N. Bischof: Einführung in das Studium der Psychologie

Bischof WS06/07, 3/1
N. Bischof:
Einführung in das Studium der Psychologie
3. Leib und Seele II
Unvereinbarkeit der drei Rahmensätze?
Die Theoriebildung verlief zunächst so, als seien die drei im letzten Arbeitsblatt genannten Rahmensätze zum Leib-Seele-Problem unvereinbar, als gelte also der Satz:
Eine isomorphe Abbildung der phänomengetreu beschriebenen Erlebniswelt auf neuronal
kanalisierte Prozesse ist unmöglich.
Daher lassen sich drei Gruppen von Theorien unterscheiden, die gegen jeweils einen der drei Rahmensätze verstoßen bzw. bewusst auf ihn verzichten.
Verstoß gegen das phänomenologische Postulat
Elementenpsychologie: Englischer Empirismus (LOCKE, HUME), anfänglich Wilh. WUNDT
Aus Physik und Chemie wird das Denkmodell übernommen (und durch Verweis auf die Mosaikstruktur der Netzhaut scheinbar begründet), dass auch das Seelenleben aus Atomen
("Empfindungen" und "Vorstellungen") zusammengesetzt sein müsste. Für die Interaktion
dieser Elemente werden nach Analogie des NEWTONschen Gravitationsgesetzes mechanische
Gesetze ("Assoziation") postuliert.
Eine wichtige Implikation dieser Lehre war, dass es keine "Bewegungsempfindung" (sondern
nur eine rasche Folge ortsfester Empfindungen) geben könne (Th. ZIEHEN). Wenn Beobachter
meinten, Bewegung direkt wahrnehmen zu können, dann hätten sie ihre Erlebnisse ungenau
beobachtet.
Verwerfung des Isomorphiepostulats
Leipziger Gestaltpsychologie ("Ganzheitspsychologie": F. KRUEGER, Ph. LERSCH)
Vorstellung, dass die Leistung des Nervensystems sich darin erschöpft, "Empfindungen" zu
liefern, aus der die Seele dann erst in schöpferischer Eigentätigkeit "Bedeutsamkeitsganze"
formen müsse.
Verwerfung der Neuronentheorie
Berliner Gestaltpsychologie ("Gestalttheorie": M. WERTHEIMER, W. KÖHLER, W. METZGER)
Die Struktur des Neuronennetzes ist psychophysisch uninteressant. Das ZNS ist ein quasi
homogener Elektrolyt, in dem kontinuierliche elektrische Felder entstehen; deren Form und
Verhalten bildet sich isomorph auf die phänomenale Welt ab.
"Nicht Schalter und Leitungsdrähte, sondern die Luftbläschen auf der Kaffeetasse und
die Fettaugen auf der Suppe gehören zu der Art von Gebilden, mit deren Verhalten man
sich vertraut machen muss, um Auskunft über die Geschehens-Möglichkeiten im Gehirn zu erhalten." (METZGER, Psychologie, S. 465).
Experimenteller Ausgangspunkt: Nachweis stroboskopischer Bewegung durch WERTHEIMER.
Bischof WS06/07, 3/2
Die scheinbare Unvereinbarkeit der drei Rahmensätze beruht darauf, dass man sie durch unvermerkte
Zusatzannahmen in einem spezielleren Sinn als eigentlich erforderlich interpretiert hat.
1. Zusatzannahme (zum neuronalen Postulat)
Das Nervennetz ist ein Kabel; es kann Signale nur übertragen, aber nicht verarbeiten.
Das ZNS besteht nach dieser Auffassung aus lauter parallelen Adern, sodass auf der Hirnrinde nichts
anderes erscheinen kann als das Reizmosaik auf der Netzhaut.
Gegenargument:
Bereits in der Netzhaut bestehen weit reichende Querverbindungen (Ganglienzellen, Horizontalzellen, Amakrinzellen). Das Prinzip setzt sich überall im ZNS fort (Konvergenz- und Divergenz-Schaltung). Dadurch wird nicht etwa eine bereits erreichte Präzision wieder verwischt,
denn diese Querverbindungen sind keineswegs unspezifisch. Hierauf beruht das Prinzip der
rezeptiven Felder.
Jerome Y. LETTVIN: Beim Frosch existieren bereits in der Netzhaut Detektoren, die selektiv
ansprechen, wenn ein konvexer Gegenstand, der dunkler ist als die Umgebung und etwa die
Größe einer Fliege in der richtigen Schnapp-Entfernung hat, in das rezeptive Feld einwandert
und darin verharrt. Der Befund wurde später durch David HUBEL und Thorsten W IESEL an
Katzen und Affen systematisch untersucht, bestätigt und vertieft.
2. Zusatzannahme (zum Isomorphie-Postulat)
Phänomenale Raumbeziehungen bilden physiologische Raumbeziehungen ab.
Man unterstellt, dass räumlichen Beziehungen in der Wahrnehmungswelt denselben räumlichen Beziehungen im Gehirn entsprechen (allenfalls metrisch verzerrt)
Wenn sich also etwas in der Wahrnehmungswelt räumlich berührt, dann muss es auch im Gehirn benachbart sein, wenn ein Wahrnehmungsinhalt einen anderen umschließt, dann muss auch seine
Grundlage im Gehirn die des anderen räumlich umschließen, wenn sich etwas in der phänomenalen
Welt bewegt, dann muss auch im Gehirn etwas seinen Ort gewechselt haben.
Bischof WS06/07, 3/3
Gegenargument:
Isomorphie fordert nur, dass jeder erlebten räumlichen Konstellation genau ein charakteristischer Gehirnzustand zugeordnet ist, aber nicht welcher!
Bereits Hermann LOTZE (1817-1881), hatten da moderner gedacht. Ausgehend von der Prämisse einer räumlich streng ausdehnungslosen Seele, die sich den Raum höchstens "vorstellen" könne, hatte er gefordert, daß die räumliche Information, die unser Körper mit den Sinnen
aufnimmt, zunächst auf einen nicht-räumlichen Nachrichtenträger (nach Analogie eines musikalischen Klanges) verkodet wird, der dann in einem einzigen mathematischen Punkt in die
Seele gelangt, die sich daraus dann wieder ihre Raumvorstellung konstruiert. Solche hypothetischen nicht-räumlichen Codes nannte LOTZE "Lokalzeichen".
Dieser (trotz der Unhaltbarkeit der cartesianischen Prämissen) richtige Grundgedanke kehrt in der der
modernen Position wieder, der zufolge neuronale Prozesse als Signale zu betrachten sind, deren Bedeutungsgehalt (Semantik) dann als phänomenale Welt bewusst wird. Zwischen einem Signal und
seiner Bedeutung braucht aber keinerlei räumliche Ähnlichkeit gefordert werden.
3. Zusatzannahme (ebenfalls zum Isomorphie-Postulat)
Isomorphie ist ein mengentheoretischer Begriff, der auf beiden Seiten der Abbildungsrelation Elemente voraussetzt. Da aber die Menge der Elemente auf der physiologischen Seite jedenfalls endlich
sein dürfte, wäre dasselbe auch auf der Seite des Bewusstseins zu fordern, womit die Frage aufgeworfen ist, ob das nicht wieder zum Atomismus zurückführt. Dies wäre jedoch nur dann so, wenn die
folgende Zusatzannahme gälte:
Elemente sind unzerlegbar und müssen deshalb auch unausgedehnt (punktuell) sein.
Gegenargument:
Gleichnis:
Bei Zuordnung der Felder eines Schachbretts zu Buchstaben-Zahlen-Kombinationen ("f5")
fungieren nicht die einzelnen Felder als Elemente, sondern ganze Spalten und Zeilen. Allerdings bedeutet "5" nicht "die fünfte Zeile", sondern "irgendwo in der 5. Zeile". Die Abbildungsrelation spezifiziert also nicht einen Ort scharf, sondern ein Gebiet unscharf; und die
Präzision ergibt sich aus der "Übereinanderkopierung" mehrerer Unschärfen.
Die Leipziger Ganzheitspsychologie hat Wahrnehmungsphänomene aufgewiesen, die tatsächlich einen
solcherart un- (oder unter-)spezifizierten Charakter aufweisen und daher als Modelle für elementare
Bewusstseinsbausteine in Betracht kommen.
METZGER ("Gesetze des Sehens", 1953, S.93) drückt das so aus: "Man sieht da Beschaffenheiten wie Streifigkeit, Zackigkeit, Knotigkeit, Löcherigkeit, die zwar oft sehr bestimmte Formansätze enthalten, aber eben nur Ansätze, keine klar ausgesonderten, zählbaren, einzeln wieder
auffindbaren Bestandstücke wie Streifen, Zacken, Knoten, Löcher usw."
Wenn wir uns Elementarerlebnisse vorstellen wollen, dürfen wir nicht an Pünktchen denken, die
aneinander kleben, sondern an unscharfe Impressionen, die sich erst in der Überlagerung wechselseitig präzisieren (Prinzip der Holographie, Karl. H. PRIBRAM).
Bischof WS06/07, 3/4
Ungelöste Fragen
1.Die physikalische Repräsentation des "Jetzt"
Während die Abbildbarkeit des phänomenalen Raumes auf physiologische Raumbeziehungen heute
aufgegeben ist, wird noch immer so argumentiert, als sei es eine und dieselbe Zeit, in der die physiologischen Prozesse und die bewussten Erlebnisse parallel laufen.
Für den Physiker ist die Zeit eine vierte Raumdimension (Hermann WEYL: Die objektive Welt ist
einfach da, Sie ereignet sich nicht.) In diesem Kontinuum ist kein Moment, der "Jetzt" heißt, vor anderen Momenten ausgezeichnet. Wie also soll man sich eine isomorphe Abbildung der phänomenalen
auf die physiologische Zeit vorstellen?
2. Das "binding problem"
Wir erleben das Bewusstsein als eine simultane Einheit. Das PPN ist aber jedenfalls ein ausgedehnter neuronaler Bezirk. Um eine Einheit zu bilden, müssen die räumlich distanten Neuronen irgendwie
interagieren. Das geht aber nur in endlichen Zeitintervallen. Hieraus ergibt sich das folgende Dilemma:
zwei räumlich distante Prozesse, die eine Einheit bilden, sind entweder kausal verbunden, dann sind sie
nicht gleichzeitig, oder sie sind gleichzeitig, aber wer konstatiert dann, daß sie zusammengehören?
Wolf SINGER (MPI Frankfurt) hat beim Auftreten zeitlich gut abgrenzbarer Erlebnisse eine auffällige
Synchronizität weit auseinander liegender Hirnaktivitäten nachgewiesen. Er vertritt die Ansicht, dass
das PPN nicht an bestimmte anatomische Regionen gebunden ist, sondern sich immer dort bildet, wo
solche Synchronien entstehen. Ungelöst bleibt dabei die Frage, wer diese Gleichzeitigkeit feststellt;
bloße Synchronie als solche ist physikalisch irrelevant (oder doch nicht?)
3. Semantik und Erleben
Wenn wir annehmen, dass die phänomenale Welt der erlebte Bedeutungsgehalt der Vorgänge im
PPN ist, so mag das eine gute Heuristik sein, aber es erklärt nichts. Nicht alle semantisch interpretierbaren Prozesse im Organismus, noch nicht einmal im ZNS, sind bewusstseinsfähig. Wodurch
zeichnen sich dann aber die psychophysischen Prozesse aus? Nur durch ihre Komplexität? Oder
durch eine eigene, bislang noch gar nicht bekannte Physik?
Frage fürs Arbeitsblatt
„Neuroimaging-Studien können gesellschaftliche Diskriminierungen, etwa von Frauen oder Homosexuellen, verstärken, indem sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auch kulturelle Gründe hat,
auf ausschließlich biologische Ursachen zurückführen.“
Nehmen Sie zu dieser Ansicht Stellung!
(Neuroimaging = bildgebende Verfahren wie z.B. Magnetresonanztomographie oder Positronenemissionstomographie)