Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 12. September 2015, 11.05 – 12.00 Uhr Die vergessene „Force Noire“ – Frankreichs Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg Mit Reportagen von Andreas Noll Am Mikrofon: Thilo Kößler Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – 1 Ein ehemaliger Soldat über die Truppen aus Schwarzafrika, die im Ersten Weltkrieg an der Seite Frankreichs gegen Deutschland kämpften: Man sorgt dafür, dass sich die Afrikaner in Südfrankreich akklimatisieren können. Dann werden sie Schritt für Schritt an die Front im Norden gebracht. Dort muss man sie zunächst an den Gefechtslärm gewöhnen. Und ein französischer General über das Gedenken an die Opfer unter den vielen Soldaten aus den französischen Kolonialgebieten: Es ist an uns, die wissen, wie sie ausgebildet und rekrutiert wurden, in schwierigen Umständen, die Ehre weiterzutragen, die ihnen die französische Nation schuldet. Sonst würden sie in Vergessenheit geraten. Und das wäre ein zweiter Tod Gesichter Europas: Die vergessene „Force Noire“ – Frankreichs Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Eine Sendung mit Reportagen von Andreas Noll. Am Mikrophon begrüßt Sie Thilo Kößler. In ganz Europa wurde 2014 des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren gedacht – bis heute gilt er als eine entscheidende Zäsur in der Geschichte Europas, weshalb er auch als „die europäische Urkatastrophe“ bezeichnet wurde. Wann immer es heißt, dass die Schlachten von einst heute an den Verhandlungstischen von Brüssel geschlagen werden, dann ist damit die Lehre gemeint, die Europa aus den Verwüstungen 2 der beiden Weltkriege gezogen hat. Ohne sie hätte es die europäische Einigung vermutlich niemals gegeben. Doch zum gemeinsamen Erinnern hat es wieder nicht gereicht – auch dieser Jahrestag stand unter dem Vorzeichen des nationalen Gedenkens. Es gab keine Veranstaltung aller Europäer. Und wieder blieben ganze Opfergruppen außen vor. Die armen Teufel aus den weit entfernten Besitzungen der europäischen Kolonialreiche zum Beispiel, die zwischen 1914 und 1918 für ihre europäischen Mutternationen in die Schlacht zogen – im Falle Frankreichs waren das die sogenannten Senegalschützen aus den Gebieten der Subsahara oder die Madegassen. Oder die indochinesischen Truppen. Oder die Soldaten aus den Überseegebieten wie Martinique oder La Reunion. Dass sie bei den Gedenkfeiern mehr oder weniger übersehen wurden, hat auch mit der französischen Haltung gegenüber den Kolonien zu tun – nach allgemeinem Verständnis waren die Besitzungen nicht kolonisiert, sondern zivilisiert worden. Und schon aus purer Dankbarkeit waren die Soldaten aus Afrika oder Übersee verpflichtet, dem Mutterland zu Hilfe kommen. Die Rue de Vaneau im feinen 7. Arrondissement. Eric Deroo öffnet die schwere Holztür zu seinem geräumigen Pariser Büro. Die gut 70 Quadratmeter sind vollgestopft mit afrikanischen Skulpturen, Bildern und Gegenständen. In dem Zimmer links neben dem Eingang reichen die Regale mit Büchern und Dokumenten vom dunklen Holzparkett bis zur stuckverzierten Decke. „Ich habe viele Objekte. Eine wertvolle Sammlung mit bis zu 200 Uniformen von indigenen Soldaten. In diesem Appartement lagern vermutlich 50 bis 100.000 Einzelteile – über die Kolonialsoldaten aus Indochina, Afrika und von den pazifischen Inseln. Genau gezählt habe ich das aber nie.“ 3 Der 63-Jährige sammelt nicht aus Sammelleidenschaft, wie er sagt, sondern um Fundstücke für die Nachwelt zu bewahren. Denn jahrzehntelang hatte die französische Gesellschaft die schwarzen Soldaten aus ihrem Bewusstsein verdrängt. Weder Kunstsammler noch Museen oder Historiker interessierten sich für die Zeugnisse der Tirailleurs sénégalais, der Senegalschützen, und ihrer Kameraden aus Asien und Übersee. Mittlerweile hat sich das geändert: Eine Studentin ruft an – will mit Deroo über ihre AbschlussArbeit sprechen: Der Mann mit der runden Brille und dem freundlichen Lächeln ist eine Instanz für französische Kolonialgeschichte. Mehr als zwei Dutzend Dokumentarfilme und Bücher hat er gedreht und veröffentlicht. Dabei kam er erst spät mit diesem Teil der französischen Geschichte in Berührung: „In vielen französischen Familien gibt es mindestens ein koloniales Gemälde, ein afrikanisches Objekt, eine indochinesische Vase, die ein Großvater mit aus dem Krieg gebracht hat. Bei mir war das überhaupt nicht der Fall. Wir hatten nichts – aber auch gar nichts. Keine koloniale Referenz.“ Dass Eric Deroo heute Museen in ganz Europa mit Objekten zur Kolonialgeschichte versorgt, ist reiner Zufall. Bei Dreharbeiten Ende der 1960er Jahre in den Ardennen erzählten ihm Bauern von jungen afrikanischen Soldaten, die sich im Zweiten Weltkrieg monatelang in den Wäldern vor der Wehrmacht versteckt hätten: „Ich wollte das nicht glauben. Und dann sind wir in diese Wälder gegangen – und tatsächlich waren da Objekte. Ein Objekt, das liegt hier noch… Moment.“ Eric Deroo nimmt einen tiefen Aluminiumbehälter in die Hand. „Das ist das reguläre Essgeschirr der französischen Armee. Und im Wald habe ich dieses Essgeschirr gefunden, das von einer Granate total zerstört worden war. Und ein anderes habe ich auch gefunden. Beide stammten von einem kolonialen Infanterieregiment. Hier – man sieht die Spur der Granate – unglaublich! Da habe ich mir gesagt: Hier passiert etwas Wichtiges.“ 4 Nach dieser Entdeckung kämpft sich Deroo jahrelang durch Archive, befragt Veteranen und liest alte Kriegstagebücher. Er, dessen Vater und Großvater in beiden Weltkriegen gekämpft, aber nie Frankreich verlassen haben, macht sich auf den Weg nach Afrika: „Das erste Mal war das 1980 oder 81 – da habe ich die afrikanischen Weltkriegsveteranen getroffen. Das war wirklich sehr beeindruckend – vor allem ihre Würde. Sie waren irgendwie zwischen zwei Welten – zwischen der kolonialen, militärischen Welt und der Welt der jungen unabhängigen afrikanischen Staaten, an die keiner richtig glaubte. Sie forderten nichts von Frankreich. Im Gegenteil: Sie hörten am Transistorradio den ganzen Tag nur französische Sendungen. Sie kannten alle Wahl- und Fußballergebnisse aus Frankreich. Sie sagten immer: Ich habe zwei Länder in mir: Den Senegal, Mali oder was auch immer und Frankreich – aber Frankreich ist mein Land.“ Und sie freuen sich, dem Gast aus Frankreich von ihrer Vergangenheit zu berichten. Deroo hört in Afrika andere Geschichten, als er sie aus seiner Heimat kennt: „In Frankreich erzählten die Veteranen häufig ihre großen heroischen und glorreichen Kriegsgeschichten, die zum großen Teil konstruiert waren. In Afrika war dies überhaupt nicht der Fall. ‚Ich war da, um eine Arbeit zu tun‘, haben diese Veteranen gesagt. Diese Arbeit ist heute nicht mehr gut bezahlt, aber so ist das eben. Ich glaube, Frankreich hat mich ein wenig vergessen, aber das ist nicht schlimm…Das war sehr ergreifend.“ Eric Deroo geht jetzt dahin, wo sein Land den Mann ehrt, der das Konzept für den Einsatz dieser Soldaten an der europäischen Front geschrieben hat: Charles Mangin. Es sind von dem Büro nur ein paar Minuten zu Fuß bis zu dem Platz in der Nähe des Invalidendoms. Hier thront der General, den Frankreich nach 1918 ehrt und die Deutschen verachten, mit verschränkten Armen auf einem wuchtigen Sockel. Der Autor deutet auf die Inschrift des Denkmals: „‚Frankreich ist eine Nation mit 100 Millionen Einwohnern‘. Das war der große Slogan der Kolonialzeit. Frankreich ist ein Reich mit 100 Millionen Menschen. Das ist die Idee der Grande France. La Grande Nation. Das ist das Herz des kolonialen Diskurses, denn das Kernland Frankreich leidet in dieser Zeit 5 unter einem demografischen Defizit gegenüber Deutschland. Als Mangin das geschrieben hat, Anfang des 20. Jahrhunderts, hatte Frankreich ungefähr 30 Millionen Einwohner. Deutschland 60 Millionen.“ Der Anteil der schwarzen Soldaten am Sieg über Deutschland wird später gewürdigt – von den Militärs, aber auch der französischen Gesellschaft, die ihnen zu Ehren Denkmäler errichtet. Die große Moschee in Paris zum Beispiel wird in den 1920er Jahren genau aus diesem Grund gebaut. Eric Deroo ist stolz auf diese Tradition. Die jüngsten Entwicklungen in seinem Land aber bereiten ihm Sorgen. Immer mehr Volksgruppen in Frankreich, so der Autor, stellten heute ihre Einzelinteressen über die gemeinsamen Werte der Republik: „Frankreich befürwortet die Integration – ist gegen einzelne ethnische Interessen. Aber diese Gedenkfeiern erreichen das Gegenteil. Nehmen wir den Begriff Senegalschützen. Das ist ein sehr alter Überbegriff, mit dem alle schwarzafrikanischen Einheiten bezeichnet wurden. Jetzt sagt man: ‚Wir sind aber Malier‘. ‚Wir kommen aus Burkina Faso‘. ‚Nur das Wort Senegalschütze reicht uns nicht‘. Vor diesem Hintergrund müssen wir dieses Kriegsgedenken beenden. Auch wenn es unsere Politiker immer noch beschwören. Es gibt nicht viele schriftliche Zeugnisse von Soldaten, die aus den französischen Kolonialgebieten stammten und an der Seite Frankreichs im Ersten Weltkrieg kämpften. Die Autobiographie des Senegalschützen Bakary Diallo gilt als erstes Dokument dieser Art – 1926 wurde es unter dem Titel „Force-Bonté“, Zwang und Güte, veröffentlicht. Ob es tatsächlich authentisch ist, wurde immer wieder angezweifelt – denn als Diallo 1914 nach Frankreich kam, war er noch Analphabet. Zudem fallen seine Schilderungen durchweg Frankreich-freundlich aus. Das Buch Diallos gilt dennoch als erster Beleg für frankophone schwarze Literatur - erst 1979 starb der Autor in seiner senegalesischen Heimat. 6 „Nach vier Tagen Überquerung des Atlantischen Ozeans landen wir in Sète (Département Hérault). Wir sind glücklich, zum ersten Mal eine Stadt des Großen Frankreichs zu sehen. Unsere Augen richten sich auf die Menschen, die Häuser, die Straßen, die Straßenbahnen und sehen zum Schluss eine Fülle von Flaggen, mit denen sich die Stadt schmückt. Unter ihnen befindet sich die Trikolore. Wir durchqueren die Stadt, den Kopf voller Musik; es ist ein solcher Umzug durch die Stadt, dass Kinder, Knaben und Mädchen sich mit Freude anschließen. Es ist so, als würde die gesamte Bevölkerung von Sète mit der Feier für uns ein Versprechen gegenüber sich selbst einlösen.“ (Bakary Diallo) Der Gedanke, dass die Schwarzafrikaner aus den Kolonien ein besonderer Teil des Kanonenfutters waren, das auf den Schlachtfeldern verheizt wurde, liegt den Franzosen bis heute fern – schließlich starben auch sie im Namen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Und sie starben unter dem Banner der Trikolore wie jeder andere Soldat. Unter dem wachsenden Druck der Verluste an den Fronten forderte die Kolonialverwaltung immer mehr indigene Soldaten aus den Kolonien an und köderte sie mit dem Versprechen auf gleiche Rechte wie alle Franzosen. So galten sie nicht als Fremde, die mit diesem europäischen Gemetzel eigentlich gar nichts zu tun hatten. Im Gegenteil: Sie hatten sogar einen besonders hohen Blutzoll zu entrichten, weil sie ahnungslos in die Schlachten geschickt wurden. Weil sie in der Kälte an Krankheiten starben, gegen die sie nicht gefeit waren. Und weil sie am Ende in immer größerer Zahl und in fast homogenen afrikanischen Einheiten in den Tod getrieben wurden – rund 40.000 Soldaten aus den Kolonialgebieten, so schätzt man, kamen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ums Leben. Gervais Cadaraio steht auf einer Anhöhe. In seinem Rücken erhebt sich eine alte Festung – gut 100 Meter vor ihm 7 verbindet eine stark befahrene Landstraße die östlichen Vororte mit Reims. Der ehemalige Berufssoldat tritt noch schnell seinen Zigarillo aus, dann erzählt er: „Wir sind hier vor dem Fort de la Pompelle. Im französischen Sektor. Die Straße, die hier vor uns verläuft, entspricht dem Verlauf der Front in den vier Kriegsjahren ab September 1914. Alles, was sich gegenüber befindet, wurde von den Deutschen gehalten. Uns gelingt es im Krieg zu keinem Zeitpunkt, dieses Gelände zurückzuerobern.“ Erst im Sommer 1918 haben die französischen Truppen Erfolg. In der Region Reims mit Hilfe afrikanischer Soldaten, die zu Kriegsbeginn noch für Hilfsarbeiten eingesetzt wurden: „Zunächst werden die Schwarzafrikaner auf die normalen Regimenter verteilt. Um ehrlich zu sein: Sie dienen dort vor allem dazu, Munition zu transportieren, Schützengräben auszuheben und sonstige Hilfsarbeiten zu erledigen. General Mangin, der die Kolonialtruppen befehligt, beendet diese Situation und gründet dann wieder kämpfende Regimenter mit schwarzen Soldaten.“ Was sich in der Theorie konsequent anhört, bereitet den Offizieren in der Praxis aber zunächst Kopfzerbrechen: „Man sorgt dafür, dass sich die Afrikaner in Südfrankreich akklimatisieren können. Dann werden sie Schritt für Schritt an die Front im Norden gebracht. Die Soldaten kennen zwar Kanonen, aber der permanente Lärm hier an der Front ist dann doch etwas anderes. In den Schützengräben haben die Kommandeure zudem große Probleme, sie in die unterirdischen Schutzräume zu beordern. Denn in ihrem Glauben leben die schlechten Geister unter der Erde.“ Es kostet Überredungskünste, bis sie sich unter diesen Umständen an den brutalen Stellungskrieg gewöhnen. Im letzten Kriegssommer erobern die Senegalschützen sämtliche Vororte von Reims von den Deutschen. Die 25 bis 30 Tausend Besucher, die jedes Jahr das Fort de la Pompelle besichtigen, erfahren von dieser Geschichte nur, wenn sie einen guten Führer haben. Cadario ist mittlerweile im Inneren des Forts angekommen und lenkt die Aufmerksamkeit im neu gestalteten Empfangsraum auf 8 zwei wuchtige Steine, die in den breiten Kassentresen eingelassen sind. Die letzten Überreste eines Denkmals, das nach dem Krieg in Reims für die schwarzen Kolonialtruppen errichtet und 1940 von den Deutschen demontiert wurde. Dass die Besucher diese grauen Granit-Blöcke heute noch ansehen können, ist einem Zufall im Leben früheren Unteroffiziers zu verdanken. „Ja, ich habe sie mit meiner Einheit entdeckt.“ Es sind nach dem Krieg und den Jahrzehnten danach vor allem Militärs, die sich um das Andenken ihrer schwarzen Waffenbrüder kümmern. Schon das Komitee für den Bau des Denkmals gründet ein General: 5„Als man das Denkmal gebaut hat, geschah das aus ehrlicher Dankbarkeit gegenüber den vielen schwarzen Soldaten, die hier auf den Schlachtfeldern für Frankreich ihr Leben gelassen haben. Im Moment, wo diese Freiwilligen ihr Blut für Frankreich gegeben haben, gelten sie als Franzosen.“ Und sie werden vom Gegner besonders brutal verfolgt: „Die Deutschen fürchten sich vor den Kolonialsoldaten. Aufgrund der Legenden über ihren Kampfstil. Wenn Deutsche Senegalschützen zu fassen bekommen, werden sie sofort liquidiert. Man macht selten Gefangene.“ In Frankreich kommen nach dem Krieg von 1918 mehr als 10 Tausend Zuschauer und der Staatspräsident zur Einweihung des „Denkmals für die Helden der schwarzen Armee“ nach Reims – alle 17 afrikanischen Staaten, die Truppen an die französische Front entsendet haben, schicken Delegationen: Auf der Landstraße, die der 70-Jährige gerade noch mit weit ausschweifenden Armbewegungen beschrieben hat, geht es jetzt Richtung Reims. Die Fahrt in dem Geländewagen wird zur Geschichtsstunde. „Hier sind wir immer noch in Deutschland.“ Hier sind wir immer noch in Deutschland – dort ist Frankreich. Wenn Cadario über die Frontverläufe im Weltkrieg spricht, dann fast immer in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist für ihn allgegenwärtig. Genauso wie die Probleme, die sie hinterlassen hat. 9 „Immer wenn die Zuckerrüben geerntet werden, wenn auf dem Feld gearbeitet wird, rufen uns die Bauern an, dass wir die Granaten, Geschosse und andere Überreste aus dem Krieg entfernen sollen. Wir haben hier noch Arbeit für Jahrhunderte.“ Nur wenige Gehminuten vom Originalstandort in Reims hat eine Vereinigung um Gervais Cadario das von den Deutschen demontierte Denkmal für die Senegalschützen wieder aufbauen lassen. Darauf zu sehen: eine Gruppe Senegalschützen, die einen französischer Offizier einrahmen, der die Trikolore hält. „Vor vielleicht 30 Jahren gab es darüber Streit unter Hobbyhistorikern, die das Denkmal rassistisch fanden. Man verstand damals nicht, warum ein Weißer und kein Schwarzer die Fahne tragen durfte. Aber da muss man nur in die Regeln der Armee schauen, die seit jeher existieren. Danach muss der Fahnenträger den Mindestdienstgrad eines Leutnants besitzen. Und da es damals praktisch keine schwarzafrikanischen Offiziere gab, konnte auch keiner die Fahne tragen.“ Cadario treibt bei seiner Arbeit vor allem eines an: Das, was die einfachen Soldaten beider Seiten und die geschundene Zivilbevölkerung vor 100 Jahren durchlitten hätten, dürfe nie in Vergessenheit geraten. Mit der Rückkehr des Denkmals, von dem eine Kopie seit 1924 auch im malischen Bamako steht, ist er diesem Ziel wieder einen Schritt nähergekommen. Doch es wartet noch viel Arbeit auf ihn. Die Suche nach dem Verbleib des Originaldenkmals zählt dazu: „Als die Deutschen das Denkmal nach dem Westfeldzug 1940 demontiert haben, waren alle davon überzeugt, dass es für die deutsche Kriegswirtschaft genutzt werden sollte. Was uns dann überrascht hat: Auf den Photographien sieht man, dass das Denkmal sehr sauber und ordentlich vom Sockel abgetrennt wurde und auf einen Zug Richtung Deutschland verfrachtet wurde. So sauber ging man aber nicht mit Schrott für die Rüstungsindustrie um.“ Womöglich hatte die Demontage also einen anderen Zweck: „Es gibt Hinweise, dass dieses Denkmal in Deutschland bei einer Ausstellung genutzt wurde, bei der man dem deutschen 10 Volk zeigen wollte, wie degeneriert die Franzosen sind, wenn sie sogar Denkmäler zur Ehrung von ‚Untermenschen‘ errichten.“ Doch Einzelheiten dieser in München verorteten Ausstellung – oder gar das weitere Schicksal des Denkmals sind bis heute unklar. Aber Cadario will weiter recherchieren. Der Große Krieg und seine Folgen lassen den Militär, der seit 15 Jahren im Ruhestand ist, einfach nicht los. „Wir sind vor den deutschen Truppen in der Marne-Region. Es ist vier Uhr morgens. Das Morgengrauen deutet sich an. Überall, insbesondere Richtung Osten, sieht man, wie das diffuse Licht des Morgens aufzieht. Der Himmel leuchtet über den Köpfen, ein bläuliches Auge öffnet sich, um einem Werk des Bösen zuzuschauen. Die Gewehre, die Kanonen und andere Instrumente/Waffen, die ihre Besitzer töten, machen nicht mehr so viel Lärm. Die Gruppen versorgen sich mit Kaffee und nahrhaften Lebensmitteln. In der Nacht ist alles getan worden; man muss essen, um die Kraft zum Sterben aufzubringen.“ (Bakary Diallo) So, wie man immer noch Patronenhülsen und anderen Kriegsschrott auf den ehemaligen Schlachtfeldern finden kann, so hallt auch der schnarrende Befehlston in der französischen Erinnerungskultur noch nach. Wann immer an den Ersten Weltkrieg erinnert wird, kommt das militaristische Vokabular von einst noch erstaunlich unverkrampft über die Lippen. Tapferkeit. Ehre. Vaterland: Auch und besonders in Fréjus werden die soldatischen Tugenden noch hochgehalten. Der Ort an der französischen Mittelmeerküste ist wie kein zweiter mit der Geschichte der Truppen aus den französischen Kolonialgebieten verbunden. Seit 1915, wenige Monate nach Beginn des Krieges, wurde er zum Sammel- und Lagerplatz neu 11 rekrutierter oder ausgewechselter Kampfeinheiten. Hier wurden die erschöpften Soldaten im milden Klima der Provence überwintert oder in neu angelegten Lazaretten aufgepäppelt. Bis in die 1960er Jahre behält Fréjus seine militärische Bedeutung für die Soldaten aus den Kolonialgebieten. Zwar verschwindet im Zuge der aufkommenden afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und der Algerienkrise die Bezeichnung „Kolonialtruppen“ – doch auch nach ihrer Umbenennung in „Marinetruppen“ bleibt Fréjus „ihre“ Stadt: Noch immer feiern die Marinetruppen einmal im Jahr sich und ihre kriegerische Vergangenheit mit einer großen Militärparade. Fréjus Anfang September – drückend liegt die Hitze über dem Exerzierplatz, als sich die Truppenteile aus Frankreich und Übersee aufstellen. Mehrere hundert Zuschauer verfolgen an diesem Vormittag die aufwendig choreographierte Militärzeremonie. Die traditionelle Feier der Marine-Truppen ist in diesem Jahr den Kolonialsoldaten des Ersten Weltkriegs gewidmet. Der Chef der französischen Landstreitkräfte, General Jean-Pierre Bosser, beschwört in einem Tagesbefehl ihre Tapferkeit. „Erinnern wir uns: Im September 1915 erfolgte die erste große Offensive in der Champagne, an der sich das 1. und 2. Kolonialkorps beteiligten. Vergessen wir nie den Heldenmut dieser Einheiten, die in wenigen Tagen 5000 Mann verloren haben.“ Aladj Diara hat zusammen mit anderen Veteranen auf der Tribüne Platz genommen. Für diesen feierlichen Anlass hat der 78Jährige seinen Anzug aus dem Schrank geholt. Auf seine Krawatte ist ein goldener Anker gedruckt – das Symbol der Marine-Truppen. Stets im Blick des schmächtigen schwarzen Mannes: die Stühle vor der großen Tribüne, auf denen die Ehrengäste Platz genommen haben. 12 Zu den Ehrengästen zählt neben hochrangigen Generälen auch der Bürgermeister von Fréjus. David Rachline ist in Frankreich landesweit bekannt, seit er im vergangenen Jahr für den rechtsextremen Front National das Rathaus erobert hat. Zu seinen schlagzeilenträchtigen ersten Amtshandlungen zählte der Versuch, den Bau der ersten Moschee in Fréjus zu stoppen. Die Erinnerung an den Heldenmut der muslimischen Senegalschützen im Ersten Weltkrieg nennt Rachline in einem Interview noch auf dem Exerzierplatz trotzdem selbstverständlich. Anders als zahlreiche Gäste macht Aladj Diara nach der Feier kein Foto mit dem Bürgermeister. Der Veteran geht lieber Richtung Kaserneneingang. Hier, auf einem großen Platz mit vielen olivgrünen Mannschaftszelten, sollen die Veteranen mit den aktiven Soldaten ins Gespräch kommen. Die Armee hat für alle ein Mittagessen vorbereitet. Auch Diara hat die große Plastikschale mit kaltem Fisch, Reis, Hühnchen und Nachtisch vor sich stehen – neben ihm stürzen sich junge Soldaten auf das Essen und den Wein. Im Gegensatz zu ihnen ist der Senegalese nicht freiwillig zur Armee gekommen: „Ich kam 1956-57 mit der französischen Armee in Berührung, weil ich damals im von Frankreich besetzten Senegal gelebt habe. Dort musste ich dann meinen Militärdienst ableisten. 18 Monate habe ich gedient. Wer das nicht gemacht hat, der kam automatisch ins Gefängnis.“ Nach seinem Zwangsdienst im Ersten Regiment der Senegalschützen entscheidet sich der junge Soldat für eine Militärlaufbahn. Sie soll ihm und seiner Familie ein sicheres Auskommen garantieren. In Frankreich wird Diara zum Unteroffizier der Nachrichtentruppe ausgebildet – und schnell wieder nach Afrika geschickt: „Das war in der Zeit, als Kamerun 1960 unabhängig geworden ist, aber die Franzosen weiter Truppen dort stationiert haben. Wir haben die von der Sowjetunion unterstützen Rebellen verfolgt, die die Regierung stürzen wollten.“ Nach Kamerun folgen weitere Auslandseinsätze in der französischen Einflusssphäre: im Niger, in der Elfenbeinküste und auf einem Südseeatoll, das Paris für seine Atombombentests beanspruchte. Die Aufenthalte in Frankreich nutzt der 13 Senegalese mit dem französischen Pass, um mit seiner Frau die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zu besuchen: „Ich bin mit meiner Frau nach Verdun gefahren, weil dort mein Großvater im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft hat. In der Menschenmenge am Beinhaus in Verdun fielen wir einem mit vielen Orden dekorierten Veteranen auf – wir waren die einzigen Schwarzen. Er fragte mich: Woher kommen Sie? Als ich geantwortet habe: Aus dem Senegal, da hat er mich an die Hand genommen und gesagt: Ich zeige Ihnen alles, was Sie wollen. Der alte Mann hatte im Ersten Weltkrieg mit eigenen Augen gesehen, wie die Senegalesen ohne Todesfurcht mit ihrer Machete auf die Deutschen zugestürmt sind.“ Diaras Großvater, ein Analphabet, gehörte damals zu diesen Kämpfern. Als Fünfjähriger, so erinnert sich der alte Mann mit den grauen kurzen Locken heute, hat er in seinem Elternhaus den Stahlhelm aus Verdun entdeckt. Doch mit Aladj Diara endet die Militärtradition in der Familie – von seinen acht Kindern geht keiner zur Armee. Sehr zum Bedauern des Vaters: „Wenn man in einem Milieu Jahrzehnte verbracht hat, kann man sich nur freuen, in der Mitte dieser Menschen zu sein. Für mich ist das etwas Phantastisches. Für mich sind solche Feiern hier Gelegenheiten, die man sich nicht entgehen lassen darf.“ Plötzlich schießen dem alten Mann Tränen in die Augen. Sie werden ganz rot. Diara blickt melancholisch zu den jungen Soldaten: „Einfach die Tatsache, das zu sehen, erinnert mich….das erinnert mich an meine Jugend.“ Diese jungen Soldaten zu sehen, erinnere ihn an seine Jugend. Bis heute kommt ihm kein kritisches Wort zur Armee oder über die Vergangenheit über die Lippen. Allenfalls der Umgang mit den einfachen Soldaten war ihm damals zu hart gewesen, aber das sei mittlerweile anders. Fortschritte erkennt der gläubige Muslim auch auf anderem Gebiet: „Ich war in einer Zeit beim Militär, als es dort noch keine Kampfrationen gab. Jetzt gibt es so etwas. Ich habe deren Einführung noch miterlebt – und die gibt es jetzt auch halal. Das zeigt, dass sich die Verantwortlichen um solche Dinge Gedanken machen.“ 14 Nach 35 Jahren in der französischen Armee beendet Diara 1992 seinen Dienst in den Streitkräften. Auch seine Kinder – so betont er noch zum Abschied – engagieren sich für die Gesellschaft. Einer seiner Söhne ist heute bei der Feuerwehr. „Ein Deutscher, der auf die falsche Seite der Front geraten war, wurde von einer senegalesischen Wache erwischt; da hatte er noch seinen Kaffee in der Hand. Als er von Senegalschützen umgeben war, zitterte er am gesamten Körper. Du Armer, hattest Du nicht diesen Moment schon vorhergesehen, wie Du auch schon Gold und Ruhm erwartet hattest? Die Schwarzen, die Du für wild hieltst, haben Dich im Krieg erwischt, aber statt Deinem Leben ein Ende zu setzen, haben sie Dich gefangen genommen.“(Bakary Diallo) Frankreich betont bis heute, wie korrekt es seine Soldaten aus den kolonialen Besitzungen behandelt hat. Was übrigens einen ziemlich nachteiligen Effekt hatte – denn so, wie die schwarzafrikanischen Truppen in ihren aktiven Kriegszeiten auf Gleichbehandlung und respektvollen Umgang pochten, so taten sie dies später auch, als es um die Unabhängigkeit ihrer Heimatländer ging. Viele aufstrebende Staatschefs, Regenten und spätere Potentaten in den jungen afrikanischen Republiken entstammten der französischen Militärtradition und hatten sich ihre Meriten als Soldaten im Dienste Frankreichs erworben. Heute gehören allein noch die überseeischen Gebiete unmittelbar zum französischen Staat – von dort kommen nach wie vor viele Farbige, die in der französischen Armee Dienst tun. Und bis heute verbinden sie damit berufliche Sicherheit, gesellschaftliche Anerkennung und eine gewisse wirtschaftliche Perspektive. Die Armee gilt als „Schule der Nation“ und als „Motor der Integration“ – und dafür ist das 21. Regiment der 15 Marine-Infanterie ein gutes Beispiel. Die Einheit ist gut trainiert und hat lange Auslandserfahrung - vor zwei Jahren etwa eröffnete sie den Krieg gegen die Islamisten in Mali. Heiata grinst über das ganze Gesicht. Gemeinsam mit ihren Kameraden hat die 36-Jährige gerade ihren Vorgesetzten ein Ständchen gesungen. Eine Tradition bei großen Feiern der Marine-Truppe. Wir Polynesier, so sagt Heiata, wir haben Musik im Blut: „Wir Polynesier haben Musik im Blut.“ Die Soldatin im Range eines Hauptgefreiten kommt aus Tahiti – ist seit 13 Jahren in Europa und genauso lange bei den MarineTruppen. Weil es auf Tahiti keine Jobs gibt, sagt Heiata, gehen dort viele zu den Streitkräften: „Weil es bei uns keine Arbeit gibt, geht man zur Armee.“ Die Inseln von Französisch-Polynesien gehören schon lange zu Frankreich. Kulturell liegen aber auch heute noch Welten zwischen den Inseln im Südpazifik und dem Mutterland. Das hat Heiata bei den Marine-Truppen in Fréjus schnell erfahren müssen. Obwohl die Einheit sich mit ihrer jahrhundertelangen Kolonialerfahrung und der damit verbundenen kulturellen Kompetenz brüstet: „Wir haben zum Beispiel eine eigene Art zu sprechen. Das hat auch mit Körpersprache zu tun. Wenn wir „Ja“ sagen, dann mit den Augenbrauen. Mein Ausbilder fragte mich dann: Meinst Du ja oder nein? Er hat mich gar nicht verstanden. Das war am Anfang sehr hart.“ Doch mit der Zeit hat sich Heiata angepasst und – so sagt sie selbst – bestens integriert. Wenn die dunkelhaarige Soldatin mit ihren Kameraden Musik macht, dann fällt sie allenfalls noch wegen ihrer geringen Körpergröße von gut 1,50m auf. In der Armee – so sagt Heiata – hat sie viel für das Leben gelernt und Ängste abgebaut. Schon die Ankunft in Fréjus wurde ihr leicht gemacht: „Wenn ein junger Soldat neu zur Einheit kommt, gibt es immer Ehemalige, die ihn mit den anderen begrüßen. Denn wenn Du hierhin kommst, kennst Du nichts. Und so bist Du nicht verloren.“ 16 René Debuire ist der amtierende Chef des 21. Regiments der Marine-Infanterie in Fréjus, zu dem auch Heiatas Einheit gehört. Der Oberstleutnant ist dankbar über das Engagement der Ehemaligen, denn Soldaten mit Heimweh könne er gar nicht gebrauchen. Mangelnde Integration, sagt der muskelbepackte Offizier, gefährde die Kampfkraft. Und weil das schon in der Vergangenheit so war, beherbergt Fréjus seit gut 90 Jahren eine rotbraune Moschee im schwarzafrikanischen Stil und eine asiatische Pagode: „Die Pagode und die Moschee wurden von Mitgliedern der Einheiten gebaut, die in Fréjus stationiert waren - um unseren Waffenbrüdern aus den Kolonialtruppen bekannte Anhaltspunkte zu geben. Referenzen ihrer Vergangenheit. Um ihre Kultur zu pflegen und wiederzuentdecken, was ihr Leben ausgemacht hat, bevor sie zu den Kolonialtruppen gekommen sind. Aus diesem Grund hat das Kommando damals die Konstruktion solcher für die französische Provinz untypischer Bauten erlaubt und sogar gefördert.“ Es blieben allerdings kulturelle Anhaltspunkte. Als Gebetsort hat die Moschee, die heute nicht zu den gepflegtesten Touristenattraktionen der Stadt zählt, nie gedient. Dass sich die Armee in aktuelle politische Integrationsdebatten einmischt – zum Beispiel in den Streit um den Bau einer richtigen Moschee in Fréjus – sei keine Option, sagt der oberste Soldat der Marine-Truppen, General Charles de Kersabiec: „Was vor allem integriert, das ist die Mission. Egal, wer man ist, welche Hautfarbe man hat, welcher Religion man angehört – wir versammeln uns hinter der Fahne und einer Anzahl von Werten in einer Mission, die uns potentiell töten kann. Das ist der beste gemeinsame Nenner.“ Auch das historische Gedenken folgt dieser Logik. „Ich glaube, die Marine-Truppen können gut ermessen, welche Opfer den Senegalschützen im Ersten Weltkrieg abverlangt wurden. Soldaten, die von sehr weit her kamen, um dem Mutterland zu helfen. Es ist an uns, die wissen, wie sie ausgebildet und rekrutiert wurden, in schwierigen Umständen, die Ehre weiterzutragen, die ihnen die französische Nation schuldet. Sonst würden sie in Vergessenheit geraten. Und das wäre ein zweiter Tod.“ 17 Weil das Gedenken einem Zweck dient, kommen dunkle Aspekte der Militärgeschichte nicht zur Sprache. Das Massaker von Thiaroye ist so ein Aspekt. Thiaroye ist in den früheren afrikanischen Kolonien bis heute ein Stichwort, das hochemotionale Debatten auslöst. Das Camp Thiaroye am Stadtrand von Dakar war Schauplatz eines Massakers während des Zweiten Weltkriegs. Als aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrende Senegalschützen im November 1944 die Auszahlung ihres Solds verlangen, verweigern ihnen korrupte und rassistische Kolonialbeamte die volle Summe. In ihrem Auftrag erschießen Senegalschützen am 1. Dezember 1944 mindestens 35 Kameraden. Staatspräsident François Hollande hat bei seinem Besuch im Senegal vor drei Jahren an dieses dunkle Kapitel der französischen Geschichte erinnert. Beim militärischen Gedenken wird das Thema allerdings noch nicht einmal erwähnt: „Wir wollen niemanden stigmatisieren, der Fehler gemacht hat. Im Gegenteil: Wir wollen bei unseren Erinnerungen soldatische Qualitäten herausstellen, um den Nachwuchs zu motivieren, diesen Vorbildern nachzueifern. Wir fangen nicht an, den Soldaten beizubringen, dass sie auch scheitern oder Verrat üben können.“ Für Heiata stellen sich solche Fragen nicht mehr. Sie wird im kommenden Jahr die Armee verlassen – um sich ganz den beiden Kindern zu widmen. Ihr Mann allerdings, der im gleichen Regiment dient, will auch in Zukunft unter der französischen Fahne dienen und kämpfen. „Seit einigen Tagen sind wir östlich von Reims, in Sillery, im Wald. Das Sperrfeuer ist intensiv... Die deutsche Hauptkampflinie entlädt ihre Munition auf uns. Die Hälfte von uns ist verletzt und ich sehe manche sterben. Einer meiner Soldaten zu meiner Rechten ist gefallen, das Blut fließt von seinem Kopf, der auf der Erde klebt. Wir stehen plötzlich vor dem deutschen Schützengraben. Wir sind nur noch zu dritt. Ich zähle nicht mehr; ich habe eine zweite 18 Verletzung am Mund erlitten. Sylla hilft mir, zu der französischen Linie zurückzukommen.“ (Bakary Diallo) Bleibt die Frage nach dem Ort des Gedenkens, an dem auch die Force Noir, die Truppen aus den Kolonialgebieten, ihren festen Platz haben. Es gibt zwar das zentrale Denkmal für die Schwarzafrikaner in Reims – aber die toten Soldaten von dort blieben bis heute mehr oder weniger anonym. Mittlerweile gibt es aber Initiativen, die diesen Opfern einen Namen geben und ihren Beitrag zur französischen Geschichte ausdrücklich würdigen wollen. Die Erinnerung an die etwa 40.000 Toten aus den Kolonialgebieten soll wachgehalten werden. Freitagmorgen - 8 Uhr. Unweit der Strandpromenade von Nizza. Höhenkletterer befestigen eine riesige Trikolore an einer Steilwand vor dem Weltkriegsdenkmal. In gut zwei Stunden wird die Stadt an dieser Stelle den Sieg über Nazi-Deutschland vor 70 Jahren feiern. Auch eine kleine Gruppe von gut zwei Dutzend Wanderern hat sich vor dem Denkmal eingefunden. Auch sie wollen der toten Weltkriegs-Soldaten gedenken. Aber auf eine ganz andere Weise: Wie an jedem 8. Mai treffen sich auch heute wieder die Mitglieder des „Vereins zum Gedenken an die Senegalschützen“ (kurz AMTS) zu einem Marsch von Nizza nach Menton. Vor dem Start posieren die Teilnehmer mit ihren weißen T-Shirts und den roten Fahnen noch schnell für ein Foto. Auf den T-Shirts ist der stilisierte Kopf eines Senegalschützen gedruckt, mit seiner traditionellen roten Kopfbedeckung, der Chechia. Auf den Fahnen prangt ein großer Anker - das Symbol der Senegalschützen: Zunächst zieht die Gruppe vorbei an der stark befahrenen Uferstraße, bevor sie auf kleinere Strandwege abbiegt. Stets vorneweg: Gaspard Mbaye, der Präsident des AMTS. Der gebürtige Senegalese treibt seine Leute immer wieder an. Die Wanderung und das Gedenken sind dem 50-Jährigen mit dem jugendlichen Gesicht ein Herzensanliegen: „Mein Vater war Senegalschütze. Nicht in den Weltkriegen, aber im Indochinakrieg von 1946-54. Durch die Beschäftigung mit 19 seiner Vergangenheit habe ich viel über die Geschichte der Tirailleurs sénégalais erfahren.“ 2008 hat Mbaye den AMTS gegründet. Der gut 20km lange Marsch ist den Tirailleurs gewidmet, die in beiden Weltkriegen für Frankreich ihr Leben gelassen haben: „Warum machen wir das als Marsch? Weil es ein dynamisches Gedenken ist, weil es Menschen versammelt und lebendig ist. Wir marschieren in Richtung des Denkmals und die Erinnerung lebt.“ Tatsächlich scheint dieses Konzept aufzugehen. Jung und alt, schwarz und weiß, Handwerker und Lehrer - die Gruppe ist bunt gemischt – wirkt beinahe wie ein Querschnitt der französischen Gesellschaft: „Wir sind offen für alle. Wir haben verschiedene Kulturen in unserem Verein. Wir denken nicht in ethnischen oder nationalen Kategorien. Es geht einzig um das Ideal, das Gedenken an die Senegalschützen wach zu halten. Das macht auch unsere Kraft aus.“ Mbaye ist als Student aus dem Senegal nach Frankreich gekommen – und dann hier geblieben. Er hat eine Französin geheiratet und mit ihr drei Kinder bekommen – die älteste Tochter macht bald Abitur. Die zweite Hälfte der Wanderung ist landschaftlich deutlich reizvoller. Es geht entlang verschlungener Pfade – immer in Sichtweite des Meeres, das an diesem frühlingshaften Tag besonders azurblau zu strahlen scheint. Es hat sich gelohnt, die Gruppe ein bisschen anzutreiben. Fast pünktlich erreichen die Aktivisten die Kleinstadt Menton unmittelbar vor der italienischen Grenze. Hier auf dem Friedhof von Trabuquet steht seit drei Jahren ein Denkmal, das untrennbar mit dem AMTS verbunden ist: das Denkmal für die toten Senegalschützen aus dem Ersten Weltkrieg: Ein Repräsentant der Stadt ist zu der kleinen Feier erschienen und eine Reporterin der Lokalzeitung. Zu Beginn der kurzen Gedenkveranstaltung rezitiert die Tochter von Gaspard Mbaye ein Gedicht des früheren Tirailleurs und späteren senegalesischen Staatspräsidenten Senghor. 20 Dann erklärt der Geschichts- und Geographielehrer die Botschaft des Denkmals: „Wir sehen hier einen Senegalschützen in traditioneller Kleidung von 1915. Er geht aufrecht. Er marschiert. Am Ende des Krieges. Der Soldat marschiert in die Zukunft. Nach Afrika. Er schaut in Richtung Mittelmeer – in Richtung dieses vor uns liegenden Meeres, das heute viele zu überqueren versuchen, aber leider häufig dabei scheitern.“ Zum Abschluss stimmt eine Sängerin die Marseillaise an. Als die Gruppe bereits auf dem Platz vor dem Friedhof diesen Tag des Gedenkens bei senegalesischen Spezialitäten ausklingen lässt, blickt der Präsident auf die Geschichte des jungen Vereins zurück. Stolz läuft er über das neu gestaltete Gräberfeld: „Den Großteil der Soldaten, die hier beerdigt wurden, konnte man zunächst nicht identifizieren.“ „Hier, schauen Sie mal, hier haben Sie EINEN Namen, aber in diesem Grab sind 6-7 Soldaten bestattet. Das heißt: Von den 1137 Soldaten war mehr als die Hälfte unbekannt. Dank unserer Arbeit in den Archiven konnten wir in den vergangenen Jahren nun alle identifizieren.“ Heute stehen die Namen aller Verstorbenen auf der gut 25 Meter langen Friedhofsmauer. Weitere Informationen über die Toten gibt es nicht. Ihre religiösen Bekenntnisse lassen sich lediglich auf den kurz nach dem Krieg errichteten Grabstelen erkennen: „Für die toten Madagassen wurden Kreuze aufgestellt, weil sie Christen waren. Hier auf anderen Gräbern sehen Sie aber auch das Symbol der Muslime, die Mondsichel mit dem Stern.“ Religion spielt im AMTS keine Rolle. Es geht einzig und allein um die Werte der Republik, sagt Gaspard Mbaye, bevor er noch einmal auf das Denkmal deutet, das so eng mit seinem Namen verbunden ist: „Der Soldat hier ist ohne Waffen. Auch daran sieht man wieder unsere Philosophie: Wir sind für den Frieden. Der Krieg hat der Menschheit viel Unheil gebracht. Und dieser Soldat ist befreit vom Krieg und deshalb ohne Waffen. Das ist für mich ein Symbol des Friedens und der Toleranz.“ 21 Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Die vergessene „Force Noire“ – Frankreichs Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Eine Sendung mit Reportagen von Andreas Noll. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch Force-Bonté von Bakary Diallo aus dem Jahr 1926. Sprecher war Hendrik Stickan. Die Musik hat Simonetta Dibbern herausgesucht, die auch Regie führte. Studiotechnik: Angelika Brochhaus und Christoph Rieseberg. Und am Mikrophon war Thilo Kößler. 22
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