A3 Herrschaft

Einführung in die Politikgeschichte des industriellen
Zeitalters
A. Politische Grundbegriffe
3. Herrschaft (Bevc, S. 53ff.)
Definition und gesellschaftliche Bedeutung:
Herrschaft ist grundlegend für jede Art von Politik und politischer Gemeinschaft.
Herrschaft bezeichnet eine asymmetrische soziale Wechselbeziehung von
Befehlsgebung und Gehorsamsleistung, d.h. ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, das rechtmäßig anerkannt ist
und institutionalisiert ist. Herrschaft ist auf Dauer angelegt und die Ausübung
Regeln unterworfen. Indem Herrschaft Unterordnung und Folgebereitschaft
aufzwingt, verschafft sie den sozialen Beziehungen eine ordnende Struktur. Sie ist
daher eine tragende Säule jeder Gesellschaft.
Zu den großen Klassikern und Orientierungsgrößen der Herrschaftstheorie zählt
der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes.
Vielzitiertes Hauptwerk „Leviathan“ von 1651
Es geht der Grundfrage aller Politik nach, wie ein geordnetes Staatswesen
dauerhaft einzurichten ist:
• Anti-Chaos-Maxime allen politischen Systemdenkens
• Ideal von Hobbes: ein Herrschers, dem sich alle unterwerfen und den alle
anerkennen um einer friedlichen, stabilen und dauerhaften
Herrschaftsordnung willen.
• Die Staatsbürger tauschen ihre Freiheit gegen Sicherheit ein.
• Unbeschränkte menschliche Freiheit führt zu unerbittlichem
Konkurrenzkampf, der das menschliche Sicherheitsbedürfnis untergräbt.
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Buch Hiob:
Non est potestas super terram
quae comparetur ei.
Titelblatt der Originalausgabe von 1651
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Das Titelblatt zeigt einen überlebensgroßen Herrscher als Leviathan, dessen
Körper aus menschlichen Leibern besteht:
Leviathan = Seeungeheuer der altorientalisch-biblischen Mythologie
Insignien der weltlichen und geistlichen Macht: Schwert und Hirtenstab
Zitat aus dem Buch Hiob des Alten Testament als Legitimationsgrundlage
des Herrschers: „Non est potestas super terram quae comparetur ei.“ (zu
deutsch: „Keine Macht auf Erden ist der seinen vergleichbar.“)
Leviathan als Sinnbild für den übermächtigen Staat, der den Naturzustand
des Menschen als Kriegszustand überwindet.
o Lateinische Redewendungen, auf Hobbes zurückgeführt:
- „Homo homini lupus“ („Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf“),
[ursprünglich: Ausspruch des römischen Schriftstellers Plautus]
- „Bellum omnium contra omnes“ („Der Krieg aller gegen alle“)
Urmenschliche Furcht vor dem Verlust von Leben und Eigentum schafft den
Antrieb, sich des Naturzustandes zu entledigen und sich auf die künstliche
Konstruktion einer Staatsgewalt einzulassen, - wohlwissend, dass der Mensch
seiner Natur nach nicht Seinesgleichen vertrauen darf.
Folge:
Selbstunterwerfung des Menschen unter einen Herrscher, der das Gesamtinteresse
aller verkörpert, - ausgedrückt darin, dass der Körper des Leviathan aus allen
Bürgern des Gemeinwesens besteht.
Hobbes lehnt die Gewaltenteilung als übermäßige Schwächung der Staatsgewalt
ab. Offen bleibt, wie die Missbrauchskontrolle gegenüber einer unzureichenden
oder unfähigen Staatsgewalt funktionieren soll.
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Das Herrschaftsproblem aus der Sicht des Soziologen Max Weber
Eine Typologie legitimer Herrschaft laut Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“
aus dem Jahre 1920
Definition legitimer Herrschaft:
Nicht jede Art von Chance, Macht und Einfluss auf andere Menschen auszuüben,
ist Herrschaft. Herrschaft liegt dann vor, wenn es eine Chance gibt, bei einer fest
umrissenenen Gruppe dauerhaft Gehorsam zu finden. Gehorsam schließt den
Glauben an die Legitimität der Herrschaft ein. Ohne Legitimität kann Herrschaft
nicht auskommen.
Die Form der Legitimität der Herrschaft bestimmt den Typus des Gehorchens und
damit den Charakter der Ausübung von Herrschaft.
Weber unterscheidet drei Grundtypen legitimer Herrschaft:
Herrschaft rationalen Charakters
Herrschaft traditionalen Charakters
Herrschaft charismatischen Charakters
Diese Typen sind analytische Instrumente und dienen der klassifizierenden
Beschreibung und Einordnung von Herrschaftsformen.
Sie haben als Idealtypen ordnend klassifizierende, differenzierende und damit
analytische Funktion und dürfen nicht mit normativen Kategorien verwechselt
werden.
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Die rationale Herrschaft erhält ihre Legitimität durch den Glauben
o an die Legalität niedergeschriebener und mit Autorität behafteter
Ordnungen und
o an das Anweisungsrecht der auf Basis verschriftlichter Ordnungen zur
Herrschaft Berufenen.
Die traditionale Herrschaft erhält ihre Legitimität durch den Alltagsglauben an
die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und an die Legitimität der durch sie
zur Autorität Berufenen.
Die charismatische Herrschaft bekommt ihre Legitimität durch die
außeralltägliche Hingabe
o an die Heiligkeit
o Heldenkraft
o außergewöhnliche Vorbildlichkeit
o Übermenschlichkeit
einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen.
Die rationale Herrschaft ist als rein bürokratische die effektivste und rationalste
Form der Herrschaftsausübung. Der Herrscher tritt in Form des Vorgesetzten auf.
Für diese Herrschaft ist ein modernes Beamtentum Voraussetzung. Bürokratische
Herrschaft hat laut Weber den Vorteil, dass der ‚ideale Beamte’ aufgrund seines
Pflichtgefühls alle in gleicher Lage sich befindlichen Interessen ohne Ansehen der
Person gleich behandelt – nach dem rechtstaatlichen Grundsatz, dass „vor dem
Gesetz alle gleich sind“. Rationale Herrschaft über Bürokratie ist deshalb unlöslich
mit Rechtsstaatlichkeit verknüpft. Das heißt: Es herrscht das von der Bürokratie
umzusetzende Recht und nicht persönliche Willkür.
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Bei der traditionalen Herrschaft ist der Herrscher nicht der Vorgesetzte, sondern
der „Herr“; sein Verwaltungsstab besteht nicht aus Beamten und Sachbearbeitern,
sondern aus „Dienern“. Oberste Handlungsmaxime ist nicht das schriftliche
fixierte Recht, sondern die mündliche Tradition von Moral und
Rechtsvorstellungen. Befehle auf traditionaler Herrschaftsgrundlage können daher
auf zweierlei Weise legitimiert sein: erstens kraft der Lebendigkeit der Traditionen
in den Köpfen der jeweiligen Akteure und zweitens kraft der freien Willkür des
Herrn, der die Spielräume ausreizt, die ihm die Tradition lässt. Patronage, Willkür
und Behandlung der Menschen nach Standesgesichtspunkten sind in der
traditionalen Herrschaftsausübung üblich.
Charismatische Herrschaft zeichnet sich dadurch aus, dass es einen Führer und
dessen Anhänger gibt. Der Begriff geht auf das altgriechische „charisma“ zurück,
womit göttliche Gnadengaben eines Menschen gemeint waren. In indirekter
Anlehnung daran bedeutet in der heutigen sozialwissenschaftlichen Fachsprache
„Charisma“, dass einem Menschen, einer Idee oder einer Organisation
außergewöhnliche, außeralltägliche oder gar übernatürliche Fähigkeiten und Kräfte
zugeschrieben werden. Demnach beruht die charismatische Herrschaft eines
Führers darauf, dass die Gefolgschaft an ihn glaubt, ihm außergewöhnliche
Fähigkeiten und Zukunftsvisionen zuschreibt. Dieser Bewertungsvorgang macht
charismatische Herrschaft enttäuschungsanfällig. Bei Erfolglosigkeit kann
charismatische Herrschaft ihre Legitimation einbüssen.
Charismatische Herrschaft orientiert sich nicht an abstrakten oder traditionalen
Rechtsprinzipien oder Rechtssprüchen, die gemessen an den außergewöhnlichen
Führungsansprüchen und Zielen zu einengend wären. Vielmehr beruht
charismatische Herrschaft auf aktuellen, situationsbedingten Rechtsschöpfungen,
die als höhere Offenbarungen und Eingebungen der außergewöhnlichen
Führerpersönlichkeit oder als Gottesurteil begriffen werden.
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Vergleich der Typen legitimer Herrschaft
Die charismatische Herrschaft ist der rationalen und traditionalen Form diametral
entgegengesetzt, weil als die beiden Letztgenannten an Regeln gebunden sind.
Sind es bei der rationalen Herrschaft diskursiv analysierbare Regeln, so sind es bei
traditionaler Herrschaft sog. Präzendenzen, also frühere Fälle und Beispiele.
Charismatische Herrschaft besticht geradezu durch ihre irrationale Regelfremdheit;
d.h. sie missachtet die Regeln der Vergangenheit. Legitim ist allein der Wille des
und die Anerkennung durch den Führer.
Wirklichkeitsbezug der Idealtypen
Diese Herrschaftstypen sind idealtypisch. In der Realität treten die Merkmale in
der Regel vermischt auf. Am ehesten lassen sich die Idealtypen bestimmten real
existierenden Regierungsformen zu ordnen: die rationale Herrschaft der
parlamentarische Massendemokratie, die traditionale Herrschaft dem Erbkönigtum
und die charismatische Herrschaft Herrschern, die von ihrer Anhängerschaft
vergöttert wurden wie Napoleon, Mussolini, Stalin oder Hitler. Max Weber selber
hat auch Bismarck als charismatische Führerpersönlichkeit empfunden, stand dabei
jedoch zeitbedingt eher unter dem Einfluss des um 1900 grassierenden
Bismarckkultes, als dass die historische Realgestalt eines Bismarck als
außergewöhnliche bis übernatürliche Führerfigur betrachtet worden wäre.
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