Bleibt alles anders

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Bleibt
alles
anders
Digitaler Kapitalismus
: Geht uns in der Ära der Hochtechnologie
bald die Arbeit aus? Wohl kaum.
Muss sich deshalb nichts verändern?
Oh doch. Von Max Haerder
Serie
ILLUSTRATION: MIGUEL MONTANER
E
s gehört zu den hübschesten Geschichten
unserer neuen Arbeitswelt, dass eines der
umstrittensten Phänomene dieser Gegenwart seinen Namen einer sehr alten Maschine verdankt. Einem Apparat, der die
Überlegenheit von Technik behauptete
und doch das Gegenteil war: eine Demonstration
menschlichen Könnens.
1770 präsentierte der Hofsekretär Wolfgang von Kempelen der österreichischen Kaiserin Maria Theresia
einen lebensgroßen Automaten, der in prächtigem
osmanischem Ornat gekleidet war. Dieser künstliche
Türke spiele besser Schach als Wesen aus Fleisch und
Blut, versprach von Kempelen, mehr noch: Die Puppe
könne jeden Menschen am Brett bezwingen. Im Laufe
des viel beachteten Türkenlebens, das erst 1854 bei
einem Brand in Philadelphia endete, duellierten sich
mit ihm Benjamin Franklin und Napoleon. Niederlagen des Türken sind so gut wie keine überliefert. Der
verborgene Mensch in seinem Inneren war zu gut.
In sieben Beiträgen
vermisst die
WirtschaftsWoche
alle 14 Tage den
digitalen Kapitalismus.
In Analysen und
Essays schildern wir,
wie die digitale
Revolution unser
Wirtschaftssystem
verändert:
Digitales Ich
Produktivität
Wettbewerb
Arbeit
Wissen
Eigentum
Vertrauen
Man darf einem selbsterklärten Alles-Zermalmer wie
Jeff Bezos, dem Chef von Amazon, also immerhin historisch gebildeten Humor unterstellen, weil er seiner
Crowdworker-Plattform den Namen Mechanical Turk
gegeben hat, in Anlehnung an den englischen Namen
des Schach-Scharlatans. Wer dort online seine Arbeit
anbietet, verrichtet zumeist simple digitale Dienste,
für die es zu umständlich und zu teuer wäre, ein eigenes Programm zu schreiben. Unser Kopf kann vieles
einfach immer noch schneller und besser.
Klingt beruhigend? Mitnichten. Mechanical Turk gilt
seinen Kritikern als Ausgeburt der modernen Hölle.
Die globale Wettbewerbsschlacht Abertausender arbeitswilliger sogenannter Turker führe direkt in die
Selbstausbeutung und Prekarisierung. So geht deren
schrille Warnung. Schenkt man ihnen Glauben, nagen
die Clickworker nur noch an den mageren Resten dessen, was die digitale Zerstörung von abgesicherten
Normalarbeitsplätzen übrig gelassen hat. Nicht erst
morgen, sondern bereits heute.
22.1.2016/WirtschaftsWoche 4
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BLICKPUNKTE
Die Debatte um die Arbeitswelt und wie der digitale
Kapitalismus sie transformiert kennt nicht viel mehr
als diese zwei extremen Pole: Entweder unser Tun
wird schleichend entwertet (siehe Amazon) oder
gleich ganz von klugen Maschinen und Robotern
übernommen.
Und ist daran nicht etwas Wahres? Ein Schachtürke
von heute bräuchte längst keinen Großmeister mehr,
der ihm Intelligenz leiht. Die damit einhergehende
tiefe Verunsicherung dürfte den Erfolg erklären, den
all die Propheten der Arbeitsapokalypse haben, die ihre Lehren verkünden. Jeremy Rifkin war vor mittlerweile 20 Jahren der Erste, der „Das Ende der Arbeit“
postulierte. Die jüngeren Bibeln heißen „The Second
Machine Age“ oder „Rise of the Robots“. Auch sie
überbieten sich mit lustvoll schaudernden Szenarien
darüber, wie viele – pardon: wie wenige – Jobs noch
für uns Menschen übrig bleiben werden.
Gerade erst in dieser Woche reihten sich Topmanager
aus 350 der größten Unternehmen der Welt in dieses
masochistische Klagen mit ein. Während sie sich auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos versicherten,
selbst noch unersetzbar und großartig zu sein, malten
sie per Umfrage den Untergang ihrer Untergebenen
an die Wand: Zwei Millionen neuer, technologiegetriebener Jobs in den Industrienationen stünden sieben Millionen Arbeitnehmer gegenüber, deren Fertigkeiten und Persönlichkeiten überflüssig würden.
Nur hat dieser Alarmismus bislang nichts belegt außer
seiner eigenen Thesen-Produktivität. Woran es mangelt, ist maßvoller Realismus. Einer, der Risiken nicht
kleinredet, sondern wägt, wie schnell der technologische Fortschritt herkömmliche Aufgaben überflüssig
machen wird. Und nach allem, was wir über Webstuhl, Dampfmaschine und Elektrizität, aber auch
über Prozessoren, Rechenleistungen und künstliche
Intelligenz wissen, wird dieser Wandel keine Revolution – sondern eine Evolution. Und die wird schon herausfordernd genug: für uns und unseren Sozialstaat.
Work-Life-Blending
und wir
Angst
vor dem
freien Fall
Jeder siebte
deutsche Arbeitnehmer besitzt
einen Job, bei dem
70 Prozent der
Tätigkeiten von
einem Computer
erledigt werden
könnten – und zwar
schon heute
Im Jahr 1994 trat das deutsche Arbeitszeitgesetz in
Kraft. Im selben Jahr wurde auf der Cebit in Hannover ein neuartiger Telefondienst vorgestellt, die SMS.
22 Jahre später liegt der short message service auf dem
Schrotthaufen der Technikgeschichte. Und das Gesetz ist klinisch tot.
Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Das Paragrafenwerk ist natürlich noch in Kraft, irgendwie,
aber kaum mehr als ein juristischer Papier-Zombie,
kraftlos dank unterlassener Hilfeleistung. Daran sind
wir selbst schuld. Der Hinweis auf die SMS ist jedenfalls kein zufälliger: Die Kurznachricht von klobigen
Handys war der Urknall, der in der Dauererreichbarkeit von heute, in der ständigen Onlineverfügbarkeit
unserer Computer und Smartphones seine (vorläufige!) Vollendung gefunden hat.
Die inspirierenden Gedanken für die Präsentation,
die abends um halb zwölf noch aufgeschrieben
werden, zum Beispiel. Die Mails gleich früh morgens
im Bett, die man gleich von dem Gerät aus versendet,
dass einen eben erst geweckt hat. Der ConferenceCall von unterwegs. Die Skype-Schalte während des
Kindergeburtstags. Überhaupt: der Bedeutungsverlust von Büros (sofern sie nicht als soziale Entertainment-Zentren auferstehen, wie es das Silicon
Valley vormacht).
Unser Arbeitsleben hält sich längst nicht mehr an
das, was zu Zeiten von Helmut Kohl in Paragrafen gegossen wurde. Nie mehr als acht Stunden täglich Projekte vorantreiben? Volle elf Stunden heilige „ununterbrochene Ruhezeit“ zwischen Ende und Beginn
der Arbeit? Mehr als die Hälfte der deutschen Beschäftigten arbeitet längst nachts, am Wochenende,
wann es eben passt. Der Gesetzesbruch ist nur ein
Tippen mit dem Zeigefinger entfernt. Er fällt uns
nicht mal mehr auf.
Das alles muss – soll man das eigens betonen? – nichts
Schlechtes sein. Man sollte sich nur sehr bewusst machen, dass wir das Zeitalter der Arbeitszeit-Reduktion
verlassen haben und in die Ära ihrer Diffusion eingetreten sind. Das ist keine Kleinigkeit. Jahrzehnte
kämpften Gewerkschafter dafür, das Joch der Arbeit
einzuhegen. Dieser Kampf hat („Samstags gehört Vati
mir“) die Fünf-Tage-Woche gebracht, Wochenendzuschläge, Stempelkarte und Steinkühlerpause. Und
doch war dieses Ringen einem Weltbild verpflichtet,
das noch aussah wie in Adolph von Menzels Gemälde
„Eisenwalzwerk“: ein zermarterndes Getümmel von
Stahl, Muskeln, Glut, Schweiß.
Das Glühen der Gegenwart aber ist kühl, es kommt
von Displays und Monitoren. Die Anstrengung passiert im Kopf.
Ehe wir uns versahen, war die Work-Life-Balance deshalb schon längst wieder von gestern. Heute regiert
Work-Life-Blending: ein Zustand, in dem Arbeit und
Freizeit miteinander verschmelzen, dauernd die Führung wechseln und beides zur Selbstverwirklichung
und Selbstbestimmung beiträgt, sogar beitragen soll.
WirtschaftsWoche 4/22.1.2016
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BLICKPUNKTE
Eine solche Entgrenzung benötigt allerdings dringend
Autokorrektur durch Selbstermächtigung und Selbstbewusstsein. Die Soziologin Melanie Frerichs nennt
das „aktive individuelle Grenzziehung“. Es ist dabei,
wenn es sich noch um Angestellte handelt, natürlich
auch an klugen Unternehmen, diese Fähigkeit zu fördern und zu erhalten. Sie müssen ihren Mitarbeitern
vertrauen lernen und ihnen zugestehen, ihr Pensum
autonom gestalten zu können. Vor allem aber bedarf
es des Selbstbewusstseins und der autonomen „Risikomündigkeit“ (Frerichs) jedes Einzelnen.
Gesetze oder Tarifverträge von gestern werden uns jedenfalls nicht mehr schützen, weil wir von ihnen
nicht mehr geschützt werden wollen.
Die Notwendigkeit, den
Sozialstaat neu zu erfinden
Sie heißen Upwork oder Freelancer, man könnte auch
Uber oder Helpling nehmen: Onlineplattformen, auf
denen Menschen ihre Dienste, ihr Wissen oder ihre
Kreativität anbieten, sind zum Symbol unserer individualisierten Job-Moderne geworden.
Deutschland feiert derweil mit 31 Millionen sozialversicherten Arbeitsverhältnissen (alleine der Name!) eine letzte Hoch-Zeit der hergebrachten Verhältnisse.
Das Neue ist doch überschaubar an Größe.
Aber wie lange noch? Die Zukunft einer technologieund netzgetriebenen Wirtschaft wird den spezialisierten Arbeitern gehören, den Selbstständigen, Freelancern und Gründern, den global und on demand zusammenstellbaren Expertenteams: Ich-AGs, die auf den
Onlinemarktplätzen ihre Aufträge und Verbindungen
finden, weil sie unternehmerische Transaktionskosten dramatisch senken helfen.
Das Problem ist nur: Unser Sozialstaat ist für diese
Vielfalt nicht gemacht. Weil er in der Abhängigkeit
und im Denken vom Angestellten her gefesselt ist,
Hoffnung
auf eine zweite
Chance
Das Arbeitsministerium
fahndet gerade
nach Ideen für das
soziale Netz der
Zukunft. Eine
davon: Die Arbeitsagenturen sollen
künftig nicht nur
Jobs vermitteln,
sondern auch
Weiterbildung
fehlt ihm die Anschlussfähigkeit an diese SoloÖkonomie. Seine wesentlichen Quellen werden
schließlich aus den Sozialbeiträgen von abhängig
Beschäftigten und ihren Arbeitgebern gespeist und
ausschließlich an Erstere wieder ausgeschüttet. Der
wachsenden Zahl der individualisierten Netz-Arbeiterschaft hat er wenig zu bieten und schon gar nichts
zu versprechen.
Aus diesem Mangel könnte allerdings eine Pointe
erwachsen: wenn ausgerechnet der digitale Kapitalismus den hergebrachten Sozialstaat zu seiner Neuerfindung treibt. Warum sollte dem sozialen Gemeinwesen
keine Renaissance gelingen: als offener, allen zugänglicher Sicherheitsproduzent einer dynamischen Gesellschaft? Als System, das Risiko und Unternehmertum
mit vollen Kräften ermöglicht, weil es dessen individuelles Scheitern kollektiv absichert. Der Philosoph Sighard Neckel hat deshalb sehr zu Recht an die „Gemütsruhe des Wohlfahrtsstaates“ erinnert; an die mächtige
Leistung, „das Gefühl der sozialen Absicherung zu versprechen und dies auch zu realisieren“.
Zugegeben, das klingt altmodisch, gar romantisch,
könnte aber wieder hochmodern werden. Ein Sozialstaat, der seiner angegriffenen Legitimation nicht nur
beim Bröckeln zusehen, sondern sie revitalisieren
möchte, muss deshalb seine Finanzierungsgrundlagen
überdenken. Schon heute nähern sich Sozialversicherungsleistungen wie die Rente Hartz-Niveau an, weil die
Systeme an der Überalterung der Gesellschaft leiden.
Aus dem Sozialstaat sollte deshalb ein Steuerstaat
werden.
Der ließe im Bedarfsfall seine Hilfe (oberhalb des
Existenzminimums!) allen zukommen, die arbeiten
und ihn über Steuern alimentieren. Und nicht nur denen, die angestellt sind. „Denkraum Arbeit“, ein Zusammenschluss von Forschern und Praktikern auf
Initiative des Berliner Thinktanks Progressives
Zentrum, hat interessante Impulse für derartige
steuerfinanzierte Sicherung vorgelegt.
Solche Reformideen richten sich im Übrigen entschieden gegen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Vielmehr ginge es um ein bedingtes
Grundeinkommen, das weiterhin Leistung mit Gegenleistung verknüpft. Es richtet sich im Übrigen
auch gegen die Fantasten der Ende-des-WachstumsIllusion, die nur zu gerne übersehen, womit vermeintlich bedingungslose Transfers finanziert und von
wem Roboterparks denn entwickelt werden müssten:
mit produktiver Arbeit, von Menschen.
Gestärkt würde hingegen die Überzeugung, dass die
Zukunft einer durchtechnologisierten Arbeitswelt
nur mit bestens gebildeten, stetig sich weiter qualifizierenden Bürgern gestaltet werden kann. Ein
Steuer-Sozialstaat würde den dafür nötigen Ordnungsrahmen redefinieren: für ein Wechselspiel von
abhängiger und selbstständiger Arbeit, überhaupt für
ein Denken in Lebensphasen zwischen Arbeit und
(Weiter-)Bildung und kreativer Erholung.
Immer in der Hoffnung, dass auch in Zukunft niemand
besser weiß, wie Menschen bewegt, begeistert und
gerührt werden wollen, als – wir Menschen selbst. n
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