29.07.2015 Drucksache 6/909 6. Wahlperiode

Thüringer Landtag
6. Wahlperiode
909
Drucksache 6/
29.07.2015
Kleine Anfrage
des Abgeordneten Dr. Voigt (CDU)
und
Antwort
der Thüringer Staatskanzlei
Entwicklungspolitische Kompetenz des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow?
Die Kleine Anfrage 341 vom 11. Juni 2015 hat folgenden Wortlaut:
In einem am 11. Juni 2015 veröffentlichten Interview mit der "Christ und Welt"-Beilage der Wochenzeitung
DIE ZEIT äußerte sich Ministerpräsident Bodo Ramelow unter anderem zu Themen der Wohlstandsentwicklung. Unter anderem wird er mit den Worten zitiert: "Ich würde mir wünschen, dass wir nicht nur immer über Armut, sondern auch endlich wieder über Reichtum reden. Weil da ein Zusammenhang besteht,
weil die Armut wächst, wenn der Reichtum wächst." Weiterhin äußerte Ministerpräsident Bodo Ramelow
wörtlich, er stehe "in der Opposition zu Verhältnissen". In einem anderen Beitrag zur Flüchtlingsproblematik führte Ministerpräsident Bodo Ramelow aus, dass Europa und seine atlantischen Verbündeten "endlich
intensiver und konkreter die Fluchtursachen bekämpfen" müssten. In den Medien wird er mit den Worten
zitiert: "Ackerland in Afrika muss wieder den Bauernfamilien zur Ernährung dienen, statt Industrienationen
mit Monokulturen zu versorgen. Die Fischer müssen vor ihren Küsten ihren eigenen Fisch fangen können,
ohne von internationalen Trawlerflotten um die Existenz gebracht zu werden."
Ich frage die Landesregierung:
1. Hat oder plant der Thüringer Ministerpräsident eine entwicklungspolitische Agenda mit konkreten Vorschlägen zur Beseitigung von Fluchtursachen?
2. Gab oder gibt es in der Landesregierung Pläne, das Thema Entwicklungspoli­tik stärker in der Politik
der Landesregierung zu verankern? Wenn ja, in wel­cher Form und mit welcher Zielsetzung soll dies
geschehen?
3. Welche Definition von Armut und Reichtum legt Ministerpräsident Ramelow bei seinen oben zitierten
Ausführungen zugrunde?
4. Auf Grundlage welcher wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse kommt Ministerpräsident Ramelow
zu der Einschätzung, dass ein Zusammenhang be­stehe zwischen wachsender Armut und wachsendem
Reichtum?
5. Auf welche Länder bezieht sich seine Aussage?
6. Bezieht sich seine Aussage ausdrücklich auch auf Deutschland bzw. den Freistaat Thüringen? Wenn ja,
auf Grundlage welcher Erkenntnisse?
Druck: Thüringer Landtag, 12. August 2015
Drucksache 6/
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7. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über die Entwicklung von Armut bzw. Reichtum in der
Welt, in Europa, in Deutschland und im Freistaat Thürin­gen?
8. Ist der Landesregierung und Ministerpräsidenten Ramelow bekannt, dass in einer globalen Entwicklungsperspektive die Armut in den letzten Jahrzehnten rapide abgenommen hat, obwohl gleichzeitig auch die
globale Wertschöpfung und damit auch der Reichtum deutlich gewachsen ist?
9. Ist dem Ministerpräsidenten bekannt, dass führende Entwicklungsökonomen den Abbau der Armut
entscheidend auf starkes Wirtschaftswachstum, Freihandel, Rechtsstaatlichkeit und eine steigende
Integration von Entwicklungs­ländern in die Weltwirtschaft zurückführen?
10.Auf welcher Grundlage kommt Ministerpräsident Ramelow zu einer gegenteiligen Behauptung?
11.Wie ist die Aussage von Ministerpräsident Ramelow aufzufassen, er stehe "in der Opposition zu Verhältnissen" und wie ist diese Aussage mit seinen Amtspflichten bzw. seinem Amtsverständnis in Übereinstimmung zu bringen?
Die Thüringer Staatskanzlei hat die Kleine Anfrage namens der Lan­desre­gierung mit Schreiben vom
28. Juli 2015 wie folgt beantwortet:
Vorbemerkung:
Die Kleine Anfrage bezieht sich in erster Linie auf ein Interview des Thüringer Ministerpräsidenten, welches
sich mit dem übergeordneten Thema "Religion und Politik" auseinandergesetzt hat. Hintergrund war der
Evangelische Kirchentag in Stuttgart sowie der wenig später abgehaltene Bundesparteitag der Partei DIE
LINKE. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow wurde zum Verhältnis von Religion und Politik in
den unterschiedlichsten Themenbereichen befragt. Zu keinem Zeitpunkt bestand die Intention des Journalisten oder des Ministerpräsidenten darin, ein wirtschaftswissenschaftliches Interview zu führen. Der Aussage des Ministerpräsidenten zum Thema "Armut und Reichtum", auf die sich die Kleine Anfrage 341 unter
anderem bezieht, ging die Frage voraus: "Wünschen Sie sich mehr Protest vom Protestantismus?"
In diesem Kontext sind die Äußerungen des Ministerpräsidenten als Aussage zu Armut als globaler Herausforderung zu sehen und schließen an die von ihm schon häufig formulierte Feststellung an, dass es kein
unbegrenztes Wachstum auf Kosten bzw. zu Lasten der Schwachen und Hilfebedürftigen in der Weltgemeinschaft geben kann und darf. Die Antwort auf die "soziale Frage" findet sich nach Auffassung des Thüringer Ministerpräsidenten dagegen auch im Modell der sozialen Marktwirtschaft wieder, wonach Märkte
Regeln unterworfen sein müssen, um eine gerechte Teilhabe aller zu gewährleisten. Insofern lässt sich ein
Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut gerade dort beobachten, wo keine sozialstaatliche Regulierung marktwirtschaftlichen Verhaltens existiert und Arbeitnehmer von Ausbeutung bedroht sind oder unmittelbar unter ihr leiden. Ein Faktum, auf das jüngst auch Papst Franziskus aus Anlass seiner Südamerikareise mit klaren Worten hingewiesen hat. Insofern erfolgt die Antwort auf die Kleine Anfrage 341 vor dem
Hintergrund der vorgenannten Hinweise.
Zu 1.:
Eine eigene entwicklungspolitische Agenda des Freistaats zur Beseitigung von Fluchtursachen ist nicht
vorgesehen. Dieser umfassenden globalen Herausforderung für die Politik kann nicht durch Aktivitäten auf
Ebene eines einzelnen deutschen Landes, sondern nur durch gemeinsames und abgestimmtes Handeln
zwischen den Staaten der Europäischen Union sowie der Weltgemeinschaft begegnet werden. Über den
Bundesrat wird die Landesregierung jedoch Einfluss auf die Bundesregierung nehmen, aktiv zur Beseitigung der Fluchtursachen beizutragen.
Zu 2.:
Ja, es gibt konkrete Pläne der Thüringer Landesregierung, das Thema "Entwicklungspolitik" stärker in der
Politik der Thüringer Landesregierung zu verankern. Zum einen werden die seit dem Jahr 1996 unverändert bestehenden "Entwicklungspolitischen Leitlinien" in einem breit angelegten Bürgerbeteiligungsprozess
umfassend reformiert. Zum anderen plant die Thüringer Landesregierung, sich ab dem Jahr 2016 am vom
Bund mitfinanzierten "Promotorenprogramm" zu beteiligen. Ziel ist, durch Ausbildung von sogenannten Promotoren das Thema "Entwicklungszusammenarbeit", globales Denken und Handeln tiefer im Bewusstsein
der Bürgerinnen und Bürger zu verankern. Durch entsprechende Bildungsarbeit soll auf die globale Dimen-
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sion des eigenen Handelns aufmerksam gemacht und ein Prozess des Umdenkens angestoßen werden.
Voraussetzung dafür ist die Bereitstellung entsprechender Haushaltsmittel
Zu 3.:
Die Frage, ob eine bestimmte Lebenslage als "Armut" zu betrachten ist, ist immer von der Perspektive bzw.
von normativen Faktoren abhängig. Wie in jedem wissenschaftlichen Diskurs bestehen auch hier unterschiedliche Ansätze und Definitionen.
In der Regel wird zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden. In der politischen Diskussion wird
jedoch der Begriff der Armutsgefährdung als maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Diskussion von Armut
verwendet. Nach der sowohl in der Begrifflichkeit der europäischen Institutionen als auch von der Bundesregierung bzw. dem Statistischen Bundesamt verwendeten Definition misst die Armutsrisikoquote "… den
Anteil der Personen, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Dabei bleiben die Wirkungen von Sach- und Dienstleistungen unbeachtet." (Vgl. 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Kurzfassung Seite VII)
Ein relativer Armutsbegriff berücksichtigt hingegen immer auch - materiellen - gesellschaftlichen Reichtum,
da er letztlich eine Messung der Einkommensverteilung in einer Gesellschaft darstellt. Nach diesem Messkonzept trifft die Aussage zu, dass wachsender Reichtum in einer Gesellschaft die Armutsgefährdungsquote und damit die Spaltung erhöht, wenn geringere Einkommen nicht in gleichem Maße steigen.
Zu 4.:
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang beispielgebend auf den französischen Wirtschaftswissenschaftler
Thomas Piketty. In der umfangreich diskutierten Schrift "Das Kapital im 21. Jahrhundert" zeigt er auf, dass
fehlende Regulierung zu einer steigenden Vermögenskonzentration führt. Mit den Worten von Thomas Piketty: "Die allgemeine Lehre, die sich aus den untersuchten Daten ziehen lässt, ist die, dass die Dynamik
einer auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, machtvolle
Konvergenzkräfte freisetzt, die namentlich in der Verbreitung von Kenntnissen und Fähigkeiten liegen, aber
auch machtvolle Divergenzkräfte, die unsere demokratischen Gesellschaften und jene soziale Gerechtigkeit bedrohen, die zu ihren Legitimationsgrundlagen zählt. Die mächtigste destabilisierende Kraft liegt in
der Tatsache, dass die private Kapitalrendite "r" dauerhaft sehr viel höher sein kann als die Wachstumsrate des Einkommens und der Produktion "g". Die Ungleichung r > g sorgt dafür, dass Vermögen, die aus
der Vergangenheit stammen, sich schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen. In dieser
Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der
Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als
ihre Arbeit besitzen. Wenn es einmal da ist, reproduziert Kapital sich von selbst - und zwar schneller, als
die Produktion wächst. Die Vergangenheit frisst die Zukunft." (Thomas Piketty, DAS KAPITAL im 21. Jahrhundert, Seite 758 f.)
Zu 5. und 6.:
Die Aussage von Ministerpräsident Ramelow war vom Charakter der Allgemeingültigkeit geprägt und bezog sich nicht auf ein konkretes Land/konkrete Länder.
Zu 7.:
Die Entwicklung in Deutschland wird in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung
(4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung) dokumentiert. Für die EU ist die europaweit durchgeführte Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (European Union Statistics on
Income and Living Conditions [EU-SILC]) maßgeblich. Auch das Statistische Bundesamt erhebt seit einigen Jahren Daten zur Armutsgefährdung, wo sich für Bund und Länder, insbesondere Angaben zur Armutsgefährdungsschwelle und zur Armutsgefährdungsquote (gemessen am Bundes- und am Landesmedian),
finden. Weltweit liefert u.a. der Armutsbericht des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen Zahlen, Daten und Fakten.
Zu 8.:
ja
Zu 9.:
Ja; in gleicher Weise plausibel sind zudem wissenschaftliche Untersuchungen, die zudem für den Abbau
von Armut weniger Freihandel, öffentliche Bildungsangebote, soziale Sicherungssysteme, Korruptionsver-
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meidung sowie ein auf Umverteilung und gerechte Lastenverteilung orientiertes Steuersystem verantwortlich machen.
Zu 10.:
Die Formulierung des Ministerpräsidenten nahm zu keinem Zeitpunkt Bezug auf die in Frage 8 und Frage 9 angeführten wirtschaftswissenschaftlichen Aussagen, insofern kann seiner Formulierung auch keine
gegenteilige Behauptung innewohnen.
Zu 11.:
Der in Artikel 71 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen niedergelegte Amtseid des Ministerpräsidenten lautet: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, Verfassung und Gesetze
wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde."
Diesen Amtseid mit Leben zur erfüllen bedeutet auch, auf wahrnehmbare Missstände, Ungleichheiten bzw.
Fehlentwicklung ("Verhältnisse") in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, Bewusstsein zu schaffen und
Veränderungsprozesse anzustoßen.
Prof. Dr. Hoff
Chef der Staatskanzlei
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