Ausführliches Porträt Fredy Hirschs, verfasst von

„Vor dem zweiten Tod durch Vergessen schützen...“ –
Fredy Hirsch (1916-1943)
Alexander Lohe
Eine kleine Gedenktafel erinnert am Gebäude der ehemaligen Schule des
Ghettos Theresienstadt an einen gebürtigen Aachener und ehemaligen
Schüler der Hindenburgschule, der Vorgängerinstitution des CouvenGymnasiums: Fredy Hirsch. Überlebende, die der Hölle der Ghettos und
der Lager entronnen und zum Zeitpunkt ihrer Befreiung noch Kinder oder
Jugendliche waren, haben in Dankbarkeit dafür gesorgt, daß hier sein Name
nicht vergessen wird. Doch welcher Lebensweg verbirgt sich hinter den
dürren Angaben der Gedenktafel?
Kindheit und Jugend in Aachen
Am 11. Februar 1916 wurde Alfred Hirsch, den später alle nur Fredy
nennen sollten, geboren. Er ist das zweite Kind des jüdischen Ehepaares
Heinrich und Olga Hirsch, die in der Innenstadt eine kleine Metzgerei
betrieben. Schon 1914 war sein älterer Bruder Paul zur Welt gekommen, der
während der nationalsozialistischen Diktatur Deutschland verlassen konnte
und ein angesehener Rabbiner in Buenos Aires wurde. Beide besuchten bis
1931 die Hindenburgschule.
Die Brüder waren führende Mitglieder des Jüdischen Pfadfinderbundes, der
sich vor Ort gebildet hatte. Schon in dieser Zeit erwies sich Fredy Hirsch als
herausragender Sportler, der mit Erfolg Gymnastik, Speerwurf und
Geräteturnen betrieb. Vor dem Hintergrund des sich in der deutschen
Gesellschaft verstärkenden Antisemitismus hielten die jüdischen Pfadfinder
ihre Mitglieder zu einem bewußten, offensiv vertretenen Judentum an. Eine
Position, die in der dezidiert liberal orientierten Aachener
Synagogengemeinde, in der es auch assimilatorische Tendenzen gab, nicht
überall auf Gegenliebe stieß.
Fahrten ins Zeltlager, Geländeübungen, Mutproben, lange Märsche, eine
geradezu soldatische Disziplin gehörten zum Programm des Jüdischen
Pfadfinderbundes.
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Prag
Nach kurzer Zwischenstation in Düsseldorf und Frankfurt, gelang Fredy
Hirsch schließlich 1935 die Flucht vor den nationalsozialistischen
Verfolgungen in die Tschechoslowakei, zunächst nach Brünn, später nach
Prag. Viele der tschechischen Juden waren in der deutschen Sprachkultur
verwurzelt, was seine Wahl des Zufluchtslandes beeinflußt haben dürfte. In
Prag nahm Fredy Hirsch sofort Kontakt mit der dort tätigen jüdischen
Pfadfinderorganisation auf und trat dem Turnverein Makkabi bei, der in der
Altstadt Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung bot. Dank seiner
organisatorischen Fähigkeiten avancierte Fredy bald zu dessen Leiter. Als
exzellenter Turner bewundert, aufgrund seiner unerschrockenen Haltung
geachtet, als Idealist, der bei Kerzenschein Rilkes „Weise von Liebe und
Tod“ rezitierte, zeigte er großes persönliches Charisma.
Mit der Besetzung Tschechiens 1938 durch die Deutschen wurden
Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden auch in Prag wirksam: Ausgrenzung,
Erniedrigung und Entrechtung; der staatlich organisierter Terror trafen sie
mit voller Härte. Rasch verloren sie den bisherigen sozialen
Lebenszusammenhang, eine Reihe fürsorglicher Aufgaben mußte fortan
von den jüdischen Gemeinden wahrgenommen werden. Besondere
Bedeutung kam dabei der zionistischen Bewegung zu, der sich Fredy Hirsch
zugewandt hatte. Sie bemühte sich, das schwierige Alltagsleben der
jüdischen Gemeinschaft zu organisieren und half bei der Vorbereitung einer
Auswanderung nach Palästina. Fredy Hirsch wurde Leiter des Referates für
Körperkultur innerhalb der Selbstorganisation der Jüdischen Gemeinde
Prag. Ab August 1940 war sie die einzige Einrichtung, die sich überhaupt
noch mit Angelegenheiten der Juden in Böhmen und Mähren befassen
durfte. Mithin war er der Verantwortliche für alle Fragen des Sports und der
Sporterziehung. In seinen Erziehungsidealen bekannte er sich zu
Gemeinschaftssinn, Disziplin und Kenntnissen jüdischer Geschichte,
schließlich zur hebräischen Sprache, „die die einzige Sprache unseres Volkes
werden muß“.
Theresienstadt
1941 allerdings wurde die Auswanderung verboten und stattdessen von den
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deutschen Machthabern beschlossen, die im Protektorat lebenden Juden in
Theresienstadt zu konzentrieren. Die Juden in Prag wußten am Anfang
nicht, welch grausame Wirklichkeit in Theresienstadt aufgebaut werden
sollte. Sie sahen in der Einrichtung des Ghettos einen Erfolg ihrer
Bemühungen, daß sie – nachdem die Auswanderung unmöglich war – im
sogenannten Protektorat bleiben konnten.
Zusammen mit anderen Führungspersonen der zionistischen Bewegung in
Prag kam Fredy Hirsch am 4. Dezember 1941 in Theresienstadt an. Durch
seine Arbeit in Prag in den engeren Leitungskreis der Juden in Tschechien
aufgerückt, wurde er Mitglied des sogenannten Ältestenrates in
Theresienstadt und übernahm die Organisation des Erziehungswesens. Es
war maßgeblich seine Initiative, die Kinder und Jugendlichen innerhalb des
Lagers Theresienstadt in Jugendheimen zusammenzufassen und jeder
Gruppe einen Leiter zu geben, der für sinnvolle Beschäftigung sorgte. Fredy
organisierte den Unterricht und Möglichkeiten zu sportlichen Aktivitäten.
Im Chaos entfesselter Inhumanität boten die Jugendheime den
Jugendlichen eine Alltagsstruktur, Orientierung und Ordnung, auch
konnten sie Gemeinschaftsgefühl vermitteln und boten mitunter Schutz.
Ein besonderes Ereignis beendete den Aufenthalt Fredy Hirschs in
Theresienstadt. Am 24. August 1943 traf ein Transport 1260 verwahrloster
Kinder aus Bialystok ein. Verschüchtert und stumm, viele barfuß, alle in
jämmerlichen Fetzen gekleidet und halb verhungert, wurden sie streng
isoliert von den anderen Gefangenen, niemand durfte sich ihnen nähern. In
einem abgeschirmten Bereich wurde das provisorisch eingerichtete
Kinderlager von Gendarmen bewacht. Pfleger und ein Arzt wurden aus
dem Ghetto geholt, die die Versorgung der Kinder übernahmen, aber nicht
mehr ins Ghetto zurückkehren durften. Von den Deutschen wurden die
Kinder für einen geplanten Austausch von Kriegsgefangenen benötigt.
Dramatische Szenen spielten sich ab, als die Kinder zum Duschen ins Bad
geführt werden sollten. Sie weigerten sich, die Duschen zu betreten,
schrieen „Nicht, nicht, Gas!“ Sie hatten die Ermordung ihrer Eltern mit
eigenen Augen gesehen und wohl Wissen um die Vernichtungslager.
Entgegen aller Verbote begab sich Fredy Hirsch zu diesen Kindern, die
später, als der beabsichtigte Austausch nicht zustande kam, in die
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Vernichtung deportiert wurden. Er wurde verhaftet und am 6. September
1943 nach Auschwitz deportiert.
Führer des Familienlagers in Auschwitz
5006 Juden aus Theresienstadt wurden mit diesem Transport nach
Auschwitz gebracht. Sie erwartete dort ein ungewöhnliches, besonders
tragisches Schicksal. Sie wurden nicht selektiert, behielten ihr Gepäck, ihre
Haare wurden nicht geschnitten. Sie wurden in einem eigenen
Lagerabschnitt untergebracht, innerhalb dessen sie sich frei bewegen
konnten. Sie erhielten sogar Schreibbewilligung und konnten mit den
Freunden und Angehörigen in Theresienstadt korrespondieren.
Direkt nach der Ankunft begann Fredy Hirsch, innerhalb des Familienlagers
seine Erziehungs- und Jugendarbeit wieder aufzunehmen. Er erreichte, daß
die Kinder über acht Jahre in einem Block zusammengelegt wurden, der
Appell innerhalb des Blocks abgehalten werden konnte und er Block – als
einziger – in Auschwitz geheizt wurde. Mit Hilfe von weiteren Erziehern
organisierte Fredy Hirsch ein Unterrichts- und Freizeitprogramm. So
wurden Spielzeuge gebastelt, die im Rahmen kleiner Ausstellungen sogar
der SS vorgeführt wurde und das Märchen Schneewittchen als Theaterstück
aufgeführt – eine Oase der Humanität in der Wüste der Brutalität. Fredy
Hirsch wurde zum anerkannten Führer des Familienlagers. Dabei dürfte er
sich spätestens in Auschwitz keine Illusionen mehr über den Charakter des
Lagers gemacht haben. Jeder in Auschwitz wußte, daß dies ein
Vernichtungslager ist – vermutlich auch die älteren Kinder.
Die Untergrundbewegung in Auschwitz und Tod
Als gesichert kann gelten, daß Fredy Hirsch zur Untergrundbewegung in
Auschwitz gehörte, die einen Aufstand plante. Das Sonderkommando, also
Häftlinge, die an den Gaskammern und in den Krematorien direkt
arbeiteten, hatten in Erfahrung bringen können, daß die Ermordung der
Mitglieder des Familienlagers nah bevorstand. Als die Planungen der SS
konkret wurden, soll Fredy Hirsch zugesagt haben, den Widerstand
mitzuorganisieren. Geplant war, die Baracken in Brand zu stecken und
damit den Häftlingen in anderen Lagerabschnitten das Signal zum Aufstand
zu geben.
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Doch die ursprünglichen Aufstandspläne zerschlugen sich. Um keine
Unruhe in der Gruppe auszulösen, täuschte man die Opfer mit dem
Versprechen, sie würden zu einem Arbeitseinsatz ins Reichsinnere gebracht.
Währendessen forcierte die Untergrundleitung ihre Vorbereitungen für
einen Aufstand und ließ Fredy Hirsch mitteilen, daß er die Leitung des
Aufstandes im Familienlager übernehmen solle. Doch dieser reagierte
darauf mit großer Unruhe. Immer wieder fragte er nach, was im Falle eines
Aufstandes mit den Kindern geschehen sollte. Schließlich bat Fredy um eine
Stunde Bedenkzeit. Man sollte ihn erst im Todeskampf wiederfinden. Offen
bleibt, was genau geschah, ob er selbst Gift schluckte oder ob es ihm
verabreicht wurde. So geschwächt, wurde er am Abend des 8. März 1943
mit 3791 anderen in die Gaskammer gebracht. Der Aufstand unterblieb.
Doch zeigten die Opfer der Mordtat ein letztes Zeichen ihres Widerstandes:
Im Angesicht des Todes sangen sie vor der Gaskammer die tschechische
Nationalhymne und die Hatikwa, die Hymne der Zionisten, die heute die
Nationalhymne des Staates Israel ist.
Bis heute ist der Tag der Ermordung der Opfer des Theresienstädter
Familienlagers für viele tschechische Juden ein Trauertag. Sie haben auch
die Erinnerung an Fredy Hirsch über Jahrzehnte bewahrt. Auch in Aachen
beginnt man, sich an ihnzu erinnern. Das Bemühen darum sollte auch
durch seine frühere Aachener Schule verstärkt werden, damit der Name
dieses charismatischen Jugendführers vor dem zweiten Tod durch
Vergessen bewahrt bleibt.
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