Simon Peng-Keller an Michael Seibt, 10.8.2015 Lieber Michael

Simon Peng-Keller an Michael Seibt, 10.8.2015
Lieber Michael
heute bin ich dazu gekommen, Deine Arbeit zu lesen. Ich finde Sie gut gelungen: ein klares
Thema, das Du sorgfältig und nahe am Text von Johannes vom Kreuz durcharbeitest und in
einer gut verständlichen Sprache auf Papier bringst. Eine schöne Frucht der Ausbildung!
Natürlich sind mir da und dort auch Fragen gekommen, die ich Dir als Anstoss zum Weiterdenken notiere:
- An einigen Stellen machst Du m.E. zu scharfe Kontraste bzw. wird Deine Darstellung selbst
dualistisch. Z.B. ist die Kritik an "den kirchlichen Seelsorgern" m.E. zu pauschal (Du bist ja
selbst einer). Johannes vom Kreuz ist hier differenzierter.
Dasselbe gilt für die starke Kontrastierung von der diskursiven Meditation und der nicht-diskursiven Kontemplation. Am stärksten ist das auf S. 12, wo Du die "kirchliche Tradition"
deswegen kritisierst, weil sie den Schritt in die Kontemplation nicht "ohne Rückgriff auf diskursive Methoden" vollzieht, während Du der Zen-Praxis gleichzeitig bescheinigst, genau
das konsequent zu tun. Ich meine, dass Du hier einen falschen Gegensatz aufbaust. Zum einen braucht eine Anleitung in Kontemplation diskursive Verfahren (die Texte von Johannes
vom Kreuz und auch Dein eigener sind auch diskursive Meditationen), zum anderen lebt
christliche Kontemplation von einer intensiven Wechselbeziehung zwischen dem (meditativen) Hören auf Gottes Wort und einem Hören auf seine transverbale Gegenwart. Alle Texte,
die wir gelesen haben, bezeugen das.
- Etwas unterbestimmt bleibt in Deiner Darstellung von Johannes vom Kreuz der Glaubensbegriff, der für seine kontemplative Lehre zentral ist, und ebenso der Begriff der "liebenden
Aufmerksamkeit", die bei ihm immer ein Aufmerken auf Gottes Gegenwart darstellt, womit
der entscheidende Unterschied zur Zen-Praxis benannt ist. Ich finde, dass Du in Deiner Darstellung diese Unterschiede herunterspielst (so wie das W. Jäger, auf den Du Dich hier beziehst, ebenfalls tut). Die These, dass die Mystik aller Zeiten und Religionen gleich ist, hält
einer kritischen Überprüfung nicht stand, was natürlich nicht bedeutet, dass es nicht viele
Berührungspunkte gibt.
- Der Vergleich mit Luther leidet etwas darunter, dass Johannes vom Kreuz in diesem Kapitel fast verschwindet. Dabei gäbe es m.E. Berührungspunkte, die sich von Deinem Thema
her förmlich aufdrängen würden: zum einen die Bedeutung des Glaubens (JvK kennt auch
eine Art "sola fide") und zum andern gibt es eine Nähe zwischen JvKs dunkler Nacht und Luthers tentatio. Zur Bedeutung des Glaubens bei JvK vgl. u.a. Reinhard Körner, Mystik - Quell
der Vernunft, Leipzig 1990.
Ich wünsche Dir noch gute Sommerwochen und grüße Dich herzlich Simon
1
Michael Seibt an Simon Peng-Keller am 2.9.2015
Lieber Simon,
herzlichen Dank für Deine Rückmeldung zu meiner Arbeit, die mich erreicht hat.
Die von Dir angesprochenen Fragen bewegen auch mich.
Dass diskursives Denken von JvK nicht negativ bewertet wird und dass jeder Vortrag und
jede schriftliche Arbeit diskursivem Denken entspringt, ist mir bewusst. Dieses diskursive
Denken steht aber im Dienst der Erkenntnis und Wirklichkeit Gottes, die nicht diskursivem
Denken entspringt und daher von diesem auch nicht erfasst werden kann. Daher handelt es
sich um "Fingerzeige" auf eine Wirklichkeit, auf die die Worte lediglich hinweisen. In einem
Zen-Koan ist vom "Wort vor der Stimme" die Rede. Das Johannesevangelium beginnt mit
"Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott." Im Anfang ist es also noch nicht gesprochen und wenn es gesprochen ist, dann ist es inkarniert und nicht bloß gesagt. Ich bin
als Protestant sehr von einem auf das Wort fixierten Glauben geprägt worden. Die Mystik
erlebe ich daher als eine Befreiung vom Vertrauen auf gesprochene (!) Worte.
Die Kritik an den Seelsorgern, die JvK ausspricht, ist m.E. noch aktuell. Natürlich bin ich auch
einer, aber wenn man sich umhört, was die Leute über kirchliche Seelsorger sagen, dann ist
das nicht bloß wohlfeile Kritik, sondern darin drückt sich auch enttäuschte Sehnsucht aus.
Die Suche nach Spiritualität geht ihre eigenen Wege, wenn sie von der Kirche nicht aufgenommen und begleitet wird. Das ist mein Anliegen. Ich erlebe in Gesprächen großes Erstaunen und auch große Freude, wenn Mystik und Kontemplation in der Kirche ihren Platz bekommt. Und zugleich - davon habe ich dir ja auch immer wieder erzählt - werde ich innerkirchlich in eine esoterische Ecke gestellt. Das ist vielleicht im protestantischen Umfeld noch
stärker ausgeprägt als im katholischen Umfeld.
Das "Aufmerken auf Gottes Gegenwart" bei JvK bedeutet meinem Eindruck nach keinen
zentralen Unterschied zur Zen-Praxis, nur dass Zen nicht von Gott spricht, wohl aber in anderen Worten von dem, was wir im christlichen Bereich meinen, wenn wir Gott sagen. Im
Zen spricht man an dieser Stelle vom "wahren Wesen" oder von der "Wesensnatur" des
Menschen oder von der "Buddhanatur". Johannes lässt Jesus sagen, er sei "eins mit dem
Vater". JvK ist (ebenso wie Meister Eckhart, Tauler, Teresa u.v.a.) jemand, mit dessen kontemplativer Erlebensweise sich sehr gut Brücken schlagen lassen zu östlicher Weisheit und
Meditationspraxis und ich bedaure, dass man christlicherseits diese Brücke noch so wenig
betreten möchte. Aus Angst wovor?
Ich will nicht die Mystiken aller Religionen in einen Topf werfen, aber es ist doch sehr auffällig, dass es gemeinsame "Grundmuster" in den Mystiken gibt. Das kann auch nicht anders
sein, weil bestimmte Grunderfahrungen des Menschseins überall auf der Welt dieselben
2
sind. Bevor man also die Unterschiede betont und im Grundsätzlichen verortet, wäre es
m.E. gut, genau hinzuhören und unterschiedliche sprachliche, kulturelle und religiöse "Einkleidungen" der mystischen Erfahrung zu dechiffrieren und in die jeweils "andere" Sprache
zu übersetzen. Denn wie gesagt: in den gesprochenen und geschriebenen Worten steckt ES
nicht.
Vielen Dank für den Hinweis auf die Nähe zwischen Luthers "Tentatio" und der "Nacht" bei
JvK. Das ist in der Tat eine Verbindung zwischen beiden, die man noch mehr herausstellen
könnte. Die Tentatio bei Luther rührt daher, dass die erfahrene Wirklichkeit eine andere ist
als die, die mir das Wort Gottes zusagt. Die "Nacht" bei JvK betrifft die Seelenvermögen und
ist eine "Verdunkelung" aller menschlichen Möglichkeiten, zu Gott zu gelangen. Indem JvK
aber die Contemplatio beibehält und bei ihm alles darauf zielt, gibt es doch einen "existentiellen" Anker Gottes im menschlichen Leben, nämlich die Umformung (Transformation) in
Gott, die dann möglich wird, wenn die menschlichen Vermögen "abgedunkelt", d.h. still
sind. Dann wirkt nur Gott.
Bei Luther hingegen bleibt der Mensch in der Spannung zwischen "Sünder" und "Gerechter"
- wobei die Gerechtigkeit immer außerhalb seiner selbst zu finden ist, nie in ihm. Das ist
dann doch der grundlegende Unterschied zwischen Luther und fast der gesamten protestantischen Tradition auf der einen und der christlichen Mystik auf der anderen Seite. So erkläre ich mir jedenfalls die besonders starke Reserve gegenüber der Mystik, die mir in meinem Umfeld begegnet.
Vielen Dank nochmals für den Austausch. Wir sehen uns ja bald am 18./19.9. in St. Peter
und ich freue mich auch auf die weitere Diskussion beim Abschluss-Wochenende.
Herzliche Grüße
Michael
3