ALTES TESTAMENT 2

ALTES TESTAMENT 2
LINZER FERNKURSE
Methoden der Texterschließung
Geschichten vom Anfang
1.
Die Auslegung der Heiligen Schrift
1.1 Methoden der wissenschaftlichen Forschung
1.2 Methoden aus dem Bereich der Humanwissenschaften
1.3 Methoden einer persönlichen Aneignung biblischer Texte
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2. Der Mensch und seine Welt (Gen 1-11)
2.1 Die bleibende Bedeutung der Urgeschichte
2.2 Der kulturelle Hintergrund zur Entstehungszeit
2.3 Aufbau der Urgeschichte
2.4 Reden vom Anfang: Schöpfungserzählungen (Gen 1-2)
2.5 Sündenfallserzählungen
2.5.1 Die Paradieserzählung (Gen 3,1-24)
2.5.2 Der Brudermord (Gen 4,1-24)
2.5.3 Die Sintflut (Gen 6,1-9,17)
2.5.4 Das Vergehen des Kindes gegen den Vater (Gen 9,20-27)
2.5.5 Der Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9)
2.6 Die Stammbäume in der Urgeschichte
2.7 Theologische Grundaussagen der Urgeschichte
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3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
Glaubensväter und Glaubensmütter (Gen 11,10-36,43)
Der historische Hintergrund der Patriarchenerzählungen
Spuren der nomadischen Vergangenheit Israels in der Bibel
Die Abrahamserzählungen (Gen 11,10-25,18)
Die Erzählungen von Isaak (Gen 26)
Der Jakob-Esau-Kreis (Gen 25,19-34; 27,1-36,43)
Verfasserin:
Herausgeber:
9. Auflage:
Dr. Roswitha Unfried
Dr. Franz Kogler
0732/7610-3232; Fax DW 3239,
e-mail: [email protected]
2002
1. Die Auslegung der Hl. Schrift
Schon die Hl. Schrift selbst weiß, dass manches erklärt, näher ausgeführt werden
muss (vgl. Neh 8,8; Apg 8,30f). Glaubensunterweisung und Theologie des 1. Jahrtausends n. Chr. stützten sich auf das Lesen und Erklären der Hl. Schrift und gaben
weiter, wie Kirchenväter und Kirchenlehrer die Schriftstellen ausgelegt hatten. Im
Humanismus und der Renaissance (15./16. Jhd.) erwachte neues Interesse an den
Schriften der Antike und damit auch an der Bibel. Doch dauerte es in den reformatorischen Kirchen bis ins 18. Jhd. und in der katholischen Kirche bis ins 20. Jhd., bevor
man die Bibel mit Hilfe verschiedener wissenschaftlicher Methoden zu erklären begann. Das Zweite Vatikanische Konzil lässt aber keinen Zweifel an der Notwendigkeit
der Erforschung der Hl. Schrift: „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen
nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was
Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich
zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Schriften kundtun wollte“ (Dei Verbum, Nr. 12).
1.1 Methoden der wissenschaftlichen Forschung
Die Bibelwissenschaft will den Sinn und den Aussagewillen eines Textes innerhalb
seines geschichtlichen Raumes und in den verschiedenen Entwicklungsstufen darstellen. Die Anwendung dieser Methoden setzt ein intensives Studium und die
Kenntnis der biblischen Sprachen voraus. Die Methoden werden hier kurz angeführt.
Die bewährtesten Methoden der Bibelwissenschaft sind zusammengefasst in der sogenannten „Historisch-kritischen Forschung“: Historisch deshalb, weil Texte aus der
Vergangenheit untersucht werden; kritisch deshalb, weil man versucht, ohne Vorurteile (z. B. Gen 3,15 sei das „Erste Evangelium“ oder in Gen 1,26 wäre schon die
Dreifaltigkeit Gottes ausgesagt) an die Texte heranzugehen. Die einzelnen Methoden der historisch-kritischen Forschung sind:
Die Textkritik: Bibelgelehrte ordnen alte hebräische Textabschriften sowie alte Übersetzungen und versuchen, durch Vergleich den ursprünglichen Wortlaut so
gut wie möglich wiederherzustellen. Dieser Text ist die Grundlage für die weitere Forschung und für alle modernen Übersetzungen.
Die Literarkritik untersucht den vorhandenen Text oder ganze Texteinheiten
und überprüft die textliche Einheitlichkeit einer Bibelstelle; den größeren Zusammenhang, in dem der Text steht und die Gewichtigkeit einer Bibelstelle im gegebenen Zusammenhang. Ein wichtiges Ergebnis der Literarkritik ist die Feststellung,
dass der Pentateuch nicht von einem Autor geschrieben sein kann.
Die Überlieferungsgeschichte fragt hinter die älteste schriftliche Fassung zurück nach Stufen der mündlichen Weitergabe. So steht hinter Gen 32,23ff eine alte Erzählung von einem Dämon oder Geist, der die Furt eines Flusses bewacht. Damit erklärte man allgemein die Gefährlichkeit einer Flussüberquerung. Auch von der Furt am
Jabbok erzählte man sich eine solche alte Sage. Israel hat diese Erzählung in den
JHWH-Glauben eingebunden und in die Jakob/Israel-Überlieferungen aufgenommen.
Lange mündlich weitergesagt (von daher der Begriff „Sage“) wurde sie aufgeschrieben
und im 10. Jhd. von einem Schriftsteller in den Jakob-Esau-Kreis eingefügt.
Die Redaktionsgeschichte erforscht die Veränderungen, durch die ein Bibeltext von der ersten schriftlichen bis zur heutigen Fassung gestaltet wurde. Wie ist der
Redaktor vorgegangen, um verschiedene Texte in einen Zusammenhang zu bringen? Bibelwissenschafter suchen nach Zusätzen, Erklärungen, Verbindungsformeln
(z. B. Gen 22,15: „Der Engel des Herrn rief Abraham zum zweitenmal vom Himmel
her zu und sprach ...“). Weiters fragt die Redaktionsgeschichte nach den Gründen,
warum ein Text verändert wurde.
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LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Die Formgeschichte stellt folgende Fragen: Welche sprachliche Form (= Gattung) hat ein Text? Solche Gattungen sind z. B.: Erzählung, Sage, Lied, Gedicht,
Weisung, Gebot, Sprichwort, Gebet, Drohwort, Verheißung, Hymnus. Welche Texte
einer Gattung kennen wir aus gleicher Zeit und welche Merkmale stellen wir fest? So
sind z. B. die Psalmen Gebete. Warum wurde der Text gerade so und nicht anders
abgefasst? Jeder Text ist in einer ganz bestimmten Situation entstanden, hat meist
einen besonderen Anlass. Man fragt nach dem „Sitz im Leben“. Dieser Sitz im Leben
ist z. B. für Rut 4 die weltliche Rechtsprechung im Tor. Da die altisraelitischen Städte
nur ein Stadttor hatten, musste jeder, der zur Arbeit außerhalb der Stadt ging, dort
vorbei. Darum wurden dort Rechtsangelegenheiten ausgetragen.
Die Aufgabe der Formgeschichte ist es daher, durch Einzeluntersuchungen in
jeder biblischen Schrift Charakter und Umfang aller dort vorkommenden Literaturformen festzustellen. Sie sucht auch die gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen
Verhältnisse, unter denen die Form entstanden und in denen sie beheimatet ist (= „Sitz
im Leben“) zu entdecken. Schließlich vergleicht sie die biblischen Literaturformen mit
denen, die aus anderen, vor allem vorderorientalischen Literaturkreisen bekannt sind.
Die Traditionsgeschichte (oder der religionswissenschaftliche Vergleich) untersucht einzelne Motive, die in einem Text auftreten, z. B. das Motiv „Schlange“ oder
„Lebensbaum“ in Gen 3; oder das Hirtenmotiv in Ez 34; Ps 23; Joh 10). Wo in der
Bibel - im Alten Orient - in der Antike - zeigt sich dieses Motiv? Außerdem erforscht
die Traditionsgeschichte die geistesgeschichtlichen und theologiegeschichtlichen Zusammenhänge. Diese Methode setzt nicht nur die Kenntnis der biblischen Sprachen
(bzw. der Umwelt) voraus, sondern auch die Kenntnis der altorientalischen Geschichte,
Kultur- und Religionsgeschichte, sowie der Palästina-Archäologie.
Die Einzelauslegung stellt Aussageverlauf, Aussagegehalt und Aussageabsicht eines Textes umfassend dar. Sie wertet die vorhergegangenen Schritte aus
und bespricht noch nicht geklärte Einzelheiten (z. B. in Ps 118,27 die „Zweige“, den
„Reigen“ oder die „Hörner des Altars“). Das Ergebnis ist die vom Autor beabsichtigte
Auslegung des Textes, also der historische Sinn.
Damit ist aber die Arbeit der Bibelwissenschafter (= Exegeten) nicht zu Ende.
Was sagen die Texte über Gott und die Beziehung Gott - Mensch aus? Darüber
nachzudenken ist Aufgabe der Biblischen Theologie.
Es soll nun versucht werden, einige Ergebnisse der historisch-kritischen Methode für Gen 4,1-16 skizzenhaft darzustellen.
Zuerst bitte den Bibeltext lesen!
Die Erzählung von Kain und Abel ist im heutigen Zusammenhang keine Erklärung für das Entstehen der Keniter, sondern eine der Sündenfallserzählungen der
Urgeschichte (Gen 1-11). Es ist die Erfahrung Kains, dass er von JHWH benachteiligt wäre. Anstatt sich an JHWH um Auskunft zu wenden, erschlägt er seinen
Bruder. Hingewiesen wird sowohl auf die religiöse wie die soziale Seite der Sünde.
Der Schriftsteller schreibt in der frühen Königszeit. Er hält seinen Zeitgenossen einen
Spiegel vor und stellt sie vor die Entscheidung, ob sie so handeln wollen wie Kain.
Menschen zu allen Zeiten werden gefragt, ob sie mit Kain einen Weg gehen wollen,
der zum Tod führt, oder ob sie sich auf den Weg mit Gott einlassen.
Merksatz: Die Methoden der historisch-kritischen Forschung suchen die Bedeutung
eines Textes zur Entstehungszeit darzustellen.
1.2 Methoden aus dem Bereich der Humanwissenschaften
Die Methoden der historisch-kritischen Forschung galten lange Zeit als die einzigen
wissenschaftlichen Möglichkeiten für eine sachgemäße Bibelerklärung. Sie haben
jedoch auch Grenzen, vor allem, weil ein Bibeltext nur in seiner historischen BedeuLINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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tung untersucht wird. Seit ungefähr dreißig Jahren werden daher auch Methoden
angewandt, die einen Text dahingehend befragen, wie er für den Glauben heute bedeutungsvoll werden kann. Es werden die Erkenntnisse der Humanwissenschaften
(Soziologie und Psychologie) sowie der Kommunikations- und der Sprachwissenschaften in den Dienst genommen. Die historisch-kritische Forschung wird durch
diese Arbeiten nicht ersetzt, sondern ergänzt:
Die linguistische oder strukturanalytische Auslegung untersucht biblische
Texte mit denselben Mitteln, wie sie für jedes Schriftstück angewandt werden, also
mit den Methoden der modernen Sprachwissenschaft.
Die ursprungsgeschichtliche oder pragmatische oder funktionale Bibelauslegung sieht den Text als ein Sprachereignis zwischen Verfasser und Angesprochenen an. Versucht wird, die Situation darzustellen, in der der Bibeltext entstanden ist.
Wer ist der Verfasser, wer ist der Empfänger? Was will der Autor erreichen, verändern? Welche Mittel setzt er ein?
Die existentiale Auslegung versucht die biblischen Aussagen, die damals den
Menschen angesprochen haben, so auszulegen, dass sie für heutige Menschen bedeutungsvoll werden.
Die interaktionale Auslegung will den Graben zwischen überlieferter Religion
und persönlichem Glauben überbrücken. Sie versucht, neues Vertrautwerden zu ermöglichen. Bibel, eigene Erfahrungen und Tradition stehen in Wechselwirkung zueinander; der persönliche Verstehenshorizont wird dadurch erweitert, dass diese Methoden im gemeinsamen Bibellesen angewandt werden.
Die tiefenpsychologische Auslegung gibt sich nicht mit dem Sinn in der Vergangenheit zufrieden. Sie sucht nach den Grunderfahrungen, die im Text zum Ausdruck kommen, und verknüpft sie mit heutigen Erfahrungen.
Die materialistische Bibelauslegung setzt sozial-geschichtliche Schwerpunkte wie die ursprungsgeschichtliche Auslegung. Sie bleibt aber nicht im Damals
stehen, sondern führt zur Stellung- und Parteinahme in der heutigen Gesellschaft. Es
wird ernstgenommen, dass der Mensch nicht nur auf geistige Weise existiert, sondern auch der Erde (der Materie) verhaftet ist. Materialistische Exegese wendet sich
gegen Bestrebungen, die Bibel auf zeitlose Wahrheiten zu verkürzen, und zeigt vor
allem die befreiende Wirkung biblischer Texte auf.
Die feministische Bibelauslegung wendet sich gegen die selbstverständliche
Ansicht, dass der Mensch = Mann das Maß aller Dinge ist. Frauen werden sich dessen bewusst, dass die Bibel zwar vom Mann, d.h. patriarchal geprägt ist, dass aber
dennoch über allem steht „Als männliche und weibliche Menschen schuf er sie“ (Gen
1,27). Feministische Bibelauslegung ruft dazu auf, als Frauen die Bibel mit unverstelltem Blick zu lesen und „Frauentraditionen“ zu entdecken.
Die lateinamerikanische Bibelauslegung geht vom Leben der einfachen
Menschen in den Gemeinden Lateinamerikas und Afrikas aus. Ihre Methode heißt:
Relectura = Neu-Lesen. Der Bibeltext wird direkt auf die heutige Erfahrung bezogen.
Ausgelegt wird die Hl. Schrift von Menschen, die unterdrückt und manipuliert sind.
Durch den Text sollen sie zum Widerstand gegen die ungerechten Verhältnisse ermutigt werden. Dieser „Bewegung von unten“ entspricht es, dass Erzählen, Besprechen, Singen, Beten, Betrachten, Tanzen, Feiern und Ausdruck von Solidarität die
Wege zum Verstehen der Bibel sind; entsprechend dem Motto „Vom Leben zur Bibel
- Von der Bibel zum Leben“.
Die materialistische, feministische und lateinamerikanische Bibelauslegung
haben gemeinsame Grundzüge: Ausgangspunkt ist die Erfahrung tatsächlicher Unterdrückung. Die Benachteiligten suchen in der Bibel Möglichkeiten zur Identifizierung und legen selbst die Bibel aus. Die Benachteiligten laden alle ein, ihren eingenommenen Standpunkt zu verlassen und neue Wege zu gehen zu einer ganzheitlichen und befreiten Menschlichkeit.
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LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Die wirkungsgeschichtliche Auslegung: Anhand von Übersetzungen, Kommentaren, Predigtsammlungen, älteren Religionsbüchern, Andachts- und Gebetbüchern, aber auch von Nachdichtungen (Lieder, Texte für geistliche Musik) und
schließlich von „geflügelten Worten“ (z. B. „Die Frau schweige in der Gemeinde“;
1 Kor 14,34) zeichnet man nach, wie Texte gewirkt haben. Wann, wo, wer verwendet
einen Text mit welchen Interessen und welchen Folgen? Nicht zuletzt kann diese Art
der Auslegung neue Sichtweisen erschließen und zur Überprüfung der eigenen Auslegung einladen.
Auslegung durch Verfremdung wendet sich dagegen, dass die Bibel zum Teil
aus Überbekanntheit nicht mehr zur Botschaft wird. Verfremdungen versuchen, den
Gewöhnungseffekt auszuschalten. Sie wollen Gewohnheiten aufbrechen, Staunen
und Neugier wecken und zur weiteren Auseinandersetzung anregen.
Nicht zuletzt ist die jüdische Auslegung eine wichtige Stimme für die christliche
Interpretation des ET. Sie ist zwar sehr vielfältig, kann aber grundsätzlich in Halacha (=
Auslegung der Tora) und Haggada (= Erzählungen) eingeteilt werden. Kennzeichen
der jüdischen Bibelwissenschaft sind: erzählend, nicht analysierend; im Gespräch bleibend, nicht gegeneinander gerichtet (= kontrovers). Offenbarung ereignet sich im Gespräch, ist also nicht abgeschlossen. Eine große Schwierigkeit für Christen ist es, dass
die einzelnen Auslegungen in hebräischer Sprache geschrieben sind. Dennoch ermöglicht der Dialog mit den Juden neue Einsichten ins Verstehen des ET.
Wesentlich ausführlicher wird die Erschließung biblischer Texte dargestellt in: H. K. Berg, Ein Wort
wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München (Verlag Kösel) 1991, 488 Seiten
Merksatz: Heute gibt es eine Vielzahl von Methoden, um biblische Texte so auszulegen, dass sie Bedeutung erhalten für die christliche Praxis.
1.3 Methoden einer persönlichen Aneignung biblischer Texte
Einige der oben angegebenen Methoden, wie die Verfremdung oder Interaktionale
Bibelauslegung, eignen sich auch für die persönliche Auseinandersetzung mit der
Bibel oder für die Arbeit in Gruppen. Die Katholischen Bibelwerke Deutschlands, Österreichs und der Schweiz bemühen sich besonders um diese Möglichkeit der Vermittlung biblischen Gedankenguts. Zunächst ist auf die Geistliche Schriftlesung hinzuweisen (Vorbereitung durch Ruhe und Stille - Gebet um den Hl. Geist - Aufmerksames Lesen; Beobachtung des Textes; Hinhören auf das Wort; Miteinbeziehung von fachlicher Information - Anwendung auf das Leben heute - Danksagung).
Daneben gibt es auch die „7-Schritte-Methode“, die „Bludescher-Methode“, das Formulieren eines „Zeitungsberichtes“ oder Antitextes und eine Vielfalt von weiteren
Möglichkeiten, sich mit biblischen Texten auseinanderzusetzen.
Einen guten Überblick über die verschiedenen Methoden der Bibelarbeit gibt A. Hecht, Zugänge zur
Bibel (Stuttgarter Taschenbücher, 15), Stuttgart (Verlag Kath. Bibelwerk) 1993, 128 Seiten
2. Der Mensch und seine Welt (Gen 1-11)
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1).
„Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ (Ps 121,2).
„Im Anfang war das Wort ...“ (Joh 1,1).
„Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das
Ende“ (Offb 22,13).
Anfang, Mitte und Schluss der Hl. Schrift geben mit diesen Versen ein Glaubensbekenntnis: Der Gott, den Israel in seiner Geschichte erfahren hat, ist derselbe, der die
ganze Welt erschaffen hat.
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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2.1 Die bleibende Bedeutung der Urgeschichte
a) Der Mensch und seine Welt
Der Mensch ist Teil der Schöpfung. Er lebt in der Welt, steht ihr aber auch gegenüber.
Er erfährt, dass die Welt gut, schön, ihm zuträglich ist, aber auch bedrohlich, geheimnisvoll, unergründlich. Deswegen versuchen die Menschen vom Anfang an, die Wirklichkeit zu erforschen, zu ordnen, zu bewältigen - sich der Welt zu bemächtigen. In der
Weisheitsliteratur überliefert die Bibel verschiedene Versuche derartiger Weltbemächtigung. Sie gehört zum Menschsein, sie ist und bleibt Aufgabe für die Menschen.
b) Sinngebung durch Urgeschichte
Neben diesem Bemühen um ein Verhalten, das zu einem gelungenen Leben führt
und das mehr im Alltag beheimatet ist, kennt Israel wie die altorientalische Umwelt
„Bilder vom Anfang“ - „Geschichten vom Anfang“. Auch das Nachdenken über den
Anfang der Welt ist allgemein menschlich. In Erzählungen versuchen die Menschen,
die Fragen nach dem Wohin und Wozu, nicht sosehr nach dem Woher, zu beantworten. Etwas Bestehendes wird erklärt, indem man den Anfang, den Grund erzählt:
Gott hat die Welt erschaffen. Solche Erzählungen nennen wir Ätiologien. Ätiologien
sind Sagen, d.h. mündlich weitergegebene Erfahrungen. Sie beschreiben, was ist,
nicht wie es wurde. Die Urgeschichten sind also keine Reportagen, Berichte oder Aufzeichnungen irgendwelcher Art, sondern Geschichten, die von einem Geschehen auf
einer anderen Ebene sprechen als die Naturwissenschaften.
Darum gibt es keinen Widerspruch zwischen Schöpfungserzählungen und
modernen Theorien vom Entstehen der Welt. Schöpfungserzählungen sagen mit den
Mitteln ihrer jeweiligen Zeit aus, wie man über Gott, Welt und Mensch dachte.
Gleichbleibende Grundaussage ist: Gott hat alles erschaffen. Ob dies durch handwerkliches Töpfern (2,7), durch einzigartiges Erschaffen (1,1.27; das hebräische
Wort „bará“ gibt ausschließlich eine Tätigkeit JHWHs an) oder durch Evolution bzw.
Urknall geschieht, ist nicht ausschlaggebend.
Merksatz: Glaubensaussage ist, dass Gott die Welt erschaffen hat, nicht wie.
c) Religionsgeschichtlicher Vergleich
Gedanken über den Anfang der Welt machen sich alle Menschen. Israel teilt darum
Ansichten über das Entstehen der Wirklichkeit mit anderen Religionen.
Im Alten Orient kannte man vier „Typen“ von Ätiologien alles Bestehenden:
Schöpfung durch Machen und Wirken (z. B.: 1,7.16; 2,7f).
Schöpfung durch Zeugung und Geburt in der Götterwelt. Mythologien erklären Zustände auf Erden, indem sie von deren Entstehen in der Götterwelt erzählen. Diese Welt ist den Menschen verschlossen. In Israel gibt es keinen solchen Mythos.
Ein Rest des mythologischen Denkens könnte vielleicht hinter Gen 6,1-4 (die Ehen der „Göttersöhne“ mit den Menschentöchtern) erhalten geblieben sein.
Schöpfung durch Götterkampf: Auch diese Erzählungen sind im strengen Eingottglauben Israels nicht möglich.
Schöpfung durch Worte (1,3.6; 2,18)
In Israel ist JHWH der Schöpfer von allem. Die biblische Urgeschichte kennt weder
Erzählungen vom Entstehen der Götter noch Hinweise, dass die Gottheiten die Menschen gebraucht hätten (z. B. um die Götter mit Nahrung zu versorgen oder um ihnen zu dienen). Daraus ergibt sich für das Sprechen Israels über den Anfang:
Die Schöpfung ist gut (1,31; 2,25).
Warum wird jedoch die Wirklichkeit so oft als nicht gut erfahren?
Die Schöpfung ist auf die Menschen ausgerichtet (1,27f; 2,7.15).
Die Schöpfung ist Gabe JHWHs und Aufgabe für die Menschen.
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LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Der Glaube an JHWH, der Himmel und Erde gemacht hat, bejaht diese Welt (vgl.
Ps 115,16).
Schöpfungserzählungen dienen nicht der Befriedigung des Wissens und der Beantwortung der Frage, wie die Welt entstanden ist, sondern der Sicherung des Weiterbestehens der Welt. Sie wurden bei Seuchen, Hungersnöten, Naturkatastrophen,
Hochzeiten, Geburten von Kindern und Todesfällen (d.h. in Krisen und lebenswichtigen Situationen) wiederholt. Dadurch soll an JHWH appelliert werden,
wieder wie am Anfang der Welt zu wirken und damit die Schöpfung zu erneuern.
Der Mensch hat eine Sonderstellung in der Schöpfung. Er ist wohl Geschöpf Gottes wie alles andere auch, aber nur von ihm wird gesagt, dass er Gottes Abbild ist. Damit
steht er in besonderer Beziehung zu Gott und Welt. Er ist die Sinnmitte der Welt. Nach
dem biblischen Zeugnis kann die Welt nicht ohne Gott gedacht werden; andererseits ist
aber auch Gott nicht ohne die Welt vorstellbar. Gott „an und für sich“ gibt es für die Bibel
nicht, sondern nur Gott, wie er sich zu erkennen gegeben hat und gibt.
Anregung: Gott hat Menschen nicht deshalb erschaffen, weil er - Gott - ihren Dienst
braucht. Gottesdienst in der Bibel ist Dienst am Mitmenschen, an der
Schöpfung, weil Gott der Schöpfer ist.
d) Urgeschichte als Urgeschehen
Gen 1-11 ist kein geschichtlicher Bericht, sondern bringt die Fragen zur Sprache, die
zu allen Zeiten von Menschen gestellt werden. Urgeschichten ereignen sich immer
und überall, wo Menschen mehr oder weniger glücklich leben.
Der Mensch denkt nach über sein Da-Sein und So-Sein. Es ist für ihn faszinierend im positiven und negativen Sinn. Neben der Schönheit der Welt, der Natur
und der vielfältigen menschlichen Beziehungen macht er die bedrückende Erfahrung, dass vieles nicht gut ist. Und er entdeckt, dass so manches nicht in der richtigen Beziehung zueinander steht, sei es in der Partnerbeziehung, sei es dem Mitmenschen, den Eltern, dem Kind oder anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber.
Das geschieht - so sagt die Bibel - dort, wo sich der Mensch zum Maß der Dinge
macht und dadurch Gott das Vertrauen aufkündigt, indem er sein will wie Gott. Die
biblische Urgeschichte ist also Urgeschehen. Den menschlichen Problemen liegen
gleichbleibende Verhaltensmuster zugrunde. Die Fragen der Urgeschichte sind
Menschheitsfragen, deren Bewältigung jeder Zeit aufgegeben ist.
In Israel werden verschiedene Zeiten aneinandergereiht. Sie kehren nicht wieder, sondern erhalten ihre Erfüllung in der Zukunft. Das Urgeschehen ereignet sich in
unserer Wirklichkeit, die geprägt ist durch Raum und Zeit, und nicht irgendwo in einem übernatürlichen, geschichtslosen Bereich oder in einem sich stets wiederholenden und gleichbleibenden Kreislauf.
Wie die Urgeschichten in einem anderen Sinn von Geschichte sprechen als
die Geschichtswissenschaften, so spricht der Naturwissenschafter anders über den
Anfang als die Bibel. Der Anfang im naturwissenschaftlichen Sinn ist vorbei; biblische Schöpfung dauert an. Ein Widerspruch ist nicht möglich, weil Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Urgeschichte auf verschiedenen Ebenen über
den Anfang sprechen.
Die Urgeschichte steht jedoch zu Recht am Anfang der Bibel. Die Schöpfung
Gottes ist der Beginn der Heilsgeschichte in dem Sinn, dass Gott vom Beginn der
Welt an bei der Schöpfung bleibt. Die Zeit, die von Gott geschaffen ist, ist Heilszeit auch wenn dies nicht immer so erfahrbar war und ist.
Anregung: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ ist eine
Aussage tiefen Vertrauens. In welchen Situationen werden Menschen
von dieser Aussage getragen?
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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2.2 Der kulturelle Hintergrund zur Entstehungszeit
Urgeschichten sind keine Berichte, wie sich Schöpfung zugetragen hat. Sie sind
nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Ähnliche Schöpfungserzählungen gibt es
ebenso in den anderen Kulturen der Umwelt Israels wie auch in den Naturreligionen
unserer Zeit. Wenn die Urgeschichten auch keine Geschichtsschreibung im historischen Sinn sind, so geben sie uns doch Aufschluss über die politischgeschichtlichen Hintergründe der Zeit, in der sie entstanden sind.
Allgemein wird angenommen, dass die jahwistische Quellschrift während oder
kurz nach der Regierung Salomos im Südreich entstanden ist. Israel ist international
anerkannt und erlebt eine Art goldenes Zeitalter. Es lebt mit seinen Nachbarn in Frieden und - verglichen mit anderen Zeiten - in Wohlstand (wenn auch dieser Wohlstand nur gemessen wird am Wohlergehen und Reichtum des Königshofes!). Trotz
Frieden, Reichtum, Ruhe und Wohlstand bleiben Leid, Tod, Unverständliches, Belastendes. Als Antwort auf die Frage, warum dies so ist, erzählt der Jahwist die Schöpfungserzählung 2,4b-25 und verbindet sie mit den Erzählungen von der Sünde im
Garten, vom Brudermord, von der Sintflut, von der Sünde des Ham und vom Turmbau zu Babel. So verkehrt sich die gute Schöpfung (2,25) durch den Eigenwillen der
Menschen. Sie gehen eigene Wege und wollen sein wie Gott. Die Folge davon ist
ein Leben in Gottferne, das nicht gut sein kann.
Die Priesterschrift ist im babylonischen Exil entstanden. Die Oberschicht des
JHWH-Volkes lebt in einem Land, das fremde Götter verehrt. In beeindruckenden religiösen Festen wird der Sieg über das JHWH-Volk gefeiert. Israel ist den Babyloniern unterlegen. Nach damaliger Auffassung heißt dies, dass auch JHWH dem Gott
der siegreichen Babylonier (Marduk) untergeordnet ist. Israel ist nicht nur als Volk
bedeutungslos geworden. Israel stellt sich die Glaubensfrage: Ist unser Gott, JHWH,
der Herr der Welt? Wird er noch einmal retten, befreien, seinem Volk zu Hilfe kommen? 1,1-2,4a antwortet darauf: Der Gott Israels ist der Schöpfer von allem. Diese
Schöpfung ist gut, ja sehr gut (1,31). Daraus entsteht die Hoffnung auf ein neuerliches Wirken Gottes, auf eine zweite Schöpfung, auf eine Neu-Schöpfung. Mit der Erfahrung, dass die Schöpfung oft nicht gut ist, setzt sich die Priesterschrift in der Fluterzählung (Gen 6-8) auseinander.
2.3 Aufbau der Urgeschichte
1. Die Schöpfung (1,1-2,4a; 2,4b-25)
2. Die Erzählungen von der Sünde des Menschen, von ihrer Folge, bzw. der Ahndung durch JHWH, vom Erbarmen und neuerlichem Wohlwollen JHWHs, wodurch
neues und weiteres Leben ermöglicht wird (3; 4; 6-8; 9,18-27; 11,1-9).
3. Die Stammbäume als Schilderung der Ausbreitung der Menschheit in der zeitlichen (5; 11) und räumlichen (10) Tiefe.
1,1-2,4a
2,4b-3,24
4,1-16
4,17-24
5,1-32
6,1-8
6,9-8,19
8,20-22
9,1-17
9,18-27
8
P
J
J
J
P
J
J, P
J
P
J
Schöpfung (Thema 1)
Schöpfung (1) und Einbruch der Sünde (2)
Kain und Abel; Brudermord (2)
Stammbaum des Kain (3); Ausbreitung der Sünde (2)
Stammbaum Sets (von Adam bis Noach) (3)
Bosheit der Menschen (2)
Sintflut (2)
Dankopfer und Verheißung (2)
JHWHs Bund mit Noach; Zeichen = Regenbogen (2)
Sünde des Ham (2)
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
9,28-10,32
11,1-9
11,10-32
J, P
J
J, P
Stammbaum der Völker (= die Völkertafel) (3)
Turmbau zu Babel (Die Sünde der Völker) (2)
Stammbaum des Sem (Von Noach bis Abraham (3)
2.4 Reden vom Anfang
a)
Die beiden Schöpfungserzählungen (Gen 1,1-2,4a; 2,4b-25)
Lesen Sie nun zuerst Gen 1,1-2,4a und stellen Sie fest, was Ihnen auffällt. Dann vergleichen Sie
bitte mit dem folgenden:
Der Schöpfergott hat eine einzigartige Stellung. Neben ihm gibt es keine Götter
(im Gegensatz zu anderen altorientalischen Schöpfungserzählungen).
Die Erschaffung wird oft zweimal erzählt. Einmal wird durch göttlichen Befehl erschaffen (Gott sprach; z. B. 1,3.6), dann durch göttliches Tun (Gott machte; z. B. 1,7).
Die Werke Gottes werden oftmals als Sammelbegriff genannt: Ansammlung von
Wasser, Licht, usw. Was es auch gibt, es ist von Gott erschaffen. So findet eine
vollständige Entgöttlichung statt: Die Sonne ist kein Sonnengott und der Mond
kein Mondgott. Es gibt nur einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Die Werke Gottes sind gut und gesegnet (z. B. 1,4.10.21.25).
Der Mensch ist als solcher und als ganzer Abbild Gottes (vgl. 1,27). Eine Teilung
des Menschen in Leib und Seele liegt dem hebräischen Denken fern.
Der Mensch ist nicht als einzelner erschaffen, sondern als Menschheit; als männliche und weibliche Menschen. Das deutet einerseits auf die Zusammengehörigkeit
aller Menschen hin. Jeder Mensch ist andererseits als Gottes Geschöpf wertvoll
und muss geachtet werden (1,27).
Die Menschen erhalten den Auftrag, für die Schöpfung Sorge zu tragen, sie zu unterwerfen und zu herrschen. So nimmt der Mensch teil am Schöpfungswerk Gottes.
Mit der Erschaffung des Menschen geschieht etwas in der Schöpfung Einmaliges.
Darauf verweist der Wechsel von der Einzahl in die Mehrzahl. „Lasst uns Menschen ...“ (1,26) könnte eine Selbstaufforderung Gottes sein oder ein sog. Majestätsplural, nicht aber ein Hinweis auf einen Vielgötterglauben (= Polytheismus);
auch an die Dreifaltigkeit konnte der Verfasser noch nicht denken.
Die Schöpfung ist in ein Sieben-Tage-Schema eingefangen. Gott hat nicht nur
den Raum und dessen Ausstattung, sondern auch die Zeit erschaffen. Er ist daher
Herr über Raum und Zeit.
Der Sabbat ist für Israel ein Ruhetag von Anbeginn an. Er ist eine Ehre des Menschen, keine Pflicht (vgl. Sonntagspflicht). Gott lässt den Menschen an seiner
Freude über die gute Schöpfung teilhaben. Der ruhelose Mensch wird ruhig an der
Ruhe Gottes.
Anregung: Rufen Sie sich Erlebnisse ins Gedächtnis, wo Sie die Natur zum Lob Gottes angeregt hat.
Welchen Sinn hat es, an einem Tag der Woche die Arbeit ruhen zu lassen?
Beim Lesen der 2. Schöpfungserzählung (Gen 2,4b-25) fällt auf:
Dieser Text beginnt mit der Darstellung der Welt vor der Schöpfung: Sie gleicht
der Wüste. Erst Wasser bringt nach JHWHs Willen Leben (2,6).
Der Mensch wird gleich am Anfang erschaffen (2,7). Er wird aus Erde geformt.
Das Wort adam = Mensch heißt wörtlich übersetzt „der Braunrote“. Er ist aus der
braunroten Ackererde (= adamah) von JHWH geformt. JHWH wird hier als Töpfer
vorgestellt. Dem aus Ackererde geformten Körper schenkt JHWHs Hauch Leben.
Dieses „lebendige Wesen“ ist ein hinfälliges Wesen: Der Körper ist aus dem
Staub der Ackererde, dem wertlosesten und hinfälligsten Material gebildet. Der
Leib wird erst lebendig durch JHWHs Atem. Wenn JHWH ihn zurücknimmt, ist der
Mensch wieder Staub (vgl. 3,19; Ps 104,29f).
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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Der Lebensraum des Menschen wird als Gottesgarten beschrieben. Das Paradies
ist dort, wo der Mensch in der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott lebt.
Auch im Paradies hat der Mensch den Auftrag, den Garten zu pflegen und zu bebauen (2,15).
Der Mensch ist einsam, es ist etwas „nicht gut“ in der Schöpfung. Die unmittelbare
Gemeinschaft mit JHWH hebt die Einsamkeit des Menschen nicht auf. JHWH ist
für den Menschen nicht das Gegenüber, das ihm entspricht, d.h. das ihm gleich
ist.
Die Tiere, die JHWH aus dem Ackerboden formt, werden vom Menschen wohl benannt und damit seiner Welt zugeordnet. Das bringt aber keine Abhilfe: Der
Mensch findet keine Hilfe und kein Gegenüber, das ihm entspricht.
Nun bildet JHWH aus dem Menschen selbst ein Gegenüber, eine Ergänzung zum
Menschen. Während Adam schläft, wird aus ihm (= aus einer Rippe, d.h. aus derselben Materie) die Frau erschaffen. Damit ist gesagt: Die Beziehung von Mensch
zu Mensch, von Mann und Frau ist letztlich ein unbegreifliches Geheimnis, das
menschlichem Wissen und menschlicher Willkür entzogen ist (2,23).
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Ehe (2,24) ist gottgewollt.
Schließlich wird auf das ungebrochene Verhältnis unter den Menschen und der
Menschen zu JHWH hingewiesen. „Sie schämten sich nicht voreinander“. Ein
Mensch ist überall dort dem anderen nicht schutzlos preisgegeben, wo er vertrauen kann, nicht bloßgestellt zu werden. So achtet er den anderen als Gabe Gottes.
Anregung: Der Schöpfungsauftrag von 1,28-30 wird wesentlich ergänzt vom Auftrag
in 2,15. Was bedeutet dies für mein Verhalten in der Schöpfung?
b)
Synopse (= Zusammenschau) der Schöpfungserzählungen
Jahwist (Gen 2,4b-25)
Priesterschrift (Gen 1,1-2,4a)
1. Der Zustand vor der Entstehung der Welt:
4bZur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel
machte, 5gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde
noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte.
1Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
2Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis
lag über der Urflut, und Gottes Geist
schwebte über dem Wasser.
2. Die grundlegende Struktur, die Zeit wird geschaffen:
3Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde
Licht. 4Gott sah, dass das Licht gut war.
Gott schied das Licht von der Finsternis, 5
und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend,
und es wurde Morgen: erster Tag.
3. Der himmlische und der irdische Ozean werden voneinander getrennt:
6Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe
mitten im Wasser und scheide Wasser vom
Wasser. 7Gott machte also das Gewölbe
und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es, 8und Gott nannte das
Gewölbe Himmel. Es wurde Abend, und es
wurde Morgen: zweiter Tag.
4. Scheidung von Land und Wasser als Voraussetzung für Leben:
10
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
9Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb
des Himmels sammle sich an einem Ort,
6aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. 10Das Trockene nannte Gott
und tränkte die ganze Fläche des AckerboLand, und das angesammelte Wasser nanndens.
te er Meer. Gott sah, dass es gut war.
5. Die Erschaffung des Menschen:
7Da formte Gott, der Herr, den Menschen 26Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen maaus Erde vom Ackerboden und blies in seine chen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen
Nase den Lebensatem. So wurde der herrschen über die Fische des Meeres, über die
Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganMensch zu einem lebendigen Wesen.
ze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.
27Gott schuf also den Menschen als sein Abbild;
als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau
schuf er sie.
6. Die Erschaffung der Pflanzen:
8Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Os- 11Dann sprach Gott: Das Land lasse junges
ten, einen Garten an und setzte dorthin den
Menschen, den er geformt hatte.
9aGott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden
allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, ...
7. Die Erschaffung der Gestirne:
Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die
Samen tragen, und von Bäumen, die auf der
Erde Früchte bringen mit ihrem Samen darin. So geschah es. 12Das Land brachte junges Grün hervor, alle Arten von Pflanzen,
die Samen tragen, alle Arten von Bäumen,
die Früchte bringen mit ihrem Samen darin.
Gott sah, dass es gut war. 13Es wurde Abend, und es wurde Morgen: dritter Tag.
14Dann sprach Gott: Lichter sollen am Him-
melsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu
scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur
Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und
Jahren dienen; 15sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, die über die Erde hin
leuchten. So geschah es. 16Gott machte die
beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über
die Nacht herrscht, auch die Sterne. 17 Gott
setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe,
damit sie über die Erde hin leuchten, 18über
Tag und Nacht herrschen und das Licht von
der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es
gut war. 19Es wurde Abend, und es wurde
Morgen: vierter Tag.
8. Die Erschaffung der Tiere:
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
11
18Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht 20Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle
gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will
ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.
19Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des
Himmels und führte sie dem Menschen zu,
um zu sehen, wie er sie benennen würde.
Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen
benannte, so sollte es heißen.
20Der Mensch gab Namen allem Vieh, den
Vögeln des Himmels und allen Tieren des
Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen
entsprach, fand er nicht.
von lebendigen Wesen, und Vögel sollen
über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen. 21Gott schuf alle Arten von großen
Seetieren und anderen Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt, und alle Arten von
gefiederten Vögeln. Gott sah, dass es gut
war. 22Gott segnete sie und sprach: Seid
fruchtbar, und vermehrt euch, und bevölkert
das Wasser im Meer, und die Vögel sollen
sich auf dem Land vermehren. 23Es wurde
Abend, und es wurde Morgen: fünfter Tag.
24Dann sprach Gott: Das Land bringe alle
Arten von lebendigen Wesen hervor, von
Vieh, von Kriechtieren und von Tieren des
Feldes. So geschah es. 25Gott machte alle
Arten von Tieren des Feldes, alle Arten von
Vieh und alle Arten von Kriechtieren auf dem
Erdboden. Gott sah, dass es gut war.
9. Die Erschaffung der Menschen und ihr Auftrag:
26Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen
machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie
sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das
Vieh, über die ganze Erde und über alle
Kriechtiere auf dem Land.
7Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus 27Gott schuf also den Menschen als sein
Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als
den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem Mann und Frau schuf er sie.
lebendigen Wesen.
12
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
21Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf
auf den Menschen fallen, so dass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. 22Gott, der
Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. 23Und der Mensch
sprach: Das endlich ist Bein von meinem
Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau
soll sie heißen; denn vom Mann ist sie genommen. 24Darum verlässt der Mann Vater
und Mutter und bindet sich an seine Frau,
und sie werden ein Fleisch.
15Gott, der Herr, nahm also den Menschen und
setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn
28Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen:
bebaue und hüte.
Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert
die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht
über die Fische des Meeres, über die Vögel
des Himmels und über alle Tiere, die sich auf
dem Land regen. 29Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der
ganzen Erde, die Samen tragen, und alle
Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch
sollen sie zur Nahrung dienen. 30Allen Tieren
des Feldes, allen Vögeln des Himmels und
allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen
Pflanzen zur Nahrung. So geschah es.
10. Die gute Schöpfung:
25Beide, Adam
und seine Frau, waren 31Gott sah alles, was er gemacht hatte: Es
nackt, aber sie schämten sich nicht vorein- war sehr gut. Es wurde Abend, und es wurander.
de Morgen: der sechste Tag.
c) Vergleich der beiden Schöpfungserzählungen
Beide Erzählungen haben je eine Besonderheit: Die Priesterschaft beendet die
Schöpfungserzählung mit dem Hinweis, dass JHWH am siebten Tag die Schöpfung
damit vollendete, dass er „aufhörte“ zu arbeiten und ruhte (Gen 2,1-4a). Die Menschen (Israel im Exil) sind auch hierin „Bild“ JHWHs: Sie dürfen an seiner Ruhe und
Vollendung teilhaben.
Gen 2,9b.10-14.16f fehlt in obiger Zusammenschau. Es sind Verse, die einerseits das Paradies als Ort des Lebens (Wasser in einem wüstenreichen Land) deuten, andererseits aber durch das Verbot und den Baum in der Mitte des Garten auf
die Sündenfallserzählung von Gen 3 hinweisen.
Gen 2 ist der ältere Text. Er klingt wärmer, ist eine typische Erzählung und
spricht direkt an. Gen 1 ist dagegen sehr straff aufgebaut und vermittelt Ordnung und
Planmäßigkeit in einer unruhigen Zeit und in trostloser Lage. Anhand der Aussagen
zu Gott, Mensch, Erschaffung des Menschen und Welt können die beiden Erzählungen gut verglichen werden:
Jahwist
Gott:
dem Menschen, der Welt nahe
Gegenüber des Menschen
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
Priesterschrift
dem Menschen, der Welt fern
erfahrbar in Ordnungen
13
spricht mit dem Menschen
dargestellt wie ein Mensch
wirkt direkt, ohne Mittler
zeigt Interesse am einzelnen
Schöpfung durch Machen mit Möglichkeit des Misslingens
Mensch:
bezogen auf Erfahrungen
Zentrum und Herz der Schöpfung
ausgesetzt und unterwegs in der Welt
verwiesen auf tiefere Schichten
angesprochen als einzelner
Mitte der Schöpfung
Erschaffung des Menschen:
als Mittelpunkt und Mitte
als Herz der Schöpfung
als „lebendiges Wesen“, hinfällig;
mit Gottes Geist begabt
zuerst als Mensch und erst später als
Mann und Frau
Schöpfungsauftrag: bebauen und hüten
Welt:
vor allem dynamisch
noch nicht vollkommen
offen für neues Werden und Wachsen
offen für die Zukunft (lineares Denken)
Schauplatz verschiedener Erfahrungen
als Ganzes Welt Gottes
hat Zukunft und lebt darauf hin
spricht zum Menschen
steht über allem, unvergleichbar
wirkt indirekt (Priester)
zeigt Interesse am Ganzen (Gemeinde)
Schöpfung durch gebietendes Wort und
Wirken
bezogen auf Ordnungen
Höhepunkt und Krone der Schöpfung
eingebunden und geborgen im Ganzen
alles hat seine Ordnung (seinen Platz)
sich als Mitglied der Gemeinschaft wissend
Teilaspekt der Schöpfung
als Schluss, Höhe- und Endpunkt
als Krone der Schöpfung
als Abbild Gottes
gleichzeitig als männliche und weibliche
Menschen
Schöpfungsauftrag: bevölkern, unterwerfen, herrschen
weitgehend statisch
immer schon vorhanden und daher sicher
seit der Schöpfung abgeschlossen
mehr übergeschichtlich abgerundet
Verwirklichung des Gotteswillens
Kult als eigene Welt Gottes in der Welt
ruht in festen Ordnungen
Das Nebeneinander der beiden Geschlechter ist den Texten kein Problem. Der
Mensch ist nach Gen 1,27 Abbild Gottes; Mann- und Frausein geben an, dass er eben
nicht Gott, sondern Geschöpf ist. In Gen 2,18 lesen wir, dass der einsame Mensch
nach einem Gegenüber verlangt, das ihm entspricht. Erst in der Frau wird ihm dieses
gleichwertige Gegenüber geschenkt. Sie ist ihm Hilfe, d.h. der eine Mensch ist für den
anderen lebensnotwendig. Auch Gott wird in diesem Sinn als Hilfe des Menschen bezeichnet (z. B. Ps 115,9-11; 33,20; 3,3). Damit steht die Bibel im Gegensatz zu den
altorientalischen Kulturen, in denen die Frau die Rolle der Geliebten und Mutter einnahm, aber nie als dem Mann gleichwertig anerkannt wurde. Da in Gen 2 der Mensch
im Mittelpunkt steht, haben wir es mit einer Erzählung über die Menschenschöpfung zu
tun. Natürlich ist dies nur schwerpunktmäßig zu verstehen. Gen 1 dagegen ist eher eine Erzählung von der Erschaffung des Ganzen, eine Weltschöpfungserzählung.
Anregung: Christliches Weltverständnis und Engagement haben eine wesentliche
Wurzel im Satz „Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31).
2.5 Sündenfallserzählungen
Nach den grundlegenden Aussagen über die Menschen und ihre Bestimmung, über
das Verhältnis der Menschen zu Gott und zueinander setzt sich die Bibel in Form
von Ätiologien (s. oben S. 7) damit auseinander, dass es Böses in der Welt gibt. Es
sind Antwortversuche auf die Frage: Warum ist der Mensch böse, wo doch die
14
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Schöpfung laut 2,25 gut ist? Weder der Jahwist, von dem der Großteil der Antworten
stammt, noch irgendjemand anderer kann eine endgültige Antwort darauf geben.
2.5.1 Die Paradieserzählung (Gen 3,1-24)
Die Paradieserzählung ist wohl eine der bekanntesten Erzählungen der Hl. Schrift.
Sie sagt, dass die Menschen die Weisung JHWHs übertreten, JHWH misstrauen
und sein wollen wie der Schöpfer. Der Mensch unterliegt der Versuchung. Der Jahwist wählt zur Darstellung dieser Versuchung die Form eines Gesprächs mit der
Schlange, einem Geschöpf JHWHs (3,1). Sie verkörpert die Sehnsucht, dem eigenen Willen und der eigenen Meinung zu folgen und nicht der Weisung JHWHs. Dieses Verlangen nach Wissen und Weisheit trägt den Sieg davon. Dies führt zur EntHerrlichung des Menschen. Nach dem Essen der Frucht (dem Einschlagen des eigenen Weges), erkennen die Menschen ihre Schutzlosigkeit voreinander (3,7) und
vor JHWH (3,8ff).
Nach dem Versuch, die Schuld abzuwälzen - er weist uns auf die Verbundenheit von Menschen und Schöpfung auch in der Schuld hin (3,12f) -, folgen die sogenannten Strafworte. Wieder sollen damit bestehende Situationen erklärt werden: die
Verfluchung der Erde und der Welt (3,14.17b.18), das Aufzeigen der Beschwerlichkeit geschöpflichen Daseins für die Frau (16) und den Mann (17-19). Der Schöpfungsauftrag, die Erde und das menschliche Dasein immer erträglicher zu machen,
ist damit jedoch nicht aufgehoben: D.h. am Verhältnis Mann - Frau, an der immer
besseren Gestaltung von menschlichen Beziehungen und der Welt soll und muss
gearbeitet werden. Die Erzählung schließt mit zwei Hinweisen, dass JHWH auch
weiterhin für den Menschen sorgt: einerseits im Geben eines wirksamen Schutzes
für die Blöße der Menschen (3,7.21), andererseits im Wegschicken aus dem Bereich
des Lebensbaumes (3,22-24).
Der Jahwist macht in den Erzählungen von Gen 2 und 3 folgende Aussagen:
JHWH hat den Menschen als ein vertrauendes Geschöpf geschaffen. Sein Leben
wird in der personalen Beziehung von Mann und Frau, von Mensch zu Mensch vorbehaltlos gut. Die Ursünde des Menschen ist Misstrauen gegen JHWH und menschliche Überheblichkeit. Wo der Mensch den Weg des Urvertrauens zu seinem Schöpfer verlässt, tritt eine Minderung des Lebens als Folge der Sünde ein. Der Mensch
hat das Urvertrauen verlassen, und er tut es immer wieder. Dadurch sind alle Menschen in die Sünde, in die Minderung des Lebens miteinbezogen. Aber jede Generation hat aufs neue den göttlichen Auftrag, ihr Leben im Urvertrauen zum Schöpfer zu
leben und die Sünde mit all ihren Folgen aufzuheben. Jesus von Nazaret hat so gelebt. Wir Christen glauben, dass Jesus durch seine Hingabe an den Willen des Vaters die Menschheit von der Sünde erlöst hat. Er hat uns mit seinem Leben, mit seinem Sterben am Kreuz und mit seiner Auferstehung gezeigt, was Urvertrauen zu
JHWH ist. Nach seinem Beispiel sollen und in seiner Kraft können auch wir uns dem
Vater ausliefern, damit unser Leben vorbehaltlos gut wird.
Anregung: Wie ist die Ursünde des Menschen zu umschreiben?
Welche menschliche Sehnsucht ist angesprochen mit den Worten: „Die
Frau sah, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen“ (3,6)?
2.5.2 Der Brudermord (Gen 4,1-24)
Die Erzählung von Kain und Abel hat zwei Teile: Die Geschichte des KeniterStammes (4,17-24) und die Erzählung vom Brudermord (4,1-16). Nachdem in Gen 23 die Bibel den Bruch des Urvertrauens JHWH gegenüber und dessen Auswirkungen auf die Beziehung der Geschöpfe untereinander dargestellt hat, zeigt Gen 4 die
Sünde im zwischenmenschlichen Bereich. Jeder Mensch ist nicht nur Adam und
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
15
Eva, sondern er ist auch Kain und Abel. In der Geschichte des Christentums wurde
alles Gewicht auf den Menschen als Adam und Eva gelegt; der soziale Aspekt des
Menschseins, wie er in Gen 4 dargestellt wird, trat ganz zurück.
Dem Jahwisten geht es in Gen 4 um die Urbeziehung zwischen Brüdern. Beide bringen ein Opfer dar (VV. 3-5): Es ist zugleich Dank für und Bitte um Segen. Das
Opfer Abels wird angenommen, das von Kain nicht. Beide bemühen sich gleich redlich, aber mit unterschiedlichem Erfolg. Kain ist also nicht von vornherein ein böser
Mensch. Er ist zu Recht empört, dass JHWH ihn und sein Opfer nicht annimmt. So
wird die Tatsache ausgedrückt, dass Bruder- und Mitmensch-Sein nicht nur Gemeinsamkeit bedeutet, sondern auch zu Nebeneinander und Gegeneinander, zu schweren Konflikten führen kann.
Die Schuld Kains beginnt dort, wo er seiner Empörung in einer verkehrten
Weise und an der verkehrten Stelle Luft macht: Anstatt sich an JHWH zu wenden,
der ihn seiner Meinung nach benachteiligt hat, wendet er sich an den, der von ihm
erreichbar ist: Abel. Kain überhört die Warnung JHWHs (VV. 6f); er geht und tötet
seinen Bruder (V. 8).
Dem Jahwisten geht es nicht darum, durch den Brudermord eine Steigerung
der Sünde von Gen 3 darzustellen. Er will vielmehr auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, den sozialen Aspekt der Sünde, hinweisen. Durch die Zusammenstellung
der Erzählungen von Gen 3 und 4 bekommen zwei Wirklichkeiten dasselbe Gewicht:
Sowohl der Ungehorsam gegen JHWH als auch das Zerstören der Menschengemeinschaft wurzeln im Vergehen des Menschen und bestimmen die Menschheitsgeschichte.
Der Tat folgt ein Gespräch zwischen JHWH und Kain, in dem wiederum eine
Ätiologie (4,12) eingeschlossen ist. Auf die Klage Kains antwortet JHWH mit einem
Zeichen: Es ist der Ausdruck dafür, dass JHWH den Menschen nicht seinem Schicksal überlässt (vgl. 3,21.23). Dieses Kainszeichen ist keine Schande oder negative
Kennzeichnung, sondern ein Schutz.
Hier tritt ein uraltes Rechtsempfinden zu Tage. Kain, der Brudermörder, der in
eine Welt ausgestoßen wird, wo er gleichsam vogelfrei ist, wird geschützt. Dadurch
wird unterbunden, dass ein Mensch, und sei es auch ein Mörder, zum Freiwild für
andere Menschen (z. B. für eine Volksjustiz) wird. Der Brudermörder steht zwar unter
dem Fluch JHWHs, aber kein Mensch hat das Recht, in den Strafvollzug JHWHs
einzugreifen und eigenmächtig seinen Bruder zu richten.
Anregung: Vor allem Amnesty International (= Organisation zur Befreiung ungerecht
Gefangener) setzt sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Wie stehe ich zur Todesstrafe?
.
Kain fühlt sich von Gott ungerecht behandelt. Er lässt seinen Zorn am
Schwächeren aus. Wie reagiere ich, wenn ich sehe, dass andere bevorzugt werden? (vgl. Mt 20,15 „... oder bist du neidisch, weil ich gütig bin?“)
Wo beginne ich zu handeln wie Kain?
2.5.3 Die Sintflut (Gen 6,1-9,17)
In der Notiz von Gen 6,1-4 (Ehen der Göttersöhne mit Menschentöchtern zur mythologischen Erklärung von Kulturdenkmälern der Vorzeit, scheinbar durch Riesen gebaut) sieht die Bibel eine neuerliche Grenzüberschreitung der Menschen. Der
Mensch versucht eine Übersteigerung ins Göttliche. Die Folge davon ist die Sintflut.
Das Wort Sintflut leitet sich nicht vom Wort „Sünde“ ab, sondern vom germanischen „sint“ mit der
Bedeutung: dauernd, gewaltig.
Flutsagen gibt es überall auf der Welt, wo das Wasser als Bedrohung empfunden
wird. Aus Ägypten kennen wir keine Flutsagen, weil dort die Überschwemmung des
16
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Nil Fruchtbarkeit bedeutet. Die biblische Fluterzählung gehört zu den Flutgeschichten
des palästinisch-mesopotamischen Kulturkreises (z. B. Gilgamesch-Epos). Die Sintflut ist für die damaligen Menschen keine Natur-Katastrophe, sondern ein Gottesgericht, weil sich der Mensch von seinem Schöpfer abwendet und eigene Wege geht.
Sintflutsagen sind vor allem Ausdruck der Abhängigkeit der Menschen vom Schöpfergott. Es handelt sich dabei um Menschheitssagen, welche die Bibel übernimmt
und in den JHWH-Glauben einbindet. Mit dem Ende der Flut beginnt eine neue
Menschheitsepoche, die auf dem Wohlwollen JHWHs gründet.
In den biblischen Fluterzählungen sind die beiden ursprünglich selbständigen
Erzählungen von Jahwist und Priesterschrift miteinander verwoben:
Grund der Flut:
Held der Flut:
Befehl
Bau:
zum
Bau der Arche:
Einzug:
Flut:
Auszug:
Opfer:
Das Geschenk:
Verheißung,
Bund:
Jahwist
6,5: Die Menschen sind vollständig schlecht
7,1: Noach; er wird gerecht befunden.
6,8: Zuwendung JHWHs zu
Noach, Bau der Arche als
Glaubensgehorsam erst nachher erwähnt
7,1-9: 7 Paare reine und je ein
Paar unreine Tiere
7,12: 40tägiger Regen; 7,16:
JHWH schließt die Arche als Zeichen göttlichen Wohlwollens
8,2b.3a: Regen allmählich beendet; Wasser verläuft sich. Alles Leben vertilgt.
Rabe (8,7)
8,8ff: Dreimal eine Taube ausgesandt
8,20: Opfer als Dank
Friedensstimmung
8,21f: Versprechen JHWHs,
keine solche Flut mehr zu schicken.
Priesterschrift
6,13: Völlige Verderbtheit der
Menschen
6,9:
Noach;
rechtschaffener
Mensch in einer verdorbenen
Welt
6,14: Zuwendung JHWHs zu
Noach; ausdrücklicher Befehl
zum Bau der Arche
6,14-16: Bau der Arche nach genauen Anweisungen JHWHs
7,19: Von allen Arten je ein Paar
7,24; 8,3b: Katastrophe der
Schöpfung von 150 Tagen Dauer
8,1ff: JHWH gedenkt des Noach.
Flut beendet
8,15-19: JHWH gibt Befehl, die
Arche zu verlassen
Kein Opfer (erst nach Ex 25)
9,1ff: Gottesrede für neue Weltzeit: Wiederholung des Schöpfungsauftrages; Bundesschluss;
Bundeszeichen: Regenbogen
In der jahwistischen Erzählung reut es JHWH, den Menschen gemacht zu haben.
Nur Noach findet Gnade bei JHWH. In der Arche (= Bild der Rettung, die von JHWH
kommt) überdauert er die Flut. Sein Überleben verdankt er JHWH. Nur durch
JHWHs Geduld können Welt und Menschheit weiterhin bestehen, vom Menschen
her gibt es keinen Grund dafür.
Die Flutgeschichte ist die einzige urgeschichtliche Erzählung der Priesterschrift in Gen 1-11 von der Sünde der Menschen. Wegen der menschlichen Bosheit
ist die ursprünglich sehr gute Schöpfung zusammengestürzt. Der Verfasser fragt: Ist
die Zeit nach Noach, die Zeit, in der die Priesterschrift niedergeschrieben wird, und
auch unsere Zeit eine Heilszeit?
Nach der Priesterschrift wird die Welt und ihre Ordnung nach der Flut für immer erneuert. Der Mensch bleibt Bild des Schöpfers; seine Bosheit und Sünde haben ihn also nicht vollkommen verdorben (9,6). Der Schöpfungsauftrag (1,28) bleibt:
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
17
JHWHs Segen zeigt sich auch nach der Flut in der Weitergabe des menschlichen
Lebens (9,7a), der Mensch bleibt Herr über Tiere und Pflanzen (9,2f).
Zugleich ist aber die Welt und ihre Ordnung für immer vom Gericht gezeichnet. Der Mensch, so wie JHWH ihn gemeint hat, ist bedroht. Mord, Furcht und Schrekken sind die Kräfte des menschlichen Herrschens. Das Gericht der Sintflut hat den
Menschen geprägt: Die Unmittelbarkeit zu JHWH ist verloren gegangen. Gewalttaten
werden begangen, Mord ist möglich, Töten von Tieren wird alltäglich. Die Welt lebt im
Zwiespalt zwischen göttlichem Heil und unheilvoller Eigenmächtigkeit.
Aber JHWH hat dieser unheilvollen Welt erneut das Ja-Wort gegeben. Das
Zeichen dafür ist der Regenbogen (9,13ff), der nach Unwettern und der damit verbundenen Angst vor einer neuen Flut den Gottesbund verkündet. Doch auch JHWHs
Gericht ist immer ein Weg zum Heil, weil es ein Wieder-Ausrichten auf ihn (das Heil
schlechthin) ist. So wird die Sintflutgeschichte letztlich zum Evangelium (= zur frohen
Botschaft) von der trotz Schuld weiterbestehenden Welt.
Anregung: Nach der Katastrophe gibt JHWH das Versprechen, dass die Schöpfung
weiterbestehen wird. Wie wird diese Hoffnung in meinem Leben sichtbar?
Der Regenbogen ist ein Zeichen für die von Gott gegebene Hoffnung im
Bund mit den Menschen. Welche Zeichen erinnern mich an Gottes
grundsätzliches Ja zur Welt und zum Menschen?
2.5.4 Das Vergehen des Kindes gegen den Vater (Gen 9,20-27)
Auf den Abschluss der Fluterzählung mit der Bemerkung, dass aus den Söhnen Noachs die neue Menschheit nach der Flut entsteht (9,18f), folgt die tiefgründige Geschichte vom Frevel Hams und der Ahndung durch den Fluch des Vaters. Diese Erzählung ist im Zusammenhang mit der Paradieserzählung und der Kain-Abel-Geschichte zu sehen. Menschliche Schuld zeigt sich in den drei Grundverhältnissen
menschlicher Gemeinschaft:
a) zwischen Mann und Frau (2,4b-3,24)
b) zwischen Bruder und Bruder (4,2-16)
c) zwischen Eltern und Kindern (9,20-27)
Indem Ham den im Rausch entblößten Vater betrachtet, verletzt er die Würde des
Vaters. Das heißt, wo das Kind die Eltern bloßstellt (im weitesten Sinn), ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern bedroht. Es ist daher nicht nur die geschlechtliche Haltlosigkeit der Kanaanäer angeprangert (Ham = Stammvater der Kanaanäer), sondern jede Entehrung der Elterngeneration.
Der Vater verflucht den Sohn, der ihn bloßgestellt und zum Narren gemacht
hat. Er segnet die beiden anderen Söhne Sem und Jafet, die sein Bloßsein bedeckten. Ein echtes Zusammenleben der Generationen kann es daher nur dort geben,
wo die kommende Generation die gehende Generation achtet und ihr Ehrfurcht erweist. Die Erfahrung der Eltern ist wichtig für die Zukunft.
Anregung: Die Heilige Schrift weiß vom Wert der „Weisheit“ der älteren Generation
(vgl. Ex 20,12). Was bedeuten mir überlieferte Werte?
2.5.5 Der Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9)
Die letzte Sündenfallserzählung, die vom Jahwisten stammt, ist in Nomadenkreisen
beheimatet. Die Stadtkultur und der Stufentempel (= Ziqqurat) waren für sie fremd,
erschreckend oder zumindest unverständlich.
Wenn auch der Turm nicht bis in den Himmel reichte, so war er doch überwältigend. JHWH aber ist diesem und jedem menschlichen Werk so überlegen, dass
18
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
er erst herabsteigen muss, um es zu sehen. Das Vergehen der Menschen besteht darin, dass sie nur an ihren Ruhm und ihre Stärke denken, auf JHWH aber vergessen.
Sie werden daran erinnert, wer tatsächlich der Starke ist. Stolz und Überheblichkeit
führen dazu, dass sich die Menschen und Völker nicht mehr verstehen. In diesem Sinn
deutet der Erzähler den Namen Babel: Er nimmt das hebräische Wort „balal“ (= mischen, verwirren) zur Erklärung; im Akkadischen heißt „bab-ili“ Tor Gottes.
Diese Erzählung will nicht die Abwendung von den Errungenschaften der Kultur und Wissenschaft predigen. Sie warnt vielmehr den Menschen davor, sich selbst
zu überschätzen und über sich hinauswachsen zu wollen. Dies führt zur Gefährdung
des Glaubens und zur Erschütterung des Urvertrauens. Die Menschen vergessen
auf den, dem sie Können und Dasein verdanken. Arbeit, Technik, Wissenschaft,
Fortschritt, Erfolg und Genießen der Schöpfung entsprechen dem Schöpfungsauftrag. Aber es ist oft nur ein kleiner Schritt, den Schöpfungsauftrag ins Gegenteil zu verkehren.
Anregung: In welchen „Türmen“ menschlicher Errungenschaften suchen wir Sicherheit?
Wie gelingt es uns, die Verantwortung für Mitmensch und Schöpfung ohne Überheblichkeit wahrzunehmen?
2.6 Die Stammbäume in der Urgeschichte
Genealogien (= Abstammungstafeln, Geschlechterreihen, Stammbäume) nehmen in
Gen 1-11 einen wichtigen Platz ein. Sie dienten den Nomaden zum Nachweis ihrer
Herkunft.
Gen 4,1f.17-26; 10,8-30; 11,28-30 sind vom Jahwisten. Sie zeigen, dass sich
die Schöpfung sowohl im Wachsen der Menschheit in die räumliche Breite (= Völker)
und die zeitliche Tiefe (= Geschlechterfolge) als auch in der Kultur und der Religion
(vgl. 4,26) fortsetzt. Die übrigen Genealogien werden der Priesterschrift zugeordnet.
Die einfachen (meist gleichbleibenden, systematisierten) Aufzählungen dienen dazu,
die Urgeschichten mit den Vätererzählungen zu verbinden. Dabei werden jedoch tiefe theologische Aussagen gemacht. Die hohen Altersangaben weisen darauf hin,
dass Gottes Wohlwollen mit den Menschen überaus groß war. Von Henoch (5,24) ist
darüber hinaus überliefert, dass er von Gott „genommen“ wurde wie später Elija (2
Kön 2,11) und Jesus (Lk 24,51; Apg 1,9).
Mit der Völkertafel (Gen 10) wird gesagt, dass nicht nur Israel ein Geschöpf
JHWHs ist, sondern alle Menschen und Völker von JHWH erschaffen sind. Die
Stammbäume von Gen 5 und 11 geben die Herkunft Abrahams an. Die mit Abraham
beginnende Geschichte ist Teil der Geschichte JHWHs mit der gesamten Menschheit.
Anregung: Wer sind meine Vorfahren? Was bedeuten sie mir?
Wem verdanke ich meinen Glauben?
2.7 Theologische Grundaussagen der Urgeschichte
Die Urgeschichte ist das Ergebnis eines langen Nachdenkens über Gott, Mensch,
das eigene Volk und die anderen Völker. Schließlich denkt Israel darüber nach, woher - wenn Gott gut ist und die Schöpfung aus seiner Güte kommt - das Leid, der
Hass, die Schmerzen, die Last der Arbeit und der Tod kommen. Der Blick der Schriftsteller geht über die eigene Volksgeschichte hinaus auf die Ursprünge der Menschheit
zurück. Alte Menschheitssagen werden zum Ausdruck der gläubigen Haltung Israels.
In Gen 1-11 spricht Israel aus, dass JHWH nicht nur irgendein Stammes- oder
Nationalgott ist wie die Gottheiten anderer Völker. Vielmehr ist der Gott Israels, der
dieses kleine Volk erwählt und gerettet hat (vgl. Ex 1-15), der Herr des Himmels und
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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der Erde. Alle Menschen und Völker kommen von ihm her. Hier sagt Israel auch aus,
dass alles Leid aus der Sünde kommt. Die Sünde aber gründet in der freien Entscheidung, in der sich der Mensch von JHWH abwendet. Das von JHWH gewollte Heil verkehrt sich durch das menschliche Handeln und die menschliche Haltung in Unheil.
Die Urgeschichte ist der Prolog, die Vorrede zur Geschichte JHWHs mit den
Menschen. Von Gen 1-11 spannt sich der Bogen bis hin zum letzten Buch der Bibel,
der Offenbarung des Johannes. Die Schöpfung von Himmel und Erde am Anfang
der Zeiten gibt Hoffnung auf JHWHs „Schöpfung“ in der Zukunft. Er wird sich immer
wieder als Retter- und Schöpfergott erweisen (vgl. Jes 43,14ff; Offb 21,5). Zu ihm
wendet sich das Volk in Not: „Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel
und Erde gemacht hat“ (Ps 124,8).
Wesentliches Kennzeichen der Urgeschichte ist ihre Universalität. Es werden
allgemein gültige Aussagen über die Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt
gemacht. Sie gelten allen Menschen zu jeder Zeit. Menschen sind wie Kain, wie Eva,
wie Adam, wie Ham, und sie werden immer so sein. In bestimmten Grundzügen ändern sich die Menschen nicht; sie brauchen Nahrung (1,28; 2,8) und Gemeinschaft
(2,18); sie sündigen, indem sie immer wieder über die Grenzen des Menschen hinausgreifen.
Schöpfung - Sünde - JHWHs Wohlwollen gipfelt in der Aussage von Gottes
Heilswillen, der menschliche Ohnmacht und menschlichen Eigenwillen in immer
neuer Weise übersteigt: JHWH beruft sich Abraham als Segen für alle Völker und erwählt Israel zum Zeichen für die Völker. Schließlich bekennen die Christen, dass er
in der Auferweckung Jesu sein Heilswerk vollendet. Jesus ist die „Mitte der Zeit“ zwischen Anfang und Ende (Joh 1,1-14). Trotz des Wissens, dass der Mensch immer
wieder „nach den Sternen langen“ wird, dürfen wir glauben und vertrauen, dass
JHWH auch weiterhin die Welt und die Menschheit in seinen Händen hält. Obwohl
das Gericht unausbleiblich ist, werden JHWHs letzte Worte Heil und Leben sein (vgl.
9,8-17).
3. Glaubensväter und Glaubensmütter (Gen 11,10-36,43)
Ab Gen 12 überliefert die Bibel „Geschichten vom Anfang“ ganz anderer Art als in
Gen 1-11, wo vom bleibenden Ursprungsgeschehen der Welt und der Menschheit
erzählt wurde. Jetzt geht es um die Ursprungssituationen des JHWH-Volkes Israel
und des biblischen Glaubens. Den Übergang bildet die Geschlechterliste Abrahams
in Gen 11,10-32. In sehr alten Sagen erzählt man sich von Abraham und Sara (1225); von Isaak und Rebekka (26); von Jakob/Esau und den Frauen Jakobs, Lea und
Rahel (25-36). Es sind typische Familien- bzw. Sippenerzählungen. Im Mittelpunkt
der Geschichten stehen einerseits die Verheißungen von Land und Nachkommen
(13,15f; 26,3f; 28,13f) und andererseits die Zusage des Segens „Ein Segen sollst du
sein ... Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (12,2c.3c).
Die Abrahamserzählungen zeigen die Gefährdung der Nachkommensverheißung,
weil Sara unfruchtbar ist und keine Kinder hat. Mittelpunkt dieser Erzählungen ist dann
auch die Geburt Isaaks (21,1-8). Der Verheißung JHWHs entsprechen das Vertrauen
und der Glaube der Menschen (15,6). Isaak ist keine tragende Gestalt in den Vätererzählungen: Er ist der Sohn eines großen Vaters und der Vater eines großen Sohnes,
nämlich Jakobs. Der Jakob-Esau-Kreis ist geprägt von der Frage: Wer ist der Träger der
Verheißung, wenn es mehr als nur einen Nachkommen gibt? Einerseits hat ja Jakob einen (Zwillings-) Bruder, andererseits ist er der Vater von zwölf Söhnen.
Biblische Texte sind Glaubenszeugnisse, keine Tatsachenberichte. Wenn die
Erzählungen von den Stammeltern oft auch sehr weltlich und menschlich klingen, so
sind sie doch Offenbarung Gottes. Warum JHWH z. B. auf der Seite des Betrügers
Jakob und nicht auf der Seite Esaus steht, bleibt uns verborgen. Es kann aber dem
20
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Gläubigen eine Hilfe sein zu wissen, dass er von JHWH angenommen ist mit den je
eigenen guten oder weniger guten Eigenschaften. In der Form der Sage werden die
Erfahrungen überliefert, welche die Vorfahren mit der Welt und mit Gott machten.
Sagen sind des Weitersagens wert. Sie geben nicht Halbwahres oder Nicht-MehrFeststellbares weiter, sondern sind in der Bibel Erzählungen, die in einer historischen
Erinnerung den Erlebnisaspekt besonders berücksichtigen. Man fand es wertvoll,
diese Erlebnisse und Erfahrungen der Nachwelt weiterzusagen und vielleicht Ähnliches im eigenen Leben zu erkennen.
Abraham wird in der Bibel als „Unser Vater im Glauben“ bezeichnet (Röm 4,125). Die ihm und seinen Nachkommen gegebenen Verheißungen sind bereits im ET
erfüllt (vgl. Ex 1,7 und Jos 21,43-45), aber noch nicht endgültig. Christen bekennen,
dass sich die Erfüllung und die Ausweitung auf alle Menschen in Jesus von Nazaret
ereignet hat. Abraham ist ein sehr wichtiges Bindeglied zwischen ET und NT; zwischen Judentum, Christentum und Islam. Er ist eine der ganz großen glaubensverbindenen, ökumenischen Gestalten der Menschheit.
Anregung: Welche Menschen sind für mich „Stammeltern“ im Glauben?
3.1 Der historische Hintergrund der Patriarchenerzählungen
Die Erzählungen über die Glaubensmütter und -väter sind Sippenerzählungen, die
lange mündlich weitergegeben wurden. Daher spiegeln sich in ihnen sehr oft auch die
Gegebenheiten späterer Generationen wider. So lebt im Streit der Nachbarvölker mit
Israel der Bruderzwist zwischen Jakob und Esau weiter; die Auseinandersetzung der
beiden Frauen Sara und Hagar setzt sich in ihren (Abrahams-) Söhnen Isaak (Juden)
und Ismael (Araber) fort. Zur Begründung dafür, dass es mit den Moabitern und Ammonitern nicht weit her ist, wird die Geschichte ihres Ursprungs erzählt (19,30-38).
Niedergeschrieben und bearbeitet wurden die Erzählungen erst im späteren
Israel vom Jahwisten, vom Elohisten und von der Priesterschrift. Jeder der drei Verfasser hat den Stoff gestaltet, um auf die Fragen der eigenen Zeit mit Hilfe der alten
Überlieferungen Antworten zu geben. Sie wollten ja nicht nur von Vergangenem erzählen, sondern Glaubens- und Lebenshilfen in der jeweiligen Zeit sein.
Die Bibel zeichnet uns die Väterzeit als die Geschichte einer Familie. Die historische Forschung hat dieses Bild gründlich verändert. Vor der Errichtung des Königtums gab es keine Einheit zwischen den Stämmen, sodaß man nicht von einem
„Volk“ Israel sprechen kann. Die einzelnen Gruppen waren jede für sich ins Land gekommen und hatten das Land von den unbewohnten Höhen aus auf friedliche Weise in
Besitz genommen. Von kriegerischen Unternehmungen Abrahams hören wir nur einmal
in Gen 14. Sonst ist er als friedlicher Kleinviehnomade (= Wanderhirt) gezeichnet.
Die Väterzeit umspannt nach dem Zeugnis der Bibel die Zeit von vier Generationen. Historisch dauerte dieser Zeitabschnitt aber 700 bis 1000 Jahre. Die in dieser
Zeit entstandenen Erzählungen von großen Männern wurden zum ersten Mal im 10.
Jhd. gesammelt und aufgeschrieben. Der Zusammenhang wurde dadurch hergestellt, dass die Hauptfiguren auch die Erzählungen von weniger bekannten Personen
an sich gezogen haben, bzw. dass die Hauptfiguren der Erzählungen in eine Generationenfolge und in ein Verwandtschaftsverhältnis gebracht wurden.
Die Hauptfiguren waren nicht nur zeitlich voneinander getrennt, sondern sie
lebten auch in verschiedenen Gebieten Palästinas. In Mittelpalästina siedelte die Jakobgruppe und die Josefgruppe; in Südpalästina ist die zeitlich ältere Person Isaak
und die jüngere Gestalt Abraham beheimatet. Zunächst verband man die Isaakerzählungen mit den Jakobserzählungen. Die Abrahamserzählungen wurden dann den
bereits verbundenen vorangestellt. Schließlich wurden die Erzählungen den Überlieferungen des Volkes Israel vorgeordnet: Das Volk Israel erkannte in der Geschichte
der Patriarchen seine eigene, von JHWH gewollte Vorgeschichte.
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
21
Beim Lesen des Vorhergehenden erhebt sich die Frage: Wie verhalten sich Glaube und Geschichte? Die Geschichtswissenschaft wird uns nie die Bestätigung geben, dass die biblischen Erzählungen historisch nachweisbar von der Beziehung zwischen Gott und Mensch sprechen. Sie kann uns
Gottes Wirken nicht beweisen. Gerade das aber ist Glaube: Das Zeugnis der Bibel ohne „Beweise“
annehmen und diesem Zeugnis glauben.
Merksätze: Die Patriarchenerzählungen verdanken ihre Erhaltung dem Glauben Israels. Die Patriarchen gehören zu einer umfassenden Wanderbewegung,
die zunächst von der Steppe ins Kulturland und dann von einem Gebiet
des Kulturlandes in das andere geführt hat. Sie sind hin- und herziehende Kleinviehzüchter auf dem Weg zur Sesshaftwerdung.
3.2 Spuren der nomadischen Vergangenheit Israels in der Bibel
Die Israeliten waren ursprünglich Wanderhirten. Während der Regenzeit weideten
sie ihre Herden in der Wüste und in der Steppe; während der trockenen Sommerzeit
suchten sie Weideplätze im Kulturland auf. Sie hielten sich in der Nähe der festen
Siedlungen auf und schlossen Abkommen mit der ansässigen Bevölkerung wegen
der Mitbenützung von Wasserstellen (vgl. die „Brunnenszenen“; z. B. 21,22ff;
24,11ff; 26,25). Auch gab es Abkommen darüber, dass und wo die einzelnen Wanderhirten ihre Herden weiden lassen durften (13). Die Weideplätze im Kulturland waren weithin die bereits im Frühsommer abgeernteten Felder. Für das genügsame
Kleinvieh (Schafe, Ziegen, Esel als Lasttier) fand sich auf diesen Feldern noch genug, um in der sommerlichen Dürre am Leben zu bleiben.
Das Nomadentum hat die Daseinshaltung Israels wesentlich beeinflusst. Zunächst ist die gesellschaftliche Verfassung davon geprägt: Die einzelnen Gruppen
schlossen sich wohl zu Verbänden zusammen, bildeten aber keinen Staat. Der Zusammenschluss zu Verbänden war notwendig, um Leben und Eigentum zu schützen. Die Einheit schlechthin war die Sippe (= Großfamilie). Für einen Nomaden war
die Zugehörigkeit zu einer Sippe lebensnotwendig. Sie schützte ihn vor Unrecht und
musste andererseits für die Vergehen ihrer Angehörigen einstehen. Man wusste um
seine Abstammung und seine Sippenzugehörigkeit. Dies erklärt die Sorgfalt beim
Überliefern von Stammbäumen (22,20b-24; 25,1-6.12-17).
Mehrere Sippen zusammen bildeten einen Stamm. Es gab einen Stammesführer, der jedoch keine besondere Stellung gehabt haben dürfte. Er war eher „primus inter pares“ (= der Erste unter Gleichen). Bei einem Stamm galt ein ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, dem der Stamm selbst Geltung verschaffen musste.
Darum war es wichtig, dass der Stamm zusammenhielt. Es dürfte die Pflicht zur Blutrache bestanden haben (vgl. 4,23f; Ri 8,18-21).
Als Eigenschaften eines Nomaden sind uns vor allem von Jakob Schlauheit
und Listigkeit überliefert (27; 30,25ff). Weitere Merkmale des Nomadenlebens sind
einerseits Beutezüge, um den eigenen Besitz zu vermehren; andererseits aber großzügige Freigebigkeit und die damit verbundene Gastfreundschaft. Ohne Gastfreundschaft wären Handel und Reisen in der Steppe und Wüste unmöglich. Dem Gast
stand nicht nur Bewirtung zu, sondern auch der Schutz des Gastgebers. Letzteres ist
die Wurzel des Asylrechtes. Wer verfolgt wurde, durfte in ein beliebiges Zelt eindringen mit der Bemerkung, dass er der Schutzgast des Zeltbesitzers sei. Er durfte gewöhnlich solange bleiben, bis sich seine Lage geändert hatte; während dieser Zeit
war der Gastgeber für ihn verantwortlich. Beispiele für die Gastfreundschaft und den
unbedingten Schutz des Gastes finden wir in Gen 18 (Abraham); Ex 2,20 (Jitro) und
Ri 19,21-25 (folgenschwerstes Opfer zum Schutz des Gastes).
Charaktereigenschaften der Nomaden waren: Ungebundenheit, Selbstsicherheit und Freiheitsliebe - der Nomade duldete kein Joch, weder in religiöser noch in
politischer Hinsicht (vgl. Ex 1-2). Nur die Gesetze der Wüste und Steppe werden an22
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
erkannt. Dies gilt z. B. noch in Ri 5,2: Das Lob für die Bereitschaft des Volkes weist
darauf hin, dass man das Mitkämpfen auch verweigern hätte können.
Grundzüge, wie sich Israel JHWH vorstellte, stammen aus dieser Nomadenzeit. JHWH bindet sich an Menschengruppen und sorgt für sie: Er ist der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (Ex 3,6). Er bindet sich nicht an einen
bestimmten Ort, sondern er zieht mit den Menschen. Ein sehr wichtiger Aspekt ist
es, dass es in dieser Zeit von JHWH kein Bild gibt: Die Verehrung war bildlos (vgl.
das Bilderverbot in Ex 20,4). JHWH ruft und erwartet Antwort auf seinen Ruf in unbedingtem Vertrauen. In der Nomadenzeit Israels liegt der Anfang eines persönlichen Glaubens im Gegensatz zur statischen Religion der bereits sesshaften Menschen mit ihren Göttern, die man sich als für alles Mögliche zuständig dachte.
Merksätze: Die Frühgeschichte Israels bis hinein in die Königszeit trägt deutlich die
Spuren der nomadischen Herkunft Israels. Solche Hinweise sind: die ursprüngliche Verfassung in Sippen und Stämme; das Gesetz der Blutrache; Nomadenschläue; Eroberungsgeist; Freigebigkeit und Gastfreundschaft; Asylrecht; Freiheitsdrang; Selbstsicherheit; Freiheitsliebe und
schließlich die Wiederherstellung der verletzten Ehre.
3.3 Die Abrahamserzählungen (Gen 11,10-25,18)
Die Bibel schreibt nie die durchgehende Lebensgeschichte eines Menschen (= Biographie), sondern die Geschichte von Gotteserfahrungen, die Menschen gemacht
haben. Dementsprechend hat die Abrahamserzählung zwei Brennpunkte: Einerseits
die von JHWH gegebene Verheißung von Nachkommen und Land, andererseits die
Haltung des Menschen der Verheißung gegenüber: nämlich Glaube, Vertrauen bzw.
Unglaube.
verheißene(s) Nachkommen
11,10-32
12,1-3
Vorfahren Abrahams
Segensverheißung
Wegbeschreibung (= Itinerar)
Die Gefährdung Saras
Abraham und Lot
Abraham und Melchisedek
JHWHs Bund mit Abraham
Die Geburt von Ismael
JHWHs Bund mit Abraham (Beschneidung)
Der Besuch der drei Männer bei Abraham
Der Untergang Sodoms
Zweite Gefährdung Saras
Die Geburt Isaaks
Der Konflikt zwischen Sara und Hagar
Der Brunnenvertrag
Die Versuchung und Verheißung Abrahams
Stammbaum Nahors
Tod Saras und Kauf einer Grabstätte
Die Brautwerbung für Isaak
Stammbaum Abrahams
Abrahams Tod und Begräbnis
Stammbaum Ismaels
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
12,10-20
13,14-16
15,1-6.7-21
16,1-16
17,1-27
18,1-16
20,1-18
21,1-8
21,9-21
22,1-14.15-18
22,20-24
24,1-67
25,1-6
25,7-11
25,12-17
Land
11,31
12,1-3
12,4-9
13,1-13.17f
14,1-24
15,1-6.7-21
17,1-27
18,17-33
19,1-38
21,9-21
21,22-34
22,2.14.19
23,1-20
25,6
25,7-11
25,18
23
Die Nachkommensverheißung ist in zweifacher Form gefährdet: Einerseits durch die
Kinderlosigkeit Saras (11,30; 15,2f; 16,1; 17,17; 18,11f) und durch Menschen (Sara
wird zweimal in einen königlichen Harem aufgenommen; 12,10-20; 20). Andererseits
scheint durch JHWHs Gebot die Nachkommenverheißung zunichte gemacht zu werden (22). Zum Verheißungsmotiv zahlreicher Nachkommenschaft gehört die Erzählung von der Brautwerbung um Rebekka (24).
Die Mitte und der Höhepunkt der Abrahamserzählungen ist die Geburt des Nachkommen Isaak in 21,1-3. Ähnliche Erzählungen von Verheißung und Geburt eines Kindes finden wir öfter in der Bibel; auch im NT (vgl. Lk 1-2: Verheißung und Geburt von Johannes und von Jesus). Sie stehen an Wendepunkten der Heilsgeschichte.
Der Mensch antwortet auf JHWHs Verheißung mit Vertrauen, Glauben und
Unglauben. Die Gestalt des Abraham zeigt, dass Glauben immer wieder bedroht
wird durch Zweifel und Unglauben.
Geschichten, die vom Unglauben erzählen, sind Gen 12,10-20 und 20,1-18:
Die Gefährdung der Stammutter. Abraham wurden Nachkommen verheißen, die ihm
seine Frau Sara schenken wird. Er jedoch hat Angst um sein Leben: Der Pharao
(12), der König von Gerar (20) könnten Abraham töten, um die schöne Sara in ihren
Harem aufnehmen zu können. Abraham sagt darum, dass Sara seine Schwester, also nicht seine Frau sei. So landet Sara im Harem des Pharao bzw. des Königs von
Gerar. Nach menschlichem Ermessen ist damit die Erfüllung der Nachkommensverheißung, d.h. die Vaterschaft Abrahams, unmöglich geworden. In beiden
Erzählungen greift JHWH ein. Er befreit Sara und stellt die ursprüngliche Beziehung
wieder her. Eine ähnliche Geschichte vom Klein- bzw. Unglauben des Stammvaters
wird auch von Isaak (26,7-11) überliefert, der seine Frau Rebekka als Schwester
ausgibt.
Ebenso verweisen Geschichten von Sara und Hagar/Ismael darauf, dass die
Stammeltern der Verheißung nicht glauben und die Hoffnung auf die Geburt eines
Sohnes bereits aufgegeben haben. Darum soll Hagar, die Magd der Herrin, ein Kind
von Abraham empfangen und zur Welt bringen. Dieses Kind gilt nach dem damals
geltenden Recht als Nachkomme der Eltern Sara und Abraham.
a) Abrahams Berufung und Wanderung (Gen 12,1-9)
Der Text stammt vom Jahwisten (12,1-4a.6-9) und von der Priesterschrift (12,4b-5).
JHWH ruft Abraham aus der vertrauten, bekannten Umgebung ins Ungewisse und
verbindet mit dem Gebot eine Verheißung. Ähnliches wird in den Isaakgeschichten
(26,1ff) und in den Jakobserzählungen (31,3; 32,10; 46,1ff) erzählt. Gen 12,1-9 ist
eine an den Anfang gestellte Zusammenfassung des Väterglaubens, obwohl das
Wort „Glaube“ darin überhaupt nicht vorkommt. Abraham wird angesprochen, und er
folgt dem Ruf JHWHs: Das ist es, was die Bibel „glauben“ nennt.
Wir Menschen des 20. Jhds. möchten an diesen Ruf JHWHs viele Fragen stellen: Auf welche Weise hat Gott gesprochen? Bei welcher Gelegenheit? Wie und woran erkannte Abraham, dass Gott
der Rufende war? Gibt es überhaupt einen Gott, der sich offenbart? Was bedeutet es, aufbrechen
zu müssen, ohne auch nur ein leises Zeichen dafür zu haben, dass Gott sein Wort hält?
Dem Jahwisten geht es nicht darum, wie JHWH gesprochen hat oder was in Abraham dabei vor sich ging, sondern er erzählt die Tatsache der Offenbarung. Entscheidend ist, was JHWH wollte. Auch scheint es ungewöhnlich, dass Abraham
nichts über das Wesen JHWHs hört. JHWH gibt Abraham eine Weisung: „Zieh
weg!“. Die Gottesrede verlangt von ihm eine Herauslösung aus seinen bisherigen
Verwurzelungen. Er soll sein Land, seine Verwandtschaft und seine Sippe verlassen
und in die unbekannte Fremde ziehen. Abraham soll seine Sicherheiten aufgeben
und sich dem Wort und der Führung JHWHs anvertrauen. Er wird zum Vorbild für
das Volk Israel und für alle Gläubigen: Herausgerufen aus den Völkern und eingeladen zur persönlichen Entscheidung sollen sie in die Fußstapfen Abrahams treten.
24
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
Die Forderung und Zumutung (in doppelter Hinsicht) des ersten Verses geht in
12,2f über in eine Verheißung: JHWH stellt die neue Sicherheit dar. Abraham wird
zum Segen für alle anderen Völker und Geschlechter. Abraham geht auf den Ruf ein
und begibt sich auf den vorgeschriebenen Weg (12,4). Der Väterglaube besteht nicht
in blindem Gehorsam, sondern ist Vertrauen auf den, der sein Wort gegeben hat und
zu seinem Wort stehen wird. Wichtig ist, dass JHWHs Wort und Verheißung nur dann
Wirklichkeit werden, wenn Abraham den Weg geht - auch wenn er dunkel ist. Abraham
wird damit für jeden Gläubigen zum Vorbild: Nur wer den von JHWH bestimmten Weg
geht, wird erfahren, dass dieser Weg zum Heil (zum Segen) führt. Erst im Nachhinein
zeigt sich, wer richtig gehandelt und sich auf JHWH eingelassen hat.
Abraham hatte es keineswegs leichter als Spätere: Auch er wusste nicht, wohin ihn Gott führen
wird. Trotzdem ist nur dieser Weg des Glaubens, des Vertrauens, des „Sich-fest-Machens in
JHWH“ der Weg zum Heil.
Seit seiner Loslösung aus der Verwandtschaft und seinem Auszug (= Exodus) ist Abraham unterwegs. Er ist ein Wanderer in der Nacht und im Licht des Glaubens. Sein
Weg führt ihn nach Kanaan. Seine Frau ist unfruchtbar; in Kanaan bleibt er Wanderhirte - ohne Landbesitz. Das Land Kanaan ist auch später nicht in den Besitz der
einzelnen Israeliten übergegangen. Es war und blieb JHWHs Land (vgl. 1 Kön 21).
Abraham zieht zunächst zur „Orakeleiche“ bei Sichem, einem Ort, an dem man im
Rauschen der Blätter Stimmen zu hören vermeinte. Dadurch wurden den Menschen
verschiedene Botschaften übermittelt. Durch Abraham wird Sichem ein Kultort der
Israeliten. Schließlich zieht Abraham weiter über Bet-El und Ai in den Süden.
An diese Erzählungen vom Glauben des Abraham schließt eine erste Erzählung von seinem Unglauben. In 12,10-20 ist Abraham der schlaue Nomade, der sich
absichert, dabei aber die Verheißung JHWHs gefährdet. Eine solche Absicherung ist
nicht nötig. JHWH selbst sorgt für seine Anhänger (vgl. 20,1-18; 26,7-11) und für
sein Volk (Ex 1-15; 16-18). Wie Sara vom Pharao freigegeben werden musste, so
müssen später die Israeliten von den Ägyptern freigegeben werden.
Anregung: Abraham bricht auf ins Ungewisse, weil er sich von JHWH geführt weiß.
Wie verhalte ich mich, wenn Unerwartetes auf mich zukommt?
b) Der Bund JHWHs mit Abraham (Gen 15 und 17)
JHWH schließt einen Bund mit Abraham. Inhalt des Bundes sind die Väterverheißungen von Nachkommen und Land. Gen 15,1-6 verheißt dem Abraham in einer Vision einen leiblichen Erben (von der unfruchtbaren Sara). Kinderlos zu sein ist der
größte Mangel für einen Altorientalen und zugleich eine Schmach. Die Verheißung
JHWHs hat sich nicht erfüllt. Hat sich JHWH von ihm abgewandt?
Auf die Anrede JHWHs „Fürchte dich nicht“ (vgl. z. B. Ex 14,13; Jer 1,8; Jes
43,1) bringt Abraham zweimal seinen klagenden Einwand vor. Daraufhin erneuert
JHWH die Verheißung eines Sohnes und erweitert sie mit der Zusage einer unzählbaren Menge von Nachkommen. Das genügt Abraham, um zu glauben. Vers 6 stellt
ganz nüchtern diesen Glauben fest.
Daran schließt sich eine Beschwörung der Verheißung in der Form eines urtümlichen Bundesritus, der unter nomadischen Völkern vollzogen wurde und als
Bundeszeichen dient: Tiere werden in zwei Teile geteilt, und es wird eine Art Opferstraße gebildet. Die Bundespartner schreiten zwischen den Teilen hindurch und
sprechen dabei Selbstverfluchungen für den Fall, dass einer den Bund nicht einhält
(vgl. Jer 34,18f). In Gen 15 geht JHWH allein hindurch als Zeichen dafür, dass diese
bindende Verpflichtung nur von JHWH angeboten, geschlossen und gehalten werden kann. Dass JHWH gegenwärtig ist, zeigen Feuer und Rauch (vgl. Ex 19,18),
Dunkelheit („kein Mensch kann Gott sehen“; vgl. Ex 33,20) und die Haltung Abrahams (Tiefschlaf und Erschrecken; 15,12).
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
25
Für den Menschen, der unterwegs ist, bedeutet Gen 15: JHWH fordert nicht
ohne eine Zusage (15,1). Die Verheißung JHWHs ergeht in einer völlig hoffnungslosen Lage Abrahams: Es ist Nacht (15,5) und Abraham hält als Sicherheit nicht einmal einen Stern in seiner Hand. Dem Glaubenden müssen Zeichen genügen. Er lebt
in Glaubensgewissheit, nicht in Glaubenssicherheit. Die Gottesbegegnung ist partnerschaftlich (Abraham wird ein „Fürchte dich nicht“ zugesprochen, bzw. er kann
seine Einwände vorbringen) und erschreckend (Raubvögel, Blitze, Feuer, Rauch).
Damit ist ausgesagt: Gott ist der ganz Andere, der sich aber so zeigt, dass er für die
Menschen erfahrbar sein kann. Der Glaube bezieht sich nicht auf etwas, was man
schon hat oder weiß, sondern auf eine in der Zukunft liegende Verheißung. Diese
Zukunft wird nur in der Kraft des gegenwärtigen Gottes ermöglicht.
Noch eindeutiger als in Gen 15 (J) geht in Gen 17 (P) der Bund einzig und allein von JHWH aus. Das ganze Kapitel ist eine Gottesrede und die Reaktion des Abraham (vgl. 17,17f) darauf. JHWH ist nicht nur der Gott Israels, sondern der Gott der
Welt (Segen des Ismael, 17,20). Zeichen des Bundes ist die Beschneidung.
Anregung: Israel als JHWH-Volk kennt zwei Zeichen: Beschneidung und Einhalten
des Sabbats. Woran erkennt man das neue Gottesvolk, die Christen?
c) Abrahams Opfer (Gen 22)
Als „Vater im Glauben“, der dem Anruf JHWHs gemäß handelt, begegnet Abraham
in Gen 12,1-4a und Gen 22. Mit der sicherlich sehr alten Sage von Gen 22 will der
Elohist gegen den Baalskult mit Menschenopfern auftreten (vgl. 1 Kön 16,34). Morija
(22,2) ist der jetzige Tempelberg in Jerusalem, auf dem heute eine der schönsten
Moscheen des Islam, der Felsendom, mit dem „Felsen des Ursprungs“ steht.
Abraham wird von JHWH aufgefordert, seinen Sohn Isaak als Brandopfer
darzubringen. Derselbe JHWH verhindert dann dieses Opfer. Die Bibel will damit erklären, warum in Israel die männliche Erstgeburt geopfert wird mit Ausnahme der
menschlichen. Israel kannte aus seiner Umwelt den Brauch, den erstgeborenen
Sohn zu opfern im Gehorsam gegen die Gottheit. Doch der Gott Abrahams wollte
dieses Opfer nicht. Israel wurde in Abraham zu verstehen gegeben, dass sein Gott
ein Gott ist, der das Leben will und nicht den Tod (oder ein Menschenopfer).
Die Erzählung in ihrer heutigen Form hat aber noch einen anderen Brennpunkt. JHWH prüft, versucht und erprobt Abraham, ob er „gottesfürchtig“ ist. Mit Gottesfurcht meint die Bibel den absoluten Gehorsam. Dies ist die Haltung, Gott alles zu
überlassen und zu geben. „Gottesfürchtig leben“ heißt, in der Gegenwart Gottes, in
Glauben, Vertrauen und Liebe leben.
Anregung: Abraham war bereit, JHWH zu gehorchen, seine eigene Sicherheit und
Zukunft aufzugeben und ganz auf JHWH zu vertrauen. Was Abraham in
dieser Geschichte erfährt, überkommt jeden Glaubenden. Der Weg des
Glaubens scheint genauso schwer zu sein wie andere Wege.
Ist der Weg Abrahams ausweglos? Abraham weiß nicht, dass dieser Auftrag „nur“
eine Erprobung ist. Er weiß, dass er den lang erwarteten Erben opfern soll und sich
damit seine eigene Zukunft unmöglich macht. Der Tod seines Sohnes ist sein eigener. Wenn er Isaak tötet, gibt es für ihn kein Weiterleben und keine Zukunft mehr.
JHWH widerspricht sich selbst: Wie soll die in Gen 12,1-3 und öfter gegebene Verheißung in Erfüllung gehen? Wichtig ist der Hinweis, dass die Bibel nichts über das
Handeln Gottes aussagen will. Darum sind alle diesbezüglichen Fragen fehl am
Platz, z. B.: Wie kann ein gütiger Gott das von Abraham verlangen? Der Erzähler will
vielmehr darstellen, wie sich der gläubige Mensch in der Krise verhalten soll.
Auf den Anruf JHWHs antwortet Abraham mit „Hier bin ich“. Er tut, was ihm
aufgetragen ist. Der biblische Bericht sagt nichts über die Gefühle des Abraham.
Doch weisen die Worte „deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst“ darauf hin,
26
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
was Isaak für Abraham und wie unerklärlich diese Forderung JHWHs ist. Doch Abraham geht daran, diesen Auftrag auszuführen. Ohne weitere Worte zu verlieren,
trifft er seine Vorbereitungen und macht sich auf den Weg. Die Antwort von Vers 8
bezeugt das gläubige Vertrauen Abrahams: Auch wenn er nicht weiß, was JHWH
weiterhin tun wird, will er den gewiesenen Weg weitergehen.
Wie Abraham dazu fähig war, sagt uns die Erzählung nicht, sondern nur, dass
er ging. Abraham ist gehorsam gewesen. Und JHWH nimmt diesen Gehorsam an,
sagt „Ja“ zu Abraham. Abraham hat sich als „gottesfürchtig“ erwiesen. Er darf daher
erfahren, dass er Zukunft hat. Er erhält ein neues Leben von JHWH her geschenkt.
Der Tod ist für denjenigen, der sich auf Gott verlässt, nicht das letzte Wort. Dem Gehorsamen ist es gegeben, aus Unsicherheit und Ungewissheit hinübergehen zu dürfen in ruhige Zuversicht: Abraham erhält am Ende die Versicherung, dass er von
JHWH her Zukunft hat und für alle Menschen ein Segen sein darf (22,15-18).
Anregung: Der Gläubige ist nicht befreit von dunklen, schweren Stunden. Wie gelingt es mir, auch dann an einen guten Gott zu glauben?
Abraham ist bereit, alles zu geben. Gibt es in meinem Leben Gebiete, die
ich ganz für mich haben möchte?
3.4 Die Erzählungen von Isaak (Gen 26)
Der Patriarch Isaak wird im Vergleich zu den beiden Stammvätern Abraham und Jakob geradezu vernachlässigt. Außerdem ist die einflussreiche Gestalt nicht Isaak,
sondern Rebekka (vgl. 24). Entsprechend den Überlieferungen von Gen 26 wird er
eingeordnet in die Zeit und Kultur der Kleinviehnomaden. Er hat aber durch den
Weidewechsel zwischen Wüste/Steppe und Kulturland auch mit der sesshaften Bevölkerung in Kanaan Kontakt. In dieser Kultur sind Brunnen so etwas wie Kommunikationszentren (vgl. „Dorfbrunnen“). Den Kern bilden daher Brunnennotizen in
26,15.18.19-25.32f. Isaak ist der Friedliebende und der von JHWH Gesegnete
(26,29-31), der von seiner Umgebung beneidet wird.
1-6:
Hungersnot; Verbot, nach Ägypten zu gehen; Verheißung von Land, Nachkommen und Segen
7-11:
Unglaube, Misstrauen und Gefährdung der Stammutter
12-14: Reicher Ernteertrag und Neid der Philister
15-17a: Streit um Brunnen; Isaak zieht weiter
17b-22: Streit um Brunnen; Neid der Umgebung; Graben eines Brunnens
23-33: Offenbarung JHWHs in Beerscheba (Segen für Isaak); Vertrag mit Abimelech
34f:
Die kanaanäischen Frauen Esaus
Das Opfer des Abraham (22) und die Brautwerbung um Rebekka (24) gehören noch
zum Abrahamkreis, die Segnung Jakobs statt Esaus (27) gehört zu den Jakob-EsauGeschichten. Den Tod Isaaks erwähnt die Bibel nach vielen Jakobserzählungen in
Gen 35,28f.
3.5 Der Jakob-Esau-Kreis (Gen 25,19-34; 27,1-36,43)
Die „Zwillingsbrüder“ Esau und Jakob sind Symbolgestalten für die Stämme der Edomiter (Esau) und der Israeliten (Jakob). Hinweise auf die spannungsgeladenen
Beziehungen zwischen Israeliten und Edomitern sind z. B. in 1 Sam 14,47 und Ps
137,7 zu finden. Das friedlose Verhältnis zweier Völker wird in zwei oder mehreren
Personen (Brüdern) dargestellt (vgl. Kain und Abel in Gen 4; Ismael und Isaak in
Gen 16; 17; 21; Josef und seine Brüder in Gen 37-50; die Brudervölker Israel und
Juda in 1 Kön 12).
LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2 Aussendung
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Aus Edom wird in nachexilisch-hellenistischer Zeit Idumäa. Herodes der Große (König zur Zeit der
Geburt Jesu) ist ein Idumäer. Seine Anerkennung in Juda erreicht er nicht zuletzt durch die Heirat
mit der Makkabäerprinzessin (= Hasmonäerin) Mariamne.
a) Der Aufbau des Jakob-Esau-Kreises
• Die Erstgeburt (25,19-34; 27,1-28,22):
1. Erkaufen des Erstgeburtsrechts (25,27-34) und Erschleichung des Erstgeburtssegens mit Hilfe seiner Mutter Rebekka (27,1-40)
2. Jakobs Flucht vor Esau (27,41-29,1). Gottesoffenbarung im Traum von der
Himmelstreppe bei Bet-El (28,10ff)
• Jakob bei Laban (29,1-31,54)
1. Heirat von Lea und später von Rahel (29,15-30)
2. Mitte der Erzählung: Erfüllung der Segensverheißung (Geburt von Söhnen
und Fruchtbarkeit der Herde; 29,31-30,24; 30,25-43)
3. Befehl, nach Palästina zurückzukehren; Aufbruch; Vertrag mit Laban (31)
• Die neuerliche Begegnung der Brüder (32,1-33,20; 35,1-15)
1. Vorbereitung der Begegnung (32,1-22) und Gottesoffenbarung im nächtlichen
Kampf am Jabbok (32,23-33)
2. Versöhnung mit Esau (33)
3. Jakob in Bet-El: neuerliche Verheißung von Nachkommen und Land (35,1-15)
Diese drei Teile sind vom Thema „Segen“ und „Verheißung“ bestimmt. Ein- bzw. angefügt sind folgende Stellen:
26:
34,1-31:
35,16-20:
35,21-22:
35,23-29:
36,1-43:
Erzählungen von Isaak
Die Schändung Dinas und die Rache ihrer Brüder
Die Geburt Benjamins und Rahels Tod
Rubens (= Erstgeborener) Schandtat mit Bilha, einer Nebenfrau Jakobs.
Darum werden ihm die Rechte und der Segen des Erstgeborenen entzogen.
Jakobs zwölf Söhne und der Tod Isaaks
Esaus Nachkommen: die Edomiter
Anregung: Jakob (Israel) darf auf seiner Wanderschaft das Mitgehen seines Gottes
erfahren. Welche Zeichen von Gottes Hilfe sind uns gegeben?
b) Motive im Jakob-Esau-Kreis
In den Abrahamserzählungen (12-25) ging es um die Ereignisse zwischen Vater und
Sohn. Die Aufmerksamkeit galt dem Nachfolger, dem Erben, dem Weiterleben in der
folgenden Generation. In den Jakob-Esau-Erzählungen geht es eher um das bessere Dasein und die Geltung, um den Segen, den einer von mehreren Verheißungsträgern hat. Darum ist das beherrschende Thema dieses Teils der Erzählungen von den Stammeltern der Konflikt oder die Rivalität zwischen Jakob und Esau
einerseits und zwischen Laban und Jakob andererseits. In letztere Geschichten ist
der Konflikt zwischen Lea und Rahel (29,31-30,24) eingefügt.
Schließlich werden Erzählungen über Gottesbegegnungen und Heiligtumslegenden aufgenommen (28,10-22; 32,1f.24-32; 35,1-7.8-15). Sie verweisen in diesen
sehr weltlich dargestellten Ereignissen auf JHWH. Auch von einer direkten Anrede
oder einem Eingreifen JHWHs wird seltener erzählt als in den Abrahamserzählungen. An ihre Stelle treten menschliche Einrichtungen (Rechtsverhältnisse, Verträge, Kultstätten) und Glaubensüberlieferungen. In ihnen wird JHWHs Wille und Handeln offenbar. Die Verheißung von Land und Nachkommen (28,3f.13-15 und 35,11f)
bekommt nicht so großen Nachdruck wie in der Abrahamserzählung. Jakob erhält aber
die Zusage des Beistands JHWHs auf seinem Weg (28,15; 31,3.5.42; 32,10.13; 35,3).
Sehr große Bedeutung hat das Segensmotiv. Der Segen ist Anlass des Konflikts (27). Im Kampf am Jabbok (32,23-33) ringt Jakob um Segen. Im Mittelteil wird
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LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 2. Aussendung
die wachsende Herde (29-31) und die Geburt der Söhne (29,31-30,24) als Segen
gedeutet.
c) Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23-33)
Diese Erzählung ist eine der zentralen Stellen im ET. Allgemein wird angenommen,
dass der Kern von Gen 32,23-33 vorisraelitisch und sehr alt ist. Darauf weist das Motiv der Angst des Gegners vor dem Tageslicht (32,27) hin. Es handelt sich um eine
Ortssage von einem gefährlichen Flussübergang. Darum meinte die Bevölkerung,
die dort vor Israel sesshaft war, dass diese Furt von einem Geist oder Dämon bewacht wird. Diese Sage wird in den JHWH-Glauben eingebunden. Sie endet mit drei
Ätiologien (= Sagen, die auffällige Erscheinungen, Bräuche, Namen erklären sollen):
32,29: Begründung des Namens Israel
32,31: Benennung des Ortes, an dem der Kampf stattgefunden hat
32,33: Begründung, warum der Hüftmuskelstrang von Opfertieren nicht gegessen wird
Nachdem Jakob seine Familie in Sicherheit gebracht hat (23-25a), erlebt er etwas
Geheimnisvolles: Unerwartet wird er überfallen; er ringt mit einem mächtigen Gegner. Es geht dabei um Leben und Tod. Der Kampf kann bis zum Morgengrauen nicht
entschieden werden. Jakob hält stand, wird aber durch einen Schlag am Hüftgelenk
gelähmt (25b-26). Durch die Angst des Gegners vor der Morgenröte wird Jakob deutlich, dass er es mit einem Gottwesen zu tun hat. Er bittet um ein Segenswort, das
ihm Glück, Erfolg und Mehrung der Lebensgüter (besonders der Fruchtbarkeit) bringen soll (32,27). Jakob bekommt vom Gegner einen neuen Namen: Israel, „denn mit
Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen“. Jakob heißt „JHHWStreiter“. Mit JHWH, aber auch im Namen JHWHs und für JHWH hat er gestritten.
Dieser Name ist Verpflichtung für das Volk Israel in der Auseinandersetzung mit den
Völkern. Israel wird kein ruhiges Leben führen; aber es wird mit JHWHs Hilfe am Leben bleiben.
Die Bitte nach der Namensoffenbarung des Gegners (32,30) wird nicht erfüllt;
d.h. Jakob hat seinen Gegner nicht besiegen und in seine Macht bekommen können.
Der Gottesname JHWH wird erst in Ex 3,14 geoffenbart. Jakob ist nach diesem
Kampf gezeichnet: Er hinkt. Wohl wird die Bitte um Segen erfüllt, aber den Namen
des Gegners hat Jakob nicht erfahren (32,30).
Deutlich klingt die Erleichterung nach diesem nächtlichen Ringen durch: „Ich
habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen“ (32,31; vgl. Ex 33,20). Der Unbekannte ist noch vor Sonnenaufgang verschwunden. Befreit vom Schrecken der Nacht und gestärkt wird er seinem Bruder
begegnen. Im Anschluss an das Ringen Jakobs mit einem übermächtigen Gegner
folgt die Erzählung von der geglückten Begegnung mit seinem Bruder Esau (33,120). Jakob ist gesegnet und steht unter dem Schutz JHWHs. Esau grüßt spontan
und unerwartet. Er wird hier als positive, lichte Gestalt dargestellt. Es fehlt jeder Hinweis auf die dunkle, tölpelhafte Person, welcher im Gegensatz zu Jakob (25,29-34;
27) die überlieferte Gottesverehrung nichts bedeutet (25,29-34; 26,34f).
Anregung: Jakob ist in dieser Erzählung der Schwächere. Trotzdem gibt er nicht auf.
Wann habe ich in meinem Leben erfahren, dass Gott gerade dann wirkt,
wenn ich meine Schwachheit eingestehe?
Jakob und Esau sind Symbole für lichte und dunkle Gestalten. Licht und
Schatten gibt es in jedem Menschenleben. Wie kann ich die beiden Seiten meines Wesens miteinander vereinen?
d) Das Ärgernis der Jakobserzählung
Vielen Christen wird es zur Frage, warum JHWH gerade diesen Menschen erwählte,
der nicht immer rechte Wege ging. JHWH gibt sich dem Jakob zu erkennen (28,10ff;
32,2f; 32,23-33; 35,9-15). Jakob erhält von JHWH die Bestätigung und die neuerliche
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Zusage der Väterverheißung (28,13f; 35,11f). Er, der alles aufs Spiel setzt, um den
Segen des Vaters zu erlangen, wird zum Stammvater des späteren Volkes Israel.
Die jüngste Quellschrift (Priesterschrift) meint, dass Esau der Verheißungen
gar nicht würdig sei: Er heiratet ausländische Frauen (26,34f), verwirkt also sein Vorrecht. Jakob dagegen setzt viel aufs Spiel. Er erkauft (25,27-34: Elohist) bzw. erschleicht (27: Jahwist) sich das Erstgeburtsrecht und den Segen. Der Verkauf des
Erstgeburtsrechtes Esaus an Jakob und die List Jakobs mit der betrügerischen Hilfe
Rebekkas dienen in der Bibel der Charakterisierung der beiden Völker. Esau (Edom)
wird gekennzeichnet als dumm und den vordergründigen Augenblicksgütern zugewandt. Jakob (Israel) dagegen ist zwar ein jüngeres Volk, es erkennt jedoch die Größe des Heilsangebotes JHWHs und ist bestrebt, es zu erlangen. Im Segenswort liegt
eine (göttliche) Kraft. Jakob will dieses wirksame Wort Gottes in seinem Leben erfahren.
Das Streben Jakobs nach dem Erstgeburtssegen ist also nicht so sehr eine
Skandalgeschichte, sondern Ausdruck des religiösen Eifers und Glaubensbewusstseins Jakobs und des Volkes Israel im Vergleich zu anderen Völkern. Wer dabei egoistisch und betrügerisch wird, muss für seine Schuld Sühne leisten: Jakob muss
fliehen (27,41ff) und bei Laban schwer arbeiten (31,36ff). Er wird seinerseits getäuscht (29,25) und kommt erst spät in den Genuss des Segens. In der Jakobserzählung wird ganz besonders deutlich, dass JHWHs Verheißung an Menschen ergeht, d.h. an Unwürdige, die sich diese Verheißung (den Segen) nicht verdienen
können. JHWH erwählt, wen und wann er will.
Anregung: Jakob und Esau - die feindlichen Brüder. Wie gehe ich mit Konflikt und
Rivalität um?
Jakob ist der Erwählte. Auch wir gehören seit der Taufe zum Gottesvolk.
Welche Früchte bringt dieser Glaube?
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