Verena Philipp, Modistin Vielseitige Interessen unter einen Hut gebracht Modistin war immer ihr Traumberuf. Im zweiten Anlauf hat Verena Philipp ihn ergriffen. In ihrem Atelier in Chur fertigt sie Kopfbedeckungen aller Art. Reich wird sie damit nicht. Reichlich entschädigt wird sie mit der Freude an ihrem Kunsthandwerk. «Eine Zeitlang haben mich Fassaden inspiriert, beispielsweise Blechstrukturen.» Inspiration findet Verena Philipp auch in der Natur. Text Kujtim Sabani Fotos Simone Gloor Das Appartement ist lichtdurchflutet. Auf einem Möbelstück ist das Jahr 1808 eingraviert. Das Haus in Chur ist Wohnraum und Werkstatt zugleich. «Am liebsten hätte ich ein Atelier ausserhalb, damit ich die Besucherinnen und Besucher nicht in meiner Wohnung empfangen müsste», sagt Verena Philipp. In einem Regal ist das Rohmaterial eingelagert. Nebenan hängen in einem karussellartigen Ständer die fertigen Hüte. Im Zentrum des Raumes steht der Tisch, an dem sie die unterschiedlichsten Rohmaterialien schneidet, bügelt und vernäht. Der Beruf der Modistin entstand aus dem Hutmacher, hauptsächlich ein Männerberuf, und der Putzmacherin, primär ein Frauenberuf. Heute sind es vor allem Frauen, die dieses Handwerk ausüben, die Unikate fertigen, ihren kreativen Ideen freien Lauf lassen. «Eine Zeitlang haben mich Fassaden beeinflusst, beispielsweise Blechstrukturen.» Verena Philipp fertigt Kopfbedeckungen und Kopfschmuck jeglicher Art an: Kinder-, Frauen- und Herrenhüte, Mützen, Stirnbänder, Hochzeitsschmuck, Jagdhüte, aber auch Therapiehüte für Menschen, die unter Haarverlust leiden. Ihre Tätigkeit bezeichnet sie bescheiden als Handwerk. Meistens fertigt sie exklusive Einzelstücke, extravagante Kopfbedeckungen, kleine Kunstwerke. Für solche reationen benötigt sie bis zu einem ganzen Tag. Ein Serienstück, K beispielsweise eine einfache Jagdmütze, nimmt drei Stunden in Anspruch. Dies sind oft Schnitthüte, das heisst, es wird mit einem Schnittmuster gearbeitet. Viel Feinarbeit steckt in einem Filz- oder Strohhut – sogenannte Formhüte. Die Rohlinge werden über eine Holzform gezogen oder mit einem Bügeleisen von Hand geformt. Unsichtbare Details «Das Meisterhafte liegt darin, das Material fachgerecht zu ver arbeiten, aus etwas Bescheidenem ein spezielles Werk hervor zubringen», betont die Modistin. Für sie ist die handwerkliche Genauigkeit ebenso wichtig wie die Form. Dem Laien fallen solche Details nicht immer auf. Der Hut ist ohnehin so aufgebaut, dass diese handwerkliche Feinarbeit meist nicht sichtbar ist. Manche Modelle entstehen bei Verena Philipp gedanklich. Ohne Zeichnungen beginnt sie, die Ideen umzusetzen. Bei der Entwicklung einer Kollektion arbeitet sie manchmal mit Skizzen. Aber sie zeichnet nicht wie ein Modedesigner konsequent Modelle, bevor sie mit der Produktion beginnt. «Bei manchen Stücken wie beispielsweise den Kofferhüten – einem praktischen Sommerhut – weiss ich genau, dass sie verkauft werden. Also fange ich damit an, und während des Arbeitens kommen mir Ideen für andere Modelle. 4_2011 der arbeitsmarkt Fokus 23 «Das Meisterhafte liegt darin, das Material fachgerecht zu verarbeiten, aus etwas Bescheidenem ein spezielles Werk hervorzubringen.» Wenn ich neue Inputs brauche, dann greife ich gerne auf meine Schachtel voller Skizzen zurück», beschreibt sie ihre Vorgehensweise. Inspiration aus der Natur Die Themen für ihre Modelle sammelt Verena Philipp überall. «Eine Zeitlang haben mich die Architektur mit ihren Blechfas saden oder Baumaterialien aus dem Tiefbau beeinflusst», erzählt sie. Als Inspiration können aber auch Flechten oder Moos dienen, die sie in der Natur findet. Dann recherchiert sie in der Bibliothek, welche Sorten vorkommen. Abschliessend überlegt sie, ob es einen Stoff gibt, der zur gewünschten Form passt. Lieferanten aus Deutschland und Österreich versorgen die Modistin mit Filz aus Tschechien oder Ungarn. Dieselben Lieferanten versorgen sie auch mit Stroh, das aus Ecuador, den Philippinen oder China stammt. Solche exotische Materialien sind angenehm und schön zu bearbeiten, aber steif in der Form. Dies entspricht im Moment nicht der praktischen und bequemen Mode. Deshalb fertig die Modistin immer mehr Schnitthüte aus weichen Stoffen. Soweit möglich bezieht sie diese von Schweizer Fabrikanten. Am Anfang war die Leidenschaft «Zuerst habe ich medizinische Praxisassistentin gelernt», erzählt Verena Philipp. Modistin ist sie zehn Jahre später auf dem zweiten 24 Bildungsweg geworden. Den Wunsch, kreativ zu arbeiten, etwas zu gestalten, habe sie schon immer gehabt. «Ich komme aus einer Bauernfamilie. Da hiess es: ‹Lern zuerst einen richtigen Beruf›», erzählt sie. Ihrem Wunschberuf näher kam sie, als sie einst in den Ferien einen Kurs bei einem Hutmacher besuchte. Hütemachen wurde für sie zu einem Hobby, und sie erfreute ihre Freundinnen immer wieder mit ihren Kreationen. Doch der Sprung von der Passion zur Profession war nicht einfach. Verena Philipp bemühte sich in Zürich um eine Lehrstelle als Modistin – vergeblich. Von einem Berufsberater erhielt sie eine Liste von Ateliers als mögliche Arbeitgeber. Doch die allermeisten Firmen gab es unter dessen nicht mehr. Nur noch drei Ateliers in der ganzen Schweiz boten überhaupt eine Lehrstelle an. Schliesslich konnte sie im Alter von 30 Jahren eine Modistinnenlehre in Basel antreten. Während der Ausbildung zur Modistin lag der Schwerpunkt beim Fachunterricht, wo sich die Absolventinnen mit unterschiedlichen Materialien wie Stroh, Filz, Federn, Blumen und Fellen auseinandersetzten. Weiter besuchte sie Fächer wie Modezeichnen, Verkauf und Detailhandel. In der Fachklasse der Modistinnen war sie alleine mit zwei Kolleginnen. Heute nennt sich die Berufsausbildung «Bekleidungsgestalterin Fachbereich Modisterei». Fachklassen gibt es keine mehr, die Lernenden gehen zusam- men mit den Schneiderinnen in die Berufsschule. Zusätzlich besuchen sie, gemeinsam mit Kolleginnen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, überbetriebliche Kurse in Zürich der arbeitsmarkt 4_2011 Fokus «Meine Kunden legen Wert auf gute Materialien, präzises Handwerk und eine fachkundige Beratung.» Meisterliches handwerkliches Können bewies Verena Philipp bereits bei ihrer Abschlussarbeit als Modistin (oben rechts). Ein Strohhut und sein Rohstoff (links), Hutformen aus Holz. sowie in Stuttgart. Nach der Berufsmatur steht der Weg offen, Textildesign oder Modedesign zu studieren. Das erste Geld als Modistin verdiente Verena Philipp schon vor ihrer Berufsausbildung, als sie sich hobbymässig mit Hüten befasste und am Weihnachtsmarkt in Chur ihre Werke präsentierte. «Da fand man die Arbeiten gelungen und fragte: ‹Wo haben Sie Ihren Laden?›» Umsatz abhängig von der Jahreszeit Seit zweieinhalb Jahren bringt Verena Philipp ihr Kunsthandwerk und das Verwalten des Geschäftes unter einen Hut. Dafür hat die Unternehmerin eine Weiterbildung in den Bereichen Marketing, Buchhaltung und Betriebswirtschaft für kleine Betriebe machen müssen. Sie arbeitet durchschnittlich achteinhalb Stunden am Tag, etwa dreissig Prozent davon nahmen bisher die Verwaltungsarbeiten in Anspruch. Insbesondere die Buchhaltung war ein Zeitfresser. Unterdessen hat die Modistin die Buchhaltung ausge lagert. Wetterbedingt ist ihr Umsatz im November und Dezember deutlich höher als in den Sommermonaten. Ihre Hüte sind ab 240 Franken zu haben. Das teuerste Stück, das sie bisher verkauft hat, kostete 520 Franken. Die Preise hängen stark von der investierten Arbeit und dem Material ab, das sie verarbeitet. «Eine Modistin kann sich mit ihrem Einkommen so ein Stück gar nicht leisten», sagt Verena Philipp. Ihre Kundinnen und Kunden jeden Alters l egen Wert auf gute Materialien, präzises Handwerk und eine fachkundige Beratung. «Ich habe eine treue Kundschaft in Chur. Auch Touristen kaufen meine Produkte», berichtet Verena Philipp. Im Kanton Graubünden ist sie die einzige aktive Modistin. Auch aus umliegenden Kantonen reist Kundschaft an – ein Drittel Männer, zwei Drittel Frauen. Fachverband mit einem Dutzend Mitgliedern Ihre Mitbewerberinnen sind keine Konkurrenz im traditionellen Sinne. Einerseits gibt es nur noch wenige Modistinnen. Andererseits hat jede ihren eigenen Stil entwickelt. Einige Fachfrauen tauschen sich untereinander aus und unterstützen einander mit Materialien. Im Rahmen des Schweizerischen Modistinnen verbandes (SMV), der ein Dutzend aktive Mitglieder und rund 20 Passivmitglieder zählt, treffen sie sich alle einmal im Jahr. Auch wenn keine spezielle Fachklasse mehr geführt wird, gibt es heute für Modistinnen mehr Lehrstellen als vor zehn Jahren, und es werden auch mehr Hüte getragen, sagt Verena Philipp. Sie sieht in ihrem Beruf gute Chancen für die Zukunft. Die Modistin arbeitet weiter an ihren Kreationen, die sie an Kunsthandwerkmärkten und in Kleiderläden ausstellt und verkauft. Anerkennung kriegte sie kürzlich auch von der Stiftung Bündner Kunsthandwerk. Sie erhielt einen Förderpreis für das Jahr 2010. ❚ 4_2011 der arbeitsmarkt Fokus 25
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