2015-09-12 GSE Manuskript Frankreichs Kolonialsoldaten

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 12. September 2015, 11.05 – 12.00 Uhr
Die vergessene „Force Noire“ –
Frankreichs Kolonialsoldaten
im Ersten Weltkrieg
Mit Reportagen von Andreas Noll
Am Mikrofon: Thilo Kößler
Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom
Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden.
Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über
den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang
hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar –
1
Ein ehemaliger Soldat über die Truppen aus Schwarzafrika, die
im Ersten Weltkrieg an der Seite Frankreichs gegen Deutschland
kämpften:
Man sorgt dafür, dass sich die Afrikaner in Südfrankreich
akklimatisieren können. Dann werden sie Schritt für Schritt an
die Front im Norden gebracht. Dort muss man sie zunächst an
den Gefechtslärm gewöhnen.
Und ein französischer General über das Gedenken an die Opfer
unter den vielen Soldaten aus den französischen
Kolonialgebieten:
Es ist an uns, die wissen, wie sie ausgebildet und rekrutiert
wurden, in schwierigen Umständen, die Ehre weiterzutragen, die
ihnen die französische Nation schuldet. Sonst würden sie in
Vergessenheit geraten. Und das wäre ein zweiter Tod
Gesichter Europas: Die vergessene „Force Noire“ – Frankreichs
Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Eine Sendung mit
Reportagen von Andreas Noll. Am Mikrophon begrüßt Sie Thilo
Kößler.
In ganz Europa wurde 2014 des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges
vor hundert Jahren gedacht – bis heute gilt er als eine
entscheidende Zäsur in der Geschichte Europas, weshalb er auch
als „die europäische Urkatastrophe“ bezeichnet wurde.
Wann immer es heißt, dass die Schlachten von einst heute an
den Verhandlungstischen von Brüssel geschlagen werden, dann
ist damit die Lehre gemeint, die Europa aus den Verwüstungen
2
der beiden Weltkriege gezogen hat. Ohne sie hätte es die
europäische Einigung vermutlich niemals gegeben.
Doch zum gemeinsamen Erinnern hat es wieder nicht gereicht –
auch dieser Jahrestag stand unter dem Vorzeichen des
nationalen Gedenkens. Es gab keine Veranstaltung aller
Europäer. Und wieder blieben ganze Opfergruppen außen vor.
Die armen Teufel aus den weit entfernten Besitzungen der
europäischen Kolonialreiche zum Beispiel, die zwischen 1914
und 1918 für ihre europäischen Mutternationen in die Schlacht
zogen – im Falle Frankreichs waren das die sogenannten
Senegalschützen aus den Gebieten der Subsahara oder die
Madegassen. Oder die indochinesischen Truppen. Oder die
Soldaten aus den Überseegebieten wie Martinique oder La
Reunion.
Dass sie bei den Gedenkfeiern mehr oder weniger übersehen
wurden, hat auch mit der französischen Haltung gegenüber den
Kolonien zu tun – nach allgemeinem Verständnis waren die
Besitzungen nicht kolonisiert, sondern zivilisiert worden. Und
schon aus purer Dankbarkeit waren die Soldaten aus Afrika oder
Übersee verpflichtet, dem Mutterland zu Hilfe kommen.
Die Rue de Vaneau im feinen 7. Arrondissement. Eric Deroo
öffnet die schwere Holztür zu seinem geräumigen Pariser Büro.
Die gut 70 Quadratmeter sind vollgestopft mit afrikanischen
Skulpturen, Bildern und Gegenständen. In dem Zimmer links
neben dem Eingang reichen die Regale mit Büchern und
Dokumenten vom dunklen Holzparkett bis zur stuckverzierten
Decke.
„Ich habe viele Objekte. Eine wertvolle Sammlung mit bis zu
200 Uniformen von indigenen Soldaten. In diesem Appartement
lagern vermutlich 50 bis 100.000 Einzelteile – über die
Kolonialsoldaten aus Indochina, Afrika und von den pazifischen
Inseln. Genau gezählt habe ich das aber nie.“
3
Der 63-Jährige sammelt nicht aus Sammelleidenschaft, wie er
sagt, sondern um Fundstücke für die Nachwelt zu bewahren. Denn
jahrzehntelang hatte die französische Gesellschaft die
schwarzen Soldaten aus ihrem Bewusstsein verdrängt. Weder
Kunstsammler noch Museen oder Historiker interessierten sich
für die Zeugnisse der Tirailleurs sénégalais, der
Senegalschützen, und ihrer Kameraden aus Asien und Übersee.
Mittlerweile hat sich das geändert:
Eine Studentin ruft an – will mit Deroo über ihre AbschlussArbeit sprechen:
Der Mann mit der runden Brille und dem freundlichen Lächeln
ist eine Instanz für französische Kolonialgeschichte. Mehr als
zwei Dutzend Dokumentarfilme und Bücher hat er gedreht und
veröffentlicht. Dabei kam er erst spät mit diesem Teil der
französischen Geschichte in Berührung:
„In vielen französischen Familien gibt es mindestens ein
koloniales Gemälde, ein afrikanisches Objekt, eine
indochinesische Vase, die ein Großvater mit aus dem Krieg
gebracht hat. Bei mir war das überhaupt nicht der Fall. Wir
hatten nichts – aber auch gar nichts. Keine koloniale
Referenz.“
Dass Eric Deroo heute Museen in ganz Europa mit Objekten zur
Kolonialgeschichte versorgt, ist reiner Zufall. Bei
Dreharbeiten Ende der 1960er Jahre in den Ardennen erzählten
ihm Bauern von jungen afrikanischen Soldaten, die sich im
Zweiten Weltkrieg monatelang in den Wäldern vor der Wehrmacht
versteckt hätten:
„Ich wollte das nicht glauben. Und dann sind wir in diese
Wälder gegangen – und tatsächlich waren da Objekte. Ein
Objekt, das liegt hier noch… Moment.“
Eric Deroo nimmt einen tiefen Aluminiumbehälter in die Hand.
„Das ist das reguläre Essgeschirr der französischen Armee. Und
im Wald habe ich dieses Essgeschirr gefunden, das von einer
Granate total zerstört worden war. Und ein anderes habe ich
auch gefunden. Beide stammten von einem kolonialen
Infanterieregiment. Hier – man sieht die Spur der Granate –
unglaublich! Da habe ich mir gesagt: Hier passiert etwas
Wichtiges.“
4
Nach dieser Entdeckung kämpft sich Deroo jahrelang durch
Archive, befragt Veteranen und liest alte Kriegstagebücher.
Er, dessen Vater und Großvater in beiden Weltkriegen gekämpft,
aber nie Frankreich verlassen haben, macht sich auf den Weg
nach Afrika:
„Das erste Mal war das 1980 oder 81 – da habe ich die
afrikanischen Weltkriegsveteranen getroffen. Das war wirklich
sehr beeindruckend – vor allem ihre Würde. Sie waren irgendwie
zwischen zwei Welten – zwischen der kolonialen, militärischen
Welt und der Welt der jungen unabhängigen afrikanischen
Staaten, an die keiner richtig glaubte. Sie forderten nichts
von Frankreich. Im Gegenteil: Sie hörten am Transistorradio
den ganzen Tag nur französische Sendungen. Sie kannten alle
Wahl- und Fußballergebnisse aus Frankreich. Sie sagten immer:
Ich habe zwei Länder in mir: Den Senegal, Mali oder was auch
immer und Frankreich – aber Frankreich ist mein Land.“
Und sie freuen sich, dem Gast aus Frankreich von ihrer
Vergangenheit zu berichten. Deroo hört in Afrika andere
Geschichten, als er sie aus seiner Heimat kennt:
„In Frankreich erzählten die Veteranen häufig ihre großen
heroischen und glorreichen Kriegsgeschichten, die zum großen
Teil konstruiert waren. In Afrika war dies überhaupt nicht der
Fall. ‚Ich war da, um eine Arbeit zu tun‘, haben diese
Veteranen gesagt. Diese Arbeit ist heute nicht mehr gut
bezahlt, aber so ist das eben. Ich glaube, Frankreich hat mich
ein wenig vergessen, aber das ist nicht schlimm…Das war sehr
ergreifend.“
Eric Deroo geht jetzt dahin, wo sein Land den Mann ehrt, der
das Konzept für den Einsatz dieser Soldaten an der
europäischen Front geschrieben hat: Charles Mangin. Es sind
von dem Büro nur ein paar Minuten zu Fuß bis zu dem Platz in
der Nähe des Invalidendoms. Hier thront der General, den
Frankreich nach 1918 ehrt und die Deutschen verachten, mit
verschränkten Armen auf einem wuchtigen Sockel. Der Autor
deutet auf die Inschrift des Denkmals:
„‚Frankreich ist eine Nation mit 100 Millionen Einwohnern‘.
Das war der große Slogan der Kolonialzeit. Frankreich ist ein
Reich mit 100 Millionen Menschen. Das ist die Idee der Grande
France. La Grande Nation. Das ist das Herz des kolonialen
Diskurses, denn das Kernland Frankreich leidet in dieser Zeit
5
unter einem demografischen Defizit gegenüber Deutschland. Als
Mangin das geschrieben hat, Anfang des 20. Jahrhunderts, hatte
Frankreich ungefähr 30 Millionen Einwohner. Deutschland 60
Millionen.“
Der Anteil der schwarzen Soldaten am Sieg über Deutschland
wird später gewürdigt – von den Militärs, aber auch der
französischen Gesellschaft, die ihnen zu Ehren Denkmäler
errichtet. Die große Moschee in Paris zum Beispiel wird in den
1920er Jahren genau aus diesem Grund gebaut.
Eric Deroo ist stolz auf diese Tradition. Die jüngsten
Entwicklungen in seinem Land aber bereiten ihm Sorgen. Immer
mehr Volksgruppen in Frankreich, so der Autor, stellten heute
ihre Einzelinteressen über die gemeinsamen Werte der Republik:
„Frankreich befürwortet die Integration – ist gegen einzelne
ethnische Interessen. Aber diese Gedenkfeiern erreichen das
Gegenteil. Nehmen wir den Begriff Senegalschützen. Das ist ein
sehr alter Überbegriff, mit dem alle schwarzafrikanischen
Einheiten bezeichnet wurden. Jetzt sagt man: ‚Wir sind aber
Malier‘. ‚Wir kommen aus Burkina Faso‘. ‚Nur das Wort
Senegalschütze reicht uns nicht‘. Vor diesem Hintergrund
müssen wir dieses Kriegsgedenken beenden. Auch wenn es unsere
Politiker immer noch beschwören.
Es gibt nicht viele schriftliche Zeugnisse von Soldaten, die
aus den französischen Kolonialgebieten stammten und an der
Seite Frankreichs im Ersten Weltkrieg kämpften. Die
Autobiographie des Senegalschützen Bakary Diallo gilt als
erstes Dokument dieser Art – 1926 wurde es unter dem Titel
„Force-Bonté“, Zwang und Güte, veröffentlicht. Ob es
tatsächlich authentisch ist, wurde immer wieder angezweifelt –
denn als Diallo 1914 nach Frankreich kam, war er noch
Analphabet. Zudem fallen seine Schilderungen durchweg
Frankreich-freundlich aus. Das Buch Diallos gilt dennoch als
erster Beleg für frankophone schwarze Literatur - erst 1979
starb der Autor in seiner senegalesischen Heimat.
6
„Nach vier Tagen Überquerung des Atlantischen Ozeans landen
wir in Sète (Département Hérault). Wir sind glücklich, zum
ersten Mal eine Stadt des Großen Frankreichs zu sehen. Unsere
Augen richten sich auf die Menschen, die Häuser, die Straßen,
die Straßenbahnen und sehen zum Schluss eine Fülle von
Flaggen, mit denen sich die Stadt schmückt. Unter ihnen
befindet sich die Trikolore. Wir durchqueren die Stadt, den
Kopf voller Musik; es ist ein solcher Umzug durch die Stadt,
dass Kinder, Knaben und Mädchen sich mit Freude anschließen.
Es ist so, als würde die gesamte Bevölkerung von Sète mit der
Feier für uns ein Versprechen gegenüber sich selbst einlösen.“
(Bakary Diallo)
Der Gedanke, dass die Schwarzafrikaner aus den Kolonien ein
besonderer Teil des Kanonenfutters waren, das auf den
Schlachtfeldern verheizt wurde, liegt den Franzosen bis heute
fern – schließlich starben auch sie im Namen von Gleichheit,
Freiheit und Brüderlichkeit. Und sie starben unter dem Banner
der Trikolore wie jeder andere Soldat. Unter dem wachsenden
Druck der Verluste an den Fronten forderte die
Kolonialverwaltung immer mehr indigene Soldaten aus den
Kolonien an und köderte sie mit dem Versprechen auf gleiche
Rechte wie alle Franzosen. So galten sie nicht als Fremde, die
mit diesem europäischen Gemetzel eigentlich gar nichts zu tun
hatten. Im Gegenteil: Sie hatten sogar einen besonders hohen
Blutzoll zu entrichten, weil sie ahnungslos in die Schlachten
geschickt wurden. Weil sie in der Kälte an Krankheiten
starben, gegen die sie nicht gefeit waren. Und weil sie am
Ende in immer größerer Zahl und in fast homogenen
afrikanischen Einheiten in den Tod getrieben wurden – rund
40.000 Soldaten aus den Kolonialgebieten, so schätzt man,
kamen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ums Leben.
Gervais Cadaraio steht auf einer Anhöhe. In seinem Rücken
erhebt sich eine alte Festung – gut 100 Meter vor ihm
7
verbindet eine stark befahrene Landstraße die östlichen
Vororte mit Reims. Der ehemalige Berufssoldat tritt noch
schnell seinen Zigarillo aus, dann erzählt er:
„Wir sind hier vor dem Fort de la Pompelle. Im französischen
Sektor. Die Straße, die hier vor uns verläuft, entspricht dem
Verlauf der Front in den vier Kriegsjahren ab September 1914.
Alles, was sich gegenüber befindet, wurde von den Deutschen
gehalten. Uns gelingt es im Krieg zu keinem Zeitpunkt, dieses
Gelände zurückzuerobern.“
Erst im Sommer 1918 haben die französischen Truppen Erfolg. In
der Region Reims mit Hilfe afrikanischer Soldaten, die zu
Kriegsbeginn noch für Hilfsarbeiten eingesetzt wurden:
„Zunächst werden die Schwarzafrikaner auf die normalen
Regimenter verteilt. Um ehrlich zu sein: Sie dienen dort vor
allem dazu, Munition zu transportieren, Schützengräben
auszuheben und sonstige Hilfsarbeiten zu erledigen. General
Mangin, der die Kolonialtruppen befehligt, beendet diese
Situation und gründet dann wieder kämpfende Regimenter mit
schwarzen Soldaten.“
Was sich in der Theorie konsequent anhört, bereitet den
Offizieren in der Praxis aber zunächst Kopfzerbrechen:
„Man sorgt dafür, dass sich die Afrikaner in Südfrankreich
akklimatisieren können. Dann werden sie Schritt für Schritt an
die Front im Norden gebracht. Die Soldaten kennen zwar
Kanonen, aber der permanente Lärm hier an der Front ist dann
doch etwas anderes. In den Schützengräben haben die
Kommandeure zudem große Probleme, sie in die unterirdischen
Schutzräume zu beordern. Denn in ihrem Glauben leben die
schlechten Geister unter der Erde.“
Es kostet Überredungskünste, bis sie sich unter diesen
Umständen an den brutalen Stellungskrieg gewöhnen. Im letzten
Kriegssommer erobern die Senegalschützen sämtliche Vororte von
Reims von den Deutschen.
Die 25 bis 30 Tausend Besucher, die jedes Jahr das Fort de la
Pompelle besichtigen, erfahren von dieser Geschichte nur, wenn
sie einen guten Führer haben.
Cadario ist mittlerweile im Inneren des Forts angekommen und
lenkt die Aufmerksamkeit im neu gestalteten Empfangsraum auf
8
zwei wuchtige Steine, die in den breiten Kassentresen
eingelassen sind. Die letzten Überreste eines Denkmals, das
nach dem Krieg in Reims für die schwarzen Kolonialtruppen
errichtet und 1940 von den Deutschen demontiert wurde. Dass
die Besucher diese grauen Granit-Blöcke heute noch ansehen
können, ist einem Zufall im Leben früheren Unteroffiziers zu
verdanken.
„Ja, ich habe sie mit meiner Einheit entdeckt.“
Es sind nach dem Krieg und den Jahrzehnten danach vor allem
Militärs, die sich um das Andenken ihrer schwarzen
Waffenbrüder kümmern. Schon das Komitee für den Bau des
Denkmals gründet ein General:
5„Als man das Denkmal gebaut hat, geschah das aus ehrlicher
Dankbarkeit gegenüber den vielen schwarzen Soldaten, die hier
auf den Schlachtfeldern für Frankreich ihr Leben gelassen
haben. Im Moment, wo diese Freiwilligen ihr Blut für
Frankreich gegeben haben, gelten sie als Franzosen.“
Und sie werden vom Gegner besonders brutal verfolgt:
„Die Deutschen fürchten sich vor den Kolonialsoldaten.
Aufgrund der Legenden über ihren Kampfstil. Wenn Deutsche
Senegalschützen zu fassen bekommen, werden sie sofort
liquidiert. Man macht selten Gefangene.“
In Frankreich kommen nach dem Krieg von 1918 mehr als 10
Tausend Zuschauer und der Staatspräsident zur Einweihung des
„Denkmals für die Helden der schwarzen Armee“ nach Reims –
alle 17 afrikanischen Staaten, die Truppen an die französische
Front entsendet haben, schicken Delegationen:
Auf der Landstraße, die der 70-Jährige gerade noch mit weit
ausschweifenden Armbewegungen beschrieben hat, geht es jetzt
Richtung Reims. Die Fahrt in dem Geländewagen wird zur
Geschichtsstunde.
„Hier sind wir immer noch in Deutschland.“
Hier sind wir immer noch in Deutschland – dort ist Frankreich.
Wenn Cadario über die Frontverläufe im Weltkrieg spricht, dann
fast immer in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist für ihn
allgegenwärtig. Genauso wie die Probleme, die sie hinterlassen
hat.
9
„Immer wenn die Zuckerrüben geerntet werden, wenn auf dem Feld
gearbeitet wird, rufen uns die Bauern an, dass wir die
Granaten, Geschosse und andere Überreste aus dem Krieg
entfernen sollen. Wir haben hier noch Arbeit für
Jahrhunderte.“
Nur wenige Gehminuten vom Originalstandort in Reims hat eine
Vereinigung um Gervais Cadario das von den Deutschen
demontierte Denkmal für die Senegalschützen wieder aufbauen
lassen. Darauf zu sehen: eine Gruppe Senegalschützen, die
einen französischer Offizier einrahmen, der die Trikolore
hält.
„Vor vielleicht 30 Jahren gab es darüber Streit unter
Hobbyhistorikern, die das Denkmal rassistisch fanden. Man
verstand damals nicht, warum ein Weißer und kein Schwarzer die
Fahne tragen durfte. Aber da muss man nur in die Regeln der
Armee schauen, die seit jeher existieren. Danach muss der
Fahnenträger den Mindestdienstgrad eines Leutnants besitzen.
Und da es damals praktisch keine schwarzafrikanischen
Offiziere gab, konnte auch keiner die Fahne tragen.“
Cadario treibt bei seiner Arbeit vor allem eines an: Das, was
die einfachen Soldaten beider Seiten und die geschundene
Zivilbevölkerung vor 100 Jahren durchlitten hätten, dürfe nie
in Vergessenheit geraten.
Mit der Rückkehr des Denkmals, von dem eine Kopie seit 1924
auch im malischen Bamako steht, ist er diesem Ziel wieder
einen Schritt nähergekommen. Doch es wartet noch viel Arbeit
auf ihn. Die Suche nach dem Verbleib des Originaldenkmals
zählt dazu:
„Als die Deutschen das Denkmal nach dem Westfeldzug 1940
demontiert haben, waren alle davon überzeugt, dass es für die
deutsche Kriegswirtschaft genutzt werden sollte. Was uns dann
überrascht hat: Auf den Photographien sieht man, dass das
Denkmal sehr sauber und ordentlich vom Sockel abgetrennt wurde
und auf einen Zug Richtung Deutschland verfrachtet wurde. So
sauber ging man aber nicht mit Schrott für die
Rüstungsindustrie um.“
Womöglich hatte die Demontage also einen anderen Zweck:
„Es gibt Hinweise, dass dieses Denkmal in Deutschland bei
einer Ausstellung genutzt wurde, bei der man dem deutschen
10
Volk zeigen wollte, wie degeneriert die Franzosen sind, wenn
sie sogar Denkmäler zur Ehrung von ‚Untermenschen‘ errichten.“
Doch Einzelheiten dieser in München verorteten Ausstellung –
oder gar das weitere Schicksal des Denkmals sind bis heute
unklar. Aber Cadario will weiter recherchieren. Der Große
Krieg und seine Folgen lassen den Militär, der seit 15 Jahren
im Ruhestand ist, einfach nicht los.
„Wir sind vor den deutschen Truppen in der Marne-Region. Es
ist vier Uhr morgens. Das Morgengrauen deutet sich an.
Überall, insbesondere Richtung Osten, sieht man, wie das
diffuse Licht des Morgens aufzieht. Der Himmel leuchtet über
den Köpfen, ein bläuliches Auge öffnet sich, um einem Werk des
Bösen zuzuschauen. Die Gewehre, die Kanonen und andere
Instrumente/Waffen, die ihre Besitzer töten, machen nicht mehr
so viel Lärm.
Die Gruppen versorgen sich mit Kaffee und nahrhaften
Lebensmitteln. In der Nacht ist alles getan worden; man muss
essen, um die Kraft zum Sterben aufzubringen.“ (Bakary Diallo)
So, wie man immer noch Patronenhülsen und anderen
Kriegsschrott auf den ehemaligen Schlachtfeldern finden kann,
so hallt auch der schnarrende Befehlston in der französischen
Erinnerungskultur noch nach. Wann immer an den Ersten
Weltkrieg erinnert wird, kommt das militaristische Vokabular
von einst noch erstaunlich unverkrampft über die Lippen.
Tapferkeit. Ehre. Vaterland: Auch und besonders in Fréjus
werden die soldatischen Tugenden noch hochgehalten.
Der Ort an der französischen Mittelmeerküste ist wie kein
zweiter mit der Geschichte der Truppen aus den französischen
Kolonialgebieten verbunden. Seit 1915, wenige Monate nach
Beginn des Krieges, wurde er zum Sammel- und Lagerplatz neu
11
rekrutierter oder ausgewechselter Kampfeinheiten. Hier wurden
die erschöpften Soldaten im milden Klima der Provence
überwintert oder in neu angelegten Lazaretten aufgepäppelt.
Bis in die 1960er Jahre behält Fréjus seine militärische
Bedeutung für die Soldaten aus den Kolonialgebieten. Zwar
verschwindet im Zuge der aufkommenden afrikanischen
Unabhängigkeitsbewegungen und der Algerienkrise die
Bezeichnung „Kolonialtruppen“ – doch auch nach ihrer
Umbenennung in „Marinetruppen“ bleibt Fréjus „ihre“ Stadt:
Noch immer feiern die Marinetruppen einmal im Jahr sich und
ihre kriegerische Vergangenheit mit einer großen
Militärparade.
Fréjus Anfang September – drückend liegt die Hitze über dem
Exerzierplatz, als sich die Truppenteile aus Frankreich und
Übersee aufstellen. Mehrere hundert Zuschauer verfolgen an
diesem Vormittag die aufwendig choreographierte
Militärzeremonie. Die traditionelle Feier der Marine-Truppen
ist in diesem Jahr den Kolonialsoldaten des Ersten Weltkriegs
gewidmet. Der Chef der französischen Landstreitkräfte, General
Jean-Pierre Bosser, beschwört in einem Tagesbefehl ihre
Tapferkeit.
„Erinnern wir uns: Im September 1915 erfolgte die erste große
Offensive in der Champagne, an der sich das 1. und 2.
Kolonialkorps beteiligten. Vergessen wir nie den Heldenmut
dieser Einheiten, die in wenigen Tagen 5000 Mann verloren
haben.“
Aladj Diara hat zusammen mit anderen Veteranen auf der Tribüne
Platz genommen. Für diesen feierlichen Anlass hat der 78Jährige seinen Anzug aus dem Schrank geholt. Auf seine
Krawatte ist ein goldener Anker gedruckt – das Symbol der
Marine-Truppen.
Stets im Blick des schmächtigen schwarzen Mannes: die Stühle
vor der großen Tribüne, auf denen die Ehrengäste Platz
genommen haben.
12
Zu den Ehrengästen zählt neben hochrangigen Generälen auch der
Bürgermeister von Fréjus. David Rachline ist in Frankreich
landesweit bekannt, seit er im vergangenen Jahr für den
rechtsextremen Front National das Rathaus erobert hat. Zu
seinen schlagzeilenträchtigen ersten Amtshandlungen zählte der
Versuch, den Bau der ersten Moschee in Fréjus zu stoppen. Die
Erinnerung an den Heldenmut der muslimischen Senegalschützen
im Ersten Weltkrieg nennt Rachline in einem Interview noch auf
dem Exerzierplatz trotzdem selbstverständlich.
Anders als zahlreiche Gäste macht Aladj Diara nach der Feier
kein Foto mit dem Bürgermeister. Der Veteran geht lieber
Richtung Kaserneneingang.
Hier, auf einem großen Platz mit vielen olivgrünen
Mannschaftszelten, sollen die Veteranen mit den aktiven
Soldaten ins Gespräch kommen. Die Armee hat für alle ein
Mittagessen vorbereitet. Auch Diara hat die große
Plastikschale mit kaltem Fisch, Reis, Hühnchen und Nachtisch
vor sich stehen – neben ihm stürzen sich junge Soldaten auf
das Essen und den Wein. Im Gegensatz zu ihnen ist der
Senegalese nicht freiwillig zur Armee gekommen:
„Ich kam 1956-57 mit der französischen Armee in Berührung,
weil ich damals im von Frankreich besetzten Senegal gelebt
habe. Dort musste ich dann meinen Militärdienst ableisten. 18
Monate habe ich gedient. Wer das nicht gemacht hat, der kam
automatisch ins Gefängnis.“
Nach seinem Zwangsdienst im Ersten Regiment der
Senegalschützen entscheidet sich der junge Soldat für eine
Militärlaufbahn. Sie soll ihm und seiner Familie ein sicheres
Auskommen garantieren. In Frankreich wird Diara zum
Unteroffizier der Nachrichtentruppe ausgebildet – und schnell
wieder nach Afrika geschickt:
„Das war in der Zeit, als Kamerun 1960 unabhängig geworden
ist, aber die Franzosen weiter Truppen dort stationiert haben.
Wir haben die von der Sowjetunion unterstützen Rebellen
verfolgt, die die Regierung stürzen wollten.“
Nach Kamerun folgen weitere Auslandseinsätze in der
französischen Einflusssphäre: im Niger, in der Elfenbeinküste
und auf einem Südseeatoll, das Paris für seine Atombombentests
beanspruchte. Die Aufenthalte in Frankreich nutzt der
13
Senegalese mit dem französischen Pass, um mit seiner Frau die
Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zu besuchen:
„Ich bin mit meiner Frau nach Verdun gefahren, weil dort mein
Großvater im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft
hat. In der Menschenmenge am Beinhaus in Verdun fielen wir
einem mit vielen Orden dekorierten Veteranen auf – wir waren
die einzigen Schwarzen. Er fragte mich: Woher kommen Sie? Als
ich geantwortet habe: Aus dem Senegal, da hat er mich an die
Hand genommen und gesagt: Ich zeige Ihnen alles, was Sie
wollen. Der alte Mann hatte im Ersten Weltkrieg mit eigenen
Augen gesehen, wie die Senegalesen ohne Todesfurcht mit ihrer
Machete auf die Deutschen zugestürmt sind.“
Diaras Großvater, ein Analphabet, gehörte damals zu diesen
Kämpfern. Als Fünfjähriger, so erinnert sich der alte Mann mit
den grauen kurzen Locken heute, hat er in seinem Elternhaus
den Stahlhelm aus Verdun entdeckt. Doch mit Aladj Diara endet
die Militärtradition in der Familie – von seinen acht Kindern
geht keiner zur Armee. Sehr zum Bedauern des Vaters:
„Wenn man in einem Milieu Jahrzehnte verbracht hat, kann man
sich nur freuen, in der Mitte dieser Menschen zu sein. Für
mich ist das etwas Phantastisches. Für mich sind solche Feiern
hier Gelegenheiten, die man sich nicht entgehen lassen darf.“
Plötzlich schießen dem alten Mann Tränen in die Augen. Sie
werden ganz rot. Diara blickt melancholisch zu den jungen
Soldaten:
„Einfach die Tatsache, das zu sehen, erinnert mich….das
erinnert mich an meine Jugend.“
Diese jungen Soldaten zu sehen, erinnere ihn an seine Jugend.
Bis heute kommt ihm kein kritisches Wort zur Armee oder über
die Vergangenheit über die Lippen. Allenfalls der Umgang mit
den einfachen Soldaten war ihm damals zu hart gewesen, aber
das sei mittlerweile anders. Fortschritte erkennt der gläubige
Muslim auch auf anderem Gebiet:
„Ich war in einer Zeit beim Militär, als es dort noch keine
Kampfrationen gab. Jetzt gibt es so etwas. Ich habe deren
Einführung noch miterlebt – und die gibt es jetzt auch halal.
Das zeigt, dass sich die Verantwortlichen um solche Dinge
Gedanken machen.“
14
Nach 35 Jahren in der französischen Armee beendet Diara 1992
seinen Dienst in den Streitkräften. Auch seine Kinder – so
betont er noch zum Abschied – engagieren sich für die
Gesellschaft. Einer seiner Söhne ist heute bei der Feuerwehr.
„Ein Deutscher, der auf die falsche Seite der Front geraten
war, wurde von einer senegalesischen Wache erwischt; da hatte
er noch seinen Kaffee in der Hand. Als er von Senegalschützen
umgeben war, zitterte er am gesamten Körper. Du Armer, hattest
Du nicht diesen Moment schon vorhergesehen, wie Du auch schon
Gold und Ruhm erwartet hattest? Die Schwarzen, die Du für wild
hieltst, haben Dich im Krieg erwischt, aber statt Deinem Leben
ein Ende zu setzen, haben sie Dich gefangen genommen.“(Bakary
Diallo)
Frankreich betont bis heute, wie korrekt es seine Soldaten aus
den kolonialen Besitzungen behandelt hat. Was übrigens einen
ziemlich nachteiligen Effekt hatte – denn so, wie die
schwarzafrikanischen Truppen in ihren aktiven Kriegszeiten auf
Gleichbehandlung und respektvollen Umgang pochten, so taten
sie dies später auch, als es um die Unabhängigkeit ihrer
Heimatländer ging. Viele aufstrebende Staatschefs, Regenten
und spätere Potentaten in den jungen afrikanischen Republiken
entstammten der französischen Militärtradition und hatten sich
ihre Meriten als Soldaten im Dienste Frankreichs erworben.
Heute gehören allein noch die überseeischen Gebiete
unmittelbar zum französischen Staat – von dort kommen nach wie
vor viele Farbige, die in der französischen Armee Dienst tun.
Und bis heute verbinden sie damit berufliche Sicherheit,
gesellschaftliche Anerkennung und eine gewisse wirtschaftliche
Perspektive. Die Armee gilt als „Schule der Nation“ und als
„Motor der Integration“ – und dafür ist das 21. Regiment der
15
Marine-Infanterie ein gutes Beispiel. Die Einheit ist gut
trainiert und hat lange Auslandserfahrung - vor zwei Jahren
etwa eröffnete sie den Krieg gegen die Islamisten in Mali.
Heiata grinst über das ganze Gesicht. Gemeinsam mit ihren
Kameraden hat die 36-Jährige gerade ihren Vorgesetzten ein
Ständchen gesungen. Eine Tradition bei großen Feiern der
Marine-Truppe. Wir Polynesier, so sagt Heiata, wir haben Musik
im Blut:
„Wir Polynesier haben Musik im Blut.“
Die Soldatin im Range eines Hauptgefreiten kommt aus Tahiti –
ist seit 13 Jahren in Europa und genauso lange bei den MarineTruppen. Weil es auf Tahiti keine Jobs gibt, sagt Heiata,
gehen dort viele zu den Streitkräften:
„Weil es bei uns keine Arbeit gibt, geht man zur Armee.“
Die Inseln von Französisch-Polynesien gehören schon lange zu
Frankreich. Kulturell liegen aber auch heute noch Welten
zwischen den Inseln im Südpazifik und dem Mutterland. Das hat
Heiata bei den Marine-Truppen in Fréjus schnell erfahren
müssen. Obwohl die Einheit sich mit ihrer jahrhundertelangen
Kolonialerfahrung und der damit verbundenen kulturellen
Kompetenz brüstet:
„Wir haben zum Beispiel eine eigene Art zu sprechen. Das hat
auch mit Körpersprache zu tun. Wenn wir „Ja“ sagen, dann mit
den Augenbrauen. Mein Ausbilder fragte mich dann: Meinst Du ja
oder nein? Er hat mich gar nicht verstanden. Das war am Anfang
sehr hart.“
Doch mit der Zeit hat sich Heiata angepasst und – so sagt sie
selbst – bestens integriert. Wenn die dunkelhaarige Soldatin
mit ihren Kameraden Musik macht, dann fällt sie allenfalls
noch wegen ihrer geringen Körpergröße von gut 1,50m auf. In
der Armee – so sagt Heiata – hat sie viel für das Leben
gelernt und Ängste abgebaut. Schon die Ankunft in Fréjus wurde
ihr leicht gemacht:
„Wenn ein junger Soldat neu zur Einheit kommt, gibt es immer
Ehemalige, die ihn mit den anderen begrüßen. Denn wenn Du
hierhin kommst, kennst Du nichts. Und so bist Du nicht
verloren.“
16
René Debuire ist der amtierende Chef des 21. Regiments der
Marine-Infanterie in Fréjus, zu dem auch Heiatas Einheit
gehört. Der Oberstleutnant ist dankbar über das Engagement der
Ehemaligen, denn Soldaten mit Heimweh könne er gar nicht
gebrauchen. Mangelnde Integration, sagt der muskelbepackte
Offizier, gefährde die Kampfkraft. Und weil das schon in der
Vergangenheit so war, beherbergt Fréjus seit gut 90 Jahren
eine rotbraune Moschee im schwarzafrikanischen Stil und eine
asiatische Pagode:
„Die Pagode und die Moschee wurden von Mitgliedern der
Einheiten gebaut, die in Fréjus stationiert waren - um unseren
Waffenbrüdern aus den Kolonialtruppen bekannte Anhaltspunkte
zu geben. Referenzen ihrer Vergangenheit. Um ihre Kultur zu
pflegen und wiederzuentdecken, was ihr Leben ausgemacht hat,
bevor sie zu den Kolonialtruppen gekommen sind. Aus diesem
Grund hat das Kommando damals die Konstruktion solcher für die
französische Provinz untypischer Bauten erlaubt und sogar
gefördert.“
Es blieben allerdings kulturelle Anhaltspunkte. Als Gebetsort
hat die Moschee, die heute nicht zu den gepflegtesten
Touristenattraktionen der Stadt zählt, nie gedient. Dass sich
die Armee in aktuelle politische Integrationsdebatten
einmischt – zum Beispiel in den Streit um den Bau einer
richtigen Moschee in Fréjus – sei keine Option, sagt der
oberste Soldat der Marine-Truppen, General Charles de
Kersabiec:
„Was vor allem integriert, das ist die Mission. Egal, wer man
ist, welche Hautfarbe man hat, welcher Religion man angehört –
wir versammeln uns hinter der Fahne und einer Anzahl von
Werten in einer Mission, die uns potentiell töten kann. Das
ist der beste gemeinsame Nenner.“
Auch das historische Gedenken folgt dieser Logik.
„Ich glaube, die Marine-Truppen können gut ermessen, welche
Opfer den Senegalschützen im Ersten Weltkrieg abverlangt
wurden. Soldaten, die von sehr weit her kamen, um dem
Mutterland zu helfen. Es ist an uns, die wissen, wie sie
ausgebildet und rekrutiert wurden, in schwierigen Umständen,
die Ehre weiterzutragen, die ihnen die französische Nation
schuldet. Sonst würden sie in Vergessenheit geraten. Und das
wäre ein zweiter Tod.“
17
Weil das Gedenken einem Zweck dient, kommen dunkle Aspekte der
Militärgeschichte nicht zur Sprache. Das Massaker von Thiaroye
ist so ein Aspekt. Thiaroye ist in den früheren afrikanischen
Kolonien bis heute ein Stichwort, das hochemotionale Debatten
auslöst.
Das Camp Thiaroye am Stadtrand von Dakar war Schauplatz eines
Massakers während des Zweiten Weltkriegs. Als aus der
Kriegsgefangenschaft zurückkehrende Senegalschützen im
November 1944 die Auszahlung ihres Solds verlangen, verweigern
ihnen korrupte und rassistische Kolonialbeamte die volle
Summe. In ihrem Auftrag erschießen Senegalschützen am 1.
Dezember 1944 mindestens 35 Kameraden. Staatspräsident
François Hollande hat bei seinem Besuch im Senegal vor drei
Jahren an dieses dunkle Kapitel der französischen Geschichte
erinnert. Beim militärischen Gedenken wird das Thema
allerdings noch nicht einmal erwähnt:
„Wir wollen niemanden stigmatisieren, der Fehler gemacht hat.
Im Gegenteil: Wir wollen bei unseren Erinnerungen soldatische
Qualitäten herausstellen, um den Nachwuchs zu motivieren,
diesen Vorbildern nachzueifern. Wir fangen nicht an, den
Soldaten beizubringen, dass sie auch scheitern oder Verrat
üben können.“
Für Heiata stellen sich solche Fragen nicht mehr. Sie wird im
kommenden Jahr die Armee verlassen – um sich ganz den beiden
Kindern zu widmen. Ihr Mann allerdings, der im gleichen
Regiment dient, will auch in Zukunft unter der französischen
Fahne dienen und kämpfen.
„Seit einigen Tagen sind wir östlich von Reims, in Sillery, im
Wald. Das Sperrfeuer ist intensiv...
Die deutsche Hauptkampflinie entlädt ihre Munition auf uns.
Die Hälfte von uns ist verletzt und ich sehe manche sterben.
Einer meiner Soldaten zu meiner Rechten ist gefallen, das Blut
fließt von seinem Kopf, der auf der Erde klebt. Wir stehen
plötzlich vor dem deutschen Schützengraben. Wir sind nur noch
zu dritt. Ich zähle nicht mehr; ich habe eine zweite
18
Verletzung am Mund erlitten. Sylla hilft mir, zu der
französischen Linie zurückzukommen.“ (Bakary Diallo)
Bleibt die Frage nach dem Ort des Gedenkens, an dem auch die
Force Noir, die Truppen aus den Kolonialgebieten, ihren festen
Platz haben. Es gibt zwar das zentrale Denkmal für die
Schwarzafrikaner in Reims – aber die toten Soldaten von dort
blieben bis heute mehr oder weniger anonym. Mittlerweile gibt
es aber Initiativen, die diesen Opfern einen Namen geben und
ihren Beitrag zur französischen Geschichte ausdrücklich
würdigen wollen. Die Erinnerung an die etwa 40.000 Toten aus
den Kolonialgebieten soll wachgehalten werden.
Freitagmorgen - 8 Uhr. Unweit der Strandpromenade von Nizza.
Höhenkletterer befestigen eine riesige Trikolore an einer
Steilwand vor dem Weltkriegsdenkmal. In gut zwei Stunden wird
die Stadt an dieser Stelle den Sieg über Nazi-Deutschland vor
70 Jahren feiern. Auch eine kleine Gruppe von gut zwei Dutzend
Wanderern hat sich vor dem Denkmal eingefunden. Auch sie
wollen der toten Weltkriegs-Soldaten gedenken. Aber auf eine
ganz andere Weise:
Wie an jedem 8. Mai treffen sich auch heute wieder die
Mitglieder des „Vereins zum Gedenken an die Senegalschützen“
(kurz AMTS) zu einem Marsch von Nizza nach Menton. Vor dem
Start posieren die Teilnehmer mit ihren weißen T-Shirts und
den roten Fahnen noch schnell für ein Foto. Auf den T-Shirts
ist der stilisierte Kopf eines Senegalschützen gedruckt, mit
seiner traditionellen roten Kopfbedeckung, der Chechia. Auf
den Fahnen prangt ein großer Anker - das Symbol der
Senegalschützen:
Zunächst zieht die Gruppe vorbei an der stark befahrenen
Uferstraße, bevor sie auf kleinere Strandwege abbiegt. Stets
vorneweg: Gaspard Mbaye, der Präsident des AMTS. Der gebürtige
Senegalese treibt seine Leute immer wieder an. Die Wanderung
und das Gedenken sind dem 50-Jährigen mit dem jugendlichen
Gesicht ein Herzensanliegen:
„Mein Vater war Senegalschütze. Nicht in den Weltkriegen, aber
im Indochinakrieg von 1946-54. Durch die Beschäftigung mit
19
seiner Vergangenheit habe ich viel über die Geschichte der
Tirailleurs sénégalais erfahren.“
2008 hat Mbaye den AMTS gegründet. Der gut 20km lange Marsch
ist den Tirailleurs gewidmet, die in beiden Weltkriegen für
Frankreich ihr Leben gelassen haben:
„Warum machen wir das als Marsch? Weil es ein dynamisches
Gedenken ist, weil es Menschen versammelt und lebendig ist.
Wir marschieren in Richtung des Denkmals und die Erinnerung
lebt.“
Tatsächlich scheint dieses Konzept aufzugehen. Jung und alt,
schwarz und weiß, Handwerker und Lehrer - die Gruppe ist bunt
gemischt – wirkt beinahe wie ein Querschnitt der französischen
Gesellschaft:
„Wir sind offen für alle. Wir haben verschiedene Kulturen in
unserem Verein. Wir denken nicht in ethnischen oder nationalen
Kategorien. Es geht einzig um das Ideal, das Gedenken an die
Senegalschützen wach zu halten. Das macht auch unsere Kraft
aus.“
Mbaye ist als Student aus dem Senegal nach Frankreich gekommen
– und dann hier geblieben. Er hat eine Französin geheiratet
und mit ihr drei Kinder bekommen – die älteste Tochter macht
bald Abitur.
Die zweite Hälfte der Wanderung ist landschaftlich deutlich
reizvoller. Es geht entlang verschlungener Pfade – immer in
Sichtweite des Meeres, das an diesem frühlingshaften Tag
besonders azurblau zu strahlen scheint.
Es hat sich gelohnt, die Gruppe ein bisschen anzutreiben. Fast
pünktlich erreichen die Aktivisten die Kleinstadt Menton
unmittelbar vor der italienischen Grenze. Hier auf dem
Friedhof von Trabuquet steht seit drei Jahren ein Denkmal, das
untrennbar mit dem AMTS verbunden ist: das Denkmal für die
toten Senegalschützen aus dem Ersten Weltkrieg:
Ein Repräsentant der Stadt ist zu der kleinen Feier erschienen
und eine Reporterin der Lokalzeitung. Zu Beginn der kurzen
Gedenkveranstaltung rezitiert die Tochter von Gaspard Mbaye
ein Gedicht des früheren Tirailleurs und späteren
senegalesischen Staatspräsidenten Senghor.
20
Dann erklärt der Geschichts- und Geographielehrer die
Botschaft des Denkmals:
„Wir sehen hier einen Senegalschützen in traditioneller
Kleidung von 1915. Er geht aufrecht. Er marschiert. Am Ende
des Krieges. Der Soldat marschiert in die Zukunft. Nach
Afrika. Er schaut in Richtung Mittelmeer – in Richtung dieses
vor uns liegenden Meeres, das heute viele zu überqueren
versuchen, aber leider häufig dabei scheitern.“
Zum Abschluss stimmt eine Sängerin die Marseillaise an.
Als die Gruppe bereits auf dem Platz vor dem Friedhof diesen
Tag des Gedenkens bei senegalesischen Spezialitäten ausklingen
lässt, blickt der Präsident auf die Geschichte des jungen
Vereins zurück. Stolz läuft er über das neu gestaltete
Gräberfeld:
„Den Großteil der Soldaten, die hier beerdigt wurden, konnte
man zunächst nicht identifizieren.“
„Hier, schauen Sie mal, hier haben Sie EINEN Namen, aber in
diesem Grab sind 6-7 Soldaten bestattet. Das heißt: Von den
1137 Soldaten war mehr als die Hälfte unbekannt. Dank unserer
Arbeit in den Archiven konnten wir in den vergangenen Jahren
nun alle identifizieren.“
Heute stehen die Namen aller Verstorbenen auf der gut 25 Meter
langen Friedhofsmauer. Weitere Informationen über die Toten
gibt es nicht. Ihre religiösen Bekenntnisse lassen sich
lediglich auf den kurz nach dem Krieg errichteten Grabstelen
erkennen:
„Für die toten Madagassen wurden Kreuze aufgestellt, weil sie
Christen waren. Hier auf anderen Gräbern sehen Sie aber auch
das Symbol der Muslime, die Mondsichel mit dem Stern.“
Religion spielt im AMTS keine Rolle. Es geht einzig und allein
um die Werte der Republik, sagt Gaspard Mbaye, bevor er noch
einmal auf das Denkmal deutet, das so eng mit seinem Namen
verbunden ist:
„Der Soldat hier ist ohne Waffen. Auch daran sieht man wieder
unsere Philosophie: Wir sind für den Frieden. Der Krieg hat
der Menschheit viel Unheil gebracht. Und dieser Soldat ist
befreit vom Krieg und deshalb ohne Waffen. Das ist für mich
ein Symbol des Friedens und der Toleranz.“
21
Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag:
Die vergessene
„Force Noire“ – Frankreichs Kolonialsoldaten im Ersten
Weltkrieg.
Eine Sendung mit Reportagen von Andreas Noll.
Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch Force-Bonté von
Bakary Diallo aus dem Jahr 1926.
Sprecher war Hendrik Stickan.
Die Musik hat Simonetta Dibbern herausgesucht, die auch Regie
führte.
Studiotechnik: Angelika Brochhaus und Christoph Rieseberg. Und
am Mikrophon war Thilo Kößler.
22