67 Bleibt alles anders Digitaler Kapitalismus : Geht uns in der Ära der Hochtechnologie bald die Arbeit aus? Wohl kaum. Muss sich deshalb nichts verändern? Oh doch. Von Max Haerder Serie ILLUSTRATION: MIGUEL MONTANER E s gehört zu den hübschesten Geschichten unserer neuen Arbeitswelt, dass eines der umstrittensten Phänomene dieser Gegenwart seinen Namen einer sehr alten Maschine verdankt. Einem Apparat, der die Überlegenheit von Technik behauptete und doch das Gegenteil war: eine Demonstration menschlichen Könnens. 1770 präsentierte der Hofsekretär Wolfgang von Kempelen der österreichischen Kaiserin Maria Theresia einen lebensgroßen Automaten, der in prächtigem osmanischem Ornat gekleidet war. Dieser künstliche Türke spiele besser Schach als Wesen aus Fleisch und Blut, versprach von Kempelen, mehr noch: Die Puppe könne jeden Menschen am Brett bezwingen. Im Laufe des viel beachteten Türkenlebens, das erst 1854 bei einem Brand in Philadelphia endete, duellierten sich mit ihm Benjamin Franklin und Napoleon. Niederlagen des Türken sind so gut wie keine überliefert. Der verborgene Mensch in seinem Inneren war zu gut. In sieben Beiträgen vermisst die WirtschaftsWoche alle 14 Tage den digitalen Kapitalismus. In Analysen und Essays schildern wir, wie die digitale Revolution unser Wirtschaftssystem verändert: Digitales Ich Produktivität Wettbewerb Arbeit Wissen Eigentum Vertrauen Man darf einem selbsterklärten Alles-Zermalmer wie Jeff Bezos, dem Chef von Amazon, also immerhin historisch gebildeten Humor unterstellen, weil er seiner Crowdworker-Plattform den Namen Mechanical Turk gegeben hat, in Anlehnung an den englischen Namen des Schach-Scharlatans. Wer dort online seine Arbeit anbietet, verrichtet zumeist simple digitale Dienste, für die es zu umständlich und zu teuer wäre, ein eigenes Programm zu schreiben. Unser Kopf kann vieles einfach immer noch schneller und besser. Klingt beruhigend? Mitnichten. Mechanical Turk gilt seinen Kritikern als Ausgeburt der modernen Hölle. Die globale Wettbewerbsschlacht Abertausender arbeitswilliger sogenannter Turker führe direkt in die Selbstausbeutung und Prekarisierung. So geht deren schrille Warnung. Schenkt man ihnen Glauben, nagen die Clickworker nur noch an den mageren Resten dessen, was die digitale Zerstörung von abgesicherten Normalarbeitsplätzen übrig gelassen hat. Nicht erst morgen, sondern bereits heute. 22.1.2016/WirtschaftsWoche 4 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. BLICKPUNKTE Die Debatte um die Arbeitswelt und wie der digitale Kapitalismus sie transformiert kennt nicht viel mehr als diese zwei extremen Pole: Entweder unser Tun wird schleichend entwertet (siehe Amazon) oder gleich ganz von klugen Maschinen und Robotern übernommen. Und ist daran nicht etwas Wahres? Ein Schachtürke von heute bräuchte längst keinen Großmeister mehr, der ihm Intelligenz leiht. Die damit einhergehende tiefe Verunsicherung dürfte den Erfolg erklären, den all die Propheten der Arbeitsapokalypse haben, die ihre Lehren verkünden. Jeremy Rifkin war vor mittlerweile 20 Jahren der Erste, der „Das Ende der Arbeit“ postulierte. Die jüngeren Bibeln heißen „The Second Machine Age“ oder „Rise of the Robots“. Auch sie überbieten sich mit lustvoll schaudernden Szenarien darüber, wie viele – pardon: wie wenige – Jobs noch für uns Menschen übrig bleiben werden. Gerade erst in dieser Woche reihten sich Topmanager aus 350 der größten Unternehmen der Welt in dieses masochistische Klagen mit ein. Während sie sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos versicherten, selbst noch unersetzbar und großartig zu sein, malten sie per Umfrage den Untergang ihrer Untergebenen an die Wand: Zwei Millionen neuer, technologiegetriebener Jobs in den Industrienationen stünden sieben Millionen Arbeitnehmer gegenüber, deren Fertigkeiten und Persönlichkeiten überflüssig würden. Nur hat dieser Alarmismus bislang nichts belegt außer seiner eigenen Thesen-Produktivität. Woran es mangelt, ist maßvoller Realismus. Einer, der Risiken nicht kleinredet, sondern wägt, wie schnell der technologische Fortschritt herkömmliche Aufgaben überflüssig machen wird. Und nach allem, was wir über Webstuhl, Dampfmaschine und Elektrizität, aber auch über Prozessoren, Rechenleistungen und künstliche Intelligenz wissen, wird dieser Wandel keine Revolution – sondern eine Evolution. Und die wird schon herausfordernd genug: für uns und unseren Sozialstaat. Work-Life-Blending und wir Angst vor dem freien Fall Jeder siebte deutsche Arbeitnehmer besitzt einen Job, bei dem 70 Prozent der Tätigkeiten von einem Computer erledigt werden könnten – und zwar schon heute Im Jahr 1994 trat das deutsche Arbeitszeitgesetz in Kraft. Im selben Jahr wurde auf der Cebit in Hannover ein neuartiger Telefondienst vorgestellt, die SMS. 22 Jahre später liegt der short message service auf dem Schrotthaufen der Technikgeschichte. Und das Gesetz ist klinisch tot. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Das Paragrafenwerk ist natürlich noch in Kraft, irgendwie, aber kaum mehr als ein juristischer Papier-Zombie, kraftlos dank unterlassener Hilfeleistung. Daran sind wir selbst schuld. Der Hinweis auf die SMS ist jedenfalls kein zufälliger: Die Kurznachricht von klobigen Handys war der Urknall, der in der Dauererreichbarkeit von heute, in der ständigen Onlineverfügbarkeit unserer Computer und Smartphones seine (vorläufige!) Vollendung gefunden hat. Die inspirierenden Gedanken für die Präsentation, die abends um halb zwölf noch aufgeschrieben werden, zum Beispiel. Die Mails gleich früh morgens im Bett, die man gleich von dem Gerät aus versendet, dass einen eben erst geweckt hat. Der ConferenceCall von unterwegs. Die Skype-Schalte während des Kindergeburtstags. Überhaupt: der Bedeutungsverlust von Büros (sofern sie nicht als soziale Entertainment-Zentren auferstehen, wie es das Silicon Valley vormacht). Unser Arbeitsleben hält sich längst nicht mehr an das, was zu Zeiten von Helmut Kohl in Paragrafen gegossen wurde. Nie mehr als acht Stunden täglich Projekte vorantreiben? Volle elf Stunden heilige „ununterbrochene Ruhezeit“ zwischen Ende und Beginn der Arbeit? Mehr als die Hälfte der deutschen Beschäftigten arbeitet längst nachts, am Wochenende, wann es eben passt. Der Gesetzesbruch ist nur ein Tippen mit dem Zeigefinger entfernt. Er fällt uns nicht mal mehr auf. Das alles muss – soll man das eigens betonen? – nichts Schlechtes sein. Man sollte sich nur sehr bewusst machen, dass wir das Zeitalter der Arbeitszeit-Reduktion verlassen haben und in die Ära ihrer Diffusion eingetreten sind. Das ist keine Kleinigkeit. Jahrzehnte kämpften Gewerkschafter dafür, das Joch der Arbeit einzuhegen. Dieser Kampf hat („Samstags gehört Vati mir“) die Fünf-Tage-Woche gebracht, Wochenendzuschläge, Stempelkarte und Steinkühlerpause. Und doch war dieses Ringen einem Weltbild verpflichtet, das noch aussah wie in Adolph von Menzels Gemälde „Eisenwalzwerk“: ein zermarterndes Getümmel von Stahl, Muskeln, Glut, Schweiß. Das Glühen der Gegenwart aber ist kühl, es kommt von Displays und Monitoren. Die Anstrengung passiert im Kopf. Ehe wir uns versahen, war die Work-Life-Balance deshalb schon längst wieder von gestern. Heute regiert Work-Life-Blending: ein Zustand, in dem Arbeit und Freizeit miteinander verschmelzen, dauernd die Führung wechseln und beides zur Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung beiträgt, sogar beitragen soll. WirtschaftsWoche 4/22.1.2016 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. ILLUSTRATION: MIGUEL MONTANER 68 BLICKPUNKTE Eine solche Entgrenzung benötigt allerdings dringend Autokorrektur durch Selbstermächtigung und Selbstbewusstsein. Die Soziologin Melanie Frerichs nennt das „aktive individuelle Grenzziehung“. Es ist dabei, wenn es sich noch um Angestellte handelt, natürlich auch an klugen Unternehmen, diese Fähigkeit zu fördern und zu erhalten. Sie müssen ihren Mitarbeitern vertrauen lernen und ihnen zugestehen, ihr Pensum autonom gestalten zu können. Vor allem aber bedarf es des Selbstbewusstseins und der autonomen „Risikomündigkeit“ (Frerichs) jedes Einzelnen. Gesetze oder Tarifverträge von gestern werden uns jedenfalls nicht mehr schützen, weil wir von ihnen nicht mehr geschützt werden wollen. Die Notwendigkeit, den Sozialstaat neu zu erfinden Sie heißen Upwork oder Freelancer, man könnte auch Uber oder Helpling nehmen: Onlineplattformen, auf denen Menschen ihre Dienste, ihr Wissen oder ihre Kreativität anbieten, sind zum Symbol unserer individualisierten Job-Moderne geworden. Deutschland feiert derweil mit 31 Millionen sozialversicherten Arbeitsverhältnissen (alleine der Name!) eine letzte Hoch-Zeit der hergebrachten Verhältnisse. Das Neue ist doch überschaubar an Größe. Aber wie lange noch? Die Zukunft einer technologieund netzgetriebenen Wirtschaft wird den spezialisierten Arbeitern gehören, den Selbstständigen, Freelancern und Gründern, den global und on demand zusammenstellbaren Expertenteams: Ich-AGs, die auf den Onlinemarktplätzen ihre Aufträge und Verbindungen finden, weil sie unternehmerische Transaktionskosten dramatisch senken helfen. Das Problem ist nur: Unser Sozialstaat ist für diese Vielfalt nicht gemacht. Weil er in der Abhängigkeit und im Denken vom Angestellten her gefesselt ist, Hoffnung auf eine zweite Chance Das Arbeitsministerium fahndet gerade nach Ideen für das soziale Netz der Zukunft. Eine davon: Die Arbeitsagenturen sollen künftig nicht nur Jobs vermitteln, sondern auch Weiterbildung fehlt ihm die Anschlussfähigkeit an diese SoloÖkonomie. Seine wesentlichen Quellen werden schließlich aus den Sozialbeiträgen von abhängig Beschäftigten und ihren Arbeitgebern gespeist und ausschließlich an Erstere wieder ausgeschüttet. Der wachsenden Zahl der individualisierten Netz-Arbeiterschaft hat er wenig zu bieten und schon gar nichts zu versprechen. Aus diesem Mangel könnte allerdings eine Pointe erwachsen: wenn ausgerechnet der digitale Kapitalismus den hergebrachten Sozialstaat zu seiner Neuerfindung treibt. Warum sollte dem sozialen Gemeinwesen keine Renaissance gelingen: als offener, allen zugänglicher Sicherheitsproduzent einer dynamischen Gesellschaft? Als System, das Risiko und Unternehmertum mit vollen Kräften ermöglicht, weil es dessen individuelles Scheitern kollektiv absichert. Der Philosoph Sighard Neckel hat deshalb sehr zu Recht an die „Gemütsruhe des Wohlfahrtsstaates“ erinnert; an die mächtige Leistung, „das Gefühl der sozialen Absicherung zu versprechen und dies auch zu realisieren“. Zugegeben, das klingt altmodisch, gar romantisch, könnte aber wieder hochmodern werden. Ein Sozialstaat, der seiner angegriffenen Legitimation nicht nur beim Bröckeln zusehen, sondern sie revitalisieren möchte, muss deshalb seine Finanzierungsgrundlagen überdenken. Schon heute nähern sich Sozialversicherungsleistungen wie die Rente Hartz-Niveau an, weil die Systeme an der Überalterung der Gesellschaft leiden. Aus dem Sozialstaat sollte deshalb ein Steuerstaat werden. Der ließe im Bedarfsfall seine Hilfe (oberhalb des Existenzminimums!) allen zukommen, die arbeiten und ihn über Steuern alimentieren. Und nicht nur denen, die angestellt sind. „Denkraum Arbeit“, ein Zusammenschluss von Forschern und Praktikern auf Initiative des Berliner Thinktanks Progressives Zentrum, hat interessante Impulse für derartige steuerfinanzierte Sicherung vorgelegt. Solche Reformideen richten sich im Übrigen entschieden gegen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Vielmehr ginge es um ein bedingtes Grundeinkommen, das weiterhin Leistung mit Gegenleistung verknüpft. Es richtet sich im Übrigen auch gegen die Fantasten der Ende-des-WachstumsIllusion, die nur zu gerne übersehen, womit vermeintlich bedingungslose Transfers finanziert und von wem Roboterparks denn entwickelt werden müssten: mit produktiver Arbeit, von Menschen. Gestärkt würde hingegen die Überzeugung, dass die Zukunft einer durchtechnologisierten Arbeitswelt nur mit bestens gebildeten, stetig sich weiter qualifizierenden Bürgern gestaltet werden kann. Ein Steuer-Sozialstaat würde den dafür nötigen Ordnungsrahmen redefinieren: für ein Wechselspiel von abhängiger und selbstständiger Arbeit, überhaupt für ein Denken in Lebensphasen zwischen Arbeit und (Weiter-)Bildung und kreativer Erholung. Immer in der Hoffnung, dass auch in Zukunft niemand besser weiß, wie Menschen bewegt, begeistert und gerührt werden wollen, als – wir Menschen selbst. n WirtschaftsWoche 4/22.1.2016 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. 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