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„Bilder-Esperanto“ – Gestaltung und posttypografische
Form
Frank Hartmann
Frank Hartmann ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation an der Fakultät Kunst und Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar
Mikimaus hilft uns bei der Aufgabe der sozialen Aufklärung. Alles ist
bunt, lebhaft, interessant, zeitgemäß … Methode und Apparat existieren schon.1
Anfang der 1950er Jahre publizierte Marshall McLuhan, ein damals
noch ganz unbekannter kanadischer Professor für englische Literatur,
einen fulminanten Essay über die neue visuelle Kultur des 20. Jahrhunderts: Culture without Literacy – was falsch ins Deutsche übersetzt wurde mit Kultur ohne Schrift.2 Unterm Eindruck von neuen Medien, damals
1 Otto Neurath: „Bildstatistik – ein internationales Problem“ (London 1933), in:
ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 263f.
2 Marshall McLuhan: „Culture without Literacy“, in: Explorations Vol. 1, Toronto
1953: 117–127. Deutsch in: Baltes, Martin et al. (Hg.): Medien verstehen. Der McLuhan
Reader, Mannheim 1997: 68–76.
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noch nicht Computer, sondern Radio und Fernsehen, ging es um die
zentrale These, dass nicht allein Schriftlichkeit (und Schriftkompetenz)
das ausmacht, was als Kultur bezeichnet werden darf, sondern auch
jene neue Bildkultur, die sich nicht länger auf die klassischen Bilder der
Kunst beschränkt, sondern Welterschließung durch Visualisierungen
leistet: Bildstatistik, Diagramme, grafische Reproduktionstechniken,
optische Aufzeichnung und Übertragung. Diese Medientechniken stehen für ein neues Bewusstsein, eine neue Aufmerksamkeitsökonomie
und völlig neue Kommunikationswelten jenseits tradierter Begrifflichkeit.
Otto Neurath, ein Pionier der visuellen Kommunikation, sprach es
wenige Jahre zuvor deutlich aus:
I believe that the day of „eye-consciousness“ is rapidly approaching.
Communication of knowledge through pictures will play an increasingly large part in the future. Now is the time to collect records of what has
been happening visually in the last decades.3
Dass Kultur auch ohne Schrift auskommen mag, war eine gewagte und
der damaligen Medienkultur noch nicht ganz entsprechende These, die
so gedeutet werden kann, dass eben auch andere als nur der bislang
mächtigste Code, nämlich die phonetische Schrift, kulturstiftend sind.
Unter anderem gilt das für die neuen Technologien des Speicherns und
Übertragens, neben Musik und Rhythmen vor allem für Bilder und
Visualisierungen, die vom Veralten jener Bildungsidee zeugen, welche mangels Reproduktionstechnik über Jahrhunderte exklusiv an die
Schrift- und Druckkultur gebunden war.
Mit der Durchsetzung der kulturstiftenden Funktion von Schrift
und Druck im Abendland seit mehr als zwei Jahrtausenden hat sich, wie
McLuhan und andere Theoretiker seiner Generation (u. a. Harold A.
3 Otto Neurath: From Hieroglyphics to Isotype: A Visual Autobiography (1946), Princeton
Architectural Press 2010: 5.
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Abbildung 1 ― Werbung für die Wiener Methode (Loseblattsammlung von 100 Bildtafeln und
30 Texttafeln zur Erläuterung der Methode), Quelle: Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatis­
tisches Elementarwerk des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien, Bibliographisches
Institut AG, Leipzig 1930.
Innis, Erik Havelock) unermüdlich dargelegt haben, eine neue mediale
Qualität kultureller Codierung durchgesetzt. Diese habe, so die grundlegende These, eine spezifische Rationalität des typographic man geprägt:
Der typografische Mensch denke in einer ganz bestimmten Weise, nämlich im funktionalen Modus der Linearität, was in jüngerer Zeit Prozesse der Mechanisierung und Industrialisierung befördert habe. Letztlich
tendiere dies dazu, über permanente Prozesse der Verschriftlichung allen Geschehens eine abstrakte Lesbarkeit der Welt zu gewinnen und diese
dann auch noch wissenschaftlich zu prämieren, während andere ästhetische Formen auf Kosten einer erweiterten Sinnlichkeit mehr oder weniger strikt ausgeblendet würden.
Inzwischen aber, dank Elektrizität und Elektronik, finde der technologische Mensch zunehmend bei visuellen Metaphern Zuflucht, womit
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die „neue vereinheitlichende Sprache für die Vielfalt der Kulturen der
gesamten Erdkugel“ greifbar wird.4 Technologie, allem voran die neuen
Bildmedien, erwecke die Kultur aus ihrem historisch konditionierten Alptraum schriftinduzierter Rationalität und so könnte sich der alphabetisierte Mensch letztlich als bloße Episode in einer Menschwerdung zum
Weltbürgertum (cosmic man) erweisen. Das klingt übertrieben und pathetisch zugleich, ist im Kern aber die erste Diagnose der neuen Medienwelt, die sich nicht in kulturpessimistischen Bequemlichkeiten einrichtete, sondern ihre Aufgabe ernst nahm: jene neue Literacy zu bestimmen,
die als Medienkompetenz jenseits von Schriftverhältnissen auszubilden
wäre.
Eine Kultur ohne Schrift, so McLuhans Argument, signalisiert den
veränderten Bedarf an Formen und Funktionen der Kommunikation,
die zunehmend transnational und interkulturell bestimmt sind. Denken wir nur daran, dass erst wenige Jahrzehnte zuvor die transatlantischen Kabel verlegt worden waren, um die Welt durch internationale
Codes und standardisierte Technik global zu verschalten.5 Die über Kabelnetze ermöglichte technische Reproduktion und Übertragung von
Bildern schuf neu strukturierte Kommunikationsverhältnisse, und wie
McLuhan hervorhob, stünde uns mit der Bildersprache ein praktisch
noch „unbenutztes Esperanto“6 zur Verfügung.
Grafische Reproduktionstechniken, Fotografie, Außenwerbung,
Kino und Fernsehen begründen seit Anfang des 20. Jahrhunderts
eine neuartige Visuelle Kommunikation – eine Bezeichnung, die auf Otto
Neurath zurückgeht.7 Manches deutet darauf hin, dass McLuhan das
Isotype-Projekt von Otto Neurath gekannt hat, vermutlich vermittelt
4 McLuhan 1997: 76 (vgl. Anm. 2).
5 Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Geschichte, Technik, Theorien, Wien 2006.
6 McLuhan 1997: 76; vgl. auch die Ausführungen in Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, Kap. 16.
7 Neurath 2010: 5 (vgl. Anm. 3).
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durch Zeitungsartikel und durch die Aktivitäten von Rudolf Modley,
dessen in den Vereinigten Staaten gewerblich tätigen Schüler.8
Die Konstruktion von Bilderschrift, so sah das zuvor schon der Kulturphilosoph Walter Benjamin, ist die neue Herausforderung, um darauf
zu reagieren, dass „Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich
(sic!) ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male
ihrer adäquaten Sachverhalte habhaft wird“ – womit die Machtansprüche der traditionellen Ausdrucksmodalitäten in Wissenschaft und Wirtschaft gemeint waren; Benjamin hat sich dabei besonders auf statistische
und technische Diagramme bezogen.9
Abbildung 2 ― Seit 1921 erschien die auf
gesellschaftspolitische Themen spezialisierte
US-amerikanische Zeitschrift Survey Graphic
(hier das Cover der Ausgabe von Januar
1938).
Zu sehen gab es diese neue Bilderschrift bereits in illustrierten Magazinen der 1920er/1930er Jahre, wie dem amerikanischen Survey Graphic,
sowie in den populären europäischen Wissenschaftsausstellungen jener
8 Rudolf Modley: Pictographs and Graphs: How to make and use them, New York 1952.
9 Walter Benjamin: „Vereidigter Bücherrevisor“ (1928), in: ders., Medienästhetische
Schriften, Frankfurt am Main 2002: 197.
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Zeit, die sowohl als Dokumente einer neuen öffentlichen Kommunikationskultur gelten dürfen, wie sie auch durch neuartige Visualisierungs­
objekte der Bildstatistik und Bildsprache aus Beruf und Arbeit, Hygiene
und Gesundheit, Fürsorge und Sozialversicherung, oder Gesellschaft
und Wirtschaft geprägt waren. Beispiele dafür sind die im ausgehenden
19. Jahrhundert teils aus den populären Weltausstellungen, teils aus thematischen Fokussierungen entstandenen Wissenschaftsmuseen.
• 1 926 fand in Düsseldorf die „GeSoLei“ statt, jene Große Ausstellung für Gesundheitspflege, Sociale Fürsorge und Leibesübungen, aus der
1927 das Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde Düsseldorf hervorging;
• 1930 gab es die II. Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden, die drei
Millionen Besucher anzog, und damit verbunden einen Neubau
des Deutschen Hygiene-Museum Dresden;
• 1936 publizierte Otto Neurath die Broschüre International Picture
Language, die seine Idee einer neuen Bildersprache propagierte –
sie entstand ab 1924 aus der Ausstellung für Siedlung und Städtebau
des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und zahlreichen methodischen Artikeln.10
Neuraths Projekt – in Wien, aber auch in Düsseldorf, Dresden oder
Moskau präsent – war sowohl dem Gedanken einer neuen Wissenschaftlichkeit gemäß der Logik des Wiener Kreises verpflichtet als auch der Idee,
mittels einer neuen grafischen Bildersprache auf breitere Volksschichten
pädagogisierend und aufklärerisch orientierend zu wirken:
Um solche soziale Aufklärung verbreiten zu können, bedarf es besonderer Hilfsmittel. Im Jahrhundert des Auges kommen in erster Linie
10 Otto Neurath: International Picture Language. The First Rules of Isotype, London 1936;
zum Kontext vgl. Frank Hartmann und Erwin K. Bauer: Bildersprache. Otto Neurath,
Visualisierungen, Wien 2006.
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Museen und Ausstellungen, Abbildungen und Filme in Frage. Während man aber technische und hygienische Zusammenhänge durch
Photographie, Modelle, Schnitte einigermaßen ausreichend veranschaulichen kann, verlangen die gesellschaftlichen Vorgänge besondere, neuartige Methoden. […] Eine neue Bilderschrift ist im Entstehen
[…], ein Bilderlexikon mit einer Bildgrammatik. […] Damit ein einheitliches „Bilder-Esperanto“ – um einen Ausdruck der Amerikaner
zu gebrauchen – sich durchsetzen kann und nicht eine babylonische
Bildersprachenverwirrung entsteht, muß man die Methoden der Bildstatistik zentral pflegen und ausgestalten.11
Was Neurath anstrebte, war eine visuelle Informationsvermittlung,
die überall (d. h. keineswegs nur in Büchern und anderen Druckwerken) rasch und eindrucksvoll funktionieren sollte: „Wer schnellen und
bleibenden Eindruck machen will, bedient sich der Bilder.“ Seine Idee
war nicht von akademischen Überlegungen getragen, sondern aus einem konkreten Anwendungsbereich entwickelt worden, und versprach
Wirkung eher durch Interventionen im öffentlichen Raum als von gedruckten Publikationen – ein Detail, das in der Forschung manchmal
übersehen wird.
Im Auftrag der sozialistischen Stadtregierung organisierte Neurath
Ausstellungen unter anderem mit dem Zweck, die Öffentlichkeit über
das soziale Wohnbauprogramm der Stadt Wien zu informieren und die
Bevölkerung über hygienische Maßnahmen aufzuklären, etwa um ansteckende Krankheiten wie die Tuberkulose in den Griff zu bekommen.
Über allem stand das Ziel, die verborgenen Mechanismen von Wirtschaft und Gesellschaft explizit zu machen. „Die meisten Menschen
interessiert es vor allem zu erfahren, woher es kommt, dass in Zeiten
höchster technischer Entwicklung Mangel und Elend herrschen“, so
11 Otto Neurath: „Soziale Aufklärung nach Wiener Methode“ (1933), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 234f.; 239.
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Neurath 1933 im Wiener Gemeindeblatt.12
Soziale Aufklärung war das
Stichwort für Projekte zur Verbesserung der konkreten Lebenslage.
Überhaupt war Neurath der erste
Soziologe, der sich über einen Lebenslagenkataster, einen Index der
Lebensqualität, methodisch Gedanken machte.13
Da die Wohn- und Arbeitsver- Abbildung 3 ― Brief an Mrs. Moholy, 6. Juni
(Ausschnitt). Neurath signierte seine
hältnisse in der Zwischenkriegs- 1941
Korrespondenz humorvoll mit einem selbst
zeit besonders im städtischen Bal- gezeichneten Elefanten. Quelle: Archiv des
lungsraum ziemlich ausbeuterisch Autors.
und damit desolat waren, verbunden mit Krankheiten und hoher Säuglingssterblichkeit, engagierte sich
die damals noch neue Sozialwissenschaft besonders in solchen Bereichen. Es war die Zeit voller Hoffnung auf eine neue, sozialdemokratische Politik und auch die neue Rolle der Philosophie, etwa in ihrer radikalen Form des Wiener Kreises mit dem Versprechen logischer Klarheit
und streng wissenschaftlicher Problemlösung.14 Man wollte nicht nur
die metaphysischen Spekulationen des 19. Jahrhunderts überwinden,
sondern suchte auch – nicht zuletzt herausgefordert durch die globalen
Telegraphennetze und technischen Codes, die freilich nicht thematisiert wurden – nach neuen Kommunikationsformen. Anders als seine
12 Ebd., S. 232.
13 Otto Neurath: „Inventory of the Standard of Living“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, hg. v. Max Horkheimer, Jg. 6, Heft 1, Paris 1937: 140–151.
14 Vgl. den strengen Habitus von Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, publiziert 1921 in Wilhelm Ostwalds ANNALEN DER NATURPHILOSOPHIE,
Bd. 14, Heft 3–4. Jahre später publizierte Otto Neurath zusammen mit Rudolf
Carnap und Hans Hahn den Traktat Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis
(Veröffentlichungen des Vereins Ernst Mach, Wien 1929).
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akademischen Kollegen zeigte Neurath sich auch von der neuen visuellen Kultur – von Charlie Chaplin bis Mikey Mouse – grundsätzlich
angetan:
Der moderne Mensch ist vor allem Augenmensch. Die Reklame, das
Aufklärungsplakat, Kino, illustrierte Zeitungen und Magazine bringen
einen Großteil aller Bildung an die breiten Massen heran. Auch die,
welche viele Bücher lesen, schöpfen immer mehr Anregung aus Bildern und Bilderreihen. Der ermüdete Mensch nimmt rasch etwas zur
Kenntnis, was er lesend nicht mehr auffassen könnte. Darüber hinaus
ist die bildhafte Pädagogik ein Mittel, weniger vorgebildeten Erwachsenen, die optisch empfänglicher zu sein pflegen, und auch der weniger
begünstigten Jugend Bildungschancen zu eröffnen, die für sie sonst
nicht in Frage kommen. […] Worte trennen, Bilder verbinden.15
Neurath diagnostizierte angesichts der Visualisierungen in Werbung,
Unterhaltung und Publizistik ein neuartiges „Netz visueller Argumente“, das sich für Zwecke der sozialen Aufklärung gut anwenden ließe.
Das Bilder-Esperanto, eine neue aus ikonischen Elementen aufgebaute
internationale Bildersprache, sollte helfen, allgemein zugängliche Übersichten zu schaffen und Zusammenhänge explizit zu machen, die im abstrakten Ausdruck von Texten und Statistiken verdeckt blieben – daher
wurde das Verbindende der Bildzeichen betont: lesbar für alle, unabhängig vom individuellen Bildungsstand (daher inkludierend, und nicht exkludierend im Sinne seines Slogans „Worte trennen, Bilder vereinen“).16
Von seiner Ausbildung her Nationalökonom, hatte Neurath eigentlich mit Bildern wenig zu tun. Aber er kannte natürlich die nun
15 Otto Neurath: „Bildstatistik nach Wiener Methode“ (1931), in: ders., Gesammelte
bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 189f. An anderer Stelle heißt es auch: „Worte
trennen, Bilder vereinen.“ (ebd.: 179).
16 Vgl. auch die Diagnose von McLuhan: „We return to the inclusive form of the
icon.“ – in McLuhan 1964: 12.
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vermehrt eingesetzten Bildstatistiken und Diagramme, die als Vorläufer
moderner Infografiken für mehr Anschaulichkeit der immer populärer
und einflussreicher werdenden Bildstatistiken sorgten. Seine zentrale
Idee war es, die einzelnen Bildelemente oder Piktogramme exemplarisch zu gestalten und deren Verwendung einheitlich zu systematisieren.
Es war ein historischer Glücksfall, dass Neurath für sein Projekt
zum richtigen Zeitpunkt den Grafiker Gerd Arntz, einen Vertreter
der Kölner Gruppe Progressiver Künstler, nach Wien verpflichten konnte.
Dieser gab gemeinsam mit dem österreichischen Grafiker Erwin Bernath den Bildzeichen jenen Schliff, der zu den reduzierten grafischen
Formen führte, die sich in den heute eingesetzten internationalen Piktogrammen und Standardsymbolen noch finden. Ein anderer Wiener
Mitarbeiter, Rudolf Modley, emigrierte bereits vor 1930 in die USA und
setzte dort ein kommerzielles Projekt zur Standardisierung grafischer
Symbole durch (Glyphs Inc.); sein Handbook of Pictorial Symbols ist übrigens
heute noch am Buchmarkt zu finden.
Hier muss noch eine prägende Publikation genannt werden, die
Neurath in seiner Bibliothek gehabt haben mag: Graphic Methods for
Presenting Facts, von einem amerikanischen Ingenieur namens Willard
Brinton 1914 veröffentlicht.17 Als Anlauf zur Systematisierung moderner Datenvisualisierung, deren Grundzügen man sich auch im Neuraths
Wiener Büro verschrieben hatte, analysierte Brinton die damals gängigen Methoden. Vor allem der damals wie heute leider noch üblichen
Praxis, Mengendarstellungen durch größere oder kleinere Bildsymbole
darzustellen, stellte bereits Brinton das Verfahren gegenüber, Piktogramme von gleicher Größe seriell anzuordnen, um die visuelle Rezeption durch eine klare Vergleichbarkeit zu erleichtern.18
17 Vgl. auch Willard Cope Brinton: Graphic Presentation, New York 1939.
18 Ob Brintons Publikation Neurath nun direkt oder lediglich indirekt bekannt war,
bleibt in der Forschung umstritten, ist aber von sekundärer Bedeutung. Serialisierung und Normierung in der Produktion entsprach einer Notwendigkeit, die der
Erfahrung des Ersten Weltkrieges geschuldet war: hieraus ergab sich wohl erstmals die Bedeutung der Massenproduktion im Sinne der Kriegswirtschaft.
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Neuraths Bilder-Esperanto – die Bilderstatistik nach Wiener Methode,
die er ab 1936 Isotype nannte (International System of Typographic Picture
Education) – bestand aus einfachen ikonischen Piktogrammen, die international unabhängig von der jeweiligen Landessprache einsetzbar
sein sollten. Neurath schöpfte auch aus persönlicher Erfahrung, denn
er war als gefragter Berater und Projektemacher viel unterwegs, bei den
Behörden in Wien ebenso wie in anderen europäischen Städten, für die
Gesundheitsbehörde in den Vereinigten Staaten war er ebenso tätig wie
für die Sowjetregierung und zuletzt dann im Exil in den Niederlanden
sowie in England.
Isotype ist eine moderne Bildersprache, die durch Verbindung von gewissen Symbolen Tatsachen darstellt. Sie wurde als Hilfssprache für
die Verbreitung technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Wissens geschaffen. […] Wir leben im Jahrhundert des Auges und versuchen darum, das Mittel der Veranschaulichung auch auf dem Gebiet
des sozialen Fortschritts planmäßig anzuwenden. Diese Bestrebungen
gehen glücklicherweise mit Bestrebungen einzelner Graphiker zusammen, die vereinfachte Formen von Menschen und Gegenständen anwenden, hauptsächlich, um soziale Zustände zu schildern. […] Unter
dem Einfluß dieser graphischen Richtung entstanden die Symbole der
neuen Bildersprache, die immer mehr den Charakter von „Typen“ bekommen. […] Die Bildpädagogik geht von der Tatsache aus, daß ein
deutliches, einfaches Bild schneller und leichter verständlich ist als ein
Text.19
Von 1925 bis 1945, in zwei turbulenten Jahrzehnten also wurde die
Internationale Bildersprache konzipiert und systematisiert: erklärtes Ziel
war neben der interkulturellen Kommunikation die Schaffung eines
19 Otto Neurath: „Isotype und die Graphik“ (1935), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 342f.
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visuellen Thesaurus für Wissenschaftler, als Hilfsinstrument zur einheitlichen Visualisierung von Daten in wissenschaftlichen Publikationen.
Zusammen mit einigen Regeln für ihren Einsatz würden diese Bildzeichen universal anwendbar sein, in Ausstellungen, Druckwerken, Diagrammen, oder in filmischen Animationen. Neurath berichtet rückblickend aus der Pionierphase der Arbeit am Wiener Gesellschafts- und
Wirtschaftsmuseum:
Wir begannen unsere Symbole aus farbigem Papier auszuschneiden –
Silhouetten von Tieren, Pflügen und Menschen –, beschränkten notwendigerweise die Umrisse auf ein Minimum und vermieden nach
Möglichkeit Linien im Inneren. Wir machten Druckstöcke, mit denen
wir Hunderte von identischen Symbolen drucken konnten, die ausgeschnitten und auf unsere Tafeln geklebt wurden. Auf diese Weise entwickelten wir Schritt für Schritt eine sprachähnliche Technik, die gleich
gut von Menschen verschiedener Nationalitäten verstanden wird.20
Bei der Anordnung der Bildzeichen zu den Mengenbildtafeln, die
er Sprachbilder nannte, folgte Neurath nicht dem linearen Prinzip der
Schrift, sondern es wurden etwa nach Vorbild chemischer Formeln Szenen (Mengenbilder) gestaltet, die nach zwei Richtungen (meist von links
nach rechts und zugleich von oben nach unten) gelesen werden können
und die oft eine mit Trennlinie angedeutete Vergleichsmöglichkeit beinhalten. Das Ergebnis war ein neues piktografisches System, dessen klarer Konstruktivismus sich Neuraths Sozialphilosophie ebenso verdankt
wie der Gestaltung seiner künstlerischen Mitarbeiter sowie der „Transformationsarbeit“ von Zahlen und Daten zu Zeichen.21 Die Bildelemen20 Otto Neurath: „Von Hieroglyphen zu Isotypen“ (1946), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 642 (= Neurath 2010, vgl. Anm. 3).
21 Neben dem Isotype-Lexikon an Symbolen und der Isotype-Grammatik als Regeln ihrer Anwendung setzt Neurath die Isotype-Transformation als wesentlichstes Gestaltungselement: „Der mit Isotype-Transformation Befaßte muß die
gefährliche Kluft zwischen wissenschaftlichen und graphischen Experten über-
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te dieses Systems codierten im Wesentlichen statistisches Material, welches in Lehrbildern und auf Schautafeln im öffentlichen Raum gezeigt
wurde, in gedruckten Werken aber eher exemplarisch zur Anwendung
kam. Die Ausstellungssituation mit ihrer Reaktion der Betrachter gehört
mit zum Prozess des Argumentierens mit der Bildersprache (Lehrbilder und Bild-Enzyklopädie sind weitere Anwendungsbereiche). Immer
wieder betonte Neurath den aktivierenden Charakter der Isotype-Montagen, die man ohne eigenes Zutun nicht „lesen“ könne – der visuelle Stil
wäre demnach ein inkludierender, weil die Rezipienten an der Bedeutungskonstruktion auch aktiv beteiligt sind.
Die damals üblichen Balkendiagramme waren Neurath noch zu abstrakt, seine Bildersprache bestand aus figurativen Elementen: Männer,
Frauen, Kinder, Alte, Arbeiter, etc. Dazu wurde eine weitere Reihe von
Symbolen und Signets entwickelt und im praktischen Einsatz zusehends
systematisiert. Aus dem von Behörden vorliegenden Datenmaterial zum
Thema eines konkreten bildstatistischen Auftrages wurde in einem kollektiven Arbeitsprozess die relevante Information herausgefiltert und
dann in ein Schaubild transformiert. Danach folgte die eigentliche Visualisierungsarbeit, die grafische Umsetzung zur Herstellung der Bildtafeln in normierten Größen für die jeweilige Ausstellung.
Neurath verlangte von Anbeginn seiner Tätigkeit auch nach Dauermodellen, nach „einheitlichen Dimensionen für Graphika und Photos“,
die sich für eine visuelle Gewöhnung und Tradierung im Sinne pädagogischer Zwecke eignen.
Wir brauchen für unsere Bildersprache eine allgemeine Liste mit einer
beschränkten Anzahl von Zeichen für den internationalen Gebrauch.
[…] Auf diese internationale Liste, die alle notwendigen Regeln über
Formen und Farben enthält, werden internationale Bildpädagogik und
brücken.“ – Otto Neurath: „Isotype-Institut und Erwachsenenbildung“ (1942),
in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 592.
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Bildinformation gegründet werden.22
Betrachten wir nun etwas genauer
die gestalterische Methode dieser
neuen Bildersprache, so fällt auf,
dass sie erstens ohne Perspektive
Abbildung 4 ― Figurenzeichen für die
fünf Völkergruppen der Erde (Ausschnitt),
auskommt und zweitens streng
Quelle: Otto Neurath, International Picture
geometrisch aus der Umrisslinie,
Language, London 1936: 47.
also diagrammatisch entwickelt wurde, wobei möglichst klare Hinweise auf spezifische Differenzen integriert wurden. Aus der Umrisszeichnung für Personen wird ein einfaches
Signet, ein schnell erfassbares visuelles Zeichen, welches durch einfache Zusätze differenziert werden kann. Kommt ein grafisches Element
hinzu, etwa eine Schiebermütze als Kopfbedeckung, dann bedeutet die
Figur nach damaligen Bekleidungskonventionen einen Arbeiter, und hat
dieser seine untätigen Hände in die Hosentaschen gesteckt, bedeutet
sie einen Arbeitslosen, bzw. durch die vor der Brust verschränkten Arme
einen streikenden Arbeiter. Statt der Mütze des Arbeiters zeigt die Schirmkappe einen Dienstmann, ein eleganter Hut einen Angestellten, während
etwa ein Strohhut den Asiaten bezeichnet, oder krauses Haar den Afrikaner. Mehr als drei Differenzierungskriterien in einem Bildzeichen ließ
Neurath in seiner Methode nicht zu:
A picture which makes good use of the system gives all the important facts
in the statement it is picturing. At the first look you see the most important
points, at the second, the less important points, at the third, the details, at
the forth, nothing more – if you see more, the teaching picture is bad.23
22 Otto Neurath: „Internationale Bildersprache“ (1936), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 364f.
23 Otto Neurath: „The Chief Points of the Isotype System“, in: International Picture
Language, London 1936: 27 (= Neurath 1991: 363).
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Die Schwierigkeit der Visualisierung also lag darin, dass für die Differenzierungen entsprechend prägnante Unterscheidungsmerkmale gefunden werden mussten. Mengenbilder bilden nicht individuelle Angestellte, Asiaten oder Afrikaner ab, sondern Mengenangaben zu statistischen
Aussagen über Beschäftigungsgruppen oder ganze Völker und Nationen.
Bilder, deren Einzelheiten jedem Betrachter klar sind, wären dann auch
international verständlich, weil sie die begrifflichen Grenzen der Verbalsprache hinter sich lassen und durch ihre anschauliche Konkretion
zu „klarem Denken“ einladen.
Natürlich fällt einem das Grundproblem eines derartigen Verfahrens
sofort auf: Visuelle Zeichen spiegeln eine jeweils soziale Wirklichkeit wider, die unterschiedlichste, historisch kontingente Bedeutungen hervorheben. Kulturen verändern sich laufend, und soziale Äußerlichkeiten
nehmen dementsprechend neue Form und Bedeutung an. So tragen Arbeiter heutzutage jene Schiebermützen nicht mehr, mit denen sie in den
Piktogrammen gekennzeichnet wurden, und Hüte aus Reisstroh sind
bei urbanisierten Asiaten auch nicht mehr üblich. Überdies kann, was in
einem Kontext als angemessen erscheint, unter veränderten Vorzeichen
diskriminierend wirken oder schlicht unverständlich werden – Dienstmänner an Bahnhöfen etwa kennt man nur mehr aus alten Filmen,
ebenso Dienstmädchen in Uniform, wie sie in bürgerlichen Haushalten
einst üblich waren. Zudem gibt es erhebliche kulturelle Unterschiede in
der Symboltechnik, die in jedem Kulturkreis ihre eigene Tradition hat.
Doch Neurath strebte keineswegs an, eine ideale Sprache zu schaffen, vielmehr lag ihm an einer visuellen Hilfssprache für möglichst
vielseitige Anwendungen.24 Deren Einsatz wäre dort, wo Menschen
und Kulturen aufeinandertreffen – öffentliche Orte, Bahnhöfe, Flughäfen, Hotels – und auch die Wissensvermittlung bei unterschiedlichen
Bildungsniveaus innerhalb einer Kultur würde davon profitieren. Ein
24 Otto Neurath: „Isotype as a Helping Language“, in: International Picture Language,
London 1936: 17ff (= Neurath 1991: 359ff.).
43
internationaler „Zivilisationsatlas“ war geplant, eine unabhängig vom
jeweiligen Bildungsstand funktionierende und für alle zugängliche
Möglichkeit zur Navigation im gesamten gesellschaftlichen Wissen:
Der gewöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie
er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann.25
Die Verwaltung und technische Organisation kulturellen Wissens, dessen war Neurath gewiss, würde sich mit den neuen medientechnischen
Möglichkeiten im 20. Jahrhundert ganz grundlegend verändern. 1851
begann in London die große Schau der Weltausstellungen, und mit der
Telekommunikation und der Wirtschaftsvernetzung haben sich die kulturelle Wahrnehmung und das Bewusstsein kontinuierlich globalisiert.
Neue Formate für Ausstellungen und Museen waren gefragt – Neurath
kooperierte mit dem belgischen Privatgelehrten Paul Otlet, der mit
seinem Mundaneum ab der Weltausstellung in Brüssel 1910 eine analog
aufgebaute Wissensdatenbank betrieb.26 Die Museen der Zukunft, so Otto
Neurath, würden ganz ungeahnte Formen annehmen, die mit der dem
19. Jahrhundert entstammenden bildungsbürgerlich repräsentativen Inszenierung von Wissenschaft und Kunst nichts mehr gemein hätten.27
Neurath selbst experimentierte mit allen denkbaren Formen der musealen Inszenierung von Informationen: Schautafeln, Reliefs, beweglichen Modellen, animierten Filmbildern – kurzum, eine Beschränkung
der Mittel zur Entwicklung von geeigneten Medien des Wissens (oder
Datenträgern) kannte er nicht. Generell aber wurden von ihm Logik
und Argumentationskraft von Bildern gegenüber Texten aufgewertet.
25 Otto Neurath: „Von Hieroglyphen zu Isotypen“ (1946), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 645.
26 Frank Hartmann (Hg.): Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der Wissensvisualisierung, Berlin 2012.
27 Vgl. ebd., S. 143ff.
44
Abbildung 5 ― Mitarbeiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums bei der bildstatischen
Arbeit im Wiener Büro (Ullmannstraße 44), Fotograf unbekannt, Quelle: Otto and Marie Neurath
Isotype Collection, University of Reading, GB.
Gleichzeitig zeigt sein Projekt, wie die Möglichkeiten der Montage als
medialer Schlüsseltechnologie des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlich
seriöse Nutzung zu übersetzen wäre. Über die Veranschaulichung empirischer Fakten hinaus sollte eine gesellschaftspolitische Anwendung des
Wissens erreicht werden. Die Bildersprache wurde nicht systematisiert,
um Gesellschafts- und Wirtschaftsprozesse zu illustrieren, sondern um
sonst kaum wahrnehmbare Zusammenhänge – etwa zwischen Wohnungsqualität und Säuglingssterblichkeit, oder maschineller Rationalisierung und Arbeitslosigkeit – ins Bewusstsein zu heben und kritische
Diskurse über diese Verhältnisse in Gang zu bringen.
Das Vermächtnis von Neuraths Programm ist, dass die modernen
Bildwelten einer aufmerksamen Gestaltung bedürfen und dass ein geschultes Wissen um die Herstellung und die Organisation der neuen
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Visualität von entscheidender Bedeutung ist. Spuren seiner Bildzeichen,
auch Piktogramme genannt, finden sich überall: kein öffentlicher Raum
ohne das Symbol für den Notausgang, für den Feuerlöscher, für Erste
Hilfe und ähnliches, vor allem aber bei Visualisierungen mit appellativem Charakter. Informationsgrafiken sind außerdem zu einem unverzichtbaren Bestandteil journalistischer Berichterstattung geworden, und
es ist anzunehmen, dass dabei der Trend zu interaktiven Grafiken sich
künftig noch verstärken wird.
Eine rasche Auffassung von Informationen ist essentiell in der sogenannten Wissensgesellschaft, und damit wird die Visualisierung von
Daten zu einer immer anspruchsvolleren Aufgabe, die in den gegenwärtigen Medien keineswegs immer gut gelöst ist.28 Die Bildersprache
hängt zudem ab von der Qualität der zugelieferten Daten, auf denen die
Grafiken beruhen. Neurath nutzte die Zahlen des Wiener Statistischen
Amtes und wusste um die Schwierigkeiten ihrer Transformation in visuelle Zeichen. Heutige Infografiken lassen meist nicht mehr erkennen,
auf welchen Daten die Bilder beruhen und nach welchen Modellen sie
übersetzt worden sind. Hier lässt sich Vieles übertreiben oder auch relativieren.
Wie eine Infografik gelingen kann, wirft uns zurück auf die Frage,
wie eine Visualisierung überhaupt funktioniert: „debabelization is a very
hard and complex work.“29 In diesem Punkt blieb Neurath sehr streng:
Eine gelungene Visualisierung funktioniert nicht, wenn sie einfach
schön und ansprechend ist, sondern dann und eben nur dann, wenn sie
nicht erst umständlich erklärt werden muss.
Die Gestaltung von Piktogrammen im öffentlichen Raum unterliegt
inzwischen internationalen Normvorschriften und hat jeden systematisierenden Anspruch im Sinne einer sprachähnlichen Technik abgelegt.
Die Verständlichkeit grafischer Symbole ist damit freilich noch nicht
28 Vgl. die teils erschreckende Beliebigkeit der wöchentlichen Beiträge in der Die Zeit,
Serie „Wissen in Bildern“, www.zeit.de/serie/wissen-in-bildern
29 Neurath 1936: 13 (vgl. Anm. 10).
46
garantiert. Wer hätte sich noch nie darüber gewundert, welches Verhalten ein bestimmtes Zeichen ihm oder ihr nahelegen soll? Dennoch
hat die Voraussage eines visuellen Esperanto in unserer Zeit sich im
wesentlichen erfüllt:
Pictorial and other experience today is filled with metaphors from all
the cultures of the globe. Whereas the written vernaculars have always
locked men up within their own cultural monad, the language of technological man, while drawing on all the cultures oft he world, will necessarily prefer those media which are least national. The language of
visual form is, therefore, one which lies to hand as an unused Esperanto at everybody’s command. The language of vision has already been
adopted in the pictograms of scientific formula and logistics. These
ideograms transcend national barriers as easily as Chaplin or Disney
and would seem to have no rivals as the cultural base for cosmic man.30
Auch die Datenmengen, die moderne Wissenschaft generiert, lassen
sich für Menschen zunehmend nur noch mittels Algorithmenbasierter
Visualisierung verarbeiten. Otto Neurath war keineswegs ihr Erfinder,
aber er glaubte mit guten Gründen an die Verfahren der, in heutiger
Diktion, statistischen Inferenz.31 Nicht nur Metaphysik war ihm ein Gräuel,
sondern auch die bürgerliche Person mit ihrem Urteil oder ihrer ideologischen Meinung – deshalb galt ihm über alles die Parole Statistik ist Sache
des sozialistischen Proletariats! 32
Konsequent hat Otto Neurath abseits sämtlicher kunsthistorischer
oder bildwissenschaftlicher Allüren den Gedanken verfochten, dass der
30 McLuhan 1953: 127.
31 Das bedeutet, dass je nach Software-Anwendung Verweise, Empfehlungen oder
auch Entscheidungen aus einer bestehenden Wissensbasis generiert werden. Bestimmte Aussagen und Bewertungen lassen sich auch algorithmisch, ohne direktes
menschliches Zutun aus dem aufgezeichneten Verhalten von Nutzern ableiten.
32 Otto Neurath: „Statistik und Proletariat“ (1927), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 78.
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Mensch nicht nur ein sprachliches, sondern ein immer auch visuell denkendes Wesen ist.33 Bildzeichen ersetzen die Sprache nicht, aber Vieles
muss dank Bildern und Piktogrammen nicht explizit ausformuliert und
kann leicht entsprechend visuell kommuniziert werden. Doch es mangelt nach wie vor am entsprechenden Bewusstsein für die systematische
Gestaltung und Anwendung der Bildzeichen. Dennoch kann Neurath
als Pionier für die Ausbildung visueller Medienkompetenz bezeichnet werden.
Mit einer gut hergestellten Schautafel ließen sich schließlich nicht nur
einzelne Fakten darstellen, sondern ganze Argumentationen verbreiten.
Man begann ab den 1920er Jahren von „public opinion“ (öffentlicher
Meinung) zu sprechen, und was Neurath wollte, war nichts weniger als
die „education of public opinion“, denn die öffentliche Meinung beruht
eigentlich nicht nur auf dem journalistischen Vermittlungsprozess, sondern ebenso auf einem partizipativen Bildungsprozess, der die visuelle
Ebene für den Wissenszugang benötigt – eine Einsicht, die mittlerweile
zum Basiswissen von Kommunikationsexperten und Medienberatern
gehört.
33 Vgl. dazu auch jene Revision der Einbildungskraft, die eingefordert wurde von
Rudolf Arnheim: Visual Thinking, Los Angeles 1969.
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