Privatrecht im Sozialstaat (Ankündigung)

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Privatrechtsgeschichte sowie
Handels- und Gesellschaftsrecht
FernUniversität in Hagen • 58084 Hagen
Univ.-Prof. Dr. iur. Andreas Bergmann
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Privatrecht im Sozialstaat
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Herr Prof. Dr. Bergmann
02331 987-2788
02331 987-4868
[email protected]
Universitätsstraße 21
58084 Hagen
Datum:
7. April 2015
(Abschluss-)Seminar
im SS 2015
Privatrecht im Sozialstaat
Liebe Kommilitonen,
im Sommersemester 2015 veranstalte ich das (Abschluss—)Seminar „Privatrecht im Sozialstaat“. Das Seminar wird am 17. und 18. Juli 2015 in München stattfinden. Über den genauen Ort werden Sie noch informiert werden.
Das Bürgerliche Gesetzbuch ist die zentrale deutsche Zivilrechtskodifikation. Nach langen
(Vor-)Arbeiten wurde es am 18. August 1896 von Kaiser Wilhelm II. ausgefertigt und am 24.
August 1896 im Reichsgesetzblatt verkündet (RGBl. 195). Am 1. Januar 1900 trat es in Kraft.
Die Bewertungen des BGB gehen weit auseinander. Heute dominiert das Bild des BGB als
„spätgeborenes Kind des klassischen Liberalismus und Frucht der Pandektenwissenschaft“
(Wieacker), das gekennzeichnet sei durch ein Höchstmaß an (sozial) kalter Präzision: klare Systematik, formelle Begrifflichkeit und Abstraktion, überhaupt dogmatische Regelungsperfektion. Plausibilität ist der These nicht abzusprechen. Das Ideal der (liberalen) Bürgerlichen Gesellschaft ist die privatautonome Selbstgestaltung des eigenen Lebens. Und in der Tat sind Vertragsfreiheit, (freies) Eigentum und Testierfreiheit zentrale Werte auch des BGB. Gerade die
allgemeinen Vorschriften des BGB scheinen ausgerichtet an dem in wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht unerfahrenen und geschäftlich urteilsfähigen Menschen, der im Verkehr mit
anderen Gleichgestellten seine Rechts- und Vermögensverhältnisse selbständig ordnen kann,
getragen von der Zuversicht, dass zwischen formal gleichberechtigten Personen jeder seine
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berechtigten Interessen zur Geltung bringen kann und es durch freies Aushandeln mit anderen zu einem gerechten Ausgleich der divergierenden Interessen kommt. Offenkundig weniger
Beachtung schenkte das BGB in seiner Geburtsstunde der bereits akuten sozialen Frage und
der Erkenntnis, dass ungleiche Machtverhältnisse einseitige Interessendurchsetzung begünstigen. (Soziale) Schutzvorschriften zum Schutze der schwächeren Seite waren kaum vorgesehen. Entsprechende Kritik wurde schon früh formuliert. Berühmt geworden ist die Forderung
Otto v. Gierkes „nach einem Tropfen sozialistischen Öles“:
„Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furchtbare Waffe in der Hand des
Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen, wird sie zum Mittel der Unterdrückung des Einen durch den Anderen, der schonunglosen Ausbeutung geistiger und wirthschaftlicher Übermacht. Das Gesetz, welches mit rücksichtlosem Formalismus aus der freien
rechtsgeschäftlichen Bewegung die gewollten oder als gewollt anzunehmenden Folgen entspringen lässt, bringt unter dem Schein einer Friedensordnung das bellum omnium contra omnes in legale Formen. Mehr als je hat heute auch das Privatrecht den Beruf, den Schwachen
gegen den Starken, das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht des Einzelnen zu schützen“.
Seitdem sind annähernd 120 Jahren vergangen. Soziale Umbrüche als Folge von Krieg und
Krise, aber auch antiliberale Ideologie haben den Blick auf das Privatrecht verändert. Anfangs
Versäumtes wurde (über-)kompensiert. Der einst vermisste Tropfen „sozialistischen“ (sozialen)
Öls wurde dem BGB nachträglich in mannigfacher Weise beigefügt. Richterliche Rechtsfortbildung außerhalb des Textkörpers, (verbraucherschützende) Nebengesetze, ja das Entstehen
neuer Rechtsgebiete wie etwa des Wirtschaftsrechts (Kartellrecht), aber auch korrigierende
Eingriffe in den überkommenen Normenbestand bis hin zur Schuldrechtsmodernisierung haben das Zivilrecht grundlegend verändert. Wieder Wieacker aufgreifend kann man diese Entwicklung als Bewegung weg vom bürgerlich-liberalen hin zum sozialen Rechtsstaat begreifen.
Kennzeichen ist eine zunehmende sozialstaatlich bzw. sozialethisch indizierte Indienstnahme
des Privatrechts. Die Zivilrechtsdogmatik spricht von einer zunehmenden Materialisierung des
Privatrechts. Sie wird von vielen Rechtswissenschaftlern als großes Übel empfunden. Nichtsdestotrotz ist der Trend zur fortschreitenden Sozialisierung des Privatrechts ungebrochen, ja er
hat sich in den letzten Jahrzehnten unter Betonung der sozialen Aufgabe des Privatrechts und
des modischen Postulats nach sozialer Gerechtigkeit sogar noch verstärkt. Gleichzeitig glaubt
man das liberale Element als Pfeiler unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung auf dem Rückzug. Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde dem Privatrecht ein neuer Rahmen gesetzt.
Neben die verfassungsrechtlich garantierte Privatautonomie (Artt. 2, 12, 14 GG) ist das programmatische Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) getreten und damit der Verfassungsauftrag entstanden, beide Verfassungsprinzipien auszugleichen. Auch wenn manche Unkenrufe
sicherlich übertrieben sind, so befindet sich das Privatrecht doch am Scheideweg zwischen
dem politischen Versuch, eine globale Gesellschaftsveränderung mit den Mitteln des Zivilrechts
zu erreichen, und einer vorsichtigen Akzentuierung der im Sozialstaatsgedanken verankerten
Schutznotwendigkeiten. Es ist kaum zu verleugnen, dass in der Politik zurzeit paternalistische
Vorstellungen dominieren mit dem Willen, den Privatrechtsparteien bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen aufzuoktroyieren. Jüngste Beispiele sind das AGG und die kommende Mietpreisbremse.
Wir wollen an dieser Stelle innehalten. Sowohl die These des im BGB konservierten kalten Privatrechts pandektistischer Prägung, als auch die unterschwellige Vorstellung einer dem Gedanken des Privatrechts mehr oder weniger fremden Materialisierung bedarf der Überprüfung.
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Wie so oft verstellt auch hier die Willenstheorie den Zugang zur Materie. Umgekehrt muss
aber auch die zunehmende Indienststellung des Zivilrechts zur Erreichung sozialpolitischer Zielvorstellung kritisch hinterfragt werden. Konzentrieren wollen wir uns dabei auf die Kernmaterien des Zivilrechts. Ruhelose und in besonderer Weise vom Zeitgeist beeinflusste Rechtsgebiete wie das Familienrecht, aber auch „Nebengebiete“ wie das Kartellrecht, das Arbeitsrecht
oder das Recht des Geistigen Eigentums müssen wir außen vor lassen.
Im Folgenden finden Sie in loser Reihung einige Themenvorschläge, die in bewusst offener
Formulierung mal breiter, mal spezieller einige Punkte der Debatte herausgreifen. Manche
Themen weisen unvermeidbar Überschneidungen auf. Diese Liste ist nicht abschließend. Sie ist
als erste (unverbindliche) Anregung zu verstehen. Von einer weiteren Schwerpunktsetzung
habe ich bewusst abgesehen, um Ihren individuellen Interessen möglichst großen Freiraum zu
lassen. Die konkreten Seminarthemen – und ggf. erforderliche thematische Eingrenzungen –
werden in unmittelbarer Absprache mit dem Kandidaten vergeben. Ich bitte Sie, sich zu diesem Zweck bis zum 24. April 2015 unter den oben stehenden Kontaktdaten mit Herrn
Dr. Otto in Verbindung zu setzen. Ziel ist es, Ihnen zum 29. April 2015 die Arbeitsthemen mitzuteilen. Sofern Sie sich nicht bis zu diesem Datum mit uns in Verbindung gesetzt haben, wird
Ihnen eines der verbliebenen Themen „zugelost“. Bewerben sich mehrere Teilnehmer auf das
gleiche Thema, gilt das Prioritätsprinzip.
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Der Kodifikationsgedanke
Die Kritik am BGB: Anton Menger (Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen) und Otto v. Gierke
(Die soziale Aufgabe des Privatrechts)
Formelle und materielle Vertragsfreiheit
Verbraucherschutz und Rechtspaternalismus
Die Richtigkeitsgewähr des Vertrages
„Laesio enormis“ und die Lehre vom gerechten Preis
Pacta sunt servanda und die Störung der Geschäftsgrundlage
Allgemeine Geschäftsbedingungen
Drittwirkung der Grundrechte an ausgewählten Beispielen
Vertragsfreiheit und die Angehörigenbürgschaft: Interzessionsverbote
Kontrahierungszwang auch für den kleinen Mann: Das AGG in seiner alltäglichen Anwendung
Testierfreiheit und Pflichtteilsrecht
Die Geschäftsführung ohne Auftrag: Sozialismus oder Individualismus
Das gemeine Mietrecht
Die nationalsozialistische Rechtserneuerung (und das Volksgesetzbuch) an ausgewählten Beispielen
Soziales Privatrecht im ZGB der DDR an ausgewählten Beispielen
Vertragsrecht im Sozialismus
Die Regelung der Abzahlungsgeschäfte
Die clausula rebus sic stantibus als allgemeiner Rechtsgrundsatz
Soziale Schranken der Vertragsfreiheit bei Ehevereinbarungen
Das „soziale Recht“ bei Hugo Sinzheimer und seinen Nachfolgern
Privatrechtliche Verträge zur Daseinsvorsorge und Vertragsfreiheit
Rudolf Wassermann und der soziale Zivilprozess: Rückblick, Gegenwart, Ausblick
Sozialer Schutz in der Zwangsvollstreckung
Für den ersten Einstieg in die Materie seien Ihnen die großen Lehrbücher zum Allgemeinen Teil
des BGB und zur Neueren Privatrechtsgeschichte empfohlen. Hier finden Sie gelungene Darstellungen der privatrechtsgeschichtlichen Entwicklung und der zunehmenden sozialpolitisch
motivierten Indienstnahme des BGB mit eingehenden Nachweisen zu weiterer Literatur. DaneSeite 3 von 4
ben ist auch der Griff zu den großen Kommentaren (Münchner Kommentar, Staudinger) lohnenswert, die Einzelentwicklungen in großer Tiefe nachzeichnen. Sinnvoll ist auch der Griff
zum HKK. Ein besonderes Augenmerk sind auf folgende Darstellungen zu werfen:
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Eichenhofer, Eberhard, Die soziale Inpflichtnahme von Privatrecht, in: JuS 1996, 857
Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftlicher, Die soziale Dimension des Zivilrechts, 2003
Neuner, Jörg, Privatrecht und Sozialstaat, 1997
Repgen, Tilmann, Die sozialpolitische Aufgabe des Privatrechts, 2001
Reymann, Christoph, Sonderprivatrecht , 2009
Wieacker, Franz, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953
derselbe, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967
Die Arbeit selbst soll einen Umfang von 25-30 Seiten nicht überschreiten. Die üblichen Formalia (Schriftgröße 12; Zeilenabstand 1,5; Rand: 1/3; Schrift: Times New Roman) und wissenschaftliche Standards (Inhaltsverzeichnis, Literaturverzeichnis, einheitliche Fußnoten) sind einzuhalten; Gerichtsurteile sind neben Zeitschriftenfundstelle mit Datum und Aktenzeichen zu
zitieren (zB: BGH, NJW 2011, 2717 [Rn. 12], Urt. v. 29.6.2011 – VIII ZR 349/10). Ihr mündlicher Vortrag wird jeweils 30 Min dauern. Eine allgemeine Diskussion mit ebenfalls 30 min
schließt sich an. Die schriftliche Arbeit muss dem Lehrstuhl spätestens am 6. Juli 2015 vorliegen.
Mit den besten Grüßen und Wünschen für ein erfolgreiches Seminar,
Andreas Bergmann
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