Heidelberger Akademie der Wissenschaften Forschungsstelle Buddhistische Steininschriften Suey-ling Tsai sueyling.tsai[at]adw.uni-heidelberg.de Aussagemöglichkeiten der Archäologie für die Kunsthistorie Chinas Als ich im Jahr 1992 nach Heidelberg kam, um Ethnologie und Kunstgeschichte zu studieren, habe ich schon bald von Magdalene von Dewall (Abb.1), ihrer Forschung, und ihren gemeinnützigen Unternehmungen gehört. Sie beeindruckte enthusiastische, mich auf nicht China nur als eine spezialisierte Archäologin, sondern auch als eine selbstlose, sozial denkende und handelnde Person. Am meisten hat mir imponiert, wie sie auf eigene Kosten den prominenten Archäologen Tong Abb. 1 Magdalena von Dewall auf dem Festsymposium zu ihrem 80. Geburtstag, Foto: I. L. Klinger, 2007. Theorie über den „halbmondförmigen Enzheng (Abb.2) aus Sichuan nach Heidelberg einlud. Er leistete in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Pionierarbeit mit seiner Gürtel des kulturellen Austausches an den Grenzgebieten Chinas (biandi banyue xing wenhua chuanbo dai 邊地半月形文化 傳播帶)“, der von Nordost- über Nordwest- bis hin nach Südwestchina verläuft. Tong Enzheng betonte dabei, dass in diesem „Halbmond“ immer ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen China und den Fremdvölkern stattfand, und die Stoßrichtung nie nur eine einseitige war. Abb. 2 M. von Dewall unter chinesischen und deutschen Wissenschaftlern. Foto: I. L. Klinger 1 Tong Enzhengs These findet heute immer mehr Anerkennung, da China im Austausch mit westlichen Ländern in großem Umfang Güter materieller und geistiger Art ex- und importiert.1. Die großherzige Frau, die diesen bedeutenden Wissenschaftler, der zugleich auch eine außergewöhnliche Persönlichkeit war, nach Heidelberg eingeladen hat, blieb mir zunächst rätselhaft. Sie war bereits im Ruhestand, und ich konnte bei ihr kein Seminar mehr besuchen. Deshalb hätte ich damals gar nicht gedacht, dass ich Magdalene von Dewall eines Tages kennenlernen würde. Der Anlass war die Vorbereitung der Ausstellung "Schätze für König Zhao Mo – Das Grab von Nan Yue", die die Ostasiatische Abteilung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Heidelberg unter der Leitung von Margarete Prüch organisierte, und die am 5. Dezember 1998 in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt eröffnet wurde. Ahnungslos hatte ich mir eine bronzene Situla ausgesucht, um darüber einen Eintrag für den Ausstellungskatalog zu schreiben.2 Bald aber kam eine zierliche Frau in fortgeschrittenem Alter auf mich zu, stellte sich mit ihrem chinesischen Namen "德麥玲" (De Mailing) vor. Der Name bedeutet etwa „Exquisiter Weizen aus tugendhafter oder deutscher Familie“ und ich wunderte mich über die Ähnlichkeit ihres Namens mit meinem eigenen: „Exquisite Weizenähren der Familie Tsai“. Sie bat mich freundlich aber bestimmt darum, ihr das Objekt zur Bearbeitung zu überlassen. Ich tat es schweren Herzens, da mich das Bronzegefäß doch sehr faszinierte und ich in diesem Moment noch nicht wusste, dass ich die legendäre Frau von Dewall vor mir hatte. Nach dieser für mich erst einmal etwas schmerzlichen Begegnung hat sich aber im Laufe der Katalogbearbeitung, und dann lange darüber hinaus bis zu Frau von Dewalls Tod, ein lebhafter fachlicher Austausch und ein freundlicher, ja herzlicher Umgang entwickelt. In diesem Beitrag möchte ich anhand dieses Objektes, welches der Ausgangspunkt unserer langjährigen Freundschaft war, Magdalene von Dewalls gedenken und dabei demonstrieren, welche Erkenntnismöglichkeiten zum Verständnis der chinesischen Kunst uns diese Archäologin Chinas eröffnet hat. 1 HEIN, Anke (Hg.): The ‚Crescent-Shaped Cultural-Communication Belt‘: Tong Enzheng’s Model in Retrospect. BAR International Series 2679, 2014. 2 Siehe die Abbildung der bronzenen Situla in: PRÜCH, Margarete (Hg., unter Mitarbeit von Stephan von der Schulenburg): Schätze für König Zhao Mo: Das Grab von Nan Yue. Katalog zur Ausstellung der Schirn-Kunsthalle Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am Main. Heidelberg 1998, S. 153. 2 Es handelt sich dabei um ein 40,7 cm hohes eimerförmiges Bronzegefäß. 3 Der Durchmesser beträgt am Boden 33 cm, an der Mündung 34–35,5 cm. Das Dekor der äußeren Wandung läuft in drei Registern um das ganze Gefäß herum. Das obere und das untere Register sind mit in die Gußform eingepressten geometrischen Formen gefüllt. Das mittlere Register enthält, ebenfalls eingepresst, vier Bildsegmente, die sich in geschlossener Abfolge rings um die Gefäßwand ziehen.4 In jedem Bildsegment sind je ein reich verziertes Langschiff, auf dem Schiff fünf Akteure befinden, sowie Tiere um das Schiff herum zu sehen. Sowohl die Akteure als auch die Steven des Schiffes tragen hochragenden Federschmuck, so dass der Eindruck einer Prozession entsteht. Auf einer im Detail wiedergegebenen Abbildung des ersten Schiffs ist zu sehen, wie der erste Akteur mit zwei Händen und einem Fuß das Heckruder betätigt, welches ebenfalls mit einer überlangen Feder geschmückt ist. 5 Am Ende des Heckruders ruht eine Schildkröte im Wasser, über der ein in der Luft schwebender Vogel den Federschmuck des Schiffs küssen zu wollen scheint. Der zweite Akteur steht auf einem Tisch, wahrscheinlich einem Altar; er ist mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Unter dem Tisch sind Gefäße zu sehen. Der dritte Akteur steht aufrecht, fasst mit der Linken einen nackt am Boden hockenden Gefangenen am Haarschopf, vielleicht soll dieser mit dem Dolch, den der Akteur in der rechten Hand hält, geopfert werden. Der vierte Akteur, auf einem Hocker sitzend, spielt Musik. Mit der Linken hält er einen Schlegel, um damit die Ständertrommel vor ihm zu schlagen. Mit der Rechten bedient er ein anderes Instrument, das noch nicht identifiziert worden ist. Der letzte Akteur an Bord ist wiederum bewaffnet, diesmal mit Schild und einer Lanze mit doppelter Spitze. Unter Deck sind weitere Gegenstände zu sehen. Bemerkenswert sind die Bronzetrommeln, die unter dem Musiker verstaut sind. Ähnliche Szenen spielen sich auf den anderen drei Schiffen ab. Sowohl der fünfte Akteur auf dem dritten Schiff als auch der zweite Akteur auf dem vierten Schiff halten in ihrer Linken zum Zeichen des Triumphs je einen abgeschlagenen Kopf.6 Nachdem wir die bildlichen Motive näher betrachtet haben, wollen wir uns fragen, welche Methode uns den besten Zugang gewährleistet, um das Objekt in seinem Kontext zu verstehen. Zweifelsohne ist eine Bearbeitung ohne archäologisches Wissen nicht möglich. Magdalene von Dewall hat das an diesem Objekt beispielhaft demonstriert. Ihr Eintrag im Katalog Schätze für 3 Siehe PRÜCH: Schätze für König Zhao Mo, S. 153. Siehe ebd., S. 154: Abreibung und Umzeichnung des mittleren Registers. 5 Siehe ebd., S. 154: Abreibung und Umzeichnung des ersten Schiffs. 6 Siehe ebd., S. 154: Abreibung und Umzeichnung des mittleren Registers. 4 3 König Zhao Mo zeigt par excellence, welche Erkenntnismöglichkeiten eine systematische archäologische Herangehensweise für das Verständnis der Kunst Chinas bietet. Zunächst einmal fragt sie nach der Herkunft der Situla. Dabei unterscheidet sie einen Mikro- und Makro-Kontext. Der Mikro-Kontext der Situla ist das Grab von König Zhao Mo, das im Norden der heutigen Provinz Kanton (Guangdong) ausgegraben wurde. Wie Frau von Dewall gezeigt hat, wurde das Gefäß in einer der acht Kammern des Grabes gefunden, und zwar im hinteren Bereich der sog. östlichen Vorkammer. 7 8 In dieser Kammer befanden sich Glockenspiele, Klangsteine, große Bronzegefäße und Keramiken. Die Situla war das kleinste von drei ähnlichen Gefäßen, die eng ineinandergesteckt bzw. eingekeilt auf dem Boden standen. Im Ganzen wurden aus dem Grab über tausend Objekte zu Tage gefördert. Der Makro-Kontext ist der Herrschaftsbereich des Grabherrn, Zhao Mo. Er war der zweite Herrscher des unabhängigen Königreiches Nan Yue, dem „Südlichen Land Yue“, dessen Siedlungsgebiet die heutigen chinesischen Provinzen Guangdong, Guangxi, Yunnan sowie NordVietnam umfasste.9 Seine Hauptstadt befand sich im Süden des heutigen Kanton. Zhao Mo starb im Jahr 122 vor Chr. Der Reichsgründer namens Zhao Tuo war der Großvater Zhao Mos; er war ein Nord-Chinese und einer der Kommandanten, die 219 v. Chr. vom Ersten Kaiser von China (Qin-Shihuangdi; reg. 247–210 v. Chr.) erfolgreich ausgesandt worden waren, um die sogenannten „Hundert Stämme in Yue“ zu unterwerfen. Nach dem Untergang der Qin-Dynastie ging Zhao Tuo Bündnisse mit den lokalen, nicht-chinesischen Clanführern ein und formte seine Kommandantur zu einem Königreich um, dem er auch noch zwei benachbarte Kommandanturen einverleibte. Diesem Kraftakt machte nach einem Jahrhundert die auf die Qin-Dynastie folgenden Han-Dynastie ein Ende. Im Jahre 111 v. Chr., also 11 Jahre nach dem Tod des Königs Zhao Mo, wurde das Südliche Land Yue von Truppen des Kaisers Wu erobert und als Präfektur (Jiaozhi 交趾) in das chinesische Reich eingegliedert. Wie Frau von Dewall in ihrem gedankenreichen Essay „Chinas Südregion als Schauplatz frühgeschichtlicher Kulturbegegnung“ gezeigt hat, spiegelt sich die hybride kulturelle Situation im Reich des Königs in seinem Grab. Sicher und prägnant schreibt sie in dem Eintrag über die Situla: 7 Siehe PRÜCH: Schätze für König Zhao Mo, S. 57: Grundriss des Grabes von König Zhao Mo. Siehe ebd., S. 57: Foto der östlichen Vorkammer. 9 Zur geographischen Lage des Königreichs Nan Yue siehe http://www.ox.ax.uk/XDB/tours/china34.asp. 8 4 „Die geographische Verbreitung der Situla, die in der Regel ornamental und nur ausnahmsweise bildlich ausgestaltet ist, hat ihren Schwerpunkt jenseits der chinesischen Fundgebiete in der nordvietnamesischen Dongson-Kultur.“ Ich zeige zum Vergleich ein repräsentatives Exemplar der Dongson-Kultur, die von etwa 800 v. Chr. bis 200 n. Chr. im nördlichen Vietnam und in Südchina existierte: die Bronzetrommel aus dem Grab Nr. 1 von Luobowan, Kr. Gui Xian in der Provinz Guangxi, welches wie das Grab von Zhao Mo ebenfalls um das 2. Jh. v. Chr. datiert wird.10 Frau von Dewall zieht das Stück geschickt zum Vergleich mit der Situla heran. Sie macht darauf aufmerksam, wie ähnlich die Bildmotive und die Ornamente auf den beiden Gegenständen sind. Bildmotive Eine Detailabbbildung zeigt das gemeinsame Dekor: durch Tangenten verbundene Kreise, Sägezahn- und Perlbänder sowie die Schiffsprozession. 11 Auch hat Frau von Dewall auf das überzeugende Detail hingewiesen, dass genau solche Bronzetrommeln mit dem typischen eingezogenen Profil im ersten Schiff unter Deck unterhalb des Musikers dargestellt sind. Vier Exemplare sind dort deponiert.12 Auf anderen Schiffen kann man leider wegen des schlechten Zustandes nicht mehr erkennen, ob Trommeln dargestellt waren. Frau von Dewall fasst zusammen: "Zusammen mit den als ‘Leitfossil‘ anzusprechenden Bronzetrommeln in reicheren Grabinventaren der Späten Bronzezeit, die sich noch mit der Frühen Han-Zeit überschneidet, erfährt die Bronzesitula ein deutlich zeremonielles Gepräge." Auch das Inventar der Östlichen Vorkammer, in der die Bronzesitula in einem Dreier-Set gefunden wurde, bestätigt die These von Frau von Dewall. In dieser Kammer befanden sich vorwiegend Gegenstände für rituelle Zwecke, wie Glockenspiele, Klangsteine und Opfergefäße. Sogar ein Musikant ist in der Kammer mitbestattet worden. Er sollte im Jenseits weiterhin die Zeremonien für den Herrscher mit seiner Musik begleiten. 10 Siehe PRÜCH, Schätze für König Zhao Mo, S. 100: Abbildung der Bronzetrommel aus dem 2. Jh. v. Chr. aus Grab Nr. 1 von Luobowan, Kr. Guixian, Provinz Guangxi. 11 Siehe die Detailabbildung der Bronzetrommel aus Grab Nr. 1 von Luobowan, Kr. Guixian, Provinz Guangxi, in: GUANGXI ZHUANGZU ZIZHIQU BOWUGUAN (Hg.): Guangxi Guixian Luobowan Han mu/Luobowan Han Dynasty Tombs in Guixian County, Beijing 1988, Taf. 1. 12 Siehe PRÜCH, Schätze für König Zhao Mo, S. 154: Detail Abreibung und Umzeichnung des ersten Schiffes. 5 Erkenntnismöglichkeiten Mit ihrer ausführlichen Darlegung am Beispiel der Bronzesitula hat uns Frau von Dewall vorbildlich gezeigt, welche Erkenntnismöglichkeiten die Archäologie für die Kunst Chinas bieten kann. Unter anderen sind folgende Punkte hervorzuheben: Herkunft, Kontext, Einordnung nach Form und Typ, Häufigkeit des Vorkommens, Bestimmung der Funktion und Vergleich des Bildmotivs. Selbstverständlich bietet die Archäologie dem Kunsthistoriker noch mehr an. Es ist jedoch nicht möglich und auch nicht das Ziel meines kleinen Vortrags, alle Punkte hier abzuhandeln. Stattdessen möchte ich zum Schluss nur zusammenfassen und damit noch einmal Frau von Dewall würdigen: Die Bronzesitulen im ineinandersteckenden Dreier-Set in der Östlichen Vorkammer des Grabs von König Zhao Mo sind Importe. Sie waren umgeben von Ritualgegenständen aus dem chinesischen Kaiserreich. Die Bronzesitula entspricht nicht der Norm, die wir aus dem Kernland China kennen. Aber gerade deshalb war Frau von Dewall so daran gelegen, das Stück für die Ausstellung bearbeiten zu können. Sie wollte die verschiedenen Faktoren identifizieren und analysieren, die bei seiner Entstehung mitgewirkt haben. Geradezu liebevoll beschreibt sie das Zusammenspiel von lokaler und überregionaler Kultur, von einer leicht unbeholfenen, exotischen aber doch so charmanten Formensprache im Angesicht eines mächtigen, ja übermächtigen imperialen Gestus. Vielleicht sah Frau von Dewall in diesem zwei Jahrtausende alten Gefäß auch ein Sinnbild ihrer eigenen Situation: in einem etablierten, in sich selbst ruhenden, mächtigen Gebäude der Wissenschaft war sie eine Exotin. Sie hatte zwar in diesem Gebäude ihren Platz, aber auf einem Erker, von wo aus sie uns zeigte, wie man weit in die Ferne schauen kann und soll. Aus bildrechtlichen Gründen wird in diesem Beitrag auf die Wiedergabe von Abbildungen (mit Ausnahme der Fotos von I. L. Klinger) verzichtet. Anfragen von Interessenten können an die Autorin gerichtet werden. 6
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