. Viele kennen diesen Unterschied nicht, obwohl sie ihn täglich prakti-‐ zieren." "Meinst du, dass rationales Denken eine verfälschte Form der Logik ist?" "Nein, so sehe ich das nicht. Logik beruht auf einer Entweder-‐oder-‐Regel. Entweder ist etwas aufgrund dieser Regel zwingend folgerichtig gedacht oder nicht. Das Rationale dagegen beruht auf Erklärungen und Begründungen, die nicht zwingend logisch sind, sondern sich an bewussten oder unbewussten Motiven orientieren." "Das leuchtet mir ein. Aber wie kann man erkennen, ob sich solche Motive des logischen Denkens bedienen?" "Eben mit Hilfe dieses Denkens. Das Problem besteht darin, dass dieser Prozess nicht konsequent genug durchgehalten wird. Würde er es, würden damit unfehlbar die dem rationalen Denken zugrunde liegenden Motive aufgedeckt werden." 212 Mir kommt eine drastische Metapher in den Sinn, die ich nach kurzem Zögern aus-‐ spreche. "Das rationale Denken ist demnach eine Gehirnhure, die sich von den Motiven benutzen lässt." Die Yogini wirft mir einen scharfen Blick zu, ehe sie erwidert: "Das rationale Denken kann eine Hure sein; aber auch eine Sophia, eine weise Frau, oder wie wir im tibetischen Buddhismus sagen würden: eine Tara. Es kommt ganz darauf an, wie das rationale Den-‐ ken instrumentalisiert wird. Derjenige, der sich dieses Denkens bedient, macht es zur Hure oder zur Tara. Es selbst ist weder dieses noch jenes." "Warum vergleichst du das Ideal der weisen Frau mit einer Tara, die ja als eine Art Göt-‐ tin verstanden wird?" "Ich sehe in der Tara keine Göttin. Das Wort Tara ist von einer Sanskritwurzel abgeleitet und bedeutet hinübersetzen. Eine Tara ist also diejenige, die dich heil hinüberbringt. Zu-‐ dem bedeutet dieses Wort auch Stern oder Sternbild. In einem zeitgemäßeren Verständ-‐ nis kannst du also eine Tara als etwas verstehen, was einen Übergang, eine Verbindung, eine Vermittlung herstellt zwischen unvereinbar scheinenden Gegensätzen. Ebenso wie die Sophia als weise Frau nur deshalb weise ist, weil sie sich von den Gegensätzen be-‐ fruchten lässt, ist auch die Tara weise, weil sie zwischen den Gegensätzen verbindet. Ge-‐ gensätze beruhen auf Unterscheidungen. Unterscheidungen sind die Grundlage des Denkens. Logische Unterscheidungen führen zu logischem Denken. Diese Form des Den-‐ kens kann sich in unvereinbaren Gegensätzen zersplittern oder zur Erfahrung des Über-‐ gegensätzlichen führen, die du Weisheit nennen kannst." "Abgesehen von diesen Höhenflügen vermute ich, die meisten Menschen denken eher rational als logisch." "Du kann man vermuten. Logisches Denken findest du nur in der Mathematik und im wissenschaftlichen Definieren. Aber sogar in den Wissenschaften begegnest du dem Ra-‐ tionalisieren ...," "... indem die beobachteten Phänomene so interpretiert werden, dass sie der Weltan-‐ schauung entsprechen", führe ich den Gedanken weiter. "Ist das grundsätzlich so?", frage ich zweifelnd. "Nein, nicht grundsätzlich. In den Naturwissenschaften bedient man sich ja einer streng reglementierten mathematischen Sprache. Trotzdem kommt das Rationalisieren ins Spiel, wenn die logisch formulierten Beobachtungen einer Weltanschauung untergeord-‐ net werden." "Meinst du damit, dass die wissenschaftlichen Resultate aufgrund weltanschaulicher Vo-‐ raussetzungen so erklärt werden, dass sie diese Anschauung begründen?" "Das meine ich." 213 "Das ist eine beängstigende Vorstellung. Man kann demnach objektive Erkenntnisse da-‐ zu benutzen, die Welt so zu erklären, dass sie mit den persönlichen Motiven oder jenen der Gesellschaft übereinstimmt." "Das geschieht in der Politik ständig." "Sie beruht auf rationalem Denken." "Das kann man sagen." "Aber in der Politik wird auch pragmatisch gedacht." "Das stimmt nicht, obwohl es vordergründig so aussehen mag. Beim pragmatischen Denken werden die Schlussfolgerungen aufgrund von Unterscheidungen getroffen, die sich auf Handlungen beziehen." "Als ich mit dem Demontieren des Stalls beschäftigt war, habe ich mir oft überlegt: Was muss ich tun und wie kann ich es tun, damit sich ein schwerer Balken so entfernen lässt, dass mich die mit ihm verbundenen anderen Balken nicht erschlagen. Das war pragma-‐ tisches Denken, oder nicht?" "Ja. Kannst du dir vorstellen, dass in der Politik diese Form des Denkens angewendet wird?" "Ich bin nicht sicher." "Vereinfacht geht es in der Politik darum", erklärt Göden Marpa weiter: "Wie kann eine Gruppe von Menschen die Bevölkerung so verführen, dass sie eine Partei unter-‐stützt, die ihrerseits den Interessen der Wirtschaftsmächte folgt, die von Aktionären do-‐miniert werden. Das macht man, indem man die Menschen mit Erklärungen und Begründungen zu überzeugen versucht." "Aha", sage ich, "soeben ist mir etwas klar geworden. Das ist nicht pragmatisch, sondern rational gedacht. Jetzt weiß ich auch, wodurch mein Missverständnis zustande gekom-‐ men ist. Ich habe das Wort pragmatisch als zweck-‐ und zielorientiert verstanden." "Das ist natürlich etwas anderes. Deshalb müssen wir auf die Definitionen achten. So-‐ bald du das pragmatische Denken anders definierst, als wir es gemacht haben, be-‐ kommst du selbstverständlich andere Aussagen." "Unserer Definition nach würden wir sagen, dass man in einem Handwerk pragmatisch denkt." "Nicht nur. Aber auf jeden Fall dann, wenn es um das Werk der Hände geht, um Hand-‐ lungen, die sich in der Objektrealität auswirken. Die Tätigkeit einer Hebamme würde ich nicht unbedingt als Handwerk bezeichnen; trotzdem wird sie pragmatisch denken." 214 "Du meinst, das Werk der Hände ist umfassender als das Handwerk." "Genau. Du musst kein Handwerker sein, um dir zu überlegen, wie du einen Schrank von einer Ecke in die andere schiebst, ohne den Blumentopf am Nebentisch umzuwerfen." "Was, meinst du, ist die häufigste Form des Denkens?" "Ich weiß es nicht. Wie könnte ich das wissen? Ich kann lediglich vermuten, dass ratio-‐ nales Denken inzwischen am weitesten verbreitet ist, weil es ist bestens dafür geeignet ist, Interessen durchzusetzen. Politische, wirtschaftliche und religiöse." "Du hast mir den Unterschied zwischen dem logischen und rationalen Denken erklärt. In der Alltagsrealität scheinen diese beiden Denkformen derart ineinander zu greifen, dass ich nicht deutlich erkennen kann, was die eine ist und was die andere. Hast du dafür ein Beispiel?" "Siehst du die Mohnblumen dort?" Unübersehbar leuchtet sattes Rot zwischen den Fingerhutstauden heraus. Die Mohn-‐ blumen sind Göden Marpas ganzer Stolz, weil es sehr schwierig war, sie hier zum Wach-‐ sen und Blühen zu bringen. Die roten Blüten verbreiten eine nahezu schamlose Sinnlich-‐ keit. "Ein Physiker kann mit den geeigneten Geräten feststellen, dass dieses Rot die längste Wellenlänge und die langsamste Frequenz hat und er kann diese Beobachtung in Zahlen ausdrücken. Er würde dies als objektive Beobachtung verstehen, seine Vorge-‐ hensweise ist logisch begründet. Hat er uns damit etwas über die Wirklichkeit der Er-‐ scheinungsform Rot gesagt? Nein. Er hat ausschließlich einen Aspekt der Objektrealität beschrieben. Wenn dieser Physiker uns nun weiter sagt, dass er aufgrund seiner logi-‐ schen Messdaten das Mohnblumenrot erklärt und ausreichend beschrieben hat, wenn er davon ableitet, dass die sichtbare Welt aus nichts anderem als Wellenlängen und Fre-‐ quenzen besteht, dann rationalisiert er." "Das ist es, was mich interessiert. Warum meinst du, dass er rationalisiert?" "Er rationalisiert, wenn er die zweifelsfrei durch logische Daten gewonnenen Beobach-‐ tungen dahingehend interpretiert, dass die sichtbare Welt aus nichts anderem besteht als diesen, den Messwerten zugrunde liegenden physikalischen Erscheinungsformen." "Er interpretiert die Messdaten in Form einer Weltanschauung." "Nein, er interpretiert sie so, dass sie zu seiner Weltanschauung passen." "Jetzt ist mir klar, was du meinst. Du hast es zu einem anderen Zeitpunkt bereits gesagt. Man kann die Logik dazu benutzen, um seine Interessen durchzusetzen. Wenn man eine Weltanschauung hat, ist man daran interessiert, diese Anschauung beizubehalten. Das gibt Sicherheit und Orientierung und darin liegt auch das Interesse, vor allem dann, 215 wenn diese Weltanschauung mit wirtschaftlichen und politischen Motiven verknüpft ist." "Dennoch stimmt das, was ein Physiker über das Mohnblumenrot sagt; es kann von an-‐ deren Personen geprüft werden kann. Dieser Vorgang folgt dem logischen Denken. Aber das Reduzieren dieser Erscheinungsform auf objektive Messwerte und die damit ver-‐ bundene Interpretation als Wirklichkeit wäre rational gedacht." "Dass der Unterschied zwischen dem logischen und rationalen Denken derart weitrei-‐ chend ist, habe ich nicht vermutet." Mit einem traurigen Gesichtsausdruck schaut Göden Marpa auf den Hagebutten-‐ strauch. Dann atmet sie tief aus und sagt: "Wenn man die Erscheinungsformen des Den-‐ kens nicht auch missbrauchen könnte, gäbe es in ihnen keine schöpferische Freiheit. Deshalb müssen wir die negativen Aspekte seiner Möglichkeiten als Preis dafür ansehen, dass es uns die Höhenflüge der Einsicht ermöglicht." … Ich gehe in die Küche und koche uns Kaffee. Als die Yogini den letzten Teil ihres Milch-‐ brötchens in den Kaffee getunkt und gegessen hat, schaue ich sie fragend an. In ihren Augen sehe ich ein unmerkliches Lächeln. "Was erwartest du jetzt?", fragt sie. Eine Eidechse kommt aus einem Spalt zwischen den Steinen gekrochen, auf denen die Balken der Hütte aufliegen. Ruckartig bewegt sie sich vorwärts, bis sie an einer von der Sonne beschienenen Stelle innehält und den Kopf schief legt, als ob sie lauschen würde. Ihre kurzen Beine und der Bauch schimmern graubraun. Es ist ein ausgewachsenes Weibchen, dessen winzige dunkle Augen wie zwei filigrane Kugeln aus Onyx funkeln. "Kannst du mir die anderen Formen des Denkens auch noch beschreiben", bitte ich Mar-‐ pa. "Das habe ich vor. Als Nächstes sehen wir uns das logistische Denken an." "Haben wir darüber nicht bereits gesprochen?" "Nein, wir haben über das logische Denken gesprochen. Jetzt geht es um das logistische Denken, das ist etwas anderes. Es ist eine Verbindung von logischem und pragmati-‐ schem Denken und ein Beispiel dafür, was ich mit Ergänzung meine: Die eine Denkform ergänzt und unterstützt die andere. Ich gebe dir dafür ein Beispiel. Wenn du eine Pan-‐ zerdivision aus China in den Himalaja verlegen willst, benötigst du logistisches Denken. Es ist pragmatisch, weil es sich an der sensorischen Objektrealität orientiert. Es ist aber auch logisch, weil eindeutige Entweder-‐oder-‐Regeln bedacht und eingehalten werden müssen. Beim logistischen Denken sind pragmatisches und logisches Denken unver-‐ 216 zichtbar. Eisenbahnnetze funktionieren überall auf der Welt nur aufgrund logistischer Abläufe. Beim Flugverkehr ist es ebenso. Du kannst im Leben viele Beispiele für den Un-‐ terschied zwischen Logik und Logistik finden." "Was du sagst, überzeugt mich. Es war mit bisher nur nicht bewusst." "Jetzt komme ich zu einem ganz anderen, nämlich zum emotiven Denken. Dabei handelt es sich um ein Denken auf der Basis von Gefühlen, des Fühlens und der Emotionen. Es ist nicht einfach zu beschreiben." "Das ahne ich bereits. Vielleicht beginnen wir mit den Unterschieden zwischen Gefühl, Fühlen und Emotion. Bisher dachte ich, das wäre alles dasselbe." "Nein, eben nicht. Das Denken mit Gefühlen kommt durch die Polarität von angenehm oder unangenehm, das mag ich oder das mag ich nicht zustande. Solche Gefühle ereignen sich und lösen sich wieder auf, was dazu führt, dass ein darauf beruhendes Denken we-‐ nig Einsichten ermöglicht." "Aber ein Mensch hat doch bedeutend mehr Gefühle als angenehme oder unangeneh-‐ me", wende ich skeptisch ein. "Nein", entgegnet Marpa bestimmt. "Was du jetzt meinst, sind Emotionen. Das ist ja das Problem, dass zwischen Gefühlen und Emotionen kein Unterschied gemacht wird. Die buddhistische Psychologie kann uns hier auch nicht weiterhelfen, weil sie weder Gefühle noch Emotionen kennt. Erinnere dich daran, wie wir über die Sanghas gesprochen ha-‐ ben. Damals habe ich dir das Entstehen von Emotionen genau erklärt." "Ja, jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich wieder. Emotionen hast du gesagt, ent-‐ stehen als Wechselwirkung von Gefühlen und Denken im Zusammenhang mit Empfin-‐ dungen." "Richtig. Nun, ein Denken, das auf Emotionen basiert, ist selbstverständlich ähnlich wir-‐ kungslos wie eines, das auf Gefühlen beruht." "Das kann ich nur bestätigen", bekräftige ich diese Behauptung der Yogini. "Jetzt bin ich aber neugierig, wie du das Fühlen beschreibst." "Wenn es um das emotive Denken geht – damit fasse ich die drei Erscheinungsformen Gefühl, Emotion und Fühlen zusammen –, dann ist das Fühlen diejenige Funktion, mit der du wirklich denken kannst." Marpa winkt ab, als sie merkt, dass ich eine Frage stel-‐ len will, und redet weiter. "Wie funktioniert das Fühlen? Indem du seelische Empfindun-‐ gen vergleichst, ähnlich, wie du Sinnesempfindungen vergleichst. Nur eben mit dem Un-‐ terschied, dass diese seelischen Empfindungen keine Sinnesempfindungen sind. Ich weiß, diese Aussage ist paradox und widerspricht sich. Trotzdem ich schon viel darüber nachgedacht habe, konnte ich bisher keine bessere Formulierung finden als diese: Füh-‐ len ist das Wahrnehmen von Eigenschaften beim Beobachten von Erscheinungen." 217 "Ich glaube, darüber muss ich in Ruhe nachdenken. Das alles hört sich für mich jeden-‐ falls so an, als sei ein Mensch, der emotiv denkt, außerordentlich auf sich selbst bezo-‐ gen." "Ja. Das kann auch nicht anders sein. Etwas mögen oder ablehnen hat ausschließlich mit dem Betreffenden selbst zu tun. Es reicht nicht über ihn hinaus, weil es nur ihn selbst betrifft. Bei den Emotionen ist es ähnlich. Nur im Fühlen besteht die Möglichkeit etwas wahrzunehmen, das auch für andere gültig sein kann." "Hast du dafür ein Beispiel?" "Für mich wäre das ästhetische Denken ein gutes Beispiel. Ein harmonisch komponier-‐ tes Bild kann nur durch das Fühlen geschaffen werden. Und ähnlich, wie ein Gedanke, der den Regeln der Logik folgt, von jedem, der logisch zu denken gelernt hat, nach-‐ gedacht werden kann, so kann auch die Harmonie eines Bildes von demjenigen, der Füh-‐ len gelernt hat, nachgefühlt werden." "Würde es übertrieben zu sagen, dass emotives Denken die Logik ausschließt, und um-‐ gekehrt?" "Nein, das ist sogar nahe liegend. Du wirst es im Leben bestätigt finden. Ich würde je-‐ doch nicht so weit gehen und behaupten wollen, dass dies grundsätzlich so sein muss. Für mich ist das eher eine Tendenz." "Entschuldige bitte, wenn ich dir sage, dass deine Definition des emotiven Denkens et-‐ was einseitig ist. Von mir selbst weiß ich, dass ich ein ziemlich gut entwickeltes und dif-‐ ferenziertes emotives Denken habe. Es kommt zum Ausdruck, wenn ich Bilder male. Ich glaube nicht, dass ich unangemessen übertreibe, wenn ich sage, dass dieses emotive Denken ein breit gefächertes Spektrum an Folgerungen zulässt, die auch Einsichten vermitteln." "Das ist sicher möglich. Ich will keineswegs den Eindruck vermitteln, emotives Denken wäre primitiv. Wie bei allem, kommt es auch hier darauf an, ob man es kultiviert hat. Das ist bei den anderen Formen des Denkens auch so." "Wenn du das emotive Denken über das Unterscheiden von angenehm und unangenehm definierst, ist mir das aus dem eben genannten Grund nicht ausreichend. Meiner Erfah-‐ rung nach orientiert sich dieses Denken nämlich auch daran, was ich als Stimmigkeit er-‐ fahre, und es hat mit dem Wahrnehmen von Harmonie zu tun." "Es ist, wie du sagst", antwortet die Yogini. Ich bin überrascht, dass sie meinem kriti-‐ schen Einwand zustimmt. "Trotzdem, wenn du dein emotives Denken, so wie du es eben beschrieben hast, wahrnimmst, wirst du sehen, dass du dich dabei in allen Details am Er-‐ leben von angenehm oder unangenehm orientierst; allerdings auf einem sehr hohen Ni-‐ 218 veau. Ab einer gewissen Differenzierung entfaltet das emotive Denken höhere Funktio-‐ nen des Erkennens und offenbart eine Mathematik des Fühlens." "Jetzt hast du etwas gesagt, das für mich sehr wichtig ist und meine Erfahrungen bestä-‐ tigt. Ich bin mir dessen schon lange bewusst, dass es eine Mathematik des Fühlens gibt, die jedoch schwer zu vermitteln ist. Sie entfaltet sich in der Domäne der Ästhetik und im zwischenmenschlichen Bereich; einem Außenstehenden kann ich den Zugang aber nicht vermitteln." "Der Zugang wäre ein emotives Denken auf demselben Niveau." "... das man aber nicht voraussetzen kann und selten vorfindet." "Das ist wahr." Nach einigem Nachdenken fragt die Yogini: "Kannst du mir ein Beispiel dafür geben, worin du eine Mathematik des emotiven Denkens erkennen kannst?" "Sicher. Diesen Aspekt sehe ich in jedem tibetischen Thangka." "Und woran erkennst du ihn?" "Oh, das ist nicht einfach zu erklären", erwidere ich ausweichend. "Ich erwarte nicht, dass es einfach ist." "Also ...", beginne ich langsam und versuche mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Ich beziehe mich jetzt auf die Farbigkeit, die ein wesentliches Attribut solcher Bilder ist. Thangkas bestehen aus intensiven Farbklängen, einem Zusammenwirken von Farbton, Farbwert und Farbausdehnung in Form relativer Lage im Raum. Dadurch entstehen komplexe Farbakkorde. Bei einem Farbakkord werden konsonante und dissonante Farbwirkungen zueinander in Beziehung gesetzt, um eine ausgeglichene Farbspannung zu erreichen, wobei die Spannung bis zum Äußersten ausgereizt wird. Zudem besteht ein Thangka aus einer harmonikalen Struktur flächenräumlicher Aufteilung, einem dem Bild zugrunde liegenden räumlichen Skelett in Form geometrischer Strukturen mit Kno-‐ tenpunkten, die mit den Farbakkorden korrespondieren, sodass sich ein außeror-‐ dentlich komplexes Muster farblicher und räumlicher Daten ergibt, die alle eine Bezie-‐ hung bilden, die – und das ist nun der mathematische Aspekt dabei – so aufeinander be-‐ zogen sind, dass alle diese Teilaspekte im Ganzen wie in einer Gleichung aufgehen." Ich habe wie in Trance gesprochen. "Das ist die kürzeste und beste Darstellung von Thangkas, die ich bisher gehört habe. "Du meinst, mein Verständnis von Thangkas und des emotiven Denkens ist zutreffend?" "Auf jeden Fall. Das ist eine überzeugende Analyse, mit der du mir genau das gezeigt und bestätigt hast, was ich den mathematischen Aspekt des emotiven Denkens genannt habe. Ich bin beeindruckt. Wie bist du darauf gekommen?" 219 "Das ist mehr oder weniger die Essenz meiner künstlerischen Arbeit, die sich in den Rollbildern verwirklicht hat, von denen ich dir eines geschenkt habe." "Ja, ich verstehe. Du hast diese Form des Denkens durch das Malen der Rollbilder kulti-‐ viert." "Im Nachhinein würde ich sagen, dass es eine Form von Meditation und Yoga im schöp-‐ ferischen Handeln gewesen ist." "Bestimmt war es das, sonst hättest du so etwas nicht schaffen können." "Deine bisherigen Beschreibungen reichen bereits aus, um zu erkennen, dass Denken nicht gleich Denken ist. Dass es hier derart signifikante Unterschiede geben könnte, war mir nicht bewusst. Kann man in allen Denkformen denken? Ich meine, hat man alle die-‐ se Variationen zur Verfügung? Ich ahne, dass man nicht jede Denkform gleich gut nutzen kann, dass es vermutlich Stärken und Schwächen gibt." "Bevor ich dir darauf antworte, sollten wir uns zuerst noch die beiden anderen Erschei-‐ nungsformen des Denkens ansehen. Bisher haben wir das logische, das rationale, prag-‐ matische, logistische und das emotive Denken besprochen. Es fehlen noch das imagina-‐ tive und das psychotische Denken." … Die Schwüle hat sich verdichtet. Ich kann sie in Scheiben schneiden und an die inzwi-‐ schen bleierne Stille verfüttern, die in einem geräuschlosen Schmatzen alles einsaugt und verschlingt. Es riecht nach Gewitter. Wolken ziehen auf und es wird zunehmend dunkler. Wir ziehen uns in den Schutz der Hütte zurück, als ein erster Blitz über den fast schwarz gewordenen Himmel zuckt. Unmittelbar darauf beginnt ein vehementer Wol-‐ kenbruch, der alles mit kaltem Regen und Hagel verhüllt. Bereits nach kurzer Zeit muss ich in den oberen beiden Kammern Töpfe aufstellen, um das durchsickernde Wasser aufzufangen. So ist es jedes Mal bei solchem Wetter. Heftige Sturmböen peitschen die Regengüsse horizontal gegen die Balken. Blitze lassen indigofarbene Wolken aufleuch-‐ ten. Einen berauschenden Augenblick lang sind sie in verflüssigtes Licht getaucht. Don-‐ ner explodiert. Er sprengt die angestaute Schwüle, deren Fragmente im Rauschen des Regens versinken. Wieder und wieder illuminieren verästelte Adern zuckenden Lichts den dunklen Körper der Stallruine, lassen sie Teil eines unheimlichen Szenarios sein. Überraschend schnell ist das Gewitter zu Ende. Einige schwere Regentropfen klatschen noch gegen das Fenster, dann hat es aufgehört zu regnen. Ich gehe hinaus. Die Luft ist frisch und gereinigt. Das Gras glänzt wie poliert und die Farben der Blumenblüten sind von einem Schleier befreit. "Kannst du uns einen Mocca kochen?", fragt die Yogini, als ich wieder in der Küche bin. 220 "Das ist eine gute Idee", stimme ich zu und hole mir die Utensilien. "Wo möchtest du ihn trinken?" "Draußen ist jetzt alles nass. Bleiben wir in der Küche", entscheidet sie. Als das Getränk fertig ist und sich der helle Schaum an die Ränder der kleinen Tassen schmiegt, komme ich darauf zurück, dass es noch zwei weitere Denkformen zu erklären gibt. Marpa nippt vorsichtig an ihrer Tasse, bevor sie sich äußert. "Wir können uns noch mit dem imaginativen Denken befassen, danach möchte ich in Ruhe lesen. Die letzte Va-‐ riante, das psychotische Denken, verschieben wir auf morgen." "Was hat dich überhaupt auf die Idee gebracht, diese sieben Formen des Denkens zu un-‐ terscheiden?" "Vermutlich die Tatsache, dass es diese Unterschiede gibt." "Das schon, aber wie bist du darauf aufmerksam geworden?" "Wie du bereits angedeutet hast: durch aufmerksames Wahrnehmen des Denkens." "Nur bei dir selbst oder auch bei anderen?" "Sowohl als auch natürlich." "Woran erkannt man das imaginative Denken?" "Daran, dass es auf Vorstellungen beruht. Diese Vorstellungen können mit dem logi-‐ schen, pragmatischen, logistischen und emotiven Denken verknüpft sein. Aber das We-‐ sentliche dabei ist die Vorstellung. Wenn du imaginativ denkst, machst du dir innere Bil-‐ der." "Man würde das nicht unbedingt als Denken verstehen, wenn man sich Bilder vorstellt." "Als was würde man es dann verstehen?" "Als Phantasie." "Ist das Phantasieren etwa kein Denken? Denke darüber nach." Unterschied und Zusammenhang von Realität und Wirklichkeit Die Stadt, in der ich lebe, ist ein vom Konsumproletariat inszenierter Daueralbtraum. Je-‐ des Mal wenn ich von der Hütte hierher zurückkomme, erlebe ich, wie mein Wachsein in den Sog von Schläfern gezogen wird, die sich selbst betäuben. Keiner weiß, wie Wach-‐ sein ist. Würden sie aus ihrer selbst inszenierten Betäubung erwachen: Womöglich müssten sie vor Schreck erstarren angesichts der Realität, die sie geschaffen haben. Es 221 ist ein Merkmal dieser Schläfer zu sehen, was um sie herum geschieht, ohne es zu sehen. Sie erkennen nicht, wie das albtraumhaftes Handeln die Wirklichkeit korrumpiert. So-‐ bald ich Göden Marpa verlasse und in diese Stadt zurückkomme, beginnt für mich eine andere Form der Arbeit. Lernen, mit dem Irrsinn zu tanzen, ohne mich selbst dabei zu verlieren. Sobald ich wieder unterwegs bin, um die Yogini in ihrem Gompa zu besuchen, fühle ich mich lebendig. Benebelt von den mentalen Dämpfen dieses Milieus, die einzuatmen ich nicht umgehen kann, fühle ich mich mit jedem Atemzug von diesem Gift befreit, sobald ich den Weg zur Hütte gehe. Das Gelände ist vom Regen aufgeweicht, das Gehen bergab beschwerlich. Der mit kur-‐ zem Gras bewachsene Hügel ist glatt und rutschig. Die weidenden Kühe haben ihn zu ei-‐ nem pampigen Brei aus zerstampfter Erde gemacht. Vorsichtig setze ich Schritt für Schritt, um mit dem schweren Gepäck nicht auszurutschen. Der Weg hinunter verläuft querfeldein. Eigentlich ist gar kein Weg vorhanden. Ob ich nach links oder nach rechts gehe, hängt allein davon ab, ob ich unmittelbar vor mir eine Stelle erkenne, die mir tritt-‐ sicher genug erscheint. Nur eines muss ich beachten: Ich darf nicht zu weit nach links oder nach rechts abweichen, weil ich sonst die beiden großen Tannen verfehle, an denen ich vorbei muss, um die Hütte zu finden. Ich bleibe stehen, um mich zu orientieren. Es ist spät geworden und die Dämmerung lässt sich bereits erahnen. Schleier von Schatten haben sich über die Wiesen gelegt und die Tannen einen Hauch dunkler gefärbt. Ich gehe weiter. Matschige Erde saugt schmat-‐ zend an meinen mit Feuchtigkeit vollgesogenen Schuhen, in denen meine Füße inzwi-‐ schen nass geworden sind. Als das Tageslicht erkennbar schwächer geworden ist, habe ich bei die beiden Tannen und den Weidezaun erreicht, den ich übersteigen muss. Mit dem schwerem Gepäck auf dem Rücken ist es jedes Mal eine mühsame Prozedur, nicht am Stacheldraht hängen zu bleiben. Vor der Hütte ist der Boden sehr verschlammt. Die Kühe gehen beharrlich immer wieder am Zaun entlang, der jetzt die Hütte umgibt. Die breiige Erde ist mit Urin und Exkremen-‐ ten vermischt. Ich muss die Pampe durchqueren. Nahe am Eingang steht eine Kuh käu-‐ end und pissend und glotzt mich an. Ich pfeife wie ein Vogel. Mein Zeichen, dass ich da bin. Dann betrete ich die Hütte ohne anzuklopfen. Die Yogini hat mich bestimmt schon gehört. Sie hat ein Gehör wie ein Luchs. Nichts entgeht ihr. Darüber habe ich mich schon oft gewundert. Ich erschrecke, als sie plötzlich neben mir steht. Sie kommt aus der Werkstatt. Gleich einem dunklen Schatten steht sie da, überrascht von meinem Erschrocken Sein. Einen Augenblick lang schauen wir uns beide schweigend an, dann grüße ich, befreie mich vom Gepäck und ge-‐ nieße den von der Last befreiten Rücken. Die Yogini spricht einige belanglose Worte, dann gehen wir beide in die Küche. 222 "Wie lange wirst du diesmal bleiben?", fragt sie, beugt sich über den Tisch und rückt zwei Tassen für uns zurecht. Dann kniet sie vor den Herd und legt Scheite nach. Orange-‐ farbig flackerndes Licht tanzt auf der Haut ihres Gesichts, gibt ihm die Aura von Ge-‐ heimnis und macht es zu einer asiatischen Skulptur. "Vier Wochen?" "Sechs", sage ich. "Dann können wir uns einiges vornehmen", meint sie. "Darauf habe ich mich eingestellt", antworte ich. Als das Wasser kocht, gießt sie Kräutertee auf. Dem Geruch nach ist es eine Mischung aus Kümmel, Anis, Fenchel und Pfefferminze. Während wir warten, bis der Tee gezogen hat und mein Vorrat an Geplauder aufgebraucht ist, sage ich: "Morgen würde ich gerne auf die Denkformen zurückkommen und die intuitive Variante besprechen. In den ver-‐ gangenen Wochen habe ich viel darüber nachgedacht." Marpa gießt Tee in meine angeschlagene Porzellantasse. Sie selbst trinkt aus einer tibe-‐ tischen Butterteeschale, deren silbriger Belag dem goldfarbenen Getränk eine besondere Tönung verleiht. Inzwischen ist es dunkel geworden. Wir sitzen beim vertrauten Licht der Kerzen zusammen und trinken in kleinen Schlucken von unserem Tee. Die Yogini zieht sich den Schal zurecht, der um ihre Schultern liegt, und schweigt. Jetzt beugt sie sich vor, zieht die Teekanne näher zu sich her und schenkt sich wieder ein. Bedachtsam nimmt sie die Tasse mit beiden Händen auf, führt sie zum Mund und schlürft. Vor ihrem 223 Gesicht steigt der Dampf des Tees nach oben. Ich erzähle der Yogini von den vergange-‐ nen Wochen und meiner Arbeit. Ich habe den Eindruck, dass meine Worte trocken sind. Sie rieseln auf den Boden des Gesprächs wie Nadeln von einem ausgetrockneten Tan-‐ nenzweig. So fühle ich mich auch. Ausgetrocknet und ohne Saft. Noch einmal schenkt die Yogini Tee nach, dann ist die Kanne leer. "Morgen werden wir uns das intuitive Denken vornehmen", sagt Marpa unvermittelt, wünscht mir eine gute Nacht und geht hinauf in ihre Kammer. … Der nächste Tag ist strahlend klar und es gibt viel zu tun. Vor allem der Vorrat an Brennholz muss ergänzt werden. Mit dem neuen Sägeblatt, das ich mitgebracht habe, geht die Holzarbeit schnell voran. Die Säge beißt angenehm scharf in das Holz. Nach fünf Stunden habe ich ein ansehnliche Menge gesägt und gehackt. Danach hilft mir die Yogini beim Schichten der Scheite. Ein scharfer Wind ist aufgekommen. Er fegt über die Wiesen und drückt die Blumen ins Gras. Die hohen Tannen gegenüber biegen sich bald bis an die Grenze ihrer Geschmei-‐ digkeit. Wolkenfetzen in allen Schattierungen von düsterem Grau jagen über den Him-‐ mel. Zwischendrin blitzen Stellen von wunderbar transparentem Kobaltblau auf, werden jedoch schnell überlagert von nachdrängenden dunklen Massen. Die Luft ist kühl ge-‐ worden und angenehm scharf. Schon regnet es. Der Sturm verursacht seltsame Geräu-‐ sche. Durch den Kamin dringt der Wind in die Hütte ein. Rauschschwaden puffen aus den Ritzen des Herdes. "Verdammter Wind", sage ich ärgerlich, wohl wissend, dass meine Ablehnung nicht das Geringste ändern wird. "Scheißwind", sage ich noch einmal und reibe meine vom Rauch tränenden Augen. Durch den bewegten Schleier hindurch schaut die Yogini mit aus-‐ druckslosen Augen aus dem Fenster. Beobachtet sie die im Wind tanzenden Tannen? Wieder hat eine Windbö Rauch aus dem Ofen gedrückt. Jetzt ärgere ich mich nicht, son-‐ dern fühle mich angenehm gleichgültig. "Wie können wir weitergehen?", frage ich, nach-‐ dem wir uns trotz Sturm und Rauch etwas zu essen hergerichtet haben. "Manchmal", sagt sie bedächtig "gehst du einen Weg, von dem du nicht weißt, wo er an-‐ fängt und wo er dich hinführt. Du gehst und gehst, und spürst die Beschaffenheit des Weges unter deinen Füßen, und du bestimmst, wie schnell oder wie langsam du gehst, ganz wie es dir in der Situation geeignet erscheint. Vielleicht ist es ein Weg, den du schon kennst, weil du ihn schon einmal gegangen bist. Vielleicht ist es ein Weg, der neu für dich ist, weil du ihn das erste Mal gehst. Und während du gehst, wirst du das unbe-‐ wusste Gefühl haben, dass es nach vorne geht. Niemals hast du den Eindruck, dass du zurückgehst, wenn du dich den Weg entlang bewegst. Du hast das unbestimmte Empfin-‐ den, vorwärts zu gehen, und fragst dich nicht, was vorne und was hinten ist. Diese Frage kommt dir gar nicht in den Sinn, während du gehst. Das ist das Entscheidende: Du be-‐ wegst dich einfach weiter. Vielleicht schaust du dich um und siehst, was um dich herum 224 ist. Du kannst allem Möglichen deine Aufmerksamkeit zuwenden oder auch nicht. Und wenn du kein bestimmtes Ziel vor Augen hast, wie weißt du, dass du weit genug gegan-‐ gen bist? Eventuell erkennst du es daran, dass du müde geworden bist oder hungrig. Aber vielleicht spürst du auch so etwas wie Gewissheit darüber, dass du schon weit ge-‐ nug gelaufen bist und es an der Zeit ist, stehen zu bleiben oder umzukehren. Vielleicht möchtest du bloß rasten, bevor du dich wieder in Bewegung setzt. So ist es auch mit un-‐ seren Dialogen. Auch sie sind ein Weg, den du gehst. Irgendwann spürst du die Gewiss-‐ heit in dir, dass es genug ist, dass du erreicht hast, was du erreichen wolltest, ohne es vorher gewusst zu haben." Als sie zu sprechen aufhört, ist es sehr still. Es ist eine besondere Stille, die nicht auf der Abwesenheit von Geräuschen beruht, sondern von einem inneren Schweigen herrührt, das ich nicht zu beschreiben vermag: Das Anwesendsein von etwas, das sich durch ein Abwesendsein meinem Erkennen entzieht. Niemand sagt etwas, während wir weiteressen. Hin und wieder ist das Plätschern beim Einschenken von Tee zu hören. Beide kauen wir leise vor uns hin und hängen eigenen Gedanken nach. Als die Yogini fertig gegessen hat, durchbreche ich das Schweigen. "Ich möchte sehr gerne darauf zu sprechen kommen, was du beim letzten Mal das imaginati-‐ ve Denken genannt hast. Ich habe in der Zwischenzeit darüber nachgedacht und vermu-‐ te, dass du damit ein Denken in Bildern meinst." Abwartend sehe ich sie an. "Ja, Imagination hat mit Bildern zu tun. Sie beruht auf Einbildung." Sie spricht dieses Wort langsam aus, als wollte sie mich auf eine verborgene Bedeutung hinweisen. "Das ist ein zweideutiges Wort", erwidere ich. "Es könnte dazu verleiten anzunehmen, wir hätten es dabei mit etwas Unwirklichem, etwas Zweifelhaftem zu tun." "Nichts davon trifft zu", widerspricht Marpa energisch. "Einbildung ist eine mentale Ak-‐ tivität, die dazu führt, etwas zu sehen. Du siehst es aber nicht mit deinen Augen, sondern imaginativ." "Ich würde anstelle von Einbildung Vorstellung sagen, das ist weniger verwirrend. Ima-‐ gination wäre demnach das Sehen von Bildern, die durch Vorstellung entstehen." "Das ist es, was ich meine. Du musst dabei zwei Möglichkeiten unterscheiden. Entweder hast du es mit dem Sehen von Bildern zu tun, die ohne deine bewusste Absicht entste-‐ hen, oder du erschaffst diese Bilder mental, gestaltest und beeinflusst sie." "Bilder, die von selbst entstehen, sehe ich im Traum. Sie sind aber keine Vorstellung, keine Imagination. Trifft das zu?" "Ja. Damit sind wir auch an einem wichtigen Punkt angelangt. Eine Imagination erfordert deine Absicht, ein solches Bild zu schaffen und zu sehen. Bilder, wie sie dir im Traum er-‐ scheinen, sind demnach keine Imaginationen. Jedenfalls so lange nicht, bis du sie auch im Traum gestaltend beeinflussen kannst. So etwas ist nämlich möglich. In Tibet kennen 225 wir eine spezielle Praxis des Traumyoga, in dem wir die Imagination in die Traumebene verlagern." "Davon habe ich auch schon gehört. Aber was hat das imaginative Sehen von Bildern mit Denken zu tun?" "Denken ist nur ein Wort, mit dem ich die mentale Aktivität bezeichne. Wenn du dir die-‐ se Aktivität näher anschaust, wirst du die sieben Formen des Denkens finden. Erinnerst du dich?" "Du meinst das logische, rationale, pragmatische, logistische, emotive, imaginative und psychotische Denken." "Ja". "Dann ist das imaginative Denken also eine bestimmte Form mentaler Aktivität, wie die anderen Erscheinungsformen des Denkens auch. Von den anderen Formen unterschei-‐ det es sich deshalb, weil es auf Bildern beruht. Da verstehe ich aber etwas nicht", wende ich ein. "Wenn ich nämlich pragmatisch denke, zum Beispiel als ich mir überlegt habe, wie ich es anstellen soll aus Ästen einen Zaun zu bauen, dann geschieht das auch in Form von Bildern. Ich habe mir vorgestellt, wie ich die Äste zusammenfüge, und habe mir ein Bild davon gemacht, wie der Zaun aussehen soll." "Das ist richtig. Die unterste Stufe des imaginativen Denkens wird immer pragmatisch sein, weil sich die Bilder auf die Außenwelt beziehen, in der du etwas bewirken willst. Zum eigentlich imaginativen Denken kommst du, wenn du die Zweckorientiertheit ver-‐ lässt, die sich auf die Realität bezieht. Dann betrittst du über die Imagination die imagi-‐ näre Wirklichkeit, in der sich die höheren Formen des imaginativen Denkens entfalten." "Ist diese imaginäre Welt eine andere als die uns bekannte Realwelt?" "Es ist eine gänzlich andere Welt, weil sie nicht den Gesetzen unterliegt, die für die Ob-‐ jektrealität gelten." "Dann ist die imaginäre Welt also nicht real?" "Nein, sie ist nicht real. Sie ist wirklich. Oder sagen wir so: Die Erscheinungsformen der Imagination sind wirklich, weil es sie gibt." "Das ist etwas verwirrend, aber ich versuche es zu verstehen. Die Realwelt können wir über die Sinne beobachten. Die imaginäre Welt der Imagination lässt sich nicht beobach-‐ ten, weil sie nicht über die Sinne zugänglich ist." "Jetzt hast du das Wesentliche erfasst", ruft Göden Marpa erfreut aus. "Genau darum geht es, das ist der Unterschied. Du kannst die Imaginationswelt wahrnehmen, aber du kannst sie nicht beobachten. Imaginative Phänomene sind nur über das Wahrnehmen 226 zugänglich. Deshalb sind sie außer demjenigen der imaginiert, jedem anderen verbor-‐ gen." "Man kann sie nicht beweisen." "Richtig. Es ist völlig unmöglich, Erscheinungsformen des imaginativen Denkens zu be-‐ weisen." "Wenn sie sich nicht beweisen lassen, welchen Wert haben sie dann?" "Wie willst du den Wert oder Unwert einer Sache bemessen? Was für einen Wert hat es, wenn du ein Bild malst, ein Gedicht schreibst oder die Harmonie eines Sonnenunter-‐ gangs betrachtest? Von welchem Wert redest du? Die Menschen haben ein Glaubenssys-‐ tem entwickelt, das sie allgemein anerkannte Realität nennen. Es ist vorrangig durch ra-‐ tionales Denken erzeugt, beruht auf Übereinkunft und Konditionierung, wird tradiert, überwacht und reglementiert. Aufgrund kollektiver Übereinkunft werden Erfahrungen so strukturiert, interpretiert und normiert, dass sie eine allgemein anerkannte Realität ergeben und belegen. Abweichungen von dieser Norm können dadurch als Krankheit de-‐ finiert werden, die es zu vermeiden und behandeln gilt. Stellen wir uns vor dem Hinter-‐ grund dieser sozialen Tatsache noch einmal die Frage nach dem Wert nicht beweisbarer imaginärer Erscheinungsformen: Die Antwort wäre, sie haben keinerlei Wert. Für mich liegt der höchste Wert einer Sache darin, dass sie keinen sozial anerkannten Wert hat." "Wie ein Traum. Ein Traum hat auch keinen Wert." "Etwas hat für dich dann Wert, wenn es dir etwas gibt, sei es materiell oder geistig." "Das ist wahr. Man kann also nicht allgemein vom Wert des imaginativen Denkens spre-‐ chen, weil er sich nur individuell erkennen und erfahren lässt ..." "... was nicht ausschließt, dass es sich auch um einen Wert für die Allgemeinheit handeln kann", führt die Yogini meinen Satz zu Ende. Es ist still. Eine schwebende Stille. Alles kommt mir unwirklich vor. Entrückt. Nach die-‐ sem Gespräch befinde ich mich in einem seltsam abgehobenen Zustand. Mein Geist ist irgendwo dort draußen, während ich auf die schweren Körper gesunder Kühe schaue, die neben der Hütte stehen und grasen. Realwelt, denke ich mir und fühle mich zu dieser selbstverständlichen Einfachheit hingezogen. "Wird die imaginäre Wirklichkeit durch imaginatives Denken erzeugt? Oder gibt es sie unabhängig davon?", wende ich mich fragend der Yogini zu. Sie verzieht ihr Gesicht zu einem Ausdruck des Unbehagens. Ihre Augen sind halb geschlossen. "Ebenso wie die materielle Realwelt unabhängig vom logischen oder pragmatischen Denken existiert, so existiert auch die imaginäre Welt unabhängig vom imaginativen Denken." 227 "Haben wir es dann mit zweierlei Formen von Realität zu tun?" "Nein. Wie kommst du darauf?" "Ich meine, die äußere Realität, die wir beobachten können, und die imaginäre Welt, die nicht beobachtet werden kann." "Da gibt es offenbar ein Missverständnis. Realität ist verfestigte Wirklichkeit. Was sich aus der Imagination heraus verfestigt und konkretisiert, demzufolge also sensorisch be-‐ obachtbar und messbar wird, nenne ich Realwelt. Die Realität ist eine verfestigte Imagi-‐ nation. "Wie ist diese Verfestigung oder Konkretisierung zu verstehen?" "Etwas ist dann verfestigt, wenn es unumkehrbar geworden ist. In der imaginären Welt ist alles möglich und deshalb auch umkehrbar, weil nichts verfestigt ist. In der Realwelt ist nicht mehr alles möglich, weil die Konkretisierung die Umkehrbarkeit verhindert." "Dann besteht die imaginäre Welt aus allen möglichen nicht verfestigten Mustern imagi-‐ nativen Denkens, die sich verfestigen können. Ich kann nicht verstehen, wie diese so ge-‐ nannte Verfestigung zustande kommt, kann mir nicht vorstellen, wie sich eine Imagina-‐ tion konkretisieren und Teil der Realwelt werden kann. Je mehr ich darüber nachdenke, desto skeptischer werde ich. Wie entsteht diese Verfestigung?", frage ich nach. "Das ist doch wirklich sehr einfach", antwortet Göden Marpa. "Erinnere dich an den Zaun. Du hast vorgehabt, einen Zaun zu bauen. Bevor du damit angefangen hast, wirst du dir ein Bild gemacht haben, wie er aussehen soll. Du wirst dir vermutlich überlegt haben, wie du vorgehst, wirst dir vorstellt haben, was du zu tun hast. Das alles war imaginatives Denken. Was du dir vorstellt hast, war austauschbar, umkehrbar und beliebig modifi-‐ zierbar. Das ist deshalb so, weil nichts davon konkretisiert gewesen ist. Sobald du jedoch damit angefangen hast, dem inneren Bild entsprechend die Äste zusammenzufügen, hast du dieses Bild mehr und mehr verfestigst. "Wenn Verfestigung so gemeint ist, ist sie leicht zu verstehen. Jedes Bild, das ich male, ist das Ergebnis einer solchen Prozedur. Man kann also sagen, dass die imaginäre Welt des imaginativen Denkens etwas Geistiges ist. Das Geistige verfestigt sich in der Realwelt, indem es auf sie einwirkt." "Etwas Geistiges, ja. Erinnerst du dich noch daran, wie wir das Geistige definiert haben?" "Du hast die nicht sensorische Wirklichkeit, die nicht beobachtet werden kann, als geis-‐ tig bezeichnet." "Richtig. Die Realwelt ist verfestigter Geist. Sie, die imaginative Wirklichkeit, das Geistige ist die einzige Wirklichkeit, von der alles ausgeht." 228 "Damit sagst du, das Imaginative ist das Anfängliche und die Realität etwas davon Abge-‐ leitetes. Das ist ein interessanter Gedanke. Dann wäre ein Gewehr auch etwas Geistiges, das sich verfestigt hat." "Anders kann es wohl nicht sein. Du solltest das verinnerlichen. Jede Patrone, die er-‐ zeugt wird, jede Mine, jedes auch nur denkbare Geschoss existiert zunächst in der ima-‐ ginären Welt des imaginativen Denkens und ist somit etwas Geistiges." "Ist die Materie selbst auch eine verfestigte Imagination?" "Diese Schlussfolgerung lässt sich nicht umgehen." "Aber dann stehen wir vor der Frage: Wer oder was imaginiert?" "Diese Frage habe ich schon früher erwartet. Was meinst du, wie die Antwort aussieht?" "Wenn ich mich auf dein Beispiel mit dem Zaun beziehe, ist die Antwort natürlich ein-‐ fach. Ich habe imaginiert, ich habe mir ein Bild gemacht, bevor ich tätig geworden bin." "Und was meinst du mit Ich?" "Damit meine ich mich als Subjekt, das sich von den Ästen unterscheidet." "Und weiter ...?" "... also, das Geistige, das ich als wahrnehmendes Subjekt bin, imaginiert ein Bild vom Zaun. Aufgrund dieses Bildes beginne ich zu handeln, und dieses Handeln bewirkt schließlich eine Konkretisierung des Bildes." Plötzlich sehe ich zwei Aspekte, die mir vorher noch nicht bewusst waren: das Bild vom Zaun als geistige Form und das verfes-‐ tigte Bild als formierte Substanz. Zugleich erkenne ich, dass der Zaun in der imaginären Welt ohne Masse ist und lediglich als Imagination existiert. Sobald sich diese Imaginati-‐ on jedoch verfestigt, erscheint sie als unumkehrbare materielle Realität. … Es klingelt, blinkt und rattert in meinem Kopf. Als hätte ich an einem Spielautomaten die richtige Ziffernkombination getroffen, fallen mir die Gedankenmünzen entgegen. For-‐ men der Substanz sind beobachtbar und messbar. Deshalb sind sie allen Menschen zu-‐ gänglich. Die ihnen zugrunde liegenden nicht materiellen imaginären Erscheinungsfor-‐ men können nur vom individuellen Subjekt wahrgenommen werden und entziehen sich der Allgemeinheit. Das Wahrnehmen ist ein mentales Phänomen und unterscheidet sich vom Beobachten, das ein sensorischer Vorgang ist. Stimmt das auch alles, was mir so unerwartet entgegenfällt?, frage ich mich. Es kann nicht anders sein, sage ich mir. Nie-‐ mand kann meinen imaginierten Zaun beobachten. Für die Sinne existiert er nicht. So-‐ lange er nicht verfestigt und existent geworden ist, kann er von niemandem beobachtet werden. Nur ich als individuelles wahrnehmendes Subjekt kann das imaginierte Konzept 229 sehen. Sobald ich aber in der Realität beginne, diesem Bild entsprechend auf die Materie einzuwirken, beginnt ein Prozess, dessen Resultate sensorisch beobachtbar sind. Was also ist die imaginäre Welt der Imagination? Die Wirklichkeit der Vorstellungen und der Konzepte. Oder umfassender: die Wirklichkeit des noch nicht Konkretisierten. Aber sogleich frage ich mich: Kann sich die Objektrealität etwas vorstellen? Offenbar nicht. Es ist die wahrnehmende Subjektwirklichkeit, die sich etwas vorstellen kann; das Subjekt, das ich bin, und darüber hinaus die Subjektwirklichkeit, die das Universum ist. Dass ich mir als Mensch etwas vorzustellen vermag, ist zweifelsfrei eine Tatsache. Dass aber das Universum als Subjektwirklichkeit ebenso vorstellend ist wie ein Mensch, er-‐ scheint mir sehr weit hergeholt. Und doch – ich kann mich dieser Einsicht nicht entzie-‐ hen und sage zu Marpa: "Kann sich die universale Subjektwirklichkeit ebenso etwas imaginieren wie der Mensch?" "Deine Frage zeigt mir, dass ich es versäumt habe, die Begriffe imaginäre Wirklichkeit und Imagination zu klären. Das hole ich jetzt nach. Imaginatives Denken ist diejenige Funktion, die dir einen Zugang zur imaginären Wirklichkeit ermöglicht. Nun sieht es so aus, als ob hier ein imaginatives Denken wäre und irgendwo dort so etwas wie eine ima-‐ ginäre Wirklichkeit. So ist es natürlich nicht. Du kannst das imaginative Denken nicht von der imaginären Wirklichkeit trennen. Sobald du imaginativ denkst, bist du bereits in der imaginären Dimension." "Das verstehe ich. Meine Frage ist – gibt es die imaginäre Wirklichkeit ohne mein imagi-‐ natives Denken?" "Es gibt diese Wirklichkeit ohne dein Denken, aber nicht ohne dieses Denken." "Dann stelle ich meine Frage anders. Wenn niemand auf der Welt imaginativ denkt, weil es keine Menschen gibt – gibt es dann trotzdem die imaginäre Wirklichkeit?" "Aber sicher. Es gibt sie deshalb, weil es das Universum gibt. Die imaginäre Wirklichkeit ist ein Aspekt des Universums." "Kann denn das Universum imaginativ denken?" "Selbstverständlich kann es das. Wenn es nicht imaginativ denken könnte, wo sollte es dann herkommen?" "Damit sagst du, der Mensch kann imaginativ denken, weil das Universum imaginativ denkt." "Ja. Die Subjektwirklichkeit des Universums denkt imaginativ." "Dann kann man auch sagen, es denkt logisch." "Aber sicher. Das universale Subjekt denkt logischer als alle Menschen zusammen." 230 Seit ein paar Minuten sitzen wir still beisammen. Unsere kleine Insel der Stille wird vom beharrlichen Summen einer Stubenfliege unterbrochen. Sie fliegt auf, setzt sich wieder auf den Tisch, tänzelt, putzt sich die Fühler und fliegt wieder hoch. Dann dreht sie in paar Runden und setzt sich wieder auf den Tisch. Schon eine ganze Weile geht das so. Die Atmosphäre hat etwas Einschläferndes. Liegt es an dieser Fliege, die immer wieder sirrend in die dunklen Schatten der Balken fliegt und wieder auftaucht? Jetzt sitzt sie auf der Fensterscheibe, krabbelt nach links und rechts, nach oben und unten, fliegt wieder auf und lässt sich abermals nieder. Manchmal macht mich das nervös. Ich schüttle den tranceartigen Zustand ab und sage zu Marpa: "Wenn ich alles zusam-‐ menfasse, bekomme ich folgendes Bild: Die universale Subjektwirklichkeit ist wahrneh-‐ mend, konzeptbildend und hat eine imaginäre Dimension." "Ja. Wenn wir von der Annahme eines subjektiven Universums ausgehen – vieles spricht dafür – dann muss es wahrnehmend und imaginierend sein. Seine imaginäre Dimension ist die Gesamtheit aller nicht verfestigten Möglichkeiten. Das schließt auch diejenigen mit ein, die aufgrund der Naturgesetze nicht verfestigt werden können." "Demnach wäre in der imaginären Wirklichkeit ein schwebender Stein möglich, in der Objektrealität aber nicht, weil er sich wegen der Gravitationsgesetze nicht auf diese Weise verfestigen könnte." "So ist es. Das ist nicht anders als in dem Beispiel mit dem Zaun, den du gebaut hast. Du kannst dir zwar vorstellen, dass er von selbst im Raum schwebt, aber diese Vorstellung könnte nicht verfestigt werden. Trotzdem wäre sie imaginativ wirklich und in der ima-‐ ginären Welt vorhanden." "Aber doch nur so lange, wie ich mir das vorstelle. Ohne mein imaginatives Denken exis-‐ tiert der schwebende Zaun nicht." "Das ist wahr. Der schwebende Zaun existiert nicht als Substanz." "Wo war der Zaun, bevor ich ihn imaginativ gedacht habe?" "Was stellt du nur für Fragen", sagt Marpa staunend und schüttelt den Kopf. "Er war in den Wechselwirkungsmöglichkeiten des subjektiven und objektiven Univer-‐ sums. Im nicht imaginativ gedachten Zustand war der Zaun eine Möglichkeit des Univer-‐ sums." "Demnach erzeugt das imaginative Denken imaginäre Wirklichkeiten, die du auch Ima-‐ ginationswelt genannt hast." "Ich nehme nicht an, dass du wirklich meinst, was du eben gesagt hast. Es kann nicht mehrere, sondern nur eine Wirklichkeit geben." 231 "Richtig. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass durch imaginatives Denken Erschei-‐ nungsformen entstehen, die wirklich sind. Wirklich, aber nicht real. Real sind sie erst, wenn sie sich verfestigt haben." "Ja, das haben wir erkannt. Was sagt dir nun diese Verbindung zwischen der Imaginati-‐ onswelt und der imaginären Dimension? Das dürfte interessant sein." "Über sein imaginatives Denken ist der Mensch mit der imaginären Dimension des sub-‐ jektiven Universums verbunden. Dadurch ist ein Austausch möglich." "Wie wirkt sich das aus?", fragt die Yogini sofort. "Es zeigt mir, dass es im imaginativen Denken keine Trennung zwischen dem individuel-‐ len und dem universalen Subjektsein gibt." "Das habe ich schon verstanden. Aber wie wirkt sich das aus?", fragt Marpa etwas unge-‐ duldig." "Was genau meinst du?" "Ich kann auch fragen: Wie zeigt sich das in der Realität des Lebens?" "Am deutlichsten zeigt es sich im so genannten Grenzbereich. In Erfahrungen, die über den Alltagszustand hinausgehen." "Meinst du Erfahrungen, die nicht beobachtbar sind?" "Nein, ich meine durchaus solche Erfahrungen, die man auch beobachten kann, weil sie sich in der Realwelt zeigen." Göden Marpa wendet den Blick von mir ab und schaut aus dem Fenster. Sie scheint auf-‐ merksam eine bauschige weiße Wolke zu betrachten, die unendlich langsam von Osten nach Westen zieht, ohne ihre Gestalt wesentlich zu verändern. "Hast du dafür ein Bei-‐ spiel?", fragt sie dann. "Ich wundere mich, dass du nach einem Beispiel fragst. Den Berichten nach hat es in Ti-‐ bet unzählige Phänomene gegeben, die diesen Zusammenhang belegen könnten." Als sie nichts sagt, rede ich weiter: "Mir fällt das so genannte Ölwunder in Syrien ein. In Soufanieh, einem am Fluss Barada gelegenen Stadtteil in Damaskus gibt es ein Haus, in dem sich eine kleine Marien-‐Ikone befindet. Von 1982 bis ca. 1990 sickerte aus diesem Bild chemisch reines Olivenöl. Von diesem Phänomen gibt es Hunderte gut dokumen-‐ tierter Berichte und Videoaufzeichnungen. Auch der syrische Geheimdienst, der als einer der strengsten der Welt gilt, konnte keinen Betrug feststellen. Das Öl ist in verschiede-‐ nen Labors in Damaskus, Deutschland, Rom und Paris analysiert worden. Alle Ergebnis-‐ se weisen darauf hin, dass es sich um hundert Prozent reines Olivenöl handelt, das in diesem Reinheitsgrad in der Natur nicht vorkommt. Ich denke, das wäre ein Beispiel da-‐ 232 für, wie sich eine Erscheinungsform aus der imaginären Welt in der Realwelt verfestigt. Sie kann beobachtet und analysiert werden. Andererseits kann sie kein Produkt dieser Realwelt sein. Im Rahmen unserer Analysen würde ich deshalb folgern, dass es sich um eine Erscheinungsform der Imaginationswelt handelt." Abwartend schaue ich die Yogini an. "Dieses Beispiel ist sehr interessant", sagt sie nach einer Weile. "Aber es vermittelt nicht den Zusammenhang zwischen dem imaginativen Denken des Menschen und der imagi-‐ nären Wirklichkeit. Wir brauchen ein Beispiel, das uns die Verbindung zwischen der in-‐ dividuellen und der universalen Imagination veranschaulichen kann. Das so genannte Ölwunder, von dem du berichtet hast, ist ein Beispiel dafür, wie sich die Imagination des universalen Subjekts in unsere Realwelt hinein manifestiert. Es zeigt uns jedoch keine Beziehung oder Verbindung zum imaginativen Denken des Menschen." "Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, was du sagst", erwidere ich. "Die Menschen in Soufanieh sind offenbar sehr gläubig und es wird viel gebetet. Deshalb wäre es denkbar, dass die vielen subjektiven Gebete, die sicherlich auch ein Ausdruck unbewusster Ima-‐ ginationen sind, zu einer transpersonalen Erscheinung führen. Außerdem ist die Ver-‐ bindung zwischen der universalen und der menschlichen Imagination dadurch gegeben, dass diese eine Manifestation jener ist." "Gut, dem kann ich zustimmen", antwortet sie. "Ich frage mich jetzt, weshalb es in Tibet, wo sicherlich ebenso viel und intensiv gebetet wurde und wird, keine vergleichbaren Erscheinungen gibt." "Wie kannst du so etwas sagen?", fragt die Yogini überrascht. "Es gab zum Beispiel die Tranceläufer, die Lung-‐gom-‐pa, die in scheinbar schwerelosen, extrem weiten Lauf-‐ schritten große Distanzen überwinden konnten. Sie sind eine von vielen Erscheinungen im Grenzbereich, die man über das imaginative Denken erklären kann." "Und wie erklärst du sie?" "Der Tranceläufer stellt über seine Imagination einen Kontakt zur imaginären Dimensi-‐ on des Universums her. Die eine ist ja von der anderen nicht zu trennen, wenn wir un-‐ terstellen, dass die subjektive Imagination des Menschen zugleich eine Äußerung der Imagination des universalen Subjekts ist. Ich kann mir vorstellen, dass es über diese Verbindung möglich ist, auf die Gravitation der Realwelt einzuwirken, die wir als Verfes-‐ tigung verstanden haben und eine ..." "Einen Augenblick bitte", unterbreche ich. "Wir haben doch gesagt, dass die Realwelt als verfestigte Imagination unumkehrbar geworden ist. Wie sollte es dann möglich sein, dass sie über die Imagination beeinflusst werden kann?" 233 "Genau das habe ich mich auch gefragt und lange keine Antwort gefunden. Dann habe ich eines Tages während einer Meditation gesehen, dass diese Verfestigung geschieht. Sie ist ein permanentes Sichereignen außerhalb unserer Vorstellung von Zeit." "Bis hierher kann ich deine Gedanken nachvollziehen. Aber wie erklärst du dir die steti-‐ ge Stabilität der Gravitationsrealität, wenn du andererseits annimmst, dass man über die Imagination darauf Einfluss nehmen kann?" "Das erkläre ich mir so, dass diese Realität nicht feststehend und starr ist. Ich nehme ein Beispiel zu Hilfe. Einen Felsen kann man für ein unveränderbares Gebilde halten, für ei-‐ ne feststehende Größe. Trotzdem wissen wir, dass er sich permanent ereignet. Dieses sein Sichereignen können wir heute verstehen, wenn wir die Quantenfluktuationen und die damit verbundenen Wechselwirkungen betrachten." "Wenn wir diesem Gedanken weiter folgen, kann der Lung-‐gom-‐pa deshalb levitierend laufen, weil er auf das Wechselwirkungsgeschehen auf Quantenebene Einfluss zu neh-‐ men vermag." "So stelle ich mir das vor." "Dann musst du radikal weiter gehen und sagen, dass die Quantenebene selbst ein ima-‐ ginatives Geschehen ist." "Ich verstehe das auch so. Jedes Elementarteilchen ist eine sich verfestigende Imaginati-‐ on, die sich immerzu ereignet." "Meinst du, dass das irgendjemand versteht?" "Eine ähnliche Frage hast du schon einmal gestellt. Weshalb ist es für dich so wichtig, dass jemand versteht, was du erkannt hast?" "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Dieses Bedürfnis ist einfach da. Das war schon immer so. Was will ich, wenn ich verstanden werden will? Ich weiß es nicht. Was ist überhaupt Verstehen? Kannst du mir das sagen? Was ist Verstehen für dich?" Man versteht nicht, indem man etwas weiß "Verstehen ist etwas ziemlich Relatives. Jeder versteht auf seine Weise, und diese Form des Verstehens sagt uns vermutlich nicht viel." "Gibt es ein Verstehen, das über diese subjektive Bedingtheit hinausreicht?" "Das gibt es. Es gibt ein Verstehen aufgrund von Einsicht. Das hat mit einer Sicht des Ge-‐ samten zu tun, in das du eingebunden bist." "Was ist die Sicht des Gesamten?" 234 "Nun, wie soll ich es sagen – sie ist etwas anderes als das, was als Wissen bezeichnet wird." "Demnach gibt es einen Unterschied zwischen Wissen und Verstehen?" "Ja. Wissen erinnert mich an Schachteln, auf denen Zettel kleben, auf denen draufsteht, was drin ist. Wissen besteht aus unzähligen solcher Schachteln, die nebeneinander, übereinander und untereinander gestapelt sind. Es werden immer mehr. Was ich damit illustrieren möchte ist, dass die Inhalte in diesen Schachteln nicht miteinander verbun-‐ den sind, dass sie keine Beziehung zueinander und auch nicht zu dir selbst haben, dass sie nichts Ganzes bilden. Wissen ist tot, Verstehen lebendig." "Dann hätte Verstehen mit Beziehung zu tun?" "Unbedingt. Ohne Beziehung gibt es kein Verständnis." "Warum ist das so?" "Weil dem Wissen das Wahrnehmen fehlt." "Was muss wahrgenommen werden, damit aus Wissen Verstehen wird?" "Wissen ist lediglich gespeicherte Information. Wenn sie nicht wahrgenommen wird, ist sie tot. Das, was wahrnimmt, die Subjektwirklichkeit, unterscheidet sich von der Infor-‐ mation. Erst aufgrund dieses Unterschieds ist deren Wahrnehmung möglich. Die Infor-‐ mation selbst kann keine Information wahrnehmen." "Aber wodurch entsteht aus dem Wahrnehmen des Wissens Verstehen?" "Das kommt dann zustande, wenn du beim Wahrnehmen darauf achtest, nicht mit dei-‐ nen persönlichen Zu-‐ oder Abneigungen zu reagieren." "Wie kann man das erreichen?" "Verständnis ist eine Verbindung von Wissen und Sein." "Das hört sich tiefgründig an. Ich kann aber nicht nachvollziehen, was du damit meinst." "Was könnte ich denn mit Sein meinen?" "Das ist es ja – ich weiß es nicht." "Nun, dein Sein ist die Art und Weise, wie du bist." "Dann hat die Art und Weise, wie ich bin, Einfluss auf mein Verstehen?" "Unbedingt. Ist das nicht nahe liegend?" 235 Ich muss mir eingestehen, dass es tatsächlich nahe liegend ist. Trotzdem habe ich dazu noch eine Frage. "Muss ich mein Denken ändern, wenn ich mein Sein ändern will?" "Nicht nur das Denken. Das betrifft auch deine Gefühle, dein Handeln, deine Einstellun-‐ gen und Gewohnheiten." "Dann beeinflussen zum Beispiel meine Gewohnheiten mein Verstehen?" "Was denkst du?", gibt Marpa Frage an mich zurück. "Das ist eigentlich anzunehmen", antworte ich. "Verstehen, wie ich es erfahre, vermittelt sich in Form von Harmonie. Es gibt eine Ver-‐ bindung zwischen Wissen und dem Wahrnehmen von Harmonie – von Einklang. Dabei geht es nicht um schöne Gefühle, sondern um eine mentale Einstellung." "Gut. Und wie kommst diese Verbindung zwischen Wissen und Harmonie zustande?" "Dadurch, dass du eine Erscheinungsform, die du erfährst, mit einer Reihe anderer Er-‐ scheinungsformen, die du bereits erfahren hast, in Übereinstimmung bringst." "Erfahre ich diese Übereinstimmung dann in Form von Harmonie?" "Ja, so ist es. Wenn du keine Harmonie erfährst, besteht auch keine Übereinstimmung." "Das leuchtet mir ein. Ich verstehe aber noch nicht, wie ich zu dieser Übereinstimmung komme." Nachdenklich schaut die Yogini auf den Berg gegenüber. "Das Verstehenkönnen wird von deiner Einstellung beeinflusst. Es gibt einen Teil in dir, der Ja sagt, und einen ande-‐ ren, der Nein sagt. Jeder von uns kennt diese Reaktionen von Zustimmung oder Ableh-‐ nung. Es ist wichtig, das zu erkennen. Wenn du einer Erscheinungsform gegenüber ab-‐ lehnend eingestellt bist, wirst du sie nicht in der eben angedeuteten Weise verstehen können. Du wirst etwas so lange nicht verstehen, bis du zu einer zustimmenden Einstel-‐ lung gefunden hast." "Brauche ich zum Verstehen eine positive Einstellung?", frage ich skeptisch nach. "Nein, wenn du meinst, du müsstest dich grundsätzlich um eine positive Einstellung be-‐ mühen, so ist das falsch. Du benötigst eine zustimmende Einstellung. Das ist etwas ande-‐ res." "Aber ein Gefühl der Zustimmung hilft mir doch nicht, etwas zu verstehen", entgegne ich skeptisch. "Missverstehe mich nicht. Ich rede nicht von Gefühlen, sondern von einer mentalen Ein-‐ stellung." 236 "Was ist der Unterschied?" "Bei einer emotiven Einstellung reagierst du auf ein Phänomen, indem du es als ange-‐ nehm oder unangenehm empfindest. Deine Zu-‐ oder Abwendung erfolgt auf der Basis einer spontanen und meistens völlig unbewussten Gefühlsreaktion. Eine mentale Ein-‐ stellung dagegen beruht auf einer gedanklichen Zustimmung oder Ablehnung." "Wie kann man seine mentale Einstellung ändern?" "Indem du andere Formen des Denkens zulässt." "Meinst du damit, dass ich mich auf andere Formen des Wissens einlassen muss?" "Das meine ich damit überhaupt nicht. Damit hat es nichts zu tun. Es geht nicht um ein anderes Wissen, es geht um eine Änderung in der Einstellung anderen Formen des Den-‐ kens und Wissens gegenüber." Nachdenklich schaue ich die Yogini an. "Verstehen", sagt sie, "beschränkt sich nicht auf Wissen und Denken. Es bezieht deine Skandhas mit ein. Ohne das Wahrnehmen der beteiligten Skandhas gibt es kein tiefer gehendes Verstehen." "Warum kommen beim Verstehen die Skandhas ins Spiel?" "Weil du nur über das Wahrnehmen deines Empfindens, der Gefühle, der Emotionen und der diversen Formen des Denkens zu einem Verstehen kommst – wenn du davon ausgehst, dass ein Verstehen dich als Mensch, der du bist, weil du so bist, wie du bist, und nicht anders sein kannst, als du augenblicklich bist, einbezieht." Ich starre ins Leere und verspüre eine bleierne Müdigkeit, verbunden mit einem mir fremden Desinteresse gegenüber logischen Argumenten und Formulierungen, die letzt-‐ lich so wenig Bedeutung haben und sich gegebenenfalls ebenso schnell und leicht auflö-‐ sen wie Nebel. Es folgt ein Augenblick des Schweigens und ich sehe, wie sie Yogini ihre Hand nach mir ausstreckt, als wollte sie meine Schulter berühren – aber im letzten Moment hält sie in der Bewegung inne. Dann sagt sie: "Nur dadurch, dass du die Skandhas in dein Verste-‐ henkönnen einbeziehst, hast du die Möglichkeit, Verstehen in Form von Harmonie zu er-‐ fahren. Sie vermitteln dir den Zugang zum Ganzen, ohne das ein Verstehen nicht möglich wäre. Worum geht es dabei? Um Einsicht in einen übergeordneten Zusammenhang. Und wodurch wird er dir vermittelt? Nicht über die eine oder die andere Denkform allein, sondern über die Ganzheit, die du selbst bist und die sich in der Realwelt in den Funkti-‐ onen der Skandhas entfaltet." "Jetzt verstehe ich, dass es keine Wahrnehmung einer Ganzheit und kein Erfahren von Harmonie ohne Skandhas geben kann." 237 "Das meine ich." "Aber in jedem Mensch entfalten sich die Skandhas. Warum sind aber dann die Men-‐ schen so weit von Einsicht entfernt? Warum ist Verstehen so selten?" "Je mehr man imstande ist zu unterscheiden, umso differenzierter kann man verglei-‐ chen; und je feinsinniger man vergleichen kann, desto nuancierter und komplexer wird das, was man wahrnimmt." Nachdenklich hebe ich meine Teetasse auf und drehe und wende sie hin und her, als würde ich an ihr etwas Bestimmtes suchen und nicht finden. "Dann frage ich mich", be-‐ ginne ich und stelle die Tasse wieder auf den Tisch, "wie bei dieser zunehmenden Fülle von Unterscheidungen und dem Vergleichen die Erfahrung von Harmonie möglich ist. Wäre Verwirrung nicht nahe liegender?" "Aber nein – Harmonie entsteht, wenn Erscheinungsformen zusammenpassen, wenn sie konsonant und nicht dissonant sind. Sie fügen sich zusammen, sind in Beziehung und er-‐ geben eine Gestalt, die nicht auseinander fällt. Du kannst sehen, ob sich die Dinge fügen oder nicht. Das ist wie bei der Komposition eines Bildes, und auch in der Mathematik ist das bekannt. Es scheint, als ob durch die Differenzierung des Unterscheidens ein ästheti-‐ scher Sinn entsteht, der sich dann in allen Bereichen des Lebens zeigt." "Willst du damit sagen, dass man über das Differenzieren seiner Skandhas Konsonanzen von Dissonanzen unterscheiden kann?" "Wenn nicht so, wie dann?" Göden Marpa steht auf und geht zum Fenster. Mit dem Rücken zu mir spricht sie weiter. Ich habe den Eindruck, dass sie zu den Tannen draußen spricht und ich dabei ein indi-‐ rekter Zuhörer bin. Nach einer Weile scheint sie sich satt gesehen zu haben. Sie dreht sich um, bleibt aber mit dem Rücken ans Fenster gelehnt stehen. Ernst fragt sie: "Wodurch entsteht aus einem Haufen von Steinen eine Stupa? Das beruht auf einem Wahrnehmen von Wechselwirkungen, einem Erkennen-‐Können, wie sich etwas zusam-‐ menfügt und auf dich wirkt." "Willst du damit sagen, ich kann eine Stupa nur dann verstehen, wenn ich die vielfältigen Wechselwirkungen ihrer Elemente wahrnehme und auch zu mir in Beziehung setze?" "Ja. Dieses Beispiel soll dir zeigen, dass du eine Stupa nicht durch Wissen allein verste-‐ hen kannst, wenn wir Verstehen so verstehen, wie ich es dir erklärt habe." "Was mich daran besonders beeindruckt, ist die Erkenntnis, dass am Verstehen alles be-‐ teiligt ist, was ich bin." "Ja. Darin zeigt sich der Sinn deines Menschseins, und diese Erkenntnis kannst du natür-‐ lich verallgemeinern." 238 Tibet -‐ eine Kultur des psychotischen Denkens? "Ist dir aufgefallen, dass eine Kuh fehlt?", fragt Göden Marpa. Wir stehen am Zaun und betrachten das friedliche Bild grasender Kühe. Neugierig schauen sie zu uns her. Eine hebt den Schwanz, streckt ihn horizontal aus und scheißt. Ich kann es platschen hören. "Ja, jetzt wo du es sagst", antworte ich. "Vielleicht solltest du nachsehen", sagt sie fragend und auffordernd zugleich. Obwohl ich keine Lust habe, den steilen Hang hinunter zur tiefer gelegenen Weide abzu-‐ steigen, um nach der fehlenden Kuh zu sehen, hole ich meinen Stecken und gehe. Nach einer Stunde habe ich sie gefunden. Allein und abgemagert steht sie am Waldrand. Sie wirkt apathisch und vermittelt ein Bild des Elends. Als ich mich langsam auf sie zu be-‐ wege, sehe ich, dass ihr rechtes Vorderbein gebrochen ist. Ich kann nichts für sie tun. Bevor ich zur Hütte zurückkehre gehe ich zum Gasthof am Ende der Forststraße, um den Bauern anzurufen. 239 Ich gehe nicht gerne dorthin, weil mir die Leute nicht sympathisch sind. Ich bin für sie ein Außenseiter, mit dem sie nichts anzufangen wissen. Mir geht es umgekehrt genauso. Wir spüren gegenseitig, dass wir uns nichts zu sagen haben. Das Telefon steht in der Kü-‐ che. Aus großen Töpfen dampft es und riecht nach gekochtem Selchfleisch. Der Wirt sitzt am Küchentisch und schaut mich abweisend an. Nachdem ich ihm erklärt habe, dass die Kuh Hilfe benötigt, erlaubt er mir, sein Telefon zu benutzen. Zum Glück bekomme ich gleich eine Verbindung zum Bauern. Er will in den nächsten Tagen kommen und die Kuh abtransportieren. Ich ahne, dass es wenig sinnvoll ist, ihm zu sagen, dass die Kuh Schmerzen hat. Später habe ich erfahren, dass er sie trotz gebrochenem Bein über den Bach, danach querfeldein zur Straße getrieben und in seinen Transporter verladen hat. Was hätte er anderes machen können? Nachdem wir uns das Nötige gesagt haben, be-‐ danke ich mich höflich und lege auf. Ich bin froh, es hinter mich gebracht zu haben, und wandere zurück zur Hütte. … Nach dieser Episode verlangt es mich danach, endlich zu erfahren, was die Yogini unter psychotischem Denken versteht. Für mich ist dieser Begriff mit der Aura psychischer Störung behaftet. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Marpa in mei-‐ nem Berberitzen-‐Gefühl etwas wahrhaft Pathologisches gesehen haben sollte. "Wie geht es deinem Kopf?", fragt sie und deutet mit ihrem Zeigefinger auf jene Stelle ih-‐ res Schädels, an der ich mich vor einigen Tagen verletzt habe. Ich antworte, dass ich au-‐ ßer Berührungsempfindlichkeit keine Schmerzen habe. "Das ist gut", meint sie, "dann können wir uns jetzt mit der letzten Form des Denkens befassen, ohne dass Kopf-‐ schmerzen zu befürchten sind. Ich weiß, dass psychotisches Denken ein irreführender Begriff ist, weil er zu der Annahme verleitet, dass wir es mit einem gestörten oder sogar kranken Denken zu tun hätten. So ist es aber nicht, und ich habe natürlich auch nach ei-‐ ner unverfänglicheren Bezeichnung gesucht, aber keine passendere gefunden. Wenn wir die Erscheinungsformen betrachten, die diesem Denken zugrunde liegen, könnte man es auch sympathetisches oder magisches Denken nennen. Aber das ist auch nicht viel bes-‐ ser. Die Vorurteile werden lediglich in eine andere Richtung gelenkt. "Also benutzt du diesen Begriff und definierst ihn so, dass er die Erscheinungsformen bezeichnet, um die es dir geht." "So machen wir das. Das Denken, habe ich gesagt, beruht auf Folgerungen durch Unter-‐ scheidungen. Dieses Unterscheiden und Folgern geht beim psychotischen Denken natür-‐ lich völlig anders vor sich als bei der logischen, pragmatischen, logistischen, intuitiven oder emotiven Variante. Es ist arational. Es ist anders – gänzlich anders." "Was meinst du mit arational? Sollte es nicht irrational heißen?" "Ich sage mit Absicht arational und nicht irrational, weil ich damit eine Form des Den-‐ kens benennen will, die sich dem vertrauten rationalen Verstehen entzieht, ohne deswe-‐ 240 gen irre zu sein. Im psychotischen Denken findet sich nämlich auch eine Ordnung, die al-‐ lerdings von der gewohnten rationalen Ordnung vollkommen abweicht." "Meinst du, jemand, der psychotisch denkt, kann von einem anderen, der nicht so den-‐ ken kann, nicht verstanden werden?" "Ja, und umgekehrt. Das ergibt sich aus dem, was ich gesagt habe." "Wenn du von psychotischem Denken sprichst: unterstellst du damit nicht eine Unter-‐ scheidungsfähigkeit und Folgerichtigkeit, wie bei den anderen Denkformen? Ist das Psy-‐ chotische aber nicht deshalb gänzlich anders, weil es verworren, abnormal und nicht nachvollziehbar ist?" "Nochmals: Ich spreche nicht von psychiatrischer Diagnostik, sondern von psychoti-‐ schem Denken. Ich gehe davon aus, dass auch dieses Denken seine Folgerichtigkeit hat; allerdings von einer Art, die von den anderen Formen des Denkens nicht oder nur selten nach-‐gedacht werden kann." "Ist das so zu verstehen, dass jemand, der psychotisch denkt, von jemand anderem, der auch so denkt, verstanden werden könnte?" "Das möchte ich annehmen." "Damit sind wir bei der Frage, wie dieses Denkmuster aussieht und wodurch es sich von den anderen unterscheidet." "Darum geht es. Untersuchen wir das Muster des psychotischen Denkens, indem wir es mit dem logischen vergleichen. Anhand dieses größtmöglichen Gegensatzes lassen sich die Unterschiede vermutlich am besten verstehen." "Bevor du damit beginnst, interessiert mich etwas anderes", unterbreche ich. "Wie bist du mit dem psychotischen Denken in Kontakt gekommen? Du musst es erfahren haben, sonst würdest du vermutlich nichts dazu sagen. Ich erlebe dich gedanklich aber sehr ge-‐ ordnet, sodass ich mir bei dir ein psychotisches Denken nicht vorstellen kann." "Das kommt daher, weil du mit dem, was ich psychotisches Denken nenne, eine Krank-‐ heit des Geistes verbindest. Wie ich zu solchen Erfahrungen gekommen bin, willst du wissen? In Tibet haben wir in den so genannten Schwarzhut-‐Ritualen, die auf den Bön-‐ Schamanismus zurückgehen, ein auf psychotischem Denken beruhendes Handeln. Du kannst diese Handlungen nur dann verstehen, wenn du das psychotische Denken ver-‐ stehst. Meine Voraussetzungen des Verstehens liegen also in der Kenntnis und Praxis gewisser Rituale. Reicht dir das als Erklärung?", fragte sie sarkastisch und spricht, ohne meine Antwort abzuwarten, weiter. "Was ist das Wesentliche beim psychotischen Den-‐ ken? Erscheinungsformen werden aufgrund von Bedeutungen, die ihnen gegeben wer-‐ den, miteinander verbunden. Dadurch kommt es zu Verschränkungen von Inhalten der 241 Subjektwelt, die in der Realwelt nichts miteinander zu tun haben. Was dabei entsteht, existiert als subjektive Wirklichkeit, aber nicht real." "Hast du dafür ein Beispiel?", frage ich. "Ja", sagt sie und schaut mich herausfordernd an. "Du hackst eine Berberitze aus der Er-‐ de. Hinterher rennst du mit deinem Schädel gegen einen Balken. Dann verknüpfst du beide Phänomene, die weder logisch, emotiv oder pragmatisch etwas miteinander zu tun haben, indem du zwischen beiden Inhalten eine Beziehung herstellst und sagst, die Berberitze hätte dich bestraft, sie hätte sich an dir gerächt. Du hast also eine Beziehung geschaffen, und weil du sie geschaffen hast, hast du sie auch erlebt und darauf mit Ge-‐ fühlen und Emotionen reagiert." "Aber bin ich deshalb psychotisch?" "Schon wieder fragst du diesen Unsinn. Selbstverständlich bist du deshalb nicht psycho-‐ tisch. Aber du hast psychotisch gedacht. Andere können das nicht." "Das hört sich jetzt so an, als ob es ein Vorteil wäre." "Es ist von Vorteil, wenn du alle Formen des Denkens verfügbar hast. Von Nachteil wäre es, wenn du dich mit einer Form identifizierst und deren Folgerungen für die alleinige Wahrheit halten würdest." "Das verstehe ich. Aber worin besteht der Vorteil, wenn ich psychotisch denken kann?" "In der damit verbundenen Kreativität", ist Göden Marpas kurze Antwort. "Darüber muss ich nachdenken", erwidere ich. Nach kurzem Überlegen komme ich zu dem Resultat, dass der gemeinsame Nenner zwi-‐ schen psychotischem Denken und Kreativität das Verbinden von Erscheinungsformen von Realwelt und imaginärer Welt ist. So gesehen wäre psychotisches Denken äußerst kreativ, und die Essenz von Kreativität ließe sich als psychotisches Denken bezeichnen. Die Bedeutung hat sich überraschend gewandelt. Kann ich sie nachvollziehen? Ich den-‐ ke, also bin ich fällt mir ein. Das scheint zweifelsfrei ein Ausdruck logischen Denkens zu sein. Dann kommt mir etwas Eigenartiges in den Sinn und ich sage: "Ich denke, also bin ich all." "Ist das psychotisch gedacht?", frage ich die Yogini. "Ich weiß es nicht. Man muss sich vor allzu einfachen Verallgemeinerungen hüten", meint sie. "Ich verstehe in diesem Zusammenhang noch immer nicht, was der Unterschied zwi-‐ schen dem normalen und einem psychotischen Denken ist." 242 "Was ist normal? Alles kann als normal gelten, wenn es dich nicht daran hindert, am Le-‐ ben zu bleiben. Wenn du denkst, du hast Flügel, mit denen du fliegen kannst, und du bleibst trotz dieser Vorstellung am Leben, würde ich dich als normal bezeichnen. Wenn du aber meinst, du kannst dich vom Gipfel stürzen, weil die Flügel dich tragen, dann wä-‐ re das nicht normal, weil es dein Leben beenden würde. Die Menschen haben in den viel-‐ fältigen unterschiedlichen kulturellen Ausformungen ihrer Existenz immer psychotisch gedacht, damit gelebt und überlebt. Das psychotische Denken ist die älteste Form des Denkens der Menschheit. Erst seit sehr kurzer Zeit denkt sie – und auch das nur ansatz-‐ weise – logisch und rational. Was die Voraussetzungen für das Überleben des Menschli-‐ chen im Menschen betrifft, so haben sie sich durch das logisch rationale und pragmati-‐ sche Denken eher verschlechtert als verbessert." "Würdest du so weit gehen und sagen, dass Tibet eine Kultur des psychotischen Denkens war oder ist?" "Auf jeden Fall, aber nicht nur. Du findest bei uns neben dem psychotischen auch ein dif-‐ ferenziertes und hoch entwickeltes logisch-‐analytisches Denken." "Kannst du mir einige Beispiele für diese psychotische Denkkultur in Tibet nennen?" "Ja, nehmen wir zum Beispiel die Gebetsmühle. Das ist eine Dose, auf der die Worte ste-‐ hen: Om mani padme hum. Im Inneren befindet sich ein aufgerollter Papierstreifen, der mit Gebeten bedruckt ist. Die Tibeter denken, wenn sie die Gebetsmühle im Uhrzeiger-‐ sinn drehen, würden sie damit die Gebete freisetzen. Die Anhänger der Bön-‐Religion drehen sie entgegen dem Uhrzeigersinn und meinen, dass dies einen Unterschied aus-‐ machen würde. Ich sage dir: Das eine wie das andere ist weder dumm noch krank, we-‐ der normal noch nicht normal; es ist lediglich psychotisch gedacht. Zwischen einer Dose, einem bedruckten Papierstreifen und dem Drehen dieser Dose wird ein Wirkungszu-‐ sammenhang hergestellt, der lediglich in der imaginären Welt existiert. Ähnlich verhält es sich mit Gebetsfahnen. Durch Wind und Wetter verblassen deren Farben mehr und mehr, und man denkt, dabei würden die Gebete in die Welt hineingetragen. Das ist eine sehr schöne, aus psychotischem Denken geborene Idee, die jedoch, das betone ich noch einmal, nicht in der Objektwelt, sondern in der Subjektwelt wirkt." "Demzufolge liegt der entscheidende Unterschied zwischen logischem und psychoti-‐ schem Denken darin, dass es sich auf die imaginäre Welt bezieht, und nicht auf die Reali-‐ tät." "So ist es. Es führt zu nachhaltigen Problemen, wenn man glaubt, nur die vom logischen Denken erfasste Realität wäre wirklich, die imaginäre Welt dagegen unwirklich, weil sie sich dieser Denkform entzieht. Betrachten wir ein anderes Beispiel, ein altes Bön-‐Ritual, das heute nicht mehr praktiziert wird. Es illustriert das psychotische Denken sehr an-‐ schaulich. Die tibetischen Bezeichnungen erspare ich dir, weil sie dir ohnehin nichts sa-‐ gen. In einer geheimen und stets verschlossenen Kammer eines Klosters wohnen weibli-‐ 243 che Dämonen. In diesem Raum steht ein Hackstock. Daneben liegt ein scharfes Messer mit gebogener Klinge. Du hast ein solches Messer vielleicht schon einmal in einem Mu-‐ seum oder bei einem Antiquitätenhändler gesehen. Man stellte sich vor, dass der Le-‐ bensodem eines Verstorbenen in diese Kammer gelangt und dann von den Dämonen in Stücke zerhackt wird. Einmal im Jahr wurde diese Kammer von einem Lama geöffnet. Man sagt, das Messer wäre jedes Mal schartig und stumpf vom häufigen Gebrauch vorge-‐ funden worden, woraus zu schließen sei, dass die Dämonen reichlich Lebensfluidum zerhackt hätten. Selbstverständlich macht das logisch gedacht keinen Sinn. Hier handelt es sich um die Beschreibung einer Wirklichkeit der imaginären Welt, die ganz anders ist als jene, die vom logischen Denken erfasst wird." "Aber wenn jemand so etwas für wirklich hält, wäre doch anzunehmen, dass er nicht normal ist?", wage ich zu sagen. "Das sehe ich anders", kontert die Yogini sofort mit schärferer Stimme als sonst. "Wer so etwas für wahr hält und zugleich nach den Normen seiner Gesellschaft angepasst lebt, ist genauso normal wie alle anderen. Schließlich wird heute in der so genannten normalen Welt auch niemand als abnormal bezeichnet, wenn er daran glaubt, dass er mit einem Stück ungesalzener Oblate göttliches Fleisch essen würde." … In meinem Kopf scheint es zu vibrieren. Wellen des Verstehens breiten sich aus. Ich er-‐ kenne den Unterschied zwischen psychotischem Denken und der Psychose als einer Krankheit. Nicht diese Erscheinungsform des Denkens ist krank, sondern der Mensch, der in seinem Leben mit diesem Denken nicht zurechtkommt und darunter leidet. Ob-‐ wohl diese Überlegung für mich noch neu ist, fühle ich, dass ich sie problemlos anneh-‐ men und auf meine Erfahrungen übertragen kann. Jetzt verstehe ich auch den Grund da-‐ für, warum Göden Marpa meine Berberitzen-‐Gefühle als Resultat psychotischen Den-‐ kens bezeichnet hat. Mir wird bewusst, dass ich nicht nur logisch, rational, imaginativ und emotiv, sondern auch psychotisch denken kann, und ich erkenne, dass die Wurzeln meiner Kreativität daraus ihre Nahrung beziehen. Endlich verstehe ich auch, weshalb ich einen intuitiven Zugang zu magischen Weltbil-‐ dern und deren Ritualen gehabt habe. Magisches Denken ist psychotisches Denken. Es ist eine interkulturelle Erscheinungsform, die sich nicht durch logische Argumente um ihre Existenz bringen lässt. "Ob du die Welt wissenschaftlich oder magisch erklärst, ist völlig gleichgültig", höre ich die Yogini sagen. "Das eine funktioniert genauso gut wie das andere, bloß anders. Selbstverständlich kannst du mit einem magischen Denken nicht dasselbe erreichen wie mit logischem Denken. Andererseits kannst du aber mit wissenschaftlichem Denken auch nicht das erreichen, was du mit psychotischem Denken erreichen kannst." 244 "Ganz so einfach, wie du es darstellst, scheint es mir aber doch nicht zu sein", gebe ich zu bedenken. "Es muss einen bedeutsamen Unterschied geben." "Selbstverständlich gibt es ihn. Du findest ihn bei dem, was du erreichen willst." "Was kann ich erreichen wollen?" "Ja, was wohl?", gibt Marpa die Frage an mich zurück. "Ich vermute, dass es zwei grundlegende Motive geben könnte: die Kontrolle über die Objektwelt und die Kontrolle über die imaginäre Welt." "Treffer!" Sie klatscht in die Hände. "Was folgt daraus?" "Nun", beginne ich vorsichtig, "es wäre nahe liegend anzunehmen, dass man mit dem lo-‐ gischen, rationalen, logistischen oder pragmatischen Denken die imaginäre Wirklichkeit nicht kontrollieren kann. Andererseits lässt sich mit psychotischem Denken die Objekt-‐ welt nicht kontrollieren. Ein gestaltender Einfluss auf die Objektwelt ist nur über die an-‐ deren Denkformen möglich und effizient. Andererseits lässt sich die imaginäre Subjekt-‐ welt nur über das imaginative und psychotische Denken bewirken." "Jetzt hast du etwas Wesentliches gesagt. Alle Denkformen sind als Instrumente zu ver-‐ stehen, die erst im Kontext ihre sinnvolle Wirkung entfalten. Außerdem zeigt sich in der Praxis, dass sich nicht jede Denkform mit einer anderen verträgt. Manche schließen sich gegenseitig aus, andere ergänzen sich. Du kannst zum Beispiel nicht logisch und zugleich emotiv denken. Andererseits kannst du sehr wohl logisch und zugleich pragmatisch denken. Vereinbar ist auch das logische und emotive mit dem imaginativen Denken, das auf Vorstellungen beruht. Wir haben es also mit unterschiedlichen Möglichkeiten der In-‐ teraktion zwischen den Formen des Denkens zu tun." Ich empfinde ein leichtes Schwindelgefühl. Meine Gedanken beginnen ihre festen Kontu-‐ ren zu verlieren, so wie eine Landschaft, wenn die Luft in der Hitze flirrt. Während ich dieses verwirrende Flirren auszuhalten versuche, bemühe ich mich zugleich, die Infor-‐ mationen in mich aufzunehmen, zu sortieren, um deren Zusammenhänge als mir ver-‐ ständliche Botschaft verfügbar zu machen. "Welcher Denktyp bin ich deinen Beobachtungen nach?", frage ich Göden Marpa. "Wie würdest du diese Frage beantworten?", fragt sie zurück. "Ich glaube, dass ich logisch, rational, imaginativ, emotiv und psychotisch denke. Das lo-‐ gistische und pragmatische Denken ist mir eher fremd." "Und welche dieser verfügbaren Denkformen hast du besonders kultiviert?" Nach einigem Zögern antworte ich: "Das analytisch-‐logische und emotive Denken ver-‐ mutlich." 245 "Ja, so sehe ich das auch." "Aber warum hast du dann gesagt, dass ich psychotisch denken würde?" "Weil deine Reaktion vor ein paar Tagen Ausdruck eines psychotisches Denken war." "Meinst du, dass ich dieses Denken auch verfügbar habe?" "Sicher hast du es verfügbar. Zum Glück kannst du mit deinem analytisch-‐logischen Denken dein psychotisches Denken infrage stellen und relativieren und wirst von ihm nicht dominiert." "Das stimmt vermutlich. Aber ebenso gut kann ich mich auf mein emotives Denken ver-‐ lassen." Plötzlich kommt mir ein Gedanke. "Kann es sein", frage ich weiter, "dass du mir die Arbeit am Stall deshalb aufgetragen hast, damit ich mein schwach entwickeltes pragmatisches und logistisches Denken nutze?" Die Yogini beantwortet meine Frage nicht. Stattdessen fragt sie zurück: "Was glaubst du?" "Ich habe mich niemals zuvor derart intensiv auf dieses Denken eingelassen, weil es kei-‐ nen Grund dafür gegeben hat. Können wir noch einmal über das imaginative Denken re-‐ den?" "Warum nicht, wenn es dir wichtig ist." "Du hast gesagt, es ist ein Denken mit Hilfe der Vorstellung von Bildern." "Ja, imaginatives Denken beruht auf Bildern; es hat mit Einbildung zu tun." Marpa spricht dieses Wort langsam aus, als wollte sie meine Aufmerksamkeit auf eine verbor-‐ gene Bedeutung lenken. "Einbildung ist ein zweideutiges Wort. Es könnte dazu verleiten anzunehmen, es ginge um etwas Unwirkliches oder Zweifelhaftes. Das ist nicht so. Die Einbildung ist eine mentale Aktivität, die es dir ermöglicht, etwas zu sehen, was du sen-‐ sorisch nicht sehen kannst." "Du meinst demnach ein Sehen, das nicht durch die Sinnesaktivität der Augen zustande kommt. Es ist nicht sensorisch und deshalb ausschließlich mental." "Ja, dieser Unterschied ist wichtig." "Ich würde anstelle von Einbildung Vorstellung sagen, das klingt weniger negativ. Ima-‐ gination wäre demnach ein nicht sensorisches Sehen von Bildern, die durch Vorstellung entstehen." "Damit bin ich auch einverstanden. Du musst aber von zwei Möglichkeiten der Vorstel-‐ lung ausgehen. Entweder siehst du Bilder, auf die du keinen Einfluss hast, oder du er-‐ 246 schaffst Bilder, gestaltest und beeinflusst sie. Was ich Imagination nenne, ist eine menta-‐ le Aktivität, in der du Bilder aktiv erschaffst." "Aber was haben diese Bilder mit Denken zu tun?" "Denken ist nur ein Wort, mit dem ich die mentale Aktivität benenne. Wenn du dir diese Aktivität genauer betrachtest, wirst du die Erscheinungsformen des Denken finden, über die wir gesprochen haben." "Imaginatives Denken ist also eine bestimmte Form mentaler Aktivität. Von den anderen Denkformen unterscheidet es sich, weil es auf Bildern beruht. Etwas verstehe ich jetzt nicht", wende ich ein. "Wenn ich pragmatisch denke, indem ich mir zum Beispiel überle-‐ ge, wie ich es am besten anstelle, aus Ästen einen Zaun zu machen, dann geschieht das auch in Form von Bildern. Ich stelle mir nämlich vor, wie ich die Äste zusammenfüge – ich mache mir ein Bild, wie der Zaun aussehen soll." "Das ist richtig. Die unterste Stufe imaginativen Denkens ist pragmatisch, weil sich die Bilder auf die Außenwelt beziehen, in der du etwas bewirken willst. Zum eigentlich ima-‐ ginativen Denken kommst du erst, wenn du die Zweckorientierung in Bezug auf die Rea-‐ lität verlässt. Dann betrittst du die imaginäre Welt, in der sich die höheren Formen des imaginativen Denkens entfalten." "Was unterscheidet diese imaginäre Welt von der Realwelt?" "Sie ist gänzlich anders, weil sie nicht den Gesetzen unterliegt, die für die sensorisch er-‐ fahrbare Welt gelten." "Dann ist das, was man imaginativ denkt, also nicht real?" "Real ist es nicht, wirklich schon. Und insofern es wirklich ist, ist es natürlich auch real. Oder sagen wir so: Die imaginativen Gedanken sind real, weil sie wirklich sind." "Das ist ziemlich verwirrend. Hat es damit zu tun, dass wir die Realwelt sensorisch be-‐ obachten können, die imaginäre Welt aber nicht?" "Jetzt hast du etwas Wesentliches gesagt", ruft die Yogini erfreut aus. "Genau darum geht es, das ist der Unterschied. Du kannst die imaginäre Welt wahrnehmen, aber du kannst sie nicht beobachten. Imaginäre Erscheinungsformen sind nur über das imaginative Denken zugänglich." "Man kann sie nicht beweisen." "Richtig. Man kann imaginäre Erscheinungsformen nicht beweisen." "Wenn sie sich nicht beweisen lassen, welchen Wert haben sie dann?" 247 "Wie willst du den Wert oder Unwert einer Sache bemessen? Welchen Wert hat es, wenn du ein Bild malst, ein Gedicht schreibst oder die Harmonie eines Sonnenuntergangs be-‐ trachtest? Von welchem Wert redest du? Die Menschen haben ein Glaubenssystem ent-‐ wickelt, das sie allgemein anerkannte Realität nennen. Das ist ein vorrangig durch ratio-‐ nales Denken erzeugtes System, das auf Übereinkunft und Konditionierung beruht, das tradiert, überwacht und reglementiert wird. Aufgrund der Denkstrukturen dieses Sys-‐ tems werden die Erfahrungen in dieser Welt so strukturiert, interpretiert und normiert, dass sie diese allgemein anerkannte Realität belegen. Abweichungen von dieser Norm können deshalb als Krankheit definiert werden, die es zu vermeiden und behandeln gilt. Stellen wir uns vor dem Hintergrund dieser sozialen Tatsache noch einmal die Frage nach dem Wert nicht beweisbarer imaginärer Erscheinungsformen, dann müsste die Antwort sein, dass sie keinerlei Wert haben. Für mich liegt der höchste Wert einer Er-‐ scheinungsform aber darin, dass sie keinen benennbaren Wert hat." "Wie ein Traum. Ein Traum hat auch keinen Wert." "Etwas ist für dich dann von Wert, wenn es dir etwas gibt, sei es materiell oder geistig." "Das ist wahr. Man kann also nicht allgemein vom Wert des imaginativen Denkens spre-‐ chen, weil er sich nur individuell erkennen und erfahren lässt ..." "... was nicht ausschließt, dass es sich auch um einen Wert für die Allgemeinheit handeln kann", führt die Yogini meinen begonnenen Satz zu Ende. Das Universum ist objektiv und subjektiv Vom Tal steigen Wolkenfetzen hoch, dann ist die Sicht nach unten zugedeckt. Die Hütte ist eine Insel in einem Ozean grauer Feuchtigkeit. Noch immer drängen Wolken nach. Ein heftiger Windstoß reißt sie vehement nach oben und fetzt sie auseinander, sodass es aussieht als würden Gespenster einen Veitstanz üben. Noch regnet es nicht. Die Yogini hat es sich in der Küche gemütlich gemacht und liest. Nebenan sitze ich in meiner Kammer und schaue aus dem Fenster. Zwischendurch be-‐ schäftige ich mich mit meinen Notizen. Wenn ich die vielen Zettel, auf denen die Gedan-‐ ken Göden Marpas notiert sind, nicht rechtzeitig sortiere, verliere ich bei der Menge des Materials die Übersicht. Manchmal kann ich meine eigene Schrift nicht mehr lesen, wenn ich im Eifer des Gesprächs nicht darauf geachtet habe, leserlich zu schreiben. Manche Worte sehen aus wie sich krümmende Fadenwürmer. Während ich die letzten Gesprä-‐ che durchlese, fällt mir auf, wie oft von Objektrealität und Subjektwirklichkeit die Rede war. Je mehr ich darüber nachdenke und mich um ein Verstehen bemühe, zerfließt der Unterschied und wird zu einem diffusen Wolkenmeer, das sich um meine Gedanken hüllt. 248 Die Landschaft draußen sieht aus wie ein kleines gerahmtes Bild. Die stille Studie eines alten Meisters. Dann verlagert sich mein Sehen und es kommt mir vor, als würden sich die Nebelfetzen draußen über mich lustig machen, indem sie den Nebel in meinem Ge-‐ hirn simulieren. Ich nehme mir vor, Marpa nach dem Mittagessen noch einmal auf das Thema Subjekt-‐Objekt anzusprechen. Wir sitzen vor der Hütte. Hin und wieder kommt die Sonne hinter den Wolken hervor. Ihr Licht zeichnet surreale Muster auf die Balkenwand. Manche Stellen sehen aus, als wären sie mit Blattgold überzogen. Mystisch. Still und in sich gekehrt hat die Yogini am grob gezimmerten Tisch ihren Kopf auf die Hände gestützt. Eine Vase mit Blumen, die sie gepflückt und in der ihr eigenen Weise komponiert hat, steht neben einer Kanne heißen Tee. Die Sonne wärmt angenehm, die Luft ist frisch. Es riecht nach Gras. Bienen summen, Wespen brummen, Zikaden zirpen und zwischendurch ist das Krächzen von Krähen zu hören. Mehrere dieser Vögel flattern um eine Tanne herum. Sie fliegen hoch und stoßen wieder herab. Sie scheinen ihr Flie-‐ gen zu genießen. In der Wiese steht eine Kuh – regungslos. Sie äugt zu uns her. Das nehme ich jedenfalls an. Ich weiß nicht, ob sie uns wahrnimmt. Es ist eine schöne und im Augenblick auch saubere Kuh mit einer weiß-‐braun gefleckten Haut, die aussieht wie eine Landkarte. Ei-‐ ne beinahe edle Wachsamkeit geht von ihr aus. Als ob sie stunden-‐ und sogar tagelang so dastehen könnte. Nur das Maul bewegt sie langsam hin und her, eine gleich bleibende Bewegung ohne Hast, eine Bewegungsmeditation des Kauens. Jetzt bewegt sie den Kopf. 249 Vermutlich verscheucht sie die lästigen Fliegen, die um ihre Augen schwirren. Der Bann des Bildes ist gebrochen. "Ja", sagt Göden Marpa unvermittelt, "ein Wissenschaftler betrachtet die Erscheinungs-‐ formen von außen, als wären sie Objekte, die vom beobachtenden Menschen abgespaltet werden könnten. In der buddhistischen Praxis betrachtet man sie direkt. Man ist und bleibt in Kontakt mit dem, was man beobachtet. Deshalb wird der Wissenschaftler die Interpretationen seiner Beobachtungen auf die Erscheinungsformen projizieren, der Buddhist aber projiziert nichts. Er erfährt die Erscheinungsformen unmittelbar als reine Wahrnehmung." "Was willst du mir damit sagen?", frage ich die Yogini. "Du beobachtest die Kuh", antwortet sie. "Das stimmt. Aber ich verstehe trotzdem nicht, was du meinst." "Was ich meine? Nichts Besonderes." "Warum erwähnst du es dann?" "Für den Wissenschaftler ist diese Kuh dort draußen." Marpa begleitet ihre Aussage mit einer Geste, als würde sie etwas von sich werfen. "Ist sie das?" "Was?" "Ist die Kuh dort draußen?" "Wo sollte sie sonst sein?", frage ich irritiert nach. "Die Kuh in mir", sagt sie ernst. "Sie ist in dir?" Ich lache und sage: "Bist du eine Kuh?" Die Yogini lacht nicht, sie lächelt leicht. "Nein. Aber ich erfahre sie in mir. Wenn sie sich bewegt, bewegt sie sich in mir." Abwartend schaut Marpa mich aufmerksam an. Als würde die Kuh an diesem Dialog teilhaben, streckt sie den Schwanz horizontal von sich und beginnt zu pissen. Ein dichter Strahl Urin ergießt sich in die Wiese, dessen Rau-‐ schen bis zu uns her zu hören ist. "Bitte entschuldige meine trivialen Gedanken", leite ich meine Frage ein. "Aber erfährst du das Urinieren dieser Kuh auch in dir?" "Ob ich es in mir erfahre? Wo sollte ich es sonst erfahren?" "Ich würde sagen, die Kuh uriniert dort draußen auf der Wiese." "Dort draußen, ja. Aber dieses Dort und Draußen existiert lediglich in deinem Denken. Die Erscheinungsform der pissenden Kuh ist eine Wirklichkeit, die dich einbezieht." 250 "Die mich einbezieht?", wiederhole ich. "Wie meinst du das?" In nahezu eleganten leichten Sprüngen läuft die Kuh den Hang hinunter und gesellt sich zu den anderen dort grasenden Tieren. Jetzt wendet sie den Kopf, als ob sie noch einmal zu uns herschauen würde. "Die Wirklichkeit der Erscheinungsformen bezieht dich immer und grundsätzlich ein. Ohne diese dich einbeziehenden Wechselwirkungen gäbe es keine Erscheinungsfor-‐ men." "Ohne mich gibt es keine Erscheinungsformen?" "Nein, für dich nicht." "Aber für andere." "Für andere schon, aber auch nur dann, wenn es diese anderen gibt." "Und wenn es sie nicht gibt, was ist dann?" "Dann gibt es auch keine Erscheinungsformen." "Haben die beobachteten Erscheinungsformen kein eigenes Dasein?" "Kein eigenes Dasein?", wiederholt die Yogini. "Was meinst du damit?" "Existieren die Erscheinungsformen unabhängig vom beobachtenden und die Beobach-‐ tungen interpretierenden Menschen?", frage ich nach. "Hast du mir nicht zugehört?" "Ich möchte sicher sein, dass ich verstanden habe, was du mir sagen willst." "Und? Was will ich dir sagen?", fragt Marpa zurück. "Ich erinnere mich, dass wir über Objektrealität und Subjektwirklichkeit gesprochen ha-‐ ben. Trotzdem ist mir immer noch nicht klar: Gibt es eine Trennung zwischen Objekt und Subjekt? Oder ist sie nur gedacht? Vielleicht es so, dass wir uns diesen Unterschied lediglich einbilden und in Wirklichkeit existiert er gar nicht." "Möchtest du Tee?", fragt die Yogini und schenkt mir, ohne meine Antwort abzuwarten, die Tasse voll. Ich greife danach. Die Tasse ist so heiß, dass ich meine Finger in rascher Folge immer wieder von ihr lösen muss. Aufmerksam schaut Marpa mir dabei zu. Gerne würde ich jetzt wissen wollen, was sie sich denkt. "Du fragst dich immer noch, ob die Trennung zwischen Objekt und Subjekt existiert?" 251 "Ich glaube, das ist ein wichtiges Thema. In vielen buddhistischen Texten wird davon be-‐ richtet, dass die Trennung von Objekt und Subjekt eine Illusion ist, die man auf dem Weg zur Erleuchtung überwinden muss." "Ah, das meinst du. Ich sehe das so: Damit die Wahrnehmung deiner selbst möglich ist, musst du eine Wahrnehmung von Objekten haben können, die außerhalb deiner selbst sind. Die Welt der Dinge erscheint außerhalb von dir und nicht als zu dir selbst gehörig, weil du sie nicht bist." "Ich bin nicht die Dinge, das ist einleuchtend. Trotzdem verwirrst du mich. Vorhin hast du nämlich gesagt, dass du die Kuh als in dir und nicht als außerhalb von dir erfährst." "Ja, das habe ich gesagt." "Damit widersprichst du dir aber." "Keineswegs. Die Wechselwirkung zwischen der Kuh, die ich nicht bin, und mir selbst ermöglicht das Erfahren der Kuh und bezieht mich ein. Jede beobachtbare Erscheinungs-‐ form beruht auf dieser Beziehung." "Und deswegen sagst du, die Kuh ist in dir und nicht außerhalb?" "Achte auf das, was ich dir jetzt sage. Nicht zu mir gehörig ist weder innen, noch ist es außen. Zu mir gehörig ist weder hier noch dort – diese räumlichen Vorstellungen sind ir-‐ reführend. Siehst du das nicht?" "Was soll ich sehen?" "Dass die Erscheinungsform dieser Kuh weder hier noch dort ist." Eine Wolke nachdenklichen Schweigens zieht langsam vorüber, deren Schatten meine erhitzten Gedanken etwas zu kühlen scheint. "Du meinst, Beziehung ist frei von Raum. Hast du deshalb gesagt, du würdest die Kuh nicht außerhalb von dir erfahren?" "Das ist jetzt nicht mehr wichtig." "Was ist wichtig?" "Alles ist Beziehung. Das ist wichtig." "Alles? Auch das Universum?" "Was sonst?" "Aber zur Beziehung gehören Lebewesen. Kann es in einem Universum ohne Lebewesen Beziehung geben?" 252 "Benötigt Beziehung Lebewesen? Nein." "Nein?", wiederhole ich überrascht. "Beziehung beruht auf Subjektwirklichkeit, die ein Aspekt des Universums ist. Das haben wir bereits früher ausführlich besprochen. Deshalb müsstest du eigentlich wissen, dass Subjektwirklichkeit und Objektrealität zusammengehören. Sie existieren entweder zu-‐ gleich oder gar nicht, wie die linke und die rechte Seite eines Dordje." "Ist das Universum subjektiv?" "Es ist alles. Alles – verstehst du? Wenn es aber alles ist – weshalb sollte es dann nicht subjektiv sein? Wenn du aber meinst, im Universum würde es nichts Subjektives geben, weshalb kannst du dich als etwas Subjektives erfahren? Die Annahme, das Universum wäre ausschließlich objektreal, lässt sich in der Folge unserer Analysen nicht aufrecht-‐ erhalten." "Aber", wende ich ein, "wenn es subjektiv ist, unterstellst du damit nicht zugleich, dass es ein Subjekt ist?" Göden Marpa hustet und sagt: "Das Universum ist als Objektrealität messbare Materie. Zugleich ist es auch Subjektwirklichkeit, die keiner Messbarkeit zugeführt werden kann. Diese Betrachtungsweise ist keineswegs neu. Sie wurde früher lediglich anders gesehen und beschrieben." "Und wie ist diese Subjektwirklichkeit früher beschrieben worden?", will ich wissen. "Ich denke, dass man die Gottesahnungen der Menschen in allen Kulturen über diese nicht personifizierte Subjektwirklichkeit erklären kann. Allerdings haben die meisten Religionen diese Ahnung personifiziert. Das musste wohl so sein. Andernfalls hätten die religionsbedürftigen Menschen keinen Zugang zur Religion gefunden." "Die Subjektwirklichkeit wurde personifiziert? Wie meinst du das?" "Wir können den Buddhismus als Beispiel nehmen. Würden die Lehren des Buddha nicht verdinglicht und personifiziert worden sein, wären sie nur von sehr wenigen Men-‐ schen verstanden und gelebt worden." "Kannst du mir dafür ein Beispiel geben?" "Warte einen Moment", sagt Marpa. "Ich hole etwas, das dich sicher interessieren wird." Als sie nach einigen Minuten zurückkommt und sich wieder neben mich setzt, legt sie ein dünnes Buch mit einem abgewetzten dunkelroten Einband auf den Tisch und be-‐ ginnt darin zu blättern. Offenbar sucht sie eine bestimmte Seite. "Höre dir an, wie man das nicht konkrete, das nicht verdinglichte Geistige in Form von personifizierten Gestal-‐ ten verfestigt und dadurch sinnlich begreifbar gemacht hat. Du musst dir vorstellen, dass die Namen, die ich dir gleich vorlesen werde, Figuren sind, Gestalten, die man in 253 Bildern und Skulpturen dargestellt hat: Zum Beispiel Akshobhya, Amitabha, Atschala, Amitayus, Amoghasiddhi, Akaschagarbha, Avalokiteschvara, Bodhisattva, Cacravatin, Dharmapala, Dhritaraschtra, Ektamatri, Ekajata, Ghantapani, Kschitigarbha, Maitreya, Mahakala, Mandschuschri, Ratnapani, Ratnasambhava, Vaischravana, Virudhaka, Vadschrakila, Vajrayogini, Vishvapani, Yamantaka ..., das sind nur einige Wenige." Die Yogini macht eine Pause und schaut mich an. "Gute Voraussetzungen für das Kunst-‐ handwerk, meinst du nicht auch", sagt sie sarkastisch. "Und alle diese Namen bezeichnen Figuren, die eine Verdinglichung von etwas Geistigem sind?", frage ich nach. "Ja – alle diese Namen sind mir Bildern verbunden – sie bezeichnen und zeigen etwas Geistiges, das man nicht sehen kann." "Das kommt mir so vor, als würde man einer mathematischen Formel ein Gesicht geben, damit man etwas zum Anschauen hat." "Das ist ein gutes Beispiel." "Es ist erstaunlich, wie man es geschafft hat, den Buddhismus derart zu verdinglichen. Aber was genau – ich meine, welcher geistige Aspekt ist in diesen Figuren verdinglicht worden?" Lächelnd sagt die Yogini: "Ein wirklich guter Lama könnte dir die Antwort auf deine Fra-‐ ge aus dem Gedächtnis geben. Aber ich bin kein guter traditioneller Lama, deshalb wer-‐ de ich wieder mein kleines Buch zu Hilfe nehmen. Amitayus ist der Buddha des uner-‐ messlichen Lebens, Amoghasiddhi ist der Buddha der nördlichen Himmelsrichtung, Avalokiteshvara ist ein heilstiftendes himmlisches Wesen, ein Bodhisattva ist ein künfti-‐ ger Buddha, der aus Gründen der Barmherzigkeit zu den unerleuchteten Menschen kommt, um ihnen zu helfen, Cacravatin ist der Weltherrscher und Herrscher des Rades der Lehre. Das sollte genügen, um dir zu zeigen, wie man das Geistige der imaginären Welt vergegenständlicht hat, damit die Menschen etwas zum Anschauen, zum Verehren und Begreifen haben. Es ist ein menschliches Bedürfnis, sich das Unbekannte über das Bekannte verfügbar zu machen." "So scheint es. Aber wenn man sich das Unbekannte über das Bekannte verfügbar macht, blockiert man sich die Möglichkeiten, dem Unbekannten zu begegnen." "Die Menschen wollen dem Unbekannten nicht begegnen. Deshalb ziehen sie es auf die Ebene des ihnen Bekannten herunter. Wir müssen diesen Ballast des Bekannten und Vertrauten abwerfen, wenn wir das Universum als Subjekt-‐Objekt-‐Wirklichkeit verste-‐ hen wollen. Vielleicht ist es an der Zeit, in diesem Zusammenhang das Wesen der Mate-‐ rie zu hinterfragen, die für viele als Ursache aller Dinge gilt." 254 "Das wird sicher sehr interessant. Aber vorher würde ich noch gerne wissen, welche Be-‐ deutung die Namen Ektamatri und Ekajata haben." "Hat das einen bestimmten Grund, weshalb du dir gerade diese beiden Namen ausge-‐ sucht hast?", fragt Marpa neugierig. "Nein, ich habe sie intuitiv gewählt und kann dir nicht sagen, warum mich die Bedeutung gerade dieser beiden Namen oder Figuren interessiert." "Ektamatri ist die einzige Mutter, die gute Mutter; sie ist die Herrin und Schützerin von Lhasa. Ekajata dagegen ist die Göttin Schrecken erregender Aspekte. Aber demjenigen, der sie verehrt, verleiht sie Glück." "Das finde ich bemerkenswert. Ich habe nicht gewusst, dass es sich bei den beiden Na-‐ men um den positiven und negativen Aspekt der göttlichen Mutter handelt. Seltsam fin-‐ de ich jetzt Folgendes: Das Wort Mutter leitet sich ab vom Sanskritwort matri, dem die Wurzel ma zugrunde liegt. Man findet sie auch in den Worten matra – Einheit oder Ele-‐ ment, maya – Illusion, mamata – mein. In meiner Sprache fallen mir dazu die Worte ein: Mutter, Mater, Materie, Maß, Masse, messen ..." Plötzlich beginnt Marpa herzhaft zu lachen. "Entschuldige bitte, dass ich dich unterbre-‐ che. Ist es nicht herrlich, wie man sich in der Welt der Worte Bedeutungen schaffen kann? Man kann sich damit etwas zurechtdenken, und im nächsten Moment ist es nur noch Gedankenschrott." "Das finde ich nicht lustig", sage ich enttäuscht, und die Yogini lacht daraufhin noch mehr. "Wenn du genug Distanz zu den Worten hast, wirst du sehen, was für ein prächtiger Spaß das ist. Worte sind nichts. Wirklich." Plötzlich ist sie wieder ernst. "Du willst mich auf die bedeutsamen Verbindungen von Worten hinweisen, die auf der Wurzel ma beru-‐ hen? Marmelade, Masturbation, Mastente, Magie, makaber, Maske ..., willst du noch mehr?", fragt sie amüsiert. "Erinnert dich das an etwas?" Zunächst fühle ich mich sprachlos, dann lache ich auch. "Woran es mich erinnert? An psychotisches Denken – meinst du das?" "Ja. Ich gebe dir eine Aufgabe: Bilde über die Silbe ma einen Bedeutungszusammenhang zwischen Marmelade, Magie und Maschine." Ohne lange nachdenken zu müssen, entsteht vor meinem geistigen Auge die Figur eines Dreiecks, in dessen Zentrum die Silbe ma steht. Das erinnert mich an die tibetische Kos-‐ mologie, die auf dem Modell einer Dreiheit aufgebaut ist: Geist, Bewegung und Stoff. Wie von selbst ergibt sich ein Zusammenhang, in dem ma, Magie, Marmelade und Maschine eine sinnvolle Beziehung ergeben. 255 Ich bin mit diesem Ergebnis sehr zufrieden und dessen gewiss, dass ich die Lektion ver-‐ standen habe, die sich Göden Marpa mit dieser Übung für mich ausgedacht hat. Hüte dich vor den Worten. "Möchtest du wissen, wie ich deine Aufgabe gelöst habe?" "Ja. Welche Bedeutung hast du geschaffen?" "Der mütterliche Aspekt des Kosmos – dargestellt in der Silbe ma – entfaltet sich in Er-‐ scheinungsformen, die sich auf geistige, dynamische und stoffliche Prinzipien zurück-‐ führen lassen. Das geistige Prinzip zeigt sich unter anderem in Form von Magie, die als eine Wirkung auf die materielle Welt außerhalb der Naturgesetze zu verstehen ist. Das Bewegungsprinzip, das jeder Erscheinung in der Realwelt zugrunde liegt, zeigt sich zum Beispiel in Maschinen und allen anderen mechanischen und nicht mechanischen Objek-‐ ten, die sich bewegen. Das Stoffliche ist etwas, worauf wir mit unseren Sinnen reagieren. Marmelade ist zweifelsfrei eine solche Erscheinungsform, weil sie mit sinnlichen Reakti-‐ onen verbunden ist." "Was hast du dabei gelernt?", fragt die Yogini. "Ich kann mein begriffliches Denken dazu benutzen, um beliebige Zusammenhänge her-‐ zustellen, die es nicht gibt." "Wenn du die Zusammenhänge hergestellt hast, gibt es sie doch." "Ja, das schon – aber es gibt sie nicht wirklich." "Im Bereich der Worte ist nichts wirklich." "Diese Aufgab war für mich sehr aufschlussreich. Vermutlich habe ich dabei das psycho-‐ tische Denken erfahren." "Vielleicht. Wie hast du dich dabei gefühlt?" "Ich habe mich sehr kreativ gefühlt. Irgendwie frei und ohne Zwang. Aber ich vermute, dass es bei dieser Form des Denkens graduelle Unterschiede gibt." "Welche Unterschiede?" "Sehr wahrscheinlich kann ein psychotisches Denken so ausarten, dass man von seiner Umgebung nicht mehr verstanden wird." "Da hast du Recht. Deine Lösung der Aufgabe ist durchaus noch verständlich. Man könn-‐ te dafür oder dagegen argumentieren." "Wenn es so ist, warum habe ich dann psychotisch gedacht?" 256 "Weil du dabei nicht logisch, nicht rational, nicht pragmatisch, nicht logistisch, sondern intuitiv und psychotisch gedacht hast." "Dass ich intuitiv gedacht habe, kann ich nachvollziehen; aber warum psychotisch?" "Weil du dich bei deinen gedanklichen Verknüpfungen nicht an der beobachtbaren Rea-‐ lität orientiert hast." "Das ist wahr. Ich habe die Realität nicht beachtet. Jetzt verstehe ich auch, weshalb ich den Eindruck uneingeschränkter Möglichkeiten gehabt habe." … Mein Blick fällt auf einen Blumentopf, in dem die Yogini Thymian gepflanzt hat. Er steht unterhalb des Küchenfensters auf einem Holzstapel. Ein hellgrüner Käfer krabbelt den Rand entlang. Immer wieder. Ein sich bewegender Punkt, der sich vom sienafarbigen Ton des Gefäßes abhebt. Er kann nicht wissen, dass er sich im Kreis bewegt. Emsig. Be-‐ harrlich. Er krabbelt einen glatten und warmen Weg ohne Widerstände entlang. Für ihn ist es vermutlich so, als ob er eine nicht endende Strecke entlangläuft. Ob sich der Käfer daran erinnert, dass er fliegen und damit die Monotonie seines Gefangenseins in der zir-‐ kulären Routine verlassen kann? "Gibt eine Kultur des psychotischen Denkens?", frage ich Göden Marpa. "Psychotisches Denken hat es in jeder Kultur gegeben. Es ist auch keine Krankheit, so-‐ lange es ein Ausdruck des gesellschaftlichen Systems ist. Abnormal wird diese Denkform erst dadurch, dass sie mit den Regeln und Normen des logischen und rationalen Den-‐ kens verglichen wird. Das setzt aber voraus, dass sich diese Formen des Denkens zu ei-‐ ner sozialen Norm entwickelt haben." "Wird es dadurch zu einer Krankheit?" "Zu einer Krankheit? Nicht unbedingt. Aber man wird es sicher für abartig halten." "Und wie wird aus der Abartigkeit eine Krankheit?" "Wenn ein psychotisch denkender Mensch in einer rational normierten Gemeinschaft aufgrund seines Denkens nicht lebensfähig ist, würde man ihn sicherlich für krank hal-‐ ten." "Sagst du damit, dass man mit psychotischem Denken lebensfähig sein kann?" "Aber sicher. Schau dir die tibetische Kultur an." "Wodurch ist man lebensfähig, obwohl man psychotisch denkt?" "Du musst pragmatisch denken können. Erst dann, wenn das pragmatische Denken vom psychotischen überlagert und gestört wird, bist du nicht mehr lebensfähig. Sonst schon." 257 "Es kommt mir vor, als ob das psychotische Denken ein Aspekt der imaginären Wirk-‐ lichkeit wäre." "Aber sicher", bestätigt die Yogini meine Vermutung. "Die imaginäre Dimension ist frei von Regeln, weshalb sie alle möglichen Regeln ist." "Das ist verwirrend." "Mag sein." Der Käfer krabbelt nicht mehr. Er hat von seiner Möglichkeit, das Herumlaufen im Kreis zu beenden, Gebrauch gemacht und ist weggeflogen. Jetzt möchte ich von etwas anderem sprechen", sagt die Yogini und macht eine bedeu-‐ tungsvolle Pause. "Wie du weißt, ist es in meiner Kammer oft ungemütlich kalt, weil ich keinen Ofen habe. Das würde ich gerne ändern. Ich habe mir gedacht, es könnte eine in-‐ teressante Aufgabe für dich sein, einen Ofen zu setzen. Einen primitiven Grundofen aus Steinen, nichts Besonderes", meint sie beschwichtigend. "Du hättest dabei die Möglich-‐ keit, anhand der Praxis die Themen zu studieren, mit denen wir uns in der letzten Zeit befasst haben. Was meinst du dazu?" "Ich – ich weiß nicht so recht", stottere ich überrascht. "So etwas habe ich noch nie ge-‐ macht." "Darauf kommt es nicht an. Du hast auch nie zuvor allein einen alten Stall abgetragen oder aus Ästen einen Zaun gebaut. Was spricht dagegen, dass du jetzt einen Ofen setzt? Bevor du damit anfängst, wirst du dir ein Bild davon machen, wie dieser Ofen aussehen soll. Du wirst dir überlegen, wie er technisch beschaffen sein muss, damit man ihn hei-‐ zen kann. Du wirst auch darüber nachdenken, welches Material du benötigst und wie du vorgehen musst. Dabei kannst du dein logisches, pragmatisches, logistisches und imagi-‐ natives Denken nutzen. Und nicht nur das. Du kannst den Unterschied zwischen Real-‐ welt und imaginärer Welt, zwischen Imagination und Verfestigung studieren. Das ist be-‐ stimmt eine neue Herausforderung für dich." Ich kann Marpas Argumentation nicht widersprechen. Geist, Konzept und Körper Mühsam verbringe ich etliche Tage damit, geeignete Steine zusammenzutragen. Zum Glück liegen um den Stall große Brocken herum, die das Schindeldach beschwert haben. Aber ich brauche auch weniger schwere und kleinere Steine, die ich von unten aus der Schlucht heraufholen muss. Der Weg hinunter verläuft querfeldein durch dicht mit Ge-‐ strüpp bewachsenen Wald. Es ist ein Spießrutenlaufen, bei dem mich manche Äste wie Knochenarme festhalten. Ich breche sie. Auf dem abschüssigen Hang, der mit verdorrten 258 Tannennadeln und faulem Laub bedeckt ist, komme ich oft ins Rutschen. Bergauf geht es sich einfacher, wenn auch beschwerlicher, weil mich die Steine nach unten ziehen. Als genügend Steine beisammen sind, fahre ich zu einer Bauern-‐Genossenschaft, um einhundert Pfund Schamottmörtel zu besorgen, den ich in mehreren Etappen zur Hütte schleppe. Unglaublich, was mein schmaler Rücken aushält. Zwischendurch verwünsche ich mich und die Yogini auch. Trotzdem: Eines Tages habe ich alles Erforderliche bei-‐ sammen und kann mit der Arbeit am Ofen beginnen. Ich habe eine Idee, wie der Ofen aussehen soll. Nicht im Detail, sondern in seiner Ge-‐ samtheit als Gestalt. Etwas wie eine alchemistische Ofenskulptur schwebt mir vor. Das ist es, denke ich in diesem Augenblick – sie schwebt mir vor. Aber, überlege ich weiter, sobald ich den ersten Stein gewählt und an eine bestimmte Stelle gesetzt habe, wird aus diesem Schweben eine Verfestigung? Ich sitze in Göden Marpas Kammer und schaue auf den leeren Platz, wo der Ofen stehen soll. Auf dem Dielenboden liegen Steine. Große und kleine, glatte und schrundige, graue und braune. Ein Eimer mit Mörtel ist angerührt. Die Arbeit ist mühsam und dauert sehr viel länger, als ich angenommen habe. Doch schließlich ist die Basis des Grundofens fertig. Als ich sie müde betrachte, erkenne ich deutlich, dass ein Teil meines imaginären Ofens verfestigt und damit unumkehrbar ge-‐ worden ist. Es sei denn, ich reiße alles auseinander und beginne neu. Um weiterarbeiten zu können, baue ich ein Gerüst, damit die schweren Steine an der Stelle bleiben, an der ich sie haben will. Mehrmals bricht alles, was ich bereits mühsam aufgebaut habe, in sich zusammen. Dann fluche ich und fange wieder von vorne an. Da-‐ bei erfahre ich den Unterschied zwischen der imaginären Welt und jener Realwelt, die mir ihre Bedingungen aufzwingt. Als Imagination sehe ich den Ofen fertig vor mir. In der Realität der Verwirklichung stoße ich von einer Grenze an die nächste. Was bringt mir diese banale Erkenntnis? Dieser Aufgabe, einen Ofen zu setzen, muss wohl ein Ziel zugrunde liegen, das ich noch nicht erkennen kann. An einem regnerischen Nachmittag spreche ich Marpa darauf an. Sie sagt nichts. Nachdenklich spielt sie mit dem dreckigen Topflappen vom Herd. Irgendwie macht sie heute einen abwesenden Ein-‐ druck, den ich mir nicht erklären kann. Endlich hört sie auf mit dem Lappen zu spielen. Sie wirft ihn auf die kalte Herdplatte und wendet sich mir zu. Ihr Blick ist konzentriert. Wenn sie so schaut, wirkt ihre Stirn wie ein polierter Spiegel aus Kupfer. Dann habe ich den Eindruck, als würde sie mir ihre Gedanken nicht durch Sprache, sondern über einen geheimnisvollen Austausch vermitteln, der keiner Worte bedarf. Doch die Yogini redet langsam und suggestiv auf mich ein. Offenbar will sie mir etwas sagen, von dem sie der Meinung ist, dass ich es unbedingt verstehen sollte. "Dein Körper, deine Knochen, dein Fleisch, deine Organe, dieser ganze materielle Kom-‐ plex ist geformte Materie. Das, was die Form bewirkt, was die Form aufrechterhält und 259 beibehält, ist etwas Geistiges – ein Konzept. Dein Körper existiert in seinen Molekülen, Atomen und Quanten als konfigurierte Ganzheit. Zugleich gibt es ein unsichtbares Mus-‐ ter, das diese Konfiguration ermöglicht." "Was ist das?" "Was?" "Eine Konfiguration?" "Das ist eine Anordnung, die eine Gestalt ergibt." "Eine Gestalt?" "Ja. Dieser Ofen hier – er ist zwar noch nicht fertig – ist eine Gestalt. Eine Konfiguration von Steinen." "Eine Blume wäre demnach auch eine Konfiguration." "Oder ein Regenwurm, eine Spinne, Amöbe oder Zelle. Die sichtbare, die beobachtbare Form deiner körperlichen Existenz ist die Verfestigung einer nicht sichtbaren, nicht be-‐ obachtbaren imaginären Gestalt. Warte einen Moment." Die Yogini steht auf und geht hinaus. Nach wenigen Minuten kommt sie zurück und wirft eine Hand voll kleiner Steine auf den Tisch. Sie sind feucht vom Regen und glänzen. "Schau sie dir an", sagt sie und wischt sich ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. Ich sehe Steine verschiedener Größe wahllos verstreut auf dem Tisch liegen. Als ich lan-‐ ge genug geschaut und nichts gesagt habe, fordert sie mich auf: "Konfiguriere nach ei-‐ nem inneren Bild. Mach daraus ein geordnetes Muster." "Was für ein Muster?" "Eines, das dir gefällt." "Das mir gefällt?" "Frage nicht so einfallslos. Stelle dir ein Muster vor und richte die Steine danach aus. Ist das so schwer zu verstehen?" "Nein – jetzt weiß ich, was du möchtest." Ich schiebe die inzwischen trockenen Kiesel hin und her, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden bin. Marpa schaut es sich an und sagt: "Jetzt hast du die Steine formiert. So, wie sie nun vor uns liegen, transportieren sie ein Muster aus der imaginären Welt. Durch das Formieren hat sich ein Muster verfestigt. Es ist dieses Muster und kein anderes. Wäre es ein ande-‐ res, würde es anders aussehen. Würde es anders aussehen, würden die Steine anders vor uns liegen. Würden sie anders vor uns liegen, hättest du sie anders formiert, das heißt: hingelegt. Hättest du sie anders hingelegt, hätten sie eine andere Beziehung zuei-‐ 260 nander – sie hätten eine andere Wechselwirkung. Hätten sie eine andere Wechselwir-‐ kung, würden die Kiesel anders formiert worden sein. Wären sie anders formiert wor-‐ den, hättet du ein anderes Muster verwirklicht." Etwas in Marpas Stimme hat mich gegen meinen Willen schläfrig gemacht. Gleichzeitig fühle ich mich aber auch seltsam wach. "Wenn wir nun dieses Muster zerstören", fährt sie fort und bringt mit einer raschen Bewegung die Steine durcheinander, "hebst du die Verfestigung des imaginären Musters auf und verwirklichst zugleich ein anderes, in die-‐ sem Fall weniger geordnetes. Das Muster selbst zerstörst du aber nicht. Du wechselst le-‐ diglich von einem Muster zu einem anderen. Ich will dir damit sagen: Jeder materielle Zustand ist eine Konfiguration. Jede Konfiguration existiert als Wechselwirkung und Be-‐ ziehung. Jede Beziehungs-‐Wechselwirkung kann auf ein imaginäres Muster zurückge-‐ führt werden. Ebenso wie die Konfiguration der Steine auf dem Tisch sind auch die Ele-‐ mentarteilchen deines Körpers formiert. Sie wechselwirken in Beziehung. Aber dieses Wechselwirken, dieses Aufeinander-‐bezogen-‐Sein, ist keine materielle, sondern eine imaginäre Erscheinungsform. Deshalb ist jede materielle Formierung, die uns als Sub-‐ stanz erscheint, eine Verfestigung der imaginären Wirklichkeit." "Das geht mir viel zu schnell", sage ich. "Als du die Steine auf den Tisch geworfen hast, haben sie doch auch ein Muster gehabt. Die Form, in der sie auf dem Tisch lagen, war zwar nicht beabsichtigt, weil du darauf keinen Einfluss genommen hast, aber ein Muster haben sie auf jeden Fall gehabt – wenn auch ein weniger geordnetes." "Das stimmt." "Demnach liegen die Steine immer in Form eines Muster vor uns, weil jede Lage ein Mus-‐ ter ist. Welchen Sinn hat es dann, von einer Verfestigung der imaginären Wirklichkeit zu sprechen? Ist das Muster der zufällig hingeworfenen Steine etwa eine solche Verfesti-‐ gung?" "Das hängt davon ab, auf welche Erscheinungsformen du das Wort Muster anwenden willst. Schau dir deinen halbfertigen Ofen an und schau dir die Steine an, die daneben liegen. Du kannst sagen, die wahllos daneben liegenden Steine zeigen ein Muster. Du kannst natürlich auch sagen, der Ofen zeigt ein Muster. Was wäre der Unterschied?" "Der Ofen ist ein beabsichtigtes geordnetes Muster, die Steine daneben sind es nicht." "Und was schließt du daraus?" "Dass sich in einem geordneten Muster ein Konzept zeigt, im andern Fall nicht." "Richtig. Was folgerst du daraus?" "Die nahe liegende Folgerung ist, dass das geordnete Muster mit einem Konzept, mit ei-‐ ner Imagination verbunden ist, die ein Subjekt voraussetzt. Beim ungeordneten Muster, das mir kein Konzept vermittelt, fehlt das Subjekt." 261 "Damit sind wir einen Schritt weiter als vorhin. Aber ich kann deiner umwölkten Stirn ansehen, dass du noch nicht zufrieden bist. Was macht dir Probleme?" "Es irritiert mich, dass ich nicht erkenne, wodurch man ein geordnetes Muster von ei-‐ nem ungeordneten unterscheiden kann." "Du kannst keinen Unterschied sehen?", fragt Göden Marpa überrascht nach. "Doch. Das kann ich schon. Aber wie kann ich sicher sein? Woran lässt sich erkennen, dass es tatsächlich so ist?" "Tatsächlich – damit meinst du wohl, dass allen anderen Menschen ein Muster ebenso geordnet oder ungeordnet erscheint wie dir." "Ja – ich glaube, das beschäftigt mich." "Mit anderen Worten: Wenn du in einem Muster Geordnetheit erkennst und deshalb auf ein Konzept schließen kannst, dann möchtest du, dass alle anderen das auch sehen." "Wie du es formulierst, erkenne ich sofort, dass dieser Anspruch unrealistisch ist." "Warum ist er unrealistisch? Warum widerspricht er der Wirklichkeit?" "Warum? Ich muss an den Unterschied zwischen Wissen und Verstehen denken. Wir können wissen, dass jede mögliche Konfiguration ein Muster ist, egal ob sie konsonant oder dissonant, geordnet oder ungeordnet ist. Wenn wir jedoch ein Muster verstehen wollen, müssen wir uns darauf einlassen und auch fühlen, ob und wie die Beziehungen seiner Teile in Bezug zum Ganzen stehen. Das kann man nicht von jedem erwarten." Göden Marpa legt ihre Füße auf die kalte Herdplatte und fragt: "Bist du nun zufrieden?" "Nein", antworte ich. "Ich sehe noch einige nebelige Stellen, die ich gerne geklärt haben möchte." "Welche Stellen?" "Ist es die Beziehung zwischen dem Muster und mir, die mir den Eindruck von Geord-‐ netheit oder Ungeordnetheit vermittelt?" "Wo sollte diese Geordnetheit sonst sein, wer sollte sie erkennen, wenn nicht der wahr-‐ nehmende Mensch?" "Das heißt, dass es ohne mich weder ein geordnetes noch ein ungeordnetes Muster gibt." "So ist es." "Demnach kann jemandem ein und dasselbe Muster geordnet und einem anderen unge-‐ ordnet erscheinen. Das finde ich willkürlich und unbefriedigend." 262 "Das habe ich mir gedacht", meint sie sarkastisch. Hat der kleine grüne Käfer Heimweh nach seiner Routine im Kreis? Plötzlich krabbelt er wieder auf dem Blumentopfrand, als wäre er niemals fort gewesen. Materie erscheint als Verräumlichung Drehen sich meine Gedanken ebenso im Kreis? Zweifellos sind die Steine, aus denen ich den Ofen setze, eine objektive Realität. Sie sind real. Aber auch mein inneres Bild vom Ofen ist wirklich, wenn ich es auch niemandem zeigen kann. Was liegt dazwischen? Wie wird aus dem imaginären ein materieller Ofen? Was ist Materie? "Materie?", wiederholt Marpa das letzte Wort der Frage, die ich ihr gestellt habe. "Versu-‐ chen wir das alte Lied neu zu singen. Aber ich singe es auf meine Weise. Materie hat ei-‐ nen substanziellen und einen essenziellen Aspekt. Der eine ist nicht ohne den anderen. Als Substanz ist die Materie eine Verräumlichung und erscheint als raum-‐zeitliches Aus-‐ gedehntsein." "Materie erscheint in Raum und Zeit", wiederhole ich. "Das ist bekannt." "Nein", kontert die Yogini vehement. "Ich habe gesagt, Materie erscheint als Verräumli-‐ chung. Ich habe nicht gesagt, Materie erscheint im Raum oder in der Zeit." "Ich sehe keinen Unterschied." "Nein? Wenn du sagst, dass Materie im Raum erscheint, so ist das mit einer Vorstellung der Trennung von Raum und Materie verbunden. Andernfalls könnte die Materie nicht im Raum erscheinen." 263 "Jetzt erinnere ich mich an ein Gespräch von früher. Du hattest als Beispiel die Metapher von der Schachtel gebracht, in der etwas enthalten ist." "Genau. Wenn wir also davon ausgehen, dass es diese Trennung und damit das Enthal-‐ tensein im Raum nicht gibt, dann ist die Materie zwar ein verräumlichter Zustand, aber sie ist nicht im Raum." "Und wie kann man die Verräumlichung verstehen? Ich kann auch so fragen: Wenn sich mein Ofen nicht im Raum befindet, wie hat er sich dann verräumlicht?" "Durch Beziehung." "Wie meinst du das – durch Beziehung?" "Ganz einfach. Dieser Ofen hat sich durch Beziehung verräumlicht. Spule deinen Erinne-‐ rungsfilm deiner Erfahrungen vom Setzen des Ofens zurück, bis du bei einem Haufen von Steinen bist. Gelingt dir das?" "Ja. Ich sehe die Kammer ohne den Ofen und die Steine liegen auf dem Boden." "Dann lasse jetzt den Film langsam vorwärts laufen. Was siehst du?" "Ich sehe, wie ich die Steine auswähle und mit dem Schamottmörtel zusammenfüge." "Gut. Und was geschieht dabei?" "Was geschieht? Ich nehme die Steine und lege sie passend neben-‐ und aufeinander." "Das ist klar. Aber was geschieht dabei?", fragt die Yogini eindringlich. "Ach ja – jetzt sehe ich, was du meinst. Ich stelle zwischen den Steinen eine Beziehung her." "Das ist es. Es geht um Beziehung. Der Ofen hat sich durch Beziehung verräumlicht. Je-‐ des Molekül ist eine Verräumlichung durch Beziehung." "So habe ich das bisher nicht gesehen." "Kaum jemand sieht es so." "Aber dann wäre jede materielle Erscheinungsform ein Ausdruck von Beziehung." "Das hört sich so an, als ob es dich stören würde." "Stören? Nein. Es ist nur eine äußerst ungewohnte Betrachtung der Realität der Objek-‐ te." "Ja, das kann ich verstehen. Plötzlich ist die Materie kein blinder Zufall mehr. Irritiert dich das?" 264 "Wenn ich mich irritiert fühle, dann ist es eher ein erfreulicher Zustand." "Du fühlst Freude?" "Aber ja!" "Gut – gehen wir weiter. Im Zustand des Verräumlichtseins zeigt sich Materie als Form, Gestalt, Konfiguration – das ist alles dasselbe – und wechselwirkt dadurch mit anderen Formen, Gestalten, Konfigurationen. Auch der Mensch erscheint im substanziellen As-‐ pekt seines Verräumlichtseins als Form. Hast du dazu eine Frage?" "Nein – oder vielleicht doch. Der substanzielle Aspekt der Materie ist ein Ausdruck von Beziehungen, der sich als Verräumlichung zeigt. Ist es so zu verstehen?" "Ja. Ich habe gesagt: Die substanziellen Erscheinungsformen der Materie zeigen sich als Verräumlichung. Jetzt schauen wir uns den essenziellen Aspekt an." "Essenziell im Gegensatz zu substanziell." "Nein, das ist kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung." "Das ist vermutlich wieder so wie bei den beiden Seiten des Dordje." "An dieser Einheit in der Polarität wird sich auch nichts ändern." "Alle möglichen Formen, Gestalten oder Konfigurationen, in denen die Materie als Ver-‐ räumlichung erscheinen kann, sind ihr essenzieller Aspekt." "Dann besteht der essenzielle Aspekt aus den Möglichkeiten für eine Verräumlichung?" "Richtig." "Das ist alles etwas ungewohnt, aber ich kann es intuitiv erfassen." "Umso besser. Was ich dir jetzt sage, ist etwas schwieriger zu verstehen. Die möglichen verräumlichbaren Formen der Substanz können nicht alle zugleich verräumlicht und damit konkretisiert sein." "Das Mögliche ist noch nicht das Verwirklichte." "Wenn das Mögliche das Verwirklichte wäre, könnte es keine Entfaltung geben. Die Pro-‐ zesse der Verräumlichung, durch die sich die substanziellen Aspekte der Materie ver-‐ wirklichen, beruhen auf schöpferischen Entscheidungen." "Jetzt muss ich dich unterbrechen, weil ich nicht sicher bin, ob ich das verstehe." "Du hast also Fragen", stellt Marpa fest. "Ja. Der substanzielle Aspekt der Materie ist ein verräumlichter Zustand." 265 "Das stimmt." "Aber was wird dabei verräumlicht? Sind es die möglichen Formen, in denen die Materie erscheint?" "Du willst wissen, was verräumlicht wird? Ist das nicht nahe liegend?", fragt die Yogini. "Ich habe keine Antwort darauf." "Wirklich nicht?" "Nein." "Also gut – verräumlicht werden die den Formen, Gestalten oder Konfigurationen zu-‐ grunde liegenden imaginären Muster, die Konzepte." Für eine Weile herrscht Schweigen. "Dann sind also die Muster oder Konzepte die essenziellen Aspekte der Substanz?" "Nein, nicht der Substanz – der Materie", korrigiert Göden Marpa. "Warum der Materie und nicht der Substanz?" "Weil die Substanzen die verräumlichten Aspekte der Essenz sind." "Jetzt verstehe ich weniger als vorhin", erwidere ich resigniert. "Was verstehst du nicht?" "Mich verwirrt, was du sagst." "Gut, fangen wir von vorne an. Wenn du etwas verstehen willst, wenn du etwas einsehen möchtest, musst du zwischendurch immer wieder zum Anfang zurückgehen und von da aus in kleinen Schritten weitergehen. Du musst darauf achten, den nächsten Schritt nur dann zu tun, wenn du dir des Vorhergegangenen wirklich sicher bist, sonst verlierst du die Orientierung. Also – was hast du bis jetzt verstanden?" "Ich habe verstanden, dass Materie aus einem substanziellen und einem essenziellen Aspekt besteht. Der substanzielle Aspekt ist ein verräumlichter Zustand. Dann habe ich dich danach gefragt, was sich verräumlicht. Deine Antwort war, dass sich Muster und Konzepte verräumlichen. Ist eine Verräumlichung dasselbe wie das, was du in früheren Gesprächen Verfestigung genannt hast?" "Ja. Verfestigung ist Verräumlichung." "Jetzt verstehe ich den Zusammenhang besser. Demnach ist die Realität, die Materie, ei-‐ ne verräumlichte imaginäre Wirklichkeit." "So ist es. Die Realität der Materie als Substanz existiert als verräumlichte Essenz." 266 "Jetzt sagst du es wieder so, dass es mich völlig verwirrt!", rufe ich verärgert aus. "Was ist eine verräumlichte Essenz?" "Das ist nicht schwer zu verstehen", sagt Marpa beruhigend. "Nehmen wir den Ofen, an dem du arbeitest, als Beispiel. Er besteht aus Steinen, also aus Materie, die, so habe ich dir gesagt, einen substanziellen und einen essenziellen Aspekt hat. Der substanzielle As-‐ pekt des Ofens ist deshalb seine Verräumlichung. Nun kannst du fragen: Was hat sich verräumlicht? Das imaginäre Muster, ein Konzept ist verräumlicht worden. Ist das so-‐ weit klar?" "Bis jetzt schon." "Gut – und was ist der essenzielle Aspekt dieses Ofens? Fällt dir dazu etwas ein?" "Seine Essenz hat mit der imaginären Wirklichkeit zu tun", sage ich vorsichtig. "Formuliere es genauer", fordert Marpa mich auf. "Der substanzielle Aspekt des materiellen Ofens ist dessen Verräumlichung. Der essen-‐ zielle Aspekt dieser Verräumlichung ist ein imaginäres Muster." "Das hast du treffend gesagt." "Ich habe es richtig formuliert?" "Was du eben gesagt hast, ist zutreffend." "Und wozu nutzt mir dieses Wissen?" "Vielleicht ist es eine Hilfe, dich und darüber hinaus den Menschen besser zu verstehen." "Wie sollte mir das helfen? Ich bin kein Ofen." "Vielleicht mehr, als du dir vorstellen magst. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Ofen und dir ist die zweifelsfreie Tatsache, dass du ebenso materiell bist wie er. Beide seid ihr eine substanzielle Erscheinungsform. Du bist die Verräumlichung eines imaginären Mus-‐ ters, der Ofen auch. Wenn es nicht so wäre, würde alles, was ich dir bisher über Inkarna-‐ tion und Reinkarnation erklärt habe, keinen Sinn ergeben." "Aber diese Verräumlichung betrifft doch nur die substanzielle Erscheinungsform mei-‐ nes Körpers, nicht meine geistige", wende ich skeptisch ein. "Das stimmt. Im essenziellen Aspekt deiner körperlichen Existenz bist du aber mit der imaginären Dimension verbunden, die mehr ist als dein verfestigter Zustand als ver-‐ räumlichte Substanz. Ohne Meditation bleibt das alles nur ein Wortspiel. Du musst die Botschaft hinter diesen Worten sehen. Das geht nicht so schnell. … 267 Die folgenden acht Wochen bin ich allein auf der Hütte. Göden Marpa reist nach New Delhi, um – wie sie vage andeutet, einen ihrer alten Lehrer zu besuchen. Ein letztes Mal, sagt sie. Ich nehme mir vor, diese Zeit intensiv zu nutzen. Ich werde schreiben und den Ofen fertig setzen. Die Arbeit mit dem Schamottmörtel, den ich mit bloßen Händen um die Steine herum-‐ modelliere, macht die Haut meiner Fingerkuppen schrundig, dass sie schmerzen. Außer-‐ dem brechen die über-‐ und nebeneinander geschichteten Steine immer wieder zusam-‐ men, sodass ich neu beginnen muss. Vor allem das Einsetzen der schweren gusseisernen Ofentür, die ich vor einigen Tagen besorgt habe – ein Reststück, das man mir billig über-‐ lassen hat, bereitet mir Probleme. Vier Wochen lang plage ich mich mit all dem herum, dann ist der Grundofen fertig. Nur der Rauchabzug fehlt noch. Ich stelle mir einen koni-‐ schen Aufbau vor, an dem das Ofenrohr angesetzt wird. Aufgrund meiner gewonnenen Erfahrungen komme ich damit gut voran. Müde sitze ich eines Abends in meiner Kammer und sinniere über die beiden Aspekte der Materie: Essenz und Substanz. Verweist das nicht auf etwas Drittes? Ein Subjekt? Wie könnten sonst aus dem essenziellen Aspekt aller Möglichkeiten jene schöpferischen Entscheidungen möglich sein, die sich als formierte Substanz in Form und Gestalt ver-‐ wirklichen? Demnach wäre die Materie eine Einheit von Substanz, Essenz und Subjekt. Das Ergebnis dieser Überlegung überrascht mich nicht. Es deckt sich mit dem Modell der tibetischen Kosmologie, die ebenfalls als eine Einheit der Dreiheit beschrieben wird. Das ist wie bei einem geometrischen Dreieck, das aus drei Eckpunkten besteht, ohne die sei-‐ ne Erscheinungsform nicht existieren würde. Die dreifältige Materie: eine Ganzheit aus konkretisierter Verräumlichung von Möglichkeiten des Verräumlichtsein-‐Könnens durch Entscheidungen einer Subjektwirklichkeit. Immer noch ist mir die Vorstellung ungewohnt, dass sich der Ofen, den ich gesetzt habe, nicht im Raum befindet. Jeder Sinneseindruck widerspricht dieser Erkenntnis. Diesen Widerspruch erlebe ich noch stärker, wenn ich an mich selbst als körperliche Existenz denke. Es ist mir derart selbstverständlich, mich als Körper im Raum zu erfahren, dass es mir unmöglich scheint, jemals ein Gefühl für das Nichtanwesend-‐Sein im Raum zu be-‐ kommen. Und trotzdem: Die Intuition sagt mir beharrlich, dass es so ist. Ich bin eine Verräumlichung. Der Ofen ist eine Verräumlichung. Die Kammer, in der sich der Ofen und ich befinden, ist eine Verräumlichung. Alle diese Verräumlichungen koexistieren und stehen zueinander in Beziehung. Nichts von alledem existiert in einem Raum. Eines Tages ist der Ofen fertig. Ich betrachte ihn mit einer gewissen Genugtuung, ohne zu wissen, ob er auch funktionieren wird. Zumindest sieht er so aus, wie ich ihn mir vor-‐ gestellt habe: archaisch. Göden Marpa soll dabei sein, wenn er zum ersten Mal angeheizt wird. Diese Premiere will ich nicht vorwegnehmen. Es wird Herbst sein, wenn wir beide wieder zusammen auf der Hütte sind. 268 Die imaginäre Welt kann nicht zerstört werden Wenn ich ein Bild schaffen will verarbeite ich manchmal fein gemahlenen Ofenruß, den ich mit einem Kaseinbindemittel verrühre, um den Stoff zu grundieren auf dem ich dann male. Nach mehreren solchen fein aufgetragenen Schichten entsteht ein tiefschwarzes warmes Schwarz, aus dem heraus sich dann das Licht in Form von Farbe gebären lässt. Ich schaue hinauf in den Nachthimmel, der auch schwarz ist. Das Brillieren seiner Sterne wirkt unpersönlich fern. Nähe, Ferne – was ist das schon? Alles ist hier oder nirgendwo. Mich fröstelt. Morgen wird die Yogini wieder da sein. Die Almwiese liegt abgegrast und braun verfärbt in mildem Licht. An den wenigen Stel-‐ len, die den Zungen der Kühe entgangen sind, stehen hoch gewachsene Halme, Distelge-‐ wächse und allerlei dürre Gräser, zwischen denen Spinnen ihre senkrecht gesponnenen Netze hinterlassen haben. Es sind filigrane Netzwerke, die in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen ihre Schönheit offenbaren. Tausende winzige Tautropfen, die an den Spinnennetzfäden wie Perlen aneinander gereiht sind, brechen das Licht zu Regenbo-‐ genfarben. Ich erfahre eine keusche Orgie sinnlichen Erlebens, die alles um mich in et-‐ was Heiliges verwandelt. … "Das ist ja erstaunlich", sagt Göden Marpa bewundernd, als ich ihr den fertigen Ofen zei-‐ ge. Beide stehen wir davor und schauen auf das seltsame Werk. "So einen Ofen habe ich noch nie gesehen", meint sie schließlich, nachdem sie ihn gründlich betrachtet hat. "Es wäre seltsam, wenn es anders wäre", erwidere ich. "Schließlich ist er das Ergebnis meiner Vorstellung." "Deiner Vorstellung?", fragt sie nach. "Ja. Ich habe eine Vorstellung gehabt, wie der Ofen aussehen sollte, wusste aber nicht, ob ich sie auch verwirklichen kann. So, wie er jetzt vor uns steht, ist er das Ergebnis von Idee, Versuch und Irrtum, bei dem ich mich von den Bedingungen und Möglichkeiten des Materials habe leiten lassen." "Aha", sagt die Yogini und deutet auf die runden Schalen. "Welche Funktion haben diese Teile?" "Das sind Untertassen von Blumentöpfen. Sie bestehen aus gebranntem Ton und sind feuerfest. Ich habe sie zwischen die massiven Steine gesetzt, damit die Hitze des Feuers schneller durchstrahlen kann. Damit erreiche ich zweierlei: Einerseits wird es in deiner Kammer schneller warm; andererseits wird die Wärme von den massiven Steinen ge-‐ speichert, und wenn kein Feuer mehr brennt, geben die Steine die gespeicherte Wärme für lange Zeit ab." 269 "Und das hast du dir selbst ausgedacht?" "Das hat sich während meiner Überlegungen, wie der Ofen aussehen und funktionieren sollte, beinahe wie von selbst ergeben ..., nein, das stimmt nicht ganz. Von selbst hat es sich nicht ergeben. Ich habe mir nämlich immer und immer wieder vorgestellt, welche Möglichkeiten ich bei den verfügbaren Materialien habe, wie ich den Ofen mit so wenig Geld als möglich realisieren und dabei meinem inneren Bild nahe kommen kann." "Demnach warst du mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise du die Imagination ver-‐ räumlichen kannst. Das hast du bemerkenswert gelöst. Du konntest auf kein bewährtes Wissen zurückgreifen, weil du so etwas noch nie gemacht hast und es auch nicht gelernt hast. Du bist an dieses Projekt herangegangen wie ein Künstler, der eine Skulptur gestal-‐ tet. Ist das zutreffend?" "Ja, das stimmt. Ich habe mir eine Form, eine Gestalt des Ofens vorgestellt und zugleich überlegt, wie er beschaffen sein muss, damit er auch funktioniert. Das fand ich aber nicht besonders schwierig. Ich dachte mir: Ein Feuer brennt von selbst und der Rauch zieht nach oben weg. Also brauche ich nur die Bedingungen dafür schaffen, dass so etwas un-‐ gehindert vor sich gehen kann, ohne dass die Hütte Feuer fängt. Es ging also darum, die-‐ sen Voraussetzungen eine Form zu geben." "Das ist dir offensichtlich gelungen. Ob in diesem Ofen ein Feuer brennen, der Rauch ab-‐ ziehen kann und ob es warm wird oder kalt bleibt, werden wir merken, sobald du einge-‐ heizt hast. Hast du es schon versucht?" "Nein, damit wollte ich warten, bis du dabei bist." Für diesen ersten Versuch habe ich alles vorbereitet. Zuerst lege ich ein Knäuel dürres Tannenreisig in die Ofenkammer. Drum herum schichte ich eine Pyramide aus dünnen getrockneten Zweigen und darüber fingerdicke Äste. Zuletzt lege ich drei grobe Scheite obenauf. Mit Sturmzündhölzern, die länger brennen als Streichhölzer, zünde ich den Stapel an. Es knistert, zischt und prasselt. Schon lodert ein Feuer. Ich grinse die Yogini an. Sie lä-‐ chelt verhalten zurück. Mit einer knappen Geste lädt sie mich ein, mich neben sie zu set-‐ zen. Beide schauen wir bei geöffneter Ofentüre dem Brennen zu. Die Flammen züngeln hoch, fallen wieder in sich zusammen, lodern wieder in die Höhe, als würden sie einen Tanz einstudieren, der nur aus Zuckungen besteht. Ich schnuppere wie
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