„ Zwang und /oder Autismus – Herausforderung für Diagnostik und Therapie“ Dr. Jeremias Schönherr Erfahrungen aus der Spezialambulanz für Zwangs- und Zwangsspektrumstörungen Universitätsklinikum Leipzig [email protected] Gliederung 1. Historik 2. Diagnostische Kriterien Zwang und Autismusspektrumstörung 3. Diagnose und Differentialdiagnose 4. Fallbeispiele 5. Therapeutische Möglichkeiten und Implikationen 6. Fazit 2 Historik Kanner (1943) und Asperger (1944), beschrieben erstmals Kinder mit autistischer Symptomatik. Leo Kanner (1894-1981) Beide nannten zwanghaftritualisierte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen als drittes Kernmerkmal dieser Störungsbilder. 1955 National Library of Medicine und 1944 In Frith U. Autism and Asperger syndrome, Cambridge University Press. Hans Asperger (1906-1980) 3 Zwangsstörung F 42 Klassifizierung nach ICD 10 A. Entweder Zwangsgedanken (ZG) oder Zwangshandlungen (ZH) (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen. B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgende Merkmale: C. 1. Sie werden als eigene Gedanken/ Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben 2. Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden und mind. ein ZG oder eine ZH werden als übertrieben und unsinnig erkannt 3. Die Betroffenen versuchen Widerstand zu leisten, gegen mind. einen ZG oder ZH ist dies aktuell erfolglos. 4. Die Ausführung eines ZG oder einer ZH an sich ist nicht angenehm. Die Betroffenen leiden unter den ZG und ZH oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand. 4 Autismusspektrumstörung nach DSM V A Anhaltende Defizite der sozialen Interaktion und Kommunikation mit: 1.Defiziten in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit 2.Defiziten im nonverbalen Kontaktverhalten 3.Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und Verständnis von Beziehungen B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren: 1.Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe 2.Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen 3.Hochgradig begrenzte Interessen, die in ihrem Inhalt oder ihrer Intensität abnorm sind 4.Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen C Symptome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen, manifestieren sich aber möglicherweise erst wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Möglichkeiten überschreiten D Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden/Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen E Diese Störungen können nicht besser durch eine intellektuelle Beeinträchtigung oder allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden; intellektuelle Beeinträchtigungen und ASS treten häufig gemeinsam auf. Um beide Diagnosen stellen zu können, sollte die soziale Kommunikationsfähigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5® von American Psychiatric Association. 2015 Hogrefe Verlag, Göttingen 5 Implikationen der Neuordnung im DSM V - Einheitliche Kategorie für frühkindlichen Autismus und Asperger Syndrom - Syndromal ähneln sich Asperger Autismus (AS) und high-functioning-Autismus (HFA) - Bestehen von zwanghaften und ritualisierten Verhaltensweisen als gemeinsames Merkmal - stereotype Sonderinteressen bestehen z.T. übergreifend 6 Klinisch relevante Fragen - Wie kann eine Autismusspektrumstörung beim Erwachsenen diagnostiziert werden? - Welcher diagnostische Weg sollte zur Abgrenzung zwischen Autismus und Zwangsstörung gegangen werden? - Welche Herausforderungen hält die Diagnose Autismus und Zwang bereit? - Welche therapeutischen Konsequenzen entstehen aus dieser Doppeldiagnose? 7 Diagnostik Autismusspektrumstörung - Adult Asperger Assessment Befunderhebung im Erwachsenenalter mit zwei Screening Verfahren Autismus Spektrum Quotient (AQ) und Empathie Quotient (EQ) und ein klinisches Interview - E-S-Theorie „extreme male brain theory of autism“, Autismus Folge einer extremen Ausbildung des typisch männlichen Gehirns - ADOS - Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen Verhaltensbeobachtung unter standardisierten Bedingungen Beinhaltet verschiedene Module, diese je nach Alter und Sprachniveau gewählt - WIE – Wechsler Intelligenz-Test für Erwachsene Baron-Cohen S. et al., The Adult Asperger Assessment (AAA): A Diagnostic Method, Journal of Autism and Developmental Disorders, 10.1007/s10803-005-0026-5, Springer 2005 8 Diagnostik Autismusspektrumstörung - Reading Mind In The Eyes Test Reading Mind In The Eyes Test, Erwachsenenversion von Simon Baron-Cohen (2001), dt. Bearbeitung von Sven Bölte (2005) 9 Autismustypische Zwangsphänomene (ATZ) - umfassende und exzessive Beschäftigung mit mehreren stereotypen, fesselnden, manchmal bizarren Spezialinteressen - zwanghafte, nicht funktionale Handlungen und Rituale, deren Unterbrechung Widerstand gegenüber und Angst vor Veränderungen auslösen kann - stereotype und repetitive motorische Manierismen - die abnorme Bindung an ungewöhnliche Objekte - das dranghafte Beharren auf Gleicherhaltung der Umwelt vgl. ICD-10; siehe Lehmkuhl & Döpfner, 1999; DSM-IV; APA, 2000 10 Diagnostische Abgrenzung - keine Zwangsgedanken bei typischen ATZ - Die Spezialinteressen werden (fast ausschließlich) als ich-synton erlebt, d.h. werden selten als unsinnig oder übertrieben wahrgenommen - Rituale haben eher ordnende Funktion in einer konfus erlebten, reizüberfluteten, Welt - Bei Zwangsstörung, Fehlen von stereotypen Handlungen oder Bewegungsmustern 11 Übergänge zu Zwangssymptomen - ATZ gewinnen bei höherem intellektuellen Potential und mit zunehmendem Alter an Komplexität - Exzessives Horten kann zu Beeinträchtigungen, besonders für Angehörige, führen - Spezialinteressen können im Verlauf zwanghaft besetzt sein - Streben nach absoluter Übereinstimmung, Perfektion, Vollständigkeit und Symmetrie - Auswirkung auf Angehörige; latent-aggressive Unterwerfung der Familie 12 Spezifische Zwangssymptome - Andere Arten von Zwängen ausgeprägt (häufiger Fragezwänge, zwanghaftes Mitteilungsbedürfnis, Hortzwänge, Ordnungszwänge, Berührungszwänge) - Signifikant weniger sexuelle, religiöse, aggressive oder körperbezogene Zwänge - Laut Studienlage* bis ca. 25% Überschneidung von Autismusspektrumstörung und Zwang - Auftreten der Zwänge in Abhängigkeit vom IQ - Vermutung, dass Zwangsgedanken viel häufiger bestehen, jedoch nicht ausgedrückt werden können McDougle et al. (1995), *Russell et al. (2005) 13 Kasuistik - Patient: E.S., männlich, 1989 geboren - Einweisung Tagesklinik: Zwangsstörung mit Vd. auf Asperger Syndrom - Psychiatrische A.: Diagnose Zwangsstörung 2004 - Medizinische A.: Gynäkomastie 2007 - Soziale A.: Abbruch Studium, keine Partnerschaften, intensive Interessen - Suchtmittel und Familienanamnese leer 14 Kasuistik Psychopathologischer Befund: Pat. wach, zu Person, Ort, Zeit und zur Situation orientiert, scheue und zurückhaltende …scheue und zurückhaltende Kontaktaufnahme, kaum Kontaktaufnahme, kaum Blick haltend, sehr ängstlich und zurückhaltend, in der Sprachführung überlegt und gewählt ausgedrückt, teils zaudernd, Mnestik intakt, Blick haltend, sehr ängstlich und zurückhaltend… keine Auffassungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, hoher Intellekt vermutbar, Stimmung euthym, im Affekt teils parathym und anfänglich reduziert, jedoch nach längerem Kontakt voll schwingungsfähig, Antrieb aktiv, kein …in der Sprachführung überlegt und gewählt ausgedrückt Interessenverlust aber eingeengte Interessen, sozialer Rückzug, soziale Vermeidung, Selbstvorwürfe mit Gefühl der Schuld und Beschmutzung und Selbstablehnung,Interessen… geminderter Selbstwert, Perspektivlosigkeit, formal gedanklich …eingeengte geordnet und zielführend, jedoch umständlich und Innehalten, teils konkretistisch, Zwangsgedanken in Form von magischen (teils überwertigen) Gedanken und …stark ausgeprägtes soziales Vermeidungsverhalten, Ordnungszwängen (richtige Kleidung, Dinge müssen korrekt sein, Kontamination von Gefühlen) mit Zwangshandlungen in Form von Wasch- und Reinigungszwängen, sozialer ritualisiertemRückzug… Verhalten und stark ausgeprägtem sozialem Vermeidungsverhalten. In diesem Rahmen Depersonalisationserleben, keine sichereren Hinweise auf inhaltlichen Denkstörungen, keine akustischen oder optischen Halluzinationen, keine …kaum intensivevereinzelte persönliche Kontakte, mit Wunsch Ich-Grenzstörungen Phasen von Lebensüberdruss, aber keine Suizidgedanken oder -pläne, aktuell klar von Suizidhandlungen und Gedanken danach, häufig Sorge vor Ablehnung distanziert, keine Fremdgefährdung. Sozialer Rückzug, kaum intensive persönliche Kontakte. Häufig Sorge vor Ablehnung, wünsche sich Kontake. Behandlungsbereit, krankheitseinsichtig, offen für Zusammenarbeit. 15 Kasuistik Psychopathologischer Befund: Pat. wach, zu Person, Ort, Zeit und zur Situation orientiert, scheue und zurückhaltende …Zwangsgedanken in haltend, Form sehr vonängstlich magischen (teils in der Kontaktaufnahme, kaum Blick und zurückhaltend, Sprachführung überlegt und gewählt ausgedrückt, teils zaudernd, Mnestik intakt, überwertigen) Gedanken und Ordnungszwängen keine Auffassungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, hoher Intellekt vermutbar, Stimmung euthym, im Affekt teils die parathym und anfänglich reduziert, (Kleidung, Unterlagen, Dinge er berühre, jedoch nach längerem Kontakt voll schwingungsfähig, Antrieb aktiv, kein Interessenverlust aber von eingeengte Interessen, sozialer Rückzug, soziale Kontamination Gefühlen) Vermeidung, Selbstvorwürfe mit Gefühl der Schuld und Beschmutzung und Selbstablehnung, geminderter Selbstwert, Perspektivlosigkeit, formal gedanklich geordnet und zielführend, jedoch umständlich Innehalten, teils und konkretistisch, …mit Zwangshandlungen in Formund von WaschZwangsgedanken in Form von magischen (teils überwertigen) Gedanken und Reinigungszwängen… Ordnungszwängen (richtige Kleidung, Dinge müssen korrekt sein, Kontamination von Gefühlen) mit Zwangshandlungen in Form von Wasch- und Reinigungszwängen, ritualisiertem Verhalten und stark ausgeprägtem sozialem Vermeidungsverhalten. In …ritualisiertes Verhalten diesem Rahmen Depersonalisationserleben, keine sichereren Hinweise auf inhaltlichen Denkstörungen, keine akustischen oder optischen Halluzinationen, keine Ich-Grenzstörungen vereinzelte Phasen von Lebensüberdruss, aber keine Suizidgedanken oder -pläne, aktuell klar von Suizidhandlungen und Gedanken distanziert, keine Fremdgefährdung. Sozialer Rückzug, kaum intensive persönliche Kontakte. Häufig Sorge vor Ablehnung, wünsche sich Kontake. Behandlungsbereit, krankheitseinsichtig, offen für Zusammenarbeit. 16 PIA – Universitätsklinikum Leipzig Diagnosespezifische Angebote Kognitive Verhaltenstherapie Ärztliche Einzelkontakte Diagnoseübergreifende Angebote Koch-, Schwimmgruppe Therapeutisches Malen, Ergotherapie, Zeitungsgruppe Soziotherapie ....... Angehörigenarbeit Gruppen Familiengespräche 17 Kasuistik - Patientin: J.K., weiblich, 1993 geboren - Aktuelle Anamnese: Die Patientin gab an, sie habe seit 3 Stunden Panik und komme nicht runter. Habe seit fast 3 - 4 Wochen die Wohnung nicht mehr verlassen, sie müsse sich zwanghaft ständig auf den eigenen Körper konzentrieren und immer ihren Herzschlag kontrollieren. Aktuell schlucke sie ständig, weil sie Angst habe, sich zu verschlucken. Sie brauchte die Kontrollen, um Befürchtungen von körperlichen Krankheiten abzuwehren, von denen sie selbst weiß, dass sie nicht real sind. Auch Zählzwang (Herzschlag oder sonstiges Zählen). Sie sei hochbegabt, wenn es um Zahlen gehe. Bei der letzten Aufnahme habe sie mit dem „Arzt ohne Schuhe“ gesprochen, sie habe gedacht, sie schaffe es allein, aber sie wolle sich nicht eingestehen, dass sie eine Macke habe. Sie möchte nun eine Medikation ausprobieren. 18 Kasuistik - Einweisung durch Notarzt: Panikattacke und bestehender Diagnose Asperger Syndrom seit 1 Jahr - PPB: Zwangsgedanken in Form von hypochondrischen, teils magischen Gedanken und Zählzwängen, Zwangshandlungen in Form von teils ritualisierten Kontrollzwängen und stark ausgeprägtem sozialem Vermeidungsverhalten - Symptome Asperger: empfindet einige Zwänge als nicht störend, überdurchschnittliche Merkfähigkeit, seit der Kindheit sozial auffällige Fragen, detailorientierte Erzählweise, monotone Sprachmelodie, stereotype Verhaltensmuster, Inselinteressen - Diagnose: Zwangsstörung und Asperger Autismus - Therapie: Erfolg durch SSRI, externe Autismusambulanz - Herausforderung: Kaum Einsicht in Zwänge, keine Behandlungsmotivation, kein Interesse an sozialer Interaktion 19 Therapie 1. Vorraussetzungen: - Klarheit in Diagnose und diagnostischem Vorgehen - Das Ausmaß und die sozialen Auswirkungen der Einschränkungen und Behinderungen sind bekannt und klar der jeweiligen Störung zuordenbar - Klare therapeutische Variablen (zeitliche und strukturelle Verfügbarkeit, fachliche Kompetenz) 20 Therapie 2. Vorgehen: - Orientierung an gängigen Leitlinien (S3 für Zwang, Leitlinie zu Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen bei Autismus) - Konkrete Orientierung am Leitsyndrom - Psychosoziale Aspekte in den Fokus rücken 21 Implikationen 1. Versorgung: - S3-Leitlinie für Autismus - standardisiertes diagnostisches Procedere bei Erwachsenen definieren - S3-Leitlinie Zwang erweitern - Ambulante Angebote und Strukturen etablieren - Diagnose und Behandlung durch mehrere Fachgebiete und Einrichtungen 22 Implikationen 1. Forschung: - Notwendigkeit methodisch hochwertiger, kontrollierter Studien hinsichtlich Wirksamkeit von therapeutischen Verfahren - insbesondere unter Einbeziehung von Komorbiditäten - größere Fallzahlen für aktuellere Epidemiologie - Verknüpfung mit Kinder- und Jugendpsychiatrie 23 Fazit - Eine präzise Differenzialdiagnose von Zwangssymptomen bei autistischen Störungen hat sowohl für Forschung als auch für die klinische Praxis wichtige Implikationen - Die Abgrenzung der beiden Störungen erfordert ein klares diagnostisches Vorgehen, da die Übergänge häufig komplex sind - Die Art der Zwangsgedanken und das Ausmaß der IchDystonie gilt als Unterscheidungsmerkmal, welches jedoch abhängig von kognitiven Fähigkeiten ist - Eine differenzierte Klassifikation der verschiedenen Phänomene ist essenziell, da Patienten mit autistischen Störungen und komorbider Zwangsstörung von Standardverfahren der Zwangstherapie profitieren können 24 Vielen Dank und herzlich willkommen….. 25
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